[105] 20.
An Kleonidas.
Nach Vollendung meines großen Kreislaufs durch alle Hellenischen Colonien in Asien habe ich noch einige Monate zugebracht, die südliche Küste von Thracien und Macedonien, und die Landschaft Thessalien und Phocis zu besuchen, und befinde mich jetzt, bis meine künftige Wohnung in Athen eingerichtet ist, bei einem Freunde zu Tanagra. Ich habe, wie Odysseus, auf meiner langen Wanderschaft vieler Menschen Städte und Sinnesart kennen gelernt; auch hat es mir, wie dem herrlichen Dulder, nicht an mancherlei fröhlichen und unfröhlichen Abenteuern gefehlt, die uns dereinst, wenn uns eine freundliche Gottheit wieder in Cyrene vereiniget, reichen Stoff zu kurzweiligen Unterhaltungen geben sollen. Nur das Neueste, was mir in Thessalien aufstieß, schickt sich, denke ich, besser für eine schriftliche Erzählung, zumal da ich den Kopf noch so voll davon habe, daß ich für nöthig halte mich dessen zu entladen, bevor ich nach Athen zurückkehre, wo es nicht rathsam wäre viel davon zu sprechen. Um keine täuschenden Erwartungen bei dir zu erregen, schreite ich ohne weitere Vorrede zur Sache.
Nachdem ich mich zu Potidäa über den Thermaischen Meerbusen an die Thessalische Küste hatte übersetzen lassen, war mein Erstes, das berühmte Tempe 60 zu besuchen, wovon ich, seit ich unter den Griechen lebe, so oft mit Entzücken reden gehört hatte. Denn ein Grieche, der Olympia und Delphi[106] nicht gesehen, und sich nicht wenigstens einmal in seinem Leben in Tempe erlustiget hätte, würde an einem sehr unglücklichen Tage geboren zu seyn glauben. Dieses Thal, das sich einige Stunden von Larissa zwischen dem Olympus und Ossa in sanften Krümmungen bis an die See hinzieht, ist in der That vielleicht der reizendste Winkel des ganzen Erdbodens. Es würde der fruchtbarsten Phantasie eines Malers oder Dichters schwer werden, mehr Schönheit und Anmuth mit größrer Abwechslung und Mannichfaltigkeit in einen engern Raum zusammen zu zaubern und mit dem Erhabensten und Grauenvollsten in einem anmuthendern Contrast zu sehen, als hier ohne alle Nachhülfe der Kunst (wie es scheint) Natur und Zufall allein bewerkstelliget haben. Ich brachte zwei der angenehmsten Tage meines Lebens in diesem oberirdischen Elysium zu, und zum höchsten Lebensgenuß fehlte mir nichts, als die heilige Trias meiner Geliebtesten, Lais, Kleonidas und Musarion. Ich vermißte euch um so viel stärker, weil sich's zufälliger Weise traf, daß ich (was hier selten begegnet) diese zwei Tage über der einzige fremde Bewohner von Tempe war.
Ungetheiltes, allein genoss'nes Vergnügen, wie ungemein es auch sey, verliert gar bald seinen süßesten Reiz, und eine geheime Unruhe, deren Ursache wir uns nicht immer bewußt sind, treibt uns zu neuen Gegenständen. Am dritten Morgen kam mich die Lust an, den benachbarten Ossa zu besteigen, theils um meine Augen an den herrlichen Aussichten zu weiden, die er über die umliegenden Thäler, Hügel und Landschaften und über den Thermaischen Meerbusen bis an die [107] Küste von Pallene hin, gewährt, theils in Hoffnung einige mir noch unbekannte Arten von Steinen und Pflanzen auf diesem wilden Gebirge aufzufinden. Ich ließ meinen alten Xanthias mit einem jungen Sklaven bei den Maulthieren im Thal zurück, bestieg einen Gipfel des Berges nach dem andern, und fand überall so viel zu sehen und zu sammeln, daß die Sonne sich unvermerkt zum Untergange neigte, bevor ich gewahr wurde, daß keine Hoffnung übrig sey, die Herberge wieder zu erreichen, wo ich meine Leute gelassen hatte. Schon fing ich an, unter den häufigen Schluchten und Klüften, wovon dieses durch mächtige Erderschütterungen zerriss'ne Gebirg allenthalben voll ist, mich nach irgend einer Höhle zum Nachtlager umzusehen, als ich, beim Umwenden um die scharfe Ecke eines struppigen Felsen, im Eingang einer durch Menschenhände (wie es schien) bewohnbar gemachten Höhle, einen Mann sitzen sah, der anfangs über meinen Anblick noch mehr als ich über den seinigen betroffen schien, aber (da er keine Ursache sah mir Arges zuzutrauen) sich schnell genug faßte, um einige Schritte auf mich zuzugehen. Es war ein langer hagerer Mann, dem Ansehen nach nicht viel über Sechzig; noch fest und lebhaft, von vielsagender Gesichtsbildung, aber finsterm Blick unter einer Stirn, durch welche schmerzliche Erfahrungen tiefe Furchen gezogen zu haben schienen. Ich näherte mich ihm mit Zuversicht und Ehrerbietung, eröffnete ihm mein Anliegen, und erkundigte mich, ob nicht irgend eine Herberge im Gebirge anzutreffen sey, die ich vor Einbruch der Nacht noch erreichen könnte. Du scheinst ein Arzt zu seyn, und dich im Botanisiren so tief in diese Wildniß gewagt zu haben, [108] versetzte der Alte. Er schloß dieß vermuthlich aus einem ziemlichen Bund Kräuter und Blumen, den ich unter dem Arme trug. Ich antwortete: ich wäre zwar kein Arzt, als etwa in Nothfällen, wo jeder Mensch so viel wissen sollte, um sich selbst und andern eine Hülfe schaffen zu können; aber ich studirte die Natur, und versäumte selten eine Gelegenheit, meine Kenntniß von den Pflanzen und ihren Eigenschaften und Kräften zu erweitern. Wenn dieß ist, erwiederte er mit zusehends sich erheiternder Miene, so kannst du dich auch wohl eine Nacht bei einem Manne behelfen, der dir nichts als das Unentbehrlichste anbieten kann, zumal da du es in diesem Gebirge nirgends besser finden würdest; auch wär' es schon zu spät, um dich auf dem Pfade nicht zu verirren, der nach den nächsten Hirtenwohnungen führt. Da ich sein Anerbieten mit Dank und Freude annahm, schlug er mit seinem Stab an eine kleine Glocke, und eine reinlich gekleidete Sklavin von mittlerem Alter und guter Gestalt kam aus dem Innern der Höhle hervor, und entfernte sich wieder, sobald er ihr etliche leise Worte gesagt hatte. Bald darauf führte er mich durch einen ziemlich dunkeln krummen Gang, von ungefähr zwanzig Schritten, in einen geräumigen gewölbten Saal, der gegen einen großen, unregelmäßigen, und ringsum von schroffen Felsen eingeschloss'nen Garten offen war. Hier setzten wir uns zwischen zwei ziemlich roh gearbeiteten Säulen nieder, das Gesicht gegen den Garten gekehrt, den ich mit fruchtbaren Bäumen und mancherlei eßbaren Gewächsen und Kräutern bepflanzt, und dem Ansehen nach gut gewartet sah. Mein Alter ward zusehends immer heitrer, sprach aber wenig, meistens [109] nur in Fragen, auf deren Beantwortung er mir seine Zufriedenheit mit Kopfnicken oder einzelnen Sylben zu erkennen gab. Ungefähr nach einer Stunde rüstete die Sklavin einen kleinen Tisch, und setzte uns eine Schüssel gekochtes Ziegenfleisch, mit feinen Wurzeln und Kräutern wohlschmeckend zubereitet, und zum Nachtisch trockne Feigen, eine leichte Art von Kuchen, und einen Krug des besten Weins von Thasos vor. Meine Eßlust vergnügte meinen alten Wirth, wie es schien, nicht weniger als mein übriges Wesen und Benehmen; und nachdem er den dritten Becher auf unsre neue Bekanntschaft geleert hatte, ward er selbst gesprächiger, und sagte traulich mir die Hand schüttelnd: »Wundre dich nicht, Fremdling, daß du mich so wenig reden hörst. Ich war nicht immer so wortarm; aber seit zwanzig Jahren bist du, außer einem alten Freunde, der mich immer zur Zeit der Pythischen Spiele zu besuchen pflegt, und der Thrazierin, die für meine Bedürfnisse sorgt, das einzige menschliche Wesen, mit dem ich mehr als ein paar einsylbige Worte gewechselt habe. Du siehst, daß dieß der gerade Weg ist, das Reden zu verlernen, wenn man auch der redseligste aller Athener gewesen wäre. Wohl möchte mir's übrigens bekommen seyn, wenn ich mich immer mit Ja und Nein zu behelfen gewußt hätte. Denn daß du mich hier siehest, kommt allein daher, daß ich ehmals meiner Zunge mehr Freiheit ließ als einem klugen Manne ziemt.«
Du kannst dir leicht vorstellen, Kleonidas, daß ich meinen Wirth nach dieser Rede schärfer als zuvor ins Auge faßte. Du wohnst schon zwanzig Jahre hier? fragte ich. – »Nicht [110] völlig so viel; aber vorher lebte ich einige Zeit auf dem Landgute eines Freundes so sorgfältig versteckt, daß ich außer ihm selbst keine Seele zu Gesichte bekam.« – Das muß eine schlimme Race von Menschen seyn, vor welchen ein Mann wie du sich so verstecken muß, sagte ich. – Ich sehe daß du mich näher kennen möchtest, erwiederte er. Wenn deine Neugier nicht schwächer ist als meine Neigung mich dir zu entdecken, so bleibst du ein paar Tage bei mir, um mich wieder reden zu lehren, und du sollst allerlei erfahren, das vielleicht dieses Opfers werth ist.
