Ode an Doris

Erseufzte Stunde, da ich sie wiederseh,
Da sich ihr Arm mir zärtlich entgegenstreckt,
Stunde der süßen Freudenschauer,
Eil aus der Liebe Schoß hernieder.
Nur selten steiget eine der Seligen
Ätherschen Stunden, wie sie der Himmel lebt,
Nieder zur Erde, wo die Menschen,
Sich nicht bekannt, die Zeit verträumen.
Aber dich sendet, goldene Stunde, mir
Der Gottheit Tochter, die ich, von wenigen
Gehört, den Menschen sang, die Liebe,
Selber aus ihrer Schoß hernieder.
So schweben über Liebende Seraphim
Mit Zephyrsüßen Stunden der Freude hin,
So, wie ich dich genießen werde,
Fühlt dich der Jüngling jenes Erdballs;
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Der dort im Meer unzählicher Sonnen schwimmt,
Von Glanz bedecket, keinem Cassin bemerkt,
Dir nur sichtbar, dem selbst Eloas
Wohnplatz die himmlische Muse zeigte.
Was werd ich fühlen? Doris, was fühlst du dann?
Was keine Zunge sterblicher Sänger spricht,
Was nicht die Seel in seinem Umfang
Denken kann, was sie entzückt nur fühlet!
Kaum wird sie glauben, wenn ihr das Auge sagt,
Daß du ihr nah seist, bis sie vor Freude stumm,
In Umarmungen sanft zerschmolzen,
Zärtlichste Seele, Dich gegenwärtig
Empfindet, bis die Schauer der Sympathie
Sie sanft durchdringen, daß von den Schauern dann
Jede Begierde bebt und fröhlich
Ihrer Geliebten entgegenwallet.
Was für Gedanken, was für Empfindungen,
Dem Mund unnennbar, redst du, o Auge, mir?
Himmlisches Aug, was vor Entzückung
Weinst du, mit Blicken der holden Liebe
Auf meine Wangen? Heiliger Augenblick,
Da ich zuerst dir, Freundin, entgegenkam!
Da ich dich liebte! Meines Glückes
Und dieser Stunde Quell sei gesegnet!
Wenn nun die Arme müd von Umarmungen
Sich ungern lassen, wenn sich die Seelen nun
Aus der Empfindungen süßem Taumel
Bebend erholen und um sich sehen,
Denn blickt ein Auge wundernd das andre an,
Das volle Herz strömt noch von den Lippen nicht,
Stumm, doch voll namenloser Freuden
Dankt dann der ernste Blick gen Himmel,
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Lange verweilend; sinkt dann zurück und ruht
Auf dem geliebten Angesicht; jeder Blick,
Jede Miene, des Herzens Ausdruck
Wird der aufmerksamen Liebe sichtbar.
Dann kommt, Stunden, denen mein tränend Aug
So vielmals nachsah, da ihr geflohen wart,
Dann kommt ihr wieder, ihr der Weisheit
Ihr der Unsterblichkeit heilige Stunden.
Da wir von Gott, uns, oder der Tugend Glück,
Zärtlich besprachen, da wir Empfindungen
Zu Gedanken erhöhten, und Klopstock
Uns mit den Engeln vertrauter machte.
Da führt uns Bodmer hin in die erste Welt,
Wo er im Garten, den einst sein Milton sang,
Vor eine Eva, Drei voll Unschuld,
Jede Dir ähnlich, o Doris, zeiget.
Mit freiem Blicke sehn wir mit Addison
Ins Herz der Menschen, jeglichen Trieb spürt er
Aus seinen Höhlen aus, der Tugend
Herrschenden Wink verstehn zu lernen.
Die Weisheit, die so fremde den Weisen ist,
Die Young so göttlich sang, die der Ewigkeit
Uns leben lehret, zeigt uns Rowe
Menschlicher, schön wie sie selbst, in Bildern.
Sie selber sehn wir, wie sie am Frühlingsbach
Auf Blumen träumet, oder den Hain durchschweift,
Und in der einsamen Schatten Stille
Ihre Gedanken behorcht und sammlet.
Wenn sie erzählet, sehn wir mit Augen fast,
Wie Rosalinde, schön wie ein Maientag
Im Schäferkleide bei dem Jüngling,
Der in der Laube schlummert, still steht,
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Ihn sanft erzitternd ansieht und zweiflend sinnt,
Ob er vielleicht nicht einer der Sylphen sei:
Hin gerne küßte, doch sonder Unruh
Bald ihn verläßt und oft zurücksieht.
So, Doris, eilen nicht nur an Küssen reich,
Vom Geist genossen, unsere Stunden weg.
Da, Freundin, da verschönt dein Antlitz
Denkender Ernst und Begier nach Weisheit.
Wenn deine Lippen mir, was dein Herz empfindt,
Was deine Seele denkt, die so himmlisch denkt,
Natürlich schön, in freier Anmut
Sagen, wenn jeder Gedank des Herzens
Aufrichtigs Bild ist, wenn ich der Augen Glanz
Nun nimmer sehe, wenn mich der schönste Mund
Nicht mehr zu küssen lockt, wenn jede
Leblose Schönheit vor mir verschwindet:
Da schaut die Seele, voll unaussprechlicher
Geistlicher Freuden, nur deine Seele an,
Sieht, wie in ihr das Bild des Schöpfers
Sich so seraphisch enthüllt und glänzet.
Schön ist der Schimmer, der um Auroren her
Aus Taugewölken nieder zur Erde fließt,
Wenn sich die Rosen ihm eröffnen
Und um ihn jeglicher Hügel aufblüht.
Schön ist des Mädchens redender Blick, wenn er
Die erste Liebe nimmer verhehlen kann
Und schon die Träne der Entzückung
Zitternd herauf ins Auge dringet.
Schöner als diese ist's, wenn ein blühend Kind,
Des Vaters Bildnis, sich, wie ein Liebesgott,
Um den Busen der holden Mutter,
Die ihm lächelt, voll Unschuld krümmet.
[18]
Aber noch schöner, nicht nur dem Auge schön,
Schön vor die Seele, reizend den Engeln selbst,
Ist die Seele, wenn ihre Triebe
Tugend und Harmonie beleben.
Das auszudrücken, was die uns fühlen lehrt,
Was sie vor Triebe in uns begeisternd zeigt,
Sind Arm und Lippen unvermögend.
Nur durch Gedanken und edler Taten
Zärtlichen Gleichlaut drückt es die Liebende
Der Freundin aus, die ihr mit antwortenden
Gleichedlen Handlungen dann sagen,
Daß sie sich ewig Lieben werden.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Wieland, Christoph Martin. Gedichte. Gedichte. Jugendgedichte. Ode an Doris. Ode an Doris. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A667-2