Charithea beklaget sich über den Tod ihres Anaxanders

1610.


Dein glanz, o sonn, ist leider! nicht für mich,
die ich nicht mehr bei leben;
dan er kan ja der todten angesicht
kein liecht, noch trost mehr geben:
ich bin nu tod zu aller freud
und lebendig nur zu dem leid.
Auch williglich vermeid ich deinen schein,
als ab dem liecht verdrossen,
und lig alhie in der einöd allein,
als in ein grab beschlossen,
alda mich angst, sorg, pein und plag,
wie würm, verzehren nacht und tag.
[119]
Nu weiß ich recht, wie schmerzlich der wollust
das angedenken rühret,
wan man so bald, ohn der begird verlust,
nur den genuß verlieret,
und wie vil besser jede frist
nicht haben, dan verlieren, ist.
Ach meine freud, die ich in gutem glück
nach herzens wunsch genossen,
ist wie die flut in einem augenblick
mit ungestüm verflossen
und ließ mir nichts dan finsternus
und des verlornen guts verdruß.
Ach, weh! verdruß! wilt du auch in dem grab
mein leben noch beschweren?
soll dan, wan ich kein leben in mir hab,
gleichwol mein übel wehren?
ach, laß den armen todten zu,
zu ligen, traurig, in der ruh!
Wan ich schon oft dein tödlich schwere streich
vor meinem tod empfunden;
wan ich mich oft beklagend schwach und bleich
die himmel taub erfunden;
sol dan auch trübsal und gefahr
mir noch beiwohnen in der bahr?
Warum, ach weh! kan ich doch nimmermehr
der süßen zeit vergessen,
darin mein herz mit ruhm, freud, lust und ehr
glückselig war besessen,
nu da mein herz und seel zumal
voll jamer, greuel, angst und qual?
Ach, sihst du nicht, jemehr mein armes herz
was es gehabt bedenket,
daß desto mehr der seelermördend schmerz
es racket und bekränket,
[120]
und daß, indem ich bin nichts mehr,
gewest zu sein mir allein schwer!
Dan weil also der schwer unträglich zorn
des himmels mich geschlagen,
verkehren sich die rosen all in dorn
und mein gesang in klagen.
glückselig vor gewest zu sein
ist jetzund meine gröste pein.
O mein beistand, mein ruhm, hilf, pracht und kraft
numehr in staub verkehret,
ohn welchen ich gleichwie ein baum ohn saft
der durch den stral entehret;
ach, von wie hoher seligkeit
mich stürzet deine sterblichkeit.
Ach weh! gleichwie von aller traurigkeit
dein leben mich gefreiet,
daß niemals mir ab des glücks listigkeit,
stets hofnungsvoll, gescheuet;
also trostlos in diser not
förcht ich nun alles ohn den tod.
Was aber kan in disem jamerthal
noch mein gemüt verletzen?
kan wol mein geist ab einigem trübsal,
so arm, sich noch entsetzen?
mein geist, dem der tag wie die nacht,
den die verzweiflung forchtfrei macht?
Nein. Dein abschid hat gar von mir mit sich
trost, hofnung, forcht genommen;
ich bin zumal durch deinen tod um dich
und all mein gut gekommen:
mein leben allein ist zu lang,
und dafür allein ist mir bang.
Dan indem mir kaum under disem last
zu athemen gegeben,
[121]
ich doch mein heil, ja auch mich selbs ohn rast
und trost muß überleben,
ist dieses leben selbs die plag,
die ich zu lang zu leben trag.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Weckherlin, Georg Rodolf. Gedichte. Gedichte. Charithea beklaget sich über den Tod. Charithea beklaget sich über den Tod. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-944C-9