Mein Wirth kam durch diese Einladung einem Wunsch entgegen, den ich nicht gewagt hätte laut werden zu lassen. Wir redeten nun von andern Dingen, und wiewohl er sich noch immer sehr lakonisch ausdrückte, so verrieth doch das Wenige was er sagte einen Mann von freiem Geist, vieler Erfahrung und ausgebreiteter Menschenkunde. Als die Zeit zum Schlafengehen gekommen war, führte er mich in eine kleine, mit Binsenmatten behangene und belegte Schlafkammer, und ließ mich allein. Hier konnt' ich mich der Thorheit nicht erwehren, hin und her zu sinnen, wer der sonderbare Alte seyn könne, mit dem ich auf dem Ossa so unvermuthet in Bekanntschaft gerathen war; aber alles Nachsinnen war umsonst. Ich ergab mich also in die Nothwendigkeit meine Neugier bis morgen einzuschläfern, und sie schlief so gut, daß die Sonne schon über der Spitze des Athos schwebte, als ich in dem Saal erschien, wo mir mein Alter, in einen langen Pelz gehüllt, so munter entgegenkam, daß ich erröthete, mich in einer Tugend, die meinen Jahren besser ziemte als den [111] seinigen, von ihm übertroffen zu sehen. Er führte mich sogleich in den Garten, wo ein sanfter, wiewohl etwas scharfer Morgenwind die Luft mit dem lieblichen Athem der Kräuter und Blumen durchwürzte. Ich habe, fing er an, mehr als die Hälfte meines Lebens mit Beobachtung aller Arten von Menschen zugebracht, und besitze einige Fertigkeit in der Kunst das Innere einer Person aus ihrer Gesichtsbildung und Miene zu errathen. Deine Physiognomie hat dir mein Zutrauen auf den ersten Blick erworben; ich wünsche von dir gekannt zu seyn, und überlasse mich ohne Bedenken dem Vergnügen, nach einer so langen unfreiwilligen Verborgenheit einen Menschen gefunden zu haben, dem ich mich aufschließen darf. Ich bin kein Menschenhasser, wie du aus meiner seltsamen Lebensweise vermuthen mußt; im Gegentheil, daß ich es zu gut mit den Menschen meinte, ist mein Unglück gewesen. Sie haben mich ausgestoßen, verbannt, einen Preis auf meinen Kopf gesetzt, und bloß um kein Schlachtopfer ihrer Wuth zu werden, hab' ich mich in eine Höhle des Ossa verbergen müssen. – Du wunderst dich was ich verbrochen haben könne, um die Menschen, mit denen ich einst lebte, so heftig gegen mich aufzubringen? Ich wollte sie weiser machen als sie ertragen können. – Bei diesem Worte hielt er inne und seine Stirn verfinsterte sich einige Augenblicke so sehr, daß ich Bedenken trug, ihm zu zeigen, wie sehr er durch diese Worte meine Neugier gespannt hatte.
Wir waren indessen unvermerkt auf eine Anhöhe gekommen, die, in einem Kreise von ungefähr dreihundert Schritten, mit einer dreifachen Reihe von Pappeln, und [112] zwischen den Bäumen mit hölzernen Schnitzbildern besetzt war. Aber was für Bildern! Nie ist mir etwas Auffallenderes in meinem Leben vorgekommen, als diese in ihrer Art gewiß einzige Bildergalerie; man müßte sie aber selbst gesehen haben, um sich die Wirkung vorzustellen, die der Ueberblick des Ganzen auf einen keines Argen sich vorsehenden Anschauer macht. Doch, du bist ein Künstler, mein Kleonidas, und deine Phantasie wird ohnehin das Beste bei meiner Beschreibung thun müssen. Bilde dir also ein, du sehest alle Götter der Griechen, vom Zeus Olympius bis zum bocksfüßigen Pan, und von der weißarmigen Herrscherin Here bis zu den schlangenhaarigen Erinnyen, einzeln und gruppenweise, unter Beibehaltung einer gewissen Aehnlichkeit mit ihren gewöhnlichen Darstellungen, in die pöbelhaftesten Mißgestalten travestirt, aber mit einer so komischen Laune in der Art der Ausführung, daß es mir bei ihrem Anblick eben so unmöglich war, mich des Lachens als des Unwillens zu erwehren. So zeigten sich (um dir nur etliche Beispiele zu geben) Jupiter auf der einen Seite, wie er, in Gestalt eines erbosten vierschrötigen Sackträgers, im Begriff ist, seine eheliche Widerbellerin mit einem Amboß an jedem Fuß in die Luft herabzuhängen; auf der andern, wie er sich auf dem Gipfel des Ida von der listigen Matrone, im Costume einer nächtlichen Gassenschwärmerin, zu einer Thorheit verführen läßt, für welche die armen Trojaner übel büßen werden. Du kennst die sonderbare Art, wie Homer seinen unbefangenen und von der Zaubergewalt des Gürtels der Venus unwissend überwältigten Zeus der schönen Dame die Wirkung, die sie [113] auf ihn macht, zu erkennen geben läßt: aber von der energischen Art, wie dieser in einen brünstigen Centaur übersetzte Jupiter sein Anliegen vorträgt, hat eine so wohlgeordnete Einbildung wie die deinige keine Ahnung. In dieser Manier kommt nun die ganze Göttersippschaft an den Reihen. Hier sind Pallas Athene und der hinkende Hephästos, dieser in Gestalt eines alten Kesselflickers, jene im Charakter einer derben Marketenderin, in dem zweideutigen Kampfe, dem der drachenfüßige Erichthonius entsprang, begriffen; dort tanzt Cytherea, als eine halbtrunkne Austernymphe, mit einem bengelhaften Adonis den leichtfertigsten Kordax 61, der je getanzt worden ist, und Phoibos Apollo, als blinder Leyermann mit den neun Schwestern als musikmachende Bettlerinnen, arbeiten aus allen Kräften auf der Leyer, dem Triangel, der Schellentrommel und dem Dudelsack dazu. In zwiefacher Trunkenheit taumelt Bacchus in die plumpen Arme einer weinseligen Ariadne; Mercur zieht dem Plutus mit der behendesten Gewandtheit einen Beutel aus dem Busen, Apollo dem Satyr Marsyas das zottelige Fell über die Ohren. Ueber sie alle erhebt sich der langöhrige Schutzgott von Lampsakus, und scheint als der wahre Götterkönig mit gewaltigem Scepter über den Olympus zu herrschen. Vorzüglich nimmt sich ein Jupiter in einer grotesken Gestalt aus, woran nichts als der Kopf sein eigen, alles übrige hingegen aus den verschiedenen Thieren, in welche ihn seine Gynäkomanie 62 verwandelte, aus Stier, Adler, Bock, Schwan, Schlange, Wachtel und Ameise seltsam genug zusammengesetzt ist. Das große Kunstwerk aber, worin der Meister [114] sich selber übertroffen hat, ist die Darstellung der berühmten Scene aus dem Gesang des blinden Demodokos in der Odyssee, wo der ehrliche Vulcan, nachdem er seine Gemahlin mit ihrem Liebhaber Ares in einem unsichtbaren und unzerreißlichen Netze gefangen hat, alle Götter zusammenruft, um Zeugen seines lächerlichen Unglücks zu seyn. Kurz, weiter kann weder die Kunst der Carricatur, noch der Muthwille und die Verachtung der Homerischen Götter getrieben werden, als in dieser großen Composition von Gruppen, die den innersten Cirkel des grünen Amphitheaters einnimmt. Der Alte, der mich von einer Figur zur andern herumführte, ergötzte sich, wie es schien, stillschweigend an meiner Verlegenheit, und an dem Sardonischen Lachen 63, welches mir seine zur niedrigsten Menschenclasse herabgesetzten Götter wider Willen abnöthigten. Was denkst du, sprach er endlich mit einem selbstzufriednen Blick, zu der guten Gesellschaft, die ich mir in meiner Einsamkeit zu verschaffen gewußt habe?
Ich. Ich denke, wie du wohl zu dieser guten Gesellschaft gekommen seyn kannst; denn unter den Bildschnitzern, die ich kenne (und ich kenne ungefähr alle, die in einigem Rufe stehen), wüßte ich keinen, den ich für den Schöpfer dieser sonderbaren Kunstwerke halten könnte.
Er. Das will ich wohl glauben.
Ich. Gleichwohl kann sie kein Stümper gemacht haben. Sie sind zwar größtentheils etwas roh, und mit einer gewissen Nachlässigkeit gearbeitet, auch hat ein Carricaturenschnitzer den Vortheil, sich viele Willkürlichkeit erlauben zu dürfen; indessen bleibt die Natur doch immer seine Regel; [115] auch die überladensten Zerrbilder müssen eine aus Harmonie mit sich selbst entspringende Wahrheit haben; und da bei ihnen alles auf eine starke und geistvolle Bezeichnung des Charakteristischen in ziemlich willkürlichen Formen ankommt, so erfordern sie vielleicht mehr Genialität und eine noch keckere Hand, als Werke, die nach einem bestimmten Kanon der schönsten Formen gearbeitet sind. Und hierin scheinen mir diese hier alles zu übertreffen, was ich jemals in ihrer Art gesehen habe.
Er. Es ist mir also gelungen. Denn alle diese närrischen Unkepunze (μορμολυκεια) sind meine eigene Arbeit, und ihnen hab' ich es zu danken, daß mir die lange Zeit, die ich hier gelebt habe, und mit der ich sonst nichts anzufangen wußte, ziemlich kurz geworden ist. Denn du begreifst leicht, daß ich fleißig seyn mußte, um in achtzehn Jahren damit fertig zu werden. Ich hatte von Kindheit an viel Geschick für diese Art von Bildnerei; und das Mechanische, welches dazu erfordert wird, lernte ich in meiner Jugend von einem ziemlich mittelmäßigen Xyloglyphen 64 in meiner Vaterstadt.
Ich. Aber was haben dir die Götter gethan, das dich reizen konnte, eine so unbarmherzige Rache an ihnen zu nehmen?
Er. Was sie mir gethan haben? Wahrlich, ich habe von ihnen, oder (was am Ende auf Eins hinausläuft) von ihren Priestern mehr als zu viel gelitten! Und doch ist dieß nicht was meine Galle gegen sie gereizt hat. Denn ich muß gestehen, in der Fehde, worin wir mit einander befangen sind, war ich der angreifende Theil. Aber ich ärgerte mich, wenn [116] ich so manchen großen Künstler allen seine Kräfte aufbieten sah, für diese unsittlichen Idole, in welchen der schnödeste Betrug und der sinnloseste Aberglaube alle Unarten und Thorheiten der menschlichen Natur vergöttert hat, schöne und große mehr als menschliche Formen zu erfinden, um sie in prachtvollen Tempeln dem dummen Haufen zur Anbetung aufzustellen. Mußt du nicht gestehen, daß meine Carricaturen den Göttern Homers viel angemess'ner sind, als die erhabenen Gestalten eines Phidias und Alkamenes? Wer kann sich den brünstigen Jupiter auf Ida, oder seine Gemahlin, die den armen Priamus und seine Söhne mit allen übrigen Trojanern lieber roh auffressen möchte, unter der Gestalt des Olympischen Jupiters und der Samischen Juno 65 denken?
