4. Auf den Lauf und Fall Frantzöscher Verse
Fußnoten
1 Und weiss die Sylben nur zu zehlen, nicht zu messen. Dass man keine vier Verse auch in den bestenFrantzöschen Poeten lesen könne, darinnen nicht dieMasse vieler Sylben zerstöhret sey, ist einem jeden bekant, der die Frantzösche Poeten gelesen hat. Es haben sich aber ihre Ohren hiezu so gewehnet, dass sie dadurch im meisten nicht verletzet werden. DieItaliänische Poeten nehmen sich eine unglaubliche Freyheit in Verkürtzung der Wörter: So dass es scheinet ihre Poesie könne so wenig ohne verschnittene Wörter; als ihre Musick ohne verschnittene Sänger bestehen. Und die Engelländer kehren sich insgemein wenig an die Reime. Wir Deutsche hergegen haben ein zärtlicher Ohr als die Frantzosen, indem wir uns lieber vieler nothwendigen Wörter, als: Wahrsager, Dollmetscher, Buchstaben, Herrschaften, Ausleger, Schatzmeister, Hoffmeister, Fussstapffen, und hundert dergleichen mehr in unsrer Poesie begeben; als dass wir nur eine lange Sylbe kurtz, oder eine kurtze lang machen solten. Wir haben mehr Gewissen, als die Welschen; indem wir den Wörtern lieber etwaszugeben als abnehmen. Und endlich so sein wir bessere Reimer als die Engelländer, indem wir uns an die Reime so sehr binden; dass wir insgemein, den einen Vers dem andern zu Liebe machen: und uns einbilden, wir haben auf einmahl gnug gethan, wenn wir den einen Vers wegen des Verstandes, und den andern bloss um des Reimes willen geschrieben haben. Wir sein derohalben unstreitig bessere Reimer, und bessere Versmacher als jene. Wer aber unter uns, der diese Ausländische Poeten gelesen, und derer Sprache nicht nur überhinn verstehet, darf sich unterstehen zu sagen; dass wir bis itzo durchgehends sogute Poeten als sie sein?
– – –Neque enim concludere versum,
Dixeris esse satis: neque si quis scribat, uti nos,
Sermoni propiora, putes hunc esse Poétam.
Ingenium cui sit, cui mens divinior, atque os
Magna sonaturum; des nominis hujus honorem.
Horat. Lib. 1. Satyr. 4.