Ich. Es sollte mir eben nicht schwer seyn, den Sachwalter des Homerischen Zeus, wenigstens in der ehlichen Scene auf dem Gargaros die dir so anstößig ist, zu machen, und ganz stattliche Ursachen anzugeben, warum er sich seiner vielen trefflichen Bastarde und der schönen Erdentöchter und Göttinnen, die ihm diese Helden erzeugen halfen, mit so vielem Wohlbehagen erinnert. Indessen, weil du bei einer scharfen Untersuchung am Ende doch wohl Recht behalten möchtest, gebe ich den Wolkenversammler mit seiner stieräugigen Gemahlin, und meinethalben alle andern unsterblichen Olympier der verdienten Züchtigung preis. Aber wenigstens hättest du der holden Musen, die uns aus dem Stande der rohen Thierheit gezogen und den Keim der Humanität in uns entwickelt haben, schonen sollen.
Wie? (rief er in angenommenem komisch-zürnendem Tone) [117] haben sie ihre Strafe nicht schon dadurch allein reichlich verdient, daß sie dem alten blinden Sänger so viel tolles und ungebührliches Zeug auf Kosten der armen Götter weiß gemacht haben? Denn, da er uns nichts singt als was sie ihm vorgesungen, fällt nicht billig alle Schuld auf sie? Doch, wenn auch dieser Vorwurf nicht träfe, um eurer Allegorien willen kann ich keine Ausnahmen machen; nicht einmal zu Gunsten der Grazien, die der feile Pindar den Orchomeniern zu Gefallen 66 so hoch erhebt, und die du dort, nicht weit von der hochgeschürzten Austernymphe von Cythere, in Gestalt böotischer Kühmägde sich mit Faunen und Bocksfüßlern herumdrehen siehest. Hier ist nichts zu schonen! Ich bin meines Daseyns nicht gewisser als der traurigen Wahrheit, daß der bloße Aberglaube dem Menschengeschlecht mehr Schaden zugefügt hat, als alle unsre übrigen Schwachheiten, Narrheiten und Laster zusammen genommen. Ich habe also Göttern und Priestern ewige Fehde angekündiget, und ich wundre mich nicht, daß mir, wiewohl ich nur ein Pfuscher in der Kunst bin, diese Zerrbilder so wohl gerathen sind: denn ich habe (was vielleicht ohne Beispiel ist) zugleich mit Liebe und mit Grimm daran gearbeitet, mit Liebe zum Werke selbst, und mit immer steigendem Grimm über die Gegenstände. Alles dieß, lieber Aristipp, wird dich nicht länger befremden, sobald ich dir sage: daß der Mann, den du vor dir siehst, Diagoras der Melier 67 ist, von dem du, bei Gelegenheit, in der ganzen Hellas als einem Atheisten mit Abscheu und Schaudern reden gehört haben wirst, und der doch wahrlich diesen ehrenvollen Beinamen, so viel in seinen Kräften ist, zu verdienen suchen muß.
[118] Wie? Ist's möglich? rief ich: du Diagoras? eben dieser Diagoras, der seit mehr als zwanzig Jahren für todt gehalten wird, und, wie die gemeine Sage geht, von der Rache der Götter überall verfolgt, in einem Schiffbruch unterging!
Sprich, versetzte er, von der Rache der Priester verfolgt, so hast du die Wahrheit gesagt; ihrer Götter halben wollt' ich mich in einem Kornsieb auf den Ocean wagen. Was ich dir sage; ich, wie du mich hier siehest, bin dieser von den Athenern geachtete und durch ein fürchterliches Decret in allen Theilen Griechenlands verfolgte Diagoras von Melos, der, auf seiner Flucht nach Thracien, an der Küste der Abderiten Schiffbruch litt, und, zum redenden Beweise wie mächtig die Götter der Griechen sind, allein am Leben blieb, als das Schiff mit allen übrigen, die es am Bord hatte trotz der heißen Gelübde, die sie dem Erderschütterer Poseidon und Zeus dem Retter zuwinselten, ohne Rettung zu Grunde ging.
Jetzt ward mir alles klar, was mich bisher an meinem Wirthe befremdet hatte, und nun erst erinnerte ich mich, was mir gestern nicht aufgefallen war, daß er bei Tische die gewöhnliche Libation vorbeiging, die kein Grieche, bevor er trinkt, aus der Acht läßt.
Diagoras erzählte mir nun, mit welcher Mühe, Gefahr und Noth er sich in allerlei Verkleidungen von einer Insel des Aegeischen Meeres zur andern bis nach Lemnos geflüchtet, wo er zufälligerweise erfahren, daß die Athener eine große Belohnung für den, der ihn todt oder lebendig liefern würde, durch ganz Griechenland ausrufen lassen; wie er, aus Furcht zu Lemnos entdeckt zu werden, etliche Monate [119] sich in Wäldern und Bergklüften verbergen, und sein Leben kümmerlich mit rohen Wurzeln und wilden Früchten habe fristen müssen, und wie er endlich unverhofft in einem Schiffe aufgenommen worden, das für Byzanz befrachtet war, aber das Unglück hatte, von einem Sturm an die Thracische Küste geworfen zu werden, und nicht weit von Abdera zu scheitern. Diagoras, der sich durch Schwimmen ans Land gerettet hatte, erinnerte sich jetzt seines Freundes Demokritus, bei welchem er Rath und Unterstützung zu finden gewiß war: als er sich aber zu Abdera nach ihm erkundigte, hieß es, er sey schon vor geraumer Zeit weggezogen, ohne daß man wisse was aus ihm geworden sey. Zu gutem Glücke traf er auf einen seiner ehmaligen Jugendfreunde, der indessen ein bedeutender Mann in Abdera geworden war, und sich seiner sehr lebhaft annahm. Das Decret der Athener war auch hier bereits angekommen, und von den Abderiten, zum Beweis ihres Eifers für die Sache der Götter, öffentlich bekannt gemacht worden. Da sich nun leicht jemand finden konnte, der die ausgesetzte Belohnung hätte verdienen mögen, so verbarg ihn sein Freund sorgfältig auf einem seiner Landgüter im Macedonischen; und weil Diagoras keinen andern Wunsch mehr hatte, als sein übriges Leben in gänzlicher Verborgenheit zuzubringen, kamen sie nach Verfluß einiger Zeit auf den Gedanken, ihm in Thessalien, auf einem der wildesten und unzugangbarsten Theile des Ossa, wo ihn niemand suchen würde, eine Wohnung zu verschaffen. Es fand sich eine geräumige Felsenhöhle, welche mit geringer Mühe zu einer Einsiedlerei, wie er sie nöthig hatte, zugerichtet werden konnte, und in ein von steilen Klippen [120] umgürtetes Thal auslief, wo er sich mit Anpflanzung und Wartung eines Gartens beschäftigen konnte. Das ganze Wesen wurde der Gemeine des nächstgelegnen Dorfes, deren Eigenthum dieser Theil des Gebirges ist, abgekauft, und Diagoras, unter dem Namen Agenor, mit einer Thracischen Sklavin, die ihm sein Freund überließ, in den Besitz desselben gesetzt. Agenor gilt (wie er mir sagte) unter den benachbarten Hirten und Landleuten, einer dem Thessalischen Volke gemeinen Vorstellungsart zufolge, für einen mächtigen Zauberer, in dessen Ungnade zu fallen jedermann sich sorgfältig hütet; und er läßt sie um so lieber in diesem Wahn, da er sich, durch die gute Wirkung einiger von Demokritus gelernten Heilungsmittel für Menschen und Vieh, ihr Zutrauen erworben hat. Auch seine Unsichtbarkeit trägt zu der Ehrfurcht, die der Name Agenor einflößt, das Ihrige bei; denn niemand kann sich rühmen, ihn jemals in der Nähe gesehen zu haben, und alles, was er mit ihnen zu verkehren hat, geht durch den Mund und die Hände seiner getreuen Sklavin.
Diagoras verlangte von mir zu hören, ob zur Zeit meines Aufenthalts in Athen noch die Rede von ihm gewesen sey, und was für eine Vorstellung ich mir, nach den Gerüchten die über ihn herumgegangen, von ihm gemacht hätte. Ich antwortete, alles, was ich für und wider ihn gehört, wäre mir so übel zusammenhangend und widersinnisch vorgekommen, daß ich, in der Ungewißheit was ich davon denken sollte, nur die vermeinte Unmöglichkeit beklagt hätte, die Wahrheit von ihm selbst zu erfahren. So hätte ich z.B. die Sage von der wahren Ursache seiner Atheisterei gar zu [121] ungereimt gefunden, – O, die möcht' ich doch hören, fiel er mir ins Wort; ich bitte dich, was sagte die Sage? – »Es hieß, die eigentliche Veranlassung zu deiner erklärten Feindschaft gegen die Götter sey ein Rechtshandel gewesen, in welchen du mit einem gewissen Menschen gerathen, der dir ein ihm anvertrautes Gedicht unterschlagen und den Empfang desselben mit einem förmlichen Eide vor Gericht abgeläugnet, aber, nachdem er frei gesprochen worden, das Gedicht als sein eigenes Werk mit großem Beifall bekannt gemacht habe. Dieser Handel, sagte man, hätte dich so tief gekränkt, daß du den Göttern nicht hättest verzeihen können, daß sie nicht auf der Stelle ein Zeichen an dem Meineidigen gethan; kurz, das erlittene Unrecht hätte dich in deinem Glauben so irre gemacht, daß du endlich auf den Gedanken verfallen seyest: da die Götter, wofern Götter wären, einen solchen Frevel unmöglich ungestraft lassen könnten, so müßten nur gar keine Götter seyn. Das ist lustig, sagte Diagoras: man muß gestehen, für ein so witziges Volk, wie die Athener sind, räsonniren sie zuweilen erbärmlich; und überhaupt ist nichts so ungereimt, das sie sich nicht weiß machen ließen, sobald es auf andrer Leute Kosten geht. Fürs erste, habe ich in meinem Leben (wenigstens seitdem ich nicht mehr in die Schule gehe) nichts gemacht das einem Gedicht ähnlich sähe. Hätte ich aber auch das Talent, Verse zu machen die gestohlen zu werden verdienten, so würde ich, anstatt den Dieb gerichtlich zu belangen, mein Recht an sie dadurch bewiesen haben, daß ich noch bessere gemacht hätte. Und gesetzt endlich, ich hätte mich in der ersten Hitze zu einem Rechtshandel gegen [122] den Räuber hinreißen lassen, so würde ich wenigstens nicht so albern gewesen seyn, zu verlangen daß Jupiter, – der, um den Erdboden nicht gänzlich zu entvölkern, so viele tausend falsche Eide ungestraft lassen muß, – nun gerade meiner Verse wegen eine Ausnahme machen sollte. Wahrlich wäre der sparsame Gebrauch der Donnerkeile, und die Art, wie die Welt regiert wird, überhaupt die schwächste Seite der Götter, sie würden von mir immer unangefochten geblieben seyn! Denn ich wüßte wirklich nicht wie sie es angreifen müßten, um die ungeheure Menge von Narren, Thoren und Schelmen, womit die Erde überdeckt ist, besser zu regieren, als wir im Ganzen regiert werden; aber eben daraus, daß wir so gut regiert werden, als es unsre Narrheit und Verkehrtheit nur immer zuläßt, schließe ich, die Welt werde nicht von unsern Göttern regiert. Denn, nach der Probe zu urtheilen, die sie in Homers Ilias abgelegt haben, müßte es noch zehnmal toller zugehen, wenn die Zügel der Weltregierung in den Händen so selbstsüchtiger, launischer, ungerechter, stolzer, rachgieriger, wollüstiger und grausamer Despoten lägen, als der alte Sänger uns diese nämlichen Götter schildert, die in allen Städten Griechenlands Tempel, Altäre und Priester haben. Ich sagte ihm: auch mir wäre jene Sage von der Ursache seines Götterhasses zu lächerlich vorgekommen, um den mindesten Glauben zu verdienen. Aber was ich mir nicht zu erklären gewußt hätte, wäre der Hang zu den geheimen Gottesdiensten, der bei ihm (wie man versichert) ehmals bis zur Leidenschaft gegangen sey. Es war eine Zeit, sagt man, wo Diagoras im Glauben an Theophanien 68, Orakel und Wunderdinge aller Art eher zu [123] viel als zu wenig that, und man weiß daß er den größten Theil seines Vermögens aufgeopfert hat, um in der ganzen bewohnten Welt herumzureisen, und sich in alle Mysterien, so viele er deren ausspähen konnte, einführen zu lassen. Wie ein Mann, der die Religiosität bis zu diesem Grade von Schwärmerei getrieben, auf einmal zum entgegen gesetzten Aeußersten habe überspringen können, schien etwas so Unnatürliches, daß man sich geneigt fühlte, selbst die ungereimteste Erklärung, die ein solches Wunder einigermaßen begreiflich machte, für gut gelten zu lassen.
Dir, versetzte Diagoras, hoffe ich, ohne deiner Vernunft etwas Ungebührliches zuzumuthen, ziemlich begreiflich zu machen, wie ich gerade durch die vollständigste Befriedigung der besagten Schwärmerei zu dem Atheism gekommen bin, dessen ich mit und ohne Grund, je nachdem man's nimmt, beschuldiget werde. Alle Menschenkinder kommen, denke ich, mit mehr oder weniger Hang zum Wunderbaren auf die Welt. Bei mir äußerte sich dieser Naturtrieb von früher Jugend an sehr lebhaft, aber mit einer Gegenwirkung verbunden, die ihm alle seine Schädlichkeit benahm. Ich horchte nämlich mit dem größten Vergnügen auf alle Erzählungen dieser Art; Milesische Mährchen, Zauber- und Gespenstergeschichten, theurgische Wunder, Theophanien, und alle die übernatürlichen Dinge, die sich täglich ereignet haben sollen als die Götter noch unter den Menschen wandelten, und die Erde mit ihren Söhnen und Töchtern erfüllten, kurz, alle diese Kindereien, wovon die Griechen immer so große Liebhaber waren, hatten auch für mich einen ungemeinen Reiz; aber ich glaubte kein [124] Wort davon. Sie belustigten und beschäftigten bloß meine Einbildungskraft und meinen Witz; jenes desto mehr, je unglaublicher sie waren; dieses, indem sie mich zum Nachdenken anreizten, wie es mit diesen Dingen natürlich habe zugehen können, d.i. woher wohl die dabei vorwaltende Täuschung gekommen, und wie es möglich gewesen, solche Albernheiten selbst den einfältigsten Menschen weiß zu machen. Diese Anlage bei mir vorausgesetzt, wird dir alles Uebrige sehr begreiflich werden. Ich hatte von Kindheit an viel von Orakeln, besonders von dem zu Delphi, gehört; als ich heran gewachsen war, hörte ich auch zuweilen, wiewohl immer mit geheimnißvoller Zurückhaltung, von den Eleusinischen und andern Mysterien reden. Dieses Geheimthun der Eingeweihten reizte meinen Vorwitz, hinter die wunderbaren Dinge zu kommen, die, wie ich nicht zweifelte, in diesen Mysterien zu sehen und zu hören seyn müßten. Ich versuchte es auf alle Weise, fand aber, daß ich auf keinem andern Wege zu meinem Zweck gelangen würde, als wenn ich mich selbst in diesen geheimen Gottesdiensten iniziiren ließe. An Gelegenheiten dazu konnte mir's nicht fehlen. Mein Vater war einer der ansehnlichsten Handelsleute in Melos. Er schickte von Zeit zu Zeit Schiffe nach den vornehmsten Häfen des Aegeischen, Ionischen und Karpathischen Meeres, und hatte allenthalben Correspondenten, mit denen er in gastfreundlicher Verbindung stand. Frühzeitig mit dieser Art von Geschäften bekannt gemacht, wurde ich von meinem zwanzigsten Jahre an, unter der Führung eines alten Dieners bald dahin bald dorthin verschickt. Diese Reisen gaben mir Gelegenheit, mich mit den Orgien von Lemnos, [125] Kreta und Cypern bekannt zu machen: aber was ich dadurch erfuhr, war so unbedeutend, daß es zu nichts diente, als meine Begierde nach wichtigern Entdeckungen desto stärker anzufeuern. Ich machte mir einen Plan, meine Nachforschungen bei den Priestern zu Memphis und Sais (welche nach dem gemeinen Wahn der Griechen in uraltem Besitz einer geheimen theurgischen Weisheit sind) anzufangen, sodann die von ihnen nach und nach zu den Persern, Syrern, Phöniciern und Griechen übergegangenen Mysterien auf dem Wege den sie genommen zu verfolgen, und nicht eher zu ruhen, bis mir in diesem Fache nichts mehr zu ergründen übrig wäre. Ich führte diesen Plan aus, sobald ich durch den Tod meines Vaters das Vermögen dazu bekam. Ich brachte mehrere Jahre damit zu; und da wir natürlicherweise nach dem, was an uns in die Augen fällt, beurtheilt werden, so konnt' es nicht fehlen daß ich mir durch eine so ungewöhnliche Anwendung meiner Zeit und meines Vermögens den Ruf eines bis zur Schwärmerei religiösen Menschen zuzog; einen Ruf, den ich selbst, so lang' er meinen Absichten beförderlich seyn konnte, auf alle Weise zu unterhalten beflissen war.«
»Auf der letzten Reise, die ich zu Vollendung meines Plans zu machen hatte, ward ich zufälligerweise mit dem berühmten Abderiten Demokritus bekannt, den eine ähnliche Wißbegierde seit vielen Jahren in der Welt herum trieb; nur daß seine Absicht mehr auf Naturgeschichte, und auf die physischen, astronomischen und medicinischen Geheimnisse der Aegyptischen Priester, Magier und Orphiker, als auf die religiösen gerichtet war. Wer die Mitbürger dieses außerordentlichen [126] Mannes kennt, sollte glauben, sein Genius habe Mittel gefunden, sich alles Verstandes, den die Natur unter die Bewohner von Abdera vertheilen wollte, für ihn allein zu bemächtigen. Mir wenigstens ist unter so vielen merkwürdigen Männern, deren Bekanntschaft zu machen meine Reisen mir Gelegenheit verschafften, keiner vorgekommen, der mit einem so hellen und so viel umfassenden Geist einen so unermüdeten Fleiß in Erforschung der Natur, und mit beidem so viel Gutlaunigkeit und Anmuth im Umgang vereinigte wie Demokritus. Von der ersten Stunde unsrer Bekanntschaft an fühlte ich mich so stark von ihm angezogen, daß ich nie wieder von ihm getrennt zu werden wünschte; und auch er faßte so viele Zuneigung für mich, daß er mir nicht nur erlaubte ihn auf seinen übrigen Wanderungen zu begleiten, sondern auch Vergnügen daran fand, mich in seinen eigenen Mysterien einzuweihen, welche mir, wie du gerne glauben wirst, eine ganz andere Befriedigung gaben als die priesterlichen, womit ich einige der besten Jahre meines Lebens vertändelt hatte. Die Bekanntschaft mit diesem Manne hätte mir viel Ungemach und die Nothwendigkeit, mein Daseyn in einer Felsenkluft zu verheimlichen, ersparen mögen, wenn ein Mensch seinem Schicksal entgehen könnte, oder richtiger zu reden, wenn ich meinen Eifer, die Menschen vernünftiger zu machen als sie zu seyn fähig sind, im Zaume zu halten gewußt hätte.«
Was du mir da sagst, fiel ich ein, setzt mich desto mehr in Verwunderung, da ich nach dem Ruf, worin Demokritus steht, eher alles andere als einen Sachwalter der Götter von ihm erwartet hätte.
[127] Der war er denn auch so eigentlich nicht, versetzte Diagoras; aber er hatte sich über diesen Punkt ein System gemacht, wobei er seine Vernunft zu retten glaubte, ohne mit den Priestern und Mystagogen, die den Glauben an ihre Götter und Mysterien zu einer Bürgerpflicht zu erheben gewußt haben, jemals in offne Fehde zu gerathen.
Du würdest mich verbinden, sagte ich, wenn du mich mit seiner Denkart über diesen Gegenstand näher bekannt machen wolltest. – Dieß kann nicht besser geschehen, erwiederte Diagoras, als wenn ich dir eine Unterredung mittheile die über diese Materie zwischen uns vorfiel.
Du bist, sagte Demokritus zu mir, vermuthlich der einzige Mensch in der Welt, der so viel Zeit und Geld aufgewandt hat, um hinter die Geheimnisse der Priesterschaft zu kommen: darf ich fragen, was der reine Gewinn deiner Entdeckungen ist? – Immer so viel (war meine Antwort) daß ich die Unkosten nicht bereue. Ich weiß nun mit einer Gewißheit 69, die ich schwerlich auf einem andern Weg erlangt hätte: daß Götter und Priester Synonymen sind; daß alle unsre Götter (die bloß allegorischen ausgenommen) Menschen waren, die ihre Standeserhöhung und den ihnen angewiesenen Antheil an der Weltregierung den Priestern, durch welche sie regieren, zu danken haben; und daß der Tartarus mit allen seinen Feuerströmen und Schreckgespenstern, so wie die Inseln der Seligen mit aller ihrer Wonne, schlaue Erfindungen sind, wodurch die Priesterschaft sich der beiden mächtigsten Leidenschaften und durch sie der Herrschaft über die Welt bemächtigt hat. Ich begreife nun wie der Götter und der Menschen Vater [128] Zeus zu Kreta geboren und begraben seyn kann; warum Delos die Wiege des Apollo und der Artemis ist, und woher die unendliche Menge von Söhnen und Töchtern kommt, womit unsre Götter und Göttinnen die ganze Hellas so überschwänglich bevölkert haben, daß keine alte Familie ist, die ihr Stammregister nicht mit irgend einem göttlichen Bastard anzufangen die Ehre hätte. Ich begreife nun, warum eine Religion, die in sich selbst so übel zusammenhängt, und deren höchstes Geheimniß ist daß die Götter Nicht-Götter sind, so wenig zur Veredlung der Menschheit beitragen kann. Und wenn auch das alles nicht wäre (setzte ich hinzu) rechnest du etwa für nichts, daß ich weiß wohin Isis ihren Sohn Horus vor dem wüthenden Typhon verbarg, was das alte Mütterchen Baubo der Ceres zeigte, um sie in der höchsten Betrübniß zum Lachen zu bringen, und was in dem verdeckten Korbe war, den Pallas Athene den Töchtern des Cekrops in Verwahrung gab? – O gewiß, versetzte Demokritus lachend, zu diesen Wissenschaften hättest du schwerlich auf einem andern Wege gelangen können; aber alles übrige war wohlfeiler zu haben. – Ich muß bekennen, sagte ich, daß mir die Wissenschaft – nichts oder was wenig besser als nichts ist, zu wissen, hoch genug zu stehen kommt; zumal, da mir, bei aller Aufklärung die ich über unsre Mysterien erhalten habe, der Hauptpunkt noch immer unbegreiflich geblieben ist. – Was könnte dieß wohl seyn? fragte Demokritus. – Weiter nichts, als wie es möglich ist, daß bei der unendlichen Menge von – Iniziirten, es noch einen einzigen vernünftigen Menschen geben kann, der sich durch ein so grobes Gewebe von [129] Betrug, Gaukelei, Kindermährchen und Kinderpossen, wie die Religion unsrer Väter ist, noch einen Augenblick täuschen lassen kann. Denn wirklich thut die Priesterschaft ihr Möglichstes uns die Augen zu öffnen. – Ich sehe, erwiederte er, daß du mit allen deinen Nachforschungen noch immer nicht auf den Grund der Sache gekommen bist. Wir machen uns fast allemal einer Ungerechtigkeit schuldig, wenn wir irgend etwas Menschliches, sey es – Glaube, Gewohnheit, Sitte, oder – Lehre, Gesetz, Institut, eher für ganz ungereimt und verwerflich erklären, bevor wir unbefangen erforscht haben, ob es nicht in seinem Ursprung, zu seiner Zeit und in seiner ersten Gestalt, gut, schicklich und zweckmäßig war. Ich bin gänzlich deiner Meinung, daß der Gebrauch, den die Priesterschaft heutzutage von ihren Orakeln und Mysterien macht, die Verachtung, die du dagegen gefaßt hast, mehr als zu sehr rechtfertigt: nichtsdestoweniger scheinen mir beide zur Zeit ihrer Einsetzung schickliche Mittel zu einem löblichen Zweck gewesen zu seyn, und um dieser Ursache willen einige Schonung zu verdienen. Die undurchdringliche Finsterniß, die auf der ältesten Geschichte aller Völker liegt, hat mich nicht abgeschreckt, in den Alterthümern des unsrigen so weit zu forschen als irgend ein hier und da hervorbrechender Lichtpunkt mir vorzudringen erlaubte. Dem, was ich darin wahrzunehmen glaubte, zufolge, nehme ich drei verschiedene Epochen an, in welchen unsre Volksreligion sich nach und nach zu dem, was sie noch zu unsrer Väter Zeit war, gestaltet hat. Denn über das, was sie jetzt ist, sind wir, denke ich, ziemlich einverstanden. Der erste dieser Zeitpunkte ist der, da unser Land noch von ganz rohen Naturmenschen, [130] oder richtiger gesagt, Thiermenschen bewohnt war. So lange der Mensch auf dieser untersten Stufe steht, kann man von ihm so wenig, als von irgend einem andern Thiere, sagen, daß er eine Religion habe: es ist etwas der Religion Aehnliches, wie man einigen Thieren etwas der Vernunft Aehnliches zuschreibt. Ein dumpfes Gefühl der gewaltigen, ihm unbegreiflichen Kräfte der Natur, das bei ungewöhnlichen, vorzüglich bei furchtbaren Naturbegebenheiten in ihm erregt wird, ist der rohe Stoff, woraus der finstre, schwermüthige und schreckhafte Aberglaube, in welchem wir die Kindheit des Menschengeschlechts befangen sehen, sich nach und nach hervorarbeitet. Das Wort Deisidämonie scheint in unsrer Sprache ganz eigentlich für diesen Zustand gemacht zu seyn; etwas Bestimmteres von der besondern Gestalt, welche dieser noch so sehr unförmliche, dem Zufall und einer ungebändigten Einbildungskraft gänzlich überlass'ne Dämonism 70, unter den Autochthonen 71 unsers Landes angenommen haben mag, weiß ich nicht zu sagen.
Die zweite Epoche scheint mir die ebenfalls unbestimmbare, uralte Zeit zu seyn, da die Titanen, vermuthlich vom Kaukasus her, sich eines großen Theils der nachmaligen Hellas bemächtigten, und ein Reich stifteten, das von keiner langen Dauer gewesen zu seyn, aber doch den ersten Grund zur Civilisirung dieser Gegenden gelegt zu haben scheint. Durch die Länge der Zeit mußte unter einem Volke, dem die Kunst, Gedanken und Worte mittelst einer leichten Art von Bezeichnung zu verkörpern und festzuhalten, noch unbekannt war, die Geschichte der Titanen, durch bloße mündliche Ueberlieferung [131] fortgepflanzt, nach und nach zu Sagen, und, durch eine Kette von Veränderungen, Revolutionen und zufälligen Ursachen aller Art, endlich zu Volksmährchen werden, wovon unsre übelzusammenhängende ältere Götter-und Heroengeschichte ein verworrenes Chaos ist. Unzählige Spuren setzen indessen ihr ehemaliges Daseyn und ihre Verdienste um die ältesten Bewohner Griechenlands außer allen Zweifel. Mit ihnen kamen die zu einem menschlichen Leben unentbehrlichen Künste zuerst in diese Gegenden; und, aller Wahrscheinlichkeit nach, schreibt sich auch die Einführung der ältesten Religion des obern Asiens, die Verehrung des Himmels und der Erde, der Sonne und des Mondes von ihnen her. Wie es nun zuging, daß in der Folge die Titanen selbst für Söhne des Himmels und der Erde gehalten und kraft eines Erbrechtes, das ihnen von niemand streitig gemacht wurde, theils an die Stelle der Sonne und des Mondes, theils in den Besitz der Oberherrschaft über Luft und Erde, Wasser und Feuer gesetzt, theils, als die Urheber der ersten Anfänge des bürgerlichen Lebens, des Feldbaues und der dazu nöthigen Künste, lange nach ihrem Tode göttlich verehrt wurden; ingleichem wie die Regierungsveränderungen, die sich in diesem vergötterten Geschlechte ereignet haben sollen, zu erklären sind, übergehe ich, als zu dem, wovon jetzt die Rede ist, nicht gehörig, und bemerke nur, daß die spätern Aegyptischen und Phönicischen Stifter oder Wiederhersteller der Städte Athen und Theben, Cekrops und Kadmus, als sie nach Griechenland kamen, unsre vornehmsten Götter, Zeus und Here, Poseidon, Apollo und Artemis, Pallas Athene und Aphrodite, Demeter und Persephone,[132] Ares, Hermes und Hephästos (sämmtlich aus dem Titanengeschlechte) vermuthlich schon im Besitz der öffentlichen Anbetung gefunden und um so mehr ungestört darin gelassen haben, da sie ihre eigenen Götter, nur unter andern Namen, in ihnen wiederfanden; wiewohl ich nicht zweifle, daß ein großer Theil der Verwirrungen und Widersprüche, die in der Genealogie und Geschichte der Griechischen Götter herrschen, sich von den mannichfaltigen Vermischungen älterer und späterer, einheimischer und ausländischer Sagen herschreibt, wozu die fremden Colonisten die Veranlassung gegeben haben mögen. Nichtsdestoweniger setze ich die dritte Epoche unsers alten Religionswesens in die Zeit des Aegyptiers Cekrops, insofern ich ihn als den wahren Stifter der Eleusinischen Mysterien betrachte, von welchen alle übrigen, (die Aegyptischen des Osiris und der Isis, welche jenen selbst zum Muster dienten, ausgenommen) bloße Nachahmungen sind. Bis dahin war die Religion unsrer theils wild gebliebenen, theils nach und nach wieder verwilderten Griechen bloße Deisidämonie gewesen; und wiewohl zu glauben ist, daß wenigstens die Schutzgötter jedes Volkes, Stammes und Ortes schon lange vor Cekrops und Kadmus öffentliche Altäre, Tempel und Priester hatten, so findet sich doch keine Ursache, auch nur zu vermuthen, daß man bei den Opfern und Gelübden, die man ihnen darbrachte, etwas anders abgezielt habe, als sich ihrer Gnade und ihres Schutzes zu versichern, oder ihren Zorn, welchem man alle physischen und moralischen Uebel zuschrieb, zu besänftigen. Der Glaube, daß Zeus selbst unmittelbarer Schirmherr des gastlichen Rechts und Rächer des Meineides [133] sey, und daß jeder, sogar unvorsetzliche Mord von den Erinnyen rastlos verfolgt werde, war damals alles, was die Religion zu Beförderung der Humanität unter den ungeschlachten Horden, welche nach und nach mit vieler Schwierigkeit zum bürgerlichen Leben vermocht worden waren, beitrug. Aber die neuen Gesetzgeber fanden (den Begriffen gemäß, die sie aus ihrem Lande mitgebracht), theils zur Erhaltung und Aufnahme ihrer neuerrichteten Colonien, theils überhaupt zur Befestigung der bürgerlichen Ordnung unter einem ungeschlachten Volke nöthig, das schwache Ansehen der Gesetze durch den Glauben zu stützen, »daß die Götter unmittelbare Kundschaft von dem Thun und Lassen der Menschen nehmen, und, nicht zufrieden schon in diesem Leben die Bösen zu strafen und die Guten zu belohnen, auch die Seelen der Verstorbenen vor ein unerbittlich strenges Gericht forderten, und je nachdem sie entweder unsträflich gelebt, oder sich mit noch ungebüßten Ver brechen befleckt hätten, in jenem Falle in einen wonnevollen Zustand versetzten, in diesem durch die schrecklichsten Peinigungen zur Strafe zögen.« Diese Lehre, dem Volk als Glaubenspunkte bloß durch mündlichen Vortrag eingeschärft, würde wenig Eindruck gemacht haben: aber durch die Mysterien symbolisirt, und unter einer Menge Ehrfurcht gebietender Feierlichkeiten den Sinnen selbst unmittelbar dargestellt, mußte sie auf äußerst sinnliche und abergläubische Menschen, die man in den unterirdischen Wölbungen des Tempels zu Eleusis durch künstliche Täuschungen erst in den Tartarus, dann in die Elysischen Haine versetzte, die größte Wirkung thun. Du wirst nicht vergessen haben, Diagoras, wie [134] dir selbst, trotz deinem Unglauben, dabei zu Muthe war, und du kannst von dem Eindruck, den das, was du hörtest und sahest, auf deine Einbildung machte, auf denjenigen schließen, den solche Anschauungen auf ungebildete Menschen machen mußten, die sich nicht, wie du, in ein Schauspiel, sondern übernatürlicher Weise in die wirkliche Unterwelt versetzt glaubten. Ich gestehe, sagte ich, daß sich, bei dem feierlich langsamen Durchgang durch die labyrinthischen Windungen des Tartarus, über das was ich hörte, und in einer durch zuckende Blitze und wirbelnde Rauch- und Flammenwellen erleuchteten sichtbaren Dunkelheit zu sehen glaubte, alle Haarspitzen auf meinem Kopfe und an meinem ganzen Leibe empor richteten. Aber freilich wird der Eindruck, den dieß allenfalls auf ein weiches Gemüth machen könnte, durch den geheimen Unterricht, den man bei der zweiten großen Weihe empfängt, wieder rein ausgelöscht. Daher, sagte Demokritus, wurden ehmals keine andern zu dieser hohen Weihe zugelassen, als Männer, die man stark genug glaubte starke Wahrheiten zu ertragen, und edel genug, sie gehörig zu gebrauchen. Ueberdieß zweifle ich nicht, daß die zweite Initiation bei den Eleusinischen Mysterien in ihrem Ursprung entweder noch gar nicht stattgefunden, oder wenigstens eine andere, der Einfalt jener Zeiten angemessenere Beschaffenheit gehabt habe.
Wenn ich dir alles zugebe, versetzte ich, was du mit vieler Scheinbarkeit von den drei Epochen der Religion unserer Väter gesagt hast, was gewinnt sie dabei in ihrem dermaligen Zustande? Wir leben in einer vierten Epoche, wo kein gebildeter Mensch mehr an Götter glaubt die nie gewesen sind, [135] und unsre eben so ungläubigen Priester, mit den reichen Einkünften, die jedem sein Gott verschafft, zufrieden, sich eher um alles andere bekümmern, als um den sittlichen Einfluß, den die Religion auf das Gemüth der Menschen haben könnte.
Es sollte mir nicht schwer seyn, dir beides streitig zu machen, erwiederte Demokritus: aber, wenn ich dir auch gestehe, daß mir gerade kein Priester beifällt, den ich deiner Behauptung entgegenzustellen wagen möchte; so ist doch die Anhänglichkeit des großen Haufens an den Glauben ihrer Voreltern noch immer so augenscheinlich, daß ich niemand rathen wollte, ihn auf die Probe zu setzen. Sogar unter den ersten Männern unsrer Zeit kenne ich mehr als Einen, der so stark als seine Großmutter an Orakel, Vögel und Opferlebern glaubt, vor einer Mondfinsterniß oder einer Doppelsonne wie vor einem Unglückszeichen erschrickt, und mit dem größten Ernst einem ganzen Senat oder den versammelten Befehlshabern eines Kriegsheers erzählt, was ihm diese Nacht geträumt hat. Macht dieß die Sache unserer Priester nicht besser, so beweiset es wenigstens: daß unser alter Volksglaube noch bei weitem nicht so unwirksam ist als du dir einzubilden scheinst; und ich ziehe daraus die Folge, daß es, sowohl für einzelne Personen als für den Staat selbst, gefährlich wäre, sich über diesen Punkt zu täuschen. So lange die Religion, die bei Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft eines der stärksten Bande der Ordnung und Sittlichkeit war, in dieser Eigenschaft noch nicht alle Kraft verloren hat, soll sie, denke ich, von den Weisen geschont und geachtet werden; wie löblich und nöthig es auch übrigens ist, den Aberglauben durch kluge [136] Verbreitung richtiger Begriffe von der Natur der Dinge nach und nach der maßen zu entkräften, daß er, wie die Spulwürmer durch gewisse Arzneien, zuletzt unvermerkt und ohne Beschwerde, gleichsam von selbst von den Menschen abgeht. Du erlaubst mir alles, erwiederte ich, indem du mir das Recht zugestehst gegen den Aberglauben zu arbeiten. Denn was ist unsre Volksreligion anders als der gröbste und lächerlichste Aberglaube? Ich läugne nicht, daß er noch wirksam ist; aber daß er den wohlthätigen sittlichen Einfluß, den er ehemals gehabt haben soll, noch in unsern Tagen habe, das ist was ich ihm gänzlich abspreche. Was hilft z.B. der Glaube an Zeus den Rächer des Meineides? Der ehrliche Mann schwört keinen falschen Eid, nicht weil er den Donner des Horkios 72 fürchtet, sondern weil er ein ehrlicher Mann ist; und wer es nicht ist, sieht so viele Meineidige unangedonnert herumgehen, und findet überdieß bei den Priestern so viel Bereitwilligkeit ihn für die Gebühr mit Jupiter Horkios auszusöhnen, daß die Furcht vor seinen Donnerkeilen ihn keinen Augenblick zurückhält. Der noch immer im Schwange gehende Glaube an die Orakel, und die Vorbedeutungen die man aus den Eingeweiden der Opferthiere nimmt, ist, wenigstens auf Seiten unsrer bürgerlichen Obrigkeiten und Kriegsbefehlshaber, pure Heuchelei, und kann also weder Gehorsam gegen göttliche Winke noch Zuversicht auf göttlichen Beistand wirken. Man hat schon lange Mittel gefunden, die Pythia sagen zu lassen was man will; oder ihre Aussprüche sind so geflissentlich räthselhaft und vieldeutig, daß man sie nach eignem Gefallen deuten kann; und wenn die Milzen und Lebern der Opferthiere nicht günstig sind, so [137] schlachtet man so lange andre, bis die Vorbedeutung endlich nach Wunsch ausfällt. Demokritus behauptete: in den Händen kluger Regenten und Heerführer könne dieser Aberglaube, so lang' er noch seine Wirkung auf die Menge thue, in vielen Fällen den glücklichen Ausgang einer Unternehmung entscheiden, oder großes Unheil verhüten; und was ich ihm auch entgegen hielt, immer kam er auf den Grundsatz zurück: es sey unweislich gehandelt, ein durch die Länge der Zeit ehrwürdig gewordenes Institut zu vernichten, bevor man gewiß sey, etwas Besseres an seine Stelle gesetzt zu haben. Ist das Bessere wirklich da, sagte er, so wird das Schlechtere von selbst fallen. Wer wird fortfahren wollen, in einem morschen, täglich den Einsturz drohenden Hause zu wohnen, wenn es nur auf ihn ankommt, ein bequemeres neugebautes zu beziehen? Aber ehe man sich Wetter und Winden unter freiem Himmel preisgibt, behilft man sich lieber in einem baufälligen Hause, und stützt und flickt so lange daran als es gehen will.
Da es bei Streitigkeiten dieser Art beiden Theilen nie an Antwort fehlt, so erneuerten wir den Kampf bei jeder Gelegenheit, und Demokritus, der mir ernstlich wohl wollte, gab sich viele Mühe, mich zu bewegen, daß ich dem Gedanken, den Göttern und Priestern öffentlich den Krieg anzukündigen, auf immer Abschied geben möchte. Aber der Haß, den die Betrügereien der letztern und der vielfache Mißbrauch ihres Einflusses auf den großen und kleinen Pöbel in mir angezündet hatten, war ein Feuer, das sich nicht lange heimlich im Busen herum tragen ließ; und kaum hatte ich mich von meinem weisern Freunde wieder getrennt, so warf ich die Larve, [138] die zu meinem Zwecke bisher nöthig gewesen war, von mir, und zeigte mich überall in meiner wahren Gestalt. Alles was seine Warnungen über mich gewonnen hatten, war, daß ich anfangs mit einiger Behutsamkeit zu Werke ging. Indem ich alle Arten von Aberglauben theils zu untergraben, theils geradezu lächerlich zu machen suchte, schonte ich wenigstens die Polias 73 zu Athen, die Juno zu Argos und Samos 74, den Apollo zu Delphi 75, und Jupitern überall 76. Nirgends gelang mir dieß besser als zu Athen, wo der glückliche Erfolg des ungezügelten Muthwillens, womit Aristophanes 77 Götter und Menschen dem Gelächter des Pöbels preisgab, mich aufmunterte, mir größere Freiheiten herauszunehmen. Wirklich können die Athener, denen ein witziger Einfall über alles geht, viel mehr ertragen als andere Griechen, und so lange ich mich begnügte über Götter, Orakel und Orgien nur zu scherzen, ließ man meine Einfälle für absichtlose Ergießungen einer komischen Laune gelten, wobei mehr Unbesonnenheit als böser Wille sey. Als ich aber immer kühner ward, und meine Lehrsätze und Meinungen, nicht nur in vertrautern Gesellschaften sondern sogar auf öffentlichen Versammlungsplätzen, in einem ernsthaften Tone zu behaupten anfing; geschah, was ich hätte voraussehen können, und was mir Demokritus mehr als einmal vorher gesagt hatte. Ich bekam zwar einen Anhang von Jünglingen, für welche die bloße Kühnheit einer Philosophie, die sich über alle Vorurtheile hinwegsetzt, und auf das, was andern das Ehrwürdigste ist, mit tiefer Verachtung herabsieht, schon die Kraft des vollständigsten Beweises hatte: aber gerade dieser Umstand verschlimmerte meine Sache in den [139] Augen der Alten. Die Priester fingen an zu murren, und ehe ich mir's versah, erklärte sich beinahe ganz Athen gegen den Melier 78, der die Vermessenheit hatte, von Göttern, welche ein uralter Besitz gegen alle Beeinträchtigungen sicher stellte, zu fordern, daß sie die Titel der Rechtmäßigkeit desselben vorzeigen sollten. Zu allem diesem kam endlich noch das bekannte Unglück meiner armen Vaterstadt, und unfehlbar würde ich den Haß, den die Athener (um ihr ungerechtes und grausames Verfahren – vor sich selbst zu rechtfertigen) auf alle Melier geworfen hatten, desto schwerer gebüßt haben, wenn mein gutes Glück mir nicht wenige Tage vor dem Ausbruch des Ungewitters, das sich seit einiger Zeit über mir zusammenzog, einen Weg zur Flucht eröffnet hätte. Denn ich wurde gleich nach meiner Entfernung von den Eumolpiden 79 gerichtlich angeklagt, die heiligen Mysterien verrathen, und die Jugend von der Initiation abgehalten zu haben. Beide Beschuldigungen wurden gerichtlich erwiesen, und hätten in der That nicht geläugnet werden können; und so würde, anstatt daß ich jetzt in dieser stillen Freistätte sicher athme, der Sturz in das furchtbare Barathron 80 mein Loos gewesen seyn, wenn ich mich nicht lieber auf die Behendigkeit meiner Fersen verlassen hätte, als auf die Güte meiner Sache, von welcher ich meine Richter schwerlich hätte überzeugen können.
Diagoras endigte hier seinen Bericht, und du wirst vermuthlich gern sehen, daß ich ebenfalls eine Pause in meiner Erzählung mache.
[140] Ich wage es, lieber Kleonidas, in Hoffnung dir durch die Länge dieser Epistel nicht lästig zu seyn, in meiner angefangenen Erzählung fortzufahren. Sollte sie dich nicht müßig genug antreffen, um sie nicht zu lang zu finden, so kannst du sie ja bei Seite legen. Es gibt auch in dem thätigsten und genußreichsten Leben doch zuweilen eine Stunde, mit der man nichts anzufangen weiß, und es müßte nicht gut seyn, wenn sie dir in einer solchen Stunde nicht einige Unterhaltung verschaffen könnte.
Mein alter Wirth schien sich das Betragen, welches ihm die Verbannung aus allen Griechischen Staaten zugezogen hatte, so wenig gereuen zu lassen, und sich bei seiner Ohngötterei so wohl zu befinden, daß mir nicht einfallen konnte, ihn darüber anzufechten. Meine Denkart über diese Dinge ist ungefähr dieselbe, wozu der Weise von Abdera ihn vergeblich zu bereden gesucht hatte. Es würde zu nichts geholfen haben, die seinige mit den nämlichen Gründen zu bestreiten; zumal da er, in seiner gegenwärtigen Abgeschiedenheit, von den Menschen eben so wenig zu besorgen hat, als von den Göttern; und überhaupt ist es einer meiner Grundsätze, mit niemanden über das, was er von den überirdischen und dämonischen Dingen glaubt, oder nicht glaubt, zu hadern. Uns in allen den Gesetzen und Gebräuchen der Völker, unter welchen wir wohnen, zu unterwerfen, oder wenigstens nicht mit dem Kopf vorwärts gegen sie anzurennen, macht uns schon die bloße Urbanität zur Pflicht, wenn es auch die Sorge für unsre eigene Ruhe nicht so gebieterisch forderte. Wer sich, wie Diagoras, den Haß der Priesterschaft geflissentlich zuziehen will, thut wohl, wenn [141] er die unangenehmen Folgen desselben auch wie Diagoras trägt, als etwas das eben so unfehlbar zu erwarten war, als daß man gebrannt wird, wenn man dem Feuer zu nahe kommt. Will er es demungeachtet darauf ankommen lassen, wer kann's ihm wehren? Wie gleichgültig mir also in dieser Rücksicht die Religion des Diagoras seyn konnte, so hatte doch ein Wort, das ihm im Lauf seiner Erzählung entfallen war, meine Neugier rege gemacht: und da wir einmal auf dieser Materie waren, erinnerte ich ihn jenes Wortes, woraus ich schließen müßte, sein Atheism sey nicht so unbedingt, daß er allen Glauben an etwas Göttliches aufhebe. Du scheinst, sagte ich, in deinem Gedankensystem an die Stelle der Götter, die du läugnest, etwas anderes zu setzen. Darf man fragen was?
Diagoras. Mich selbst, und alles was wirklich ist, erwiederte er.
Ich. Das ist viel auf einmal gesagt, Diagoras! woher weißt du daß etwas wirklich ist?
Diagoras. Weil ich weiß daß ich selbst bin.
Ich. Und woher kannst du wissen daß du selbst bist?
Mein Mann schien ein wenig zu stutzen. – Eine seltsame Frage, sagte er lachend.
Ich. Es wäre noch seltsamer, wenn sie dir nie aufgestoßen wäre.
Diagoras. Nie in meinem ganzen Leben. Aber die Antwort ist auch so leicht, daß sie mir bloß deßwegen nicht sogleich beifiel. Ich weiß daß ich bin, weil ich sehe, höre, fühle, denke, mich selbst bewege, und – zwar nicht alles, aber doch sehr vieles kann, was ich will.
[142] Ich. Könntest du das alles, wenn du nicht schon da wärest?
Diagoras. Schwerlich!
Ich. Und wenn die Dinge nicht da wären, die dir zu diesen Aeußerungen deines Daseyns Anlaß geben? –
Diagoras. Ohne Zweifel, nein.
Ich. Du weißt also, daß du bist, weil es Dinge außer dir gibt, die dieses Selbstbewußtseyn in dir erwecken; du könntest aber nicht wissen, daß es Dinge außer dir gebe, wenn du nicht wüßtest, daß du selbst bist. Dieß, dünkt mich, heißt sich in einem Kreise herum drehen, der weder Anfang noch Ende hat, und du hast also keinen hinlänglichen Grund zu glauben, daß du selbst bist.
Diagoras. Pure Sophistereien! Ich glaube nicht daß ich bin, und, genau zu reden, weiß ich es auch nicht; aber ich fühl' es, und das ist genug. Dieses Selbstgefühl, und das Gefühl daß etwas außer mir ist, ist ein und eben dasselbe. Indem ich, zum Beispiel, den Feigenbaum dort sehe, fühle ich daß ich ihn sehe, das ist, ich sehe ihn in mir selbst, und so fühle ich in einem und eben demselben Augenblick mein und sein Daseyn.
Ich. Sein Daseyn in dir, meinst du?
Diagoras. Ich sehe ihn zwar in mir selbst, aber als etwas außer mir Befindliches; und warum wäre das, wenn er nicht wirklich außer mir wäre?
Ich. Du siehst einen Centauren, eine Sirene, auch außer dir, und es sind doch bloße Geschöpfe deiner Phantasie. Woher weißt du, daß es mit dem Baum und allem andern, [143] was du zu sehen meinest, nicht eben dieselbe Bewandtniß hat?
Diagoras. Allerdings ist es meine Phantasie, die aus der Hälfte eines Menschen und eines Pferdes einen Centauren, und aus einem Weibe, einem Vogel und einem Fische eine Sirene zusammensetzt: aber das könnte sie nicht, wenn ich nicht wirklich Menschen, Pferde, Vögel und Fische gesehen hätte.
Ich. Du hältst also alles für wirklich, was du in einer lebhaften künstlerischen Begeisterung siehest? Oder warum solltest du diese Einbildungen nicht für eben so wirkliche Dinge außer dir halten, wie die nämlichen Vorstellungen, wenn sie unter der Beglaubigung deiner Sinne in dein Bewußtseyn kommen?
Diagoras. Weil ich einen sehr wesentlichen Unterschied zwischen ihnen fühle. Wenn ich mir z.B. die Lemnische Venus bloß in Gedanken vorstelle, so sehe ich sie in meiner Einbildung zwar auch außer mir, aber ungleich weniger klar und lebhaft, als wenn das Gebilde des Phidias wirklich vor mir stände; und was noch mehr ist, es hängt bloß von mir ab, ob ich das Gedankenbild sehen will oder nicht; stehe ich hingegen zu Lemnos vor dem wirklichen Bilde der Göttin, so muß ich es sehen, ich wolle oder wolle nicht.
Ich. Wie? auch wenn du die Augen zumachst?
Diagoras. Welche Frage!
Ich. Ich will bloß damit sagen: was du mit deinen Augen siehest, dringt sich dir nur so lange mit Gewalt auf, als du es wirklich ansiehest. Ist es aber mit dem, was du [144] bloß in deiner Einbildung siehest, etwa anders? Sobald die Bedingung da ist, d.i. sobald deine Einbildung dir dieses Bild darstellt, mußt du es eben so wohl, obgleich weniger lebhaft, sehen, als wenn deine Augen es dir dargestellt hätten, und im letztern Falle steht es nicht weniger bei dir, die Augen wegzuwenden oder zuzuschließen, als im erstern deine Einbildungskraft auf etwas anderes zu richten.
Diagoras. Aber setze daß du, an eine Säule gebunden, gegeißelt werdest, steht es dann auch in deinem Belieben, ob du die Pein der Geißel fühlen wollest oder nicht?
Ich. So vieler Gewalt über meine Sinne rühme ich mich keinesweges. Aber setze du dagegen einen verrückten Menschen, der sich in seinem Wahnsinn einbildet, daß er gegeißelt werde: fühlt er die Pein der bloß eingebildeten Geißel nicht eben so lebhaft als wenn sie wirklich wäre? Dem Wahnsinnigen thut seine kranke Phantasie eben dieselbe Gewalt an, welche in dem Falle, den du setztest, dem Gesunden geschieht.
Diagoras. Und was schließest du aus dem allen?
Ich. Daß du keinen hinlänglichen Grund hast, von deinem Gefühl auf die Realität dessen was du fühlst zu schließen.
Diagoras. Deiner Meinung nach gingen also alle meine Vorstellungen aus mir selbst hervor, und ich hätte keine Ursache zu glauben, daß etwas außer mir wäre?
Ich. Ich behaupte nicht daß es wirklich so sey; aber aus dem Gesagten scheint es wenigstens so. Wie kämen auch die vermeinten Dinge außer dir dazu, Vorstellungen in dich [145] zu bringen, die sich nicht in deiner Seele selbst erzeugt hätten? Gesetzt aber auch, dieser Feigenbaum werfe ein kleines Bild seiner Gestalt in dein Auge, und es reflectire aus deinem Aug' in deine Seele, so wäre zwischen einem solchen Bild und dem Bewußtseyn, womit du es siehest, nicht das geringste Causalverhältniß; und doch wird es bloß dadurch, daß du dir bewußt bist es zu sehen, etwas in dir Wirkliches. Kurz, um Dinge außer dir wahrzunehmen, muß deine Seele so viel thun, daß du wenigstens Ursache hast zu zweifeln, ob sie nicht alles thue.
Diagoras. Aber, wie wär' es möglich, Aristipp, daß du nicht sehen solltest, in welche Ungereimtheiten ein solcher Zweifel führen würde? Wenn alle meine Vorstellungen bloße Geschöpfe der denkenden Kraft in mir sind, bin ich nicht genöthiget, mich für das einzige wirkliche Wesen zu halten? Nun sind aber alle andern Menschen in dem nämlichen Falle, und wenn sie alle so räsonniren wollten, was sollte aus dreißig oder vierzigtausend Miriaden Narren werden, deren jeder sich einbildete, alle übrigen seyen nichts als in ihm selbst erzeugte Gedankenbilder?
Ich. Es käme darauf an daß sie sich darüber mit einander verglichen. Da einer so viel Recht hätte als der andere, warum sollten sie nicht in Güte übereinkommen können, einander, um der Bequemlichkeit des gesellschaftlichen Lebens willen, vermittelst einer Art von Prosopopöie die Existenz zuzugestehen?
Diagoras. Und so möchten wir, dächte ich, eben so wohl thun, wenn wir auch allen übrigen Dingen, die in unser [146] Bewußtseyn gerathen, die nämliche Billigkeit widerfahren ließen?
Ich. Das könnten wir ohne Bedenken; aber was hätten wir damit gewonnen, wenn wir uns selbst von dem Grund ihres und unsres Daseyns Rechenschaft geben sollten?
Diagoras. Kann uns denn nicht genug seyn daß wir da sind? Wozu brauchen wir nun eben den Grund zu wissen?
Ich. Diese Frage hast du dir selbst schon beantwortet, Diagoras, da du mir auf die meinige »was du an die Stelle der Götter setzest?« zur Antwort gabst: »mich selbst und alles was wirklich ist.« – Es ist nun einmal in unsrer Natur, sobald sich uns etwas als außer uns darstellt, zu glauben es sey, und wissen zu wollen, was und woher und wie und warum es ist. Das kürzeste Mittel, sich hierüber zu beruhigen, schien den Menschen von jeher zu seyn wenn sie Götter glaubten, in deren Macht und Willkür der Grund des Daseyns und der Zusammenordnung der Dinge liege. Du willst mit diesem Behelf nichts zu thun haben, und setzest dich selbst und alles was wirklich ist an ihre Stelle. Aber bei näherer Untersuchung der Sache hat sich gefunden, daß dein eigenes Daseyn eine sehr zweifelhafte Sache ist, da das Gefühl desselben lediglich auf dem vorausgesetzten Daseyn anderer Dinge beruht, für deren Daseyn du keine andere Gewähr hast als dein eigenes. Gesetzt aber auch es hätte mit deinem Daseyn seine Richtigkeit, so ist es doch eine bloße nackte Thatsache und du hast auf die Frage: woher, wie und warum du da bist? noch immer keine Antwort. Denn daß du nicht immer da warest, und daß der Grund deines Daseyns nicht in dir [147] selbst seyn kann, wirst du schwerlich in Abrede seyn wollen.
Diagoras. Es scheint in der That ich müßte auch etwas davon wissen, wenn ich immer gewesen wäre, und die Mutter die mich gebar, der Vater der mich auferzog, und der Schulmeister der mich im Homer lesen und die Melodien des alten Terpander plärren lehrte, müßten sich auf eine seltsame Weise getäuscht haben. Aber wozu braucht es aller dieser Leptologien 81. Die Formel, über welche du mich schikanierst, soll nichts weiter sagen als: die Natur enthält alles was ist, war und seyn wird, und es bedarf keines andern Grundes für mein und aller übrigen Dinge Daseyn als sie.
Ich. Die Natur! – Ein großes viel umfassendes Wort! Und was denkst du dir eigentlich dabei?
Diagoras. Wie ich sagte, das, woher alles was ist, war, und seyn wird, seinen Ursprung und die Nahrung seines Wesens zieht.
Ich. Ich glaube die Bedeutung jedes einzelnen Wortes dieses Satzes zu wissen; aber bei dem ganzen kann ich mir nichts Deutliches denken.
Diagoras. Ich, die Wahrheit zu sagen, eben so wenig.
Ich. Du hättest also ungefähr so viel als gar nichts damit gesagt?
Diagoras. Ist es meine Schuld daß die Natur etwas Unbegreifliches ist?
Ich. Irgend eine dunkle Vorstellung muß denn doch wohl mit diesem unbegreiflichen Worte verbunden seyn. Denkst [148] du dir die Natur vielleicht als eine unendliche Reihe an einander geketteter einzelner Dinge?
Diagoras. Ich sehe wohin du willst, Aristipp, und ich will dir die Mühe ersparen, mir die Ungereimtheit einer unendlichen Reihe von Eiern und Hühnern darzuthun. Ich denke mir die Natur als das einzige, ewige, unendliche Urwesen, und alles was ist als eine Art von Erzeugnissen, die es ewig aus sich selbst hervorbringt.
Ich. Da hätten wir den Kronos der Dichter, der seine eignen Kinder aufißt, um immer neue zeugen zu können?
Diagoras. Oder, wenn du lieber willst, so stelle sie dir als den Proteus vor, der sich selbst in alle möglichen Gestalten wandelt.
Ich. Für poetische Darstellungen mögen diese Bilder brauchbar genug seyn; aber dem Verstande erklären sie nichts, und wir sind noch um kein Haar breit weiter als anfangs. Alles was ich sehe ist, daß du dich so gut als wir andern genöthigt fühlst, etwas Erstes, Unerklärbares, Unendliches, mit Einem Worte, Göttliches zu glauben, um dich nicht in einem Labyrinth von Fragen und Zweifeln zu verlieren, aus welchem kein Ausgang ist. –
Diagoras. Und weiter wollen wir uns, wenn dir's gefällig ist, nicht versteigen.
Mit diesen Worten führte mich Diagoras zu seinen Götterbildern zurück, um (wie er sagte) die Spinneweben wieder los zu werden, womit uns der Sophistische Dialog über Seyn und Nichtseyn den Kopf angefüllt habe. Er ließ mich eine Menge possierlicher Dinge bemerken, welche meiner Aufmerksamkeit [149] entgangen waren, und überzeugte mich durch sein herzliches Wohlgefallen an den Mißgeburten seiner witzelnden Phantasie immer mehr, wie lächerlich es von mir gewesen wäre, über einen Gegenstand, für welchen er keinen Sinn hatte, in einem ernsthaftern Tone zu sprechen. Uebrigens muß ich dir sagen, daß mein Ton ungefähr der nämliche war, worin Sokrates mit den Sophisten, und allen andern, denen es (wie er glaubte) nicht ernstlich um Wahrheit zu thun war, von solchen Dingen zu disputiren pflegte; und ich wollte diese Gelegenheit nicht vorbei lassen, dir eine kleine Probe zu geben, daß ich nicht drei Jahre lang mit einem solchen Meister in der subtilsten Dialektik gelebt habe, ohne ihm auch in diesem Stück etwas abzulernen; wiewohl ich gern gestehe, daß die ihm eigene ironischeinfältige Miene, die er in solchen Fällen anzunehmen wußte, schlechterdings dazu gehört, wenn diese Manier zu philosophiren ihre ganze Wirkung thun soll.
Ich werde erst jetzt gewahr daß meine Erzählung unvermerkt zu einem Buch angeschwollen ist, und der Griffel in meiner Hand zu zittern anfängt. –
In wenigen Tagen, lieber Kleonidas, hoffe ich die schöne Minervenstadt wieder zu sehen, zu welcher ich mich, nach einer langen Trennung, von einer Art verliebter Sehnsucht hingezogen fühle. Daß vielleicht auch die Nähe von Aegina Antheil an dieser Gemüthsstimmung haben mag, warum sollt' ich es vor einem Freunde wie du verheimlichen wollen?