Christoph Martin Wieland
Aristipp

Erster Band

1. Aristipp an Kleonidas in Cyrene
[1] 1.
Aristipp an Kleonidas in Cyrene. 1

Alle Götter der beiden Elemente, denen du bei unserm Abschied mein Leben so dringend empfahlst, schienen es miteinander abgeredet zu haben, die Ueberfahrt deines Freundes nach Kreta zu begünstigen. Wir hatten, was in diesen Meeresgegenden selten ist, das schönste Wetter, den heitersten Himmel, die freundlichsten Winde; und da ich dem alten Vater Oceanus den schuldigen Tribut schon bei einer frühern Seereise bezahlt hatte, genoß ich dießmal der herrlichsten aller Anschauungen so rein und ungestört, daß mir die Stunden des ersten Tages und der ersten Hälfte einer lieblichen mondhellen Nacht zu einzelnen Augenblicken wurden.

Gleichwohl – darf ich dir's gestehen, Kleonidas? – däuchte mich's schon am Abend des zweiten Tages, als ob mir das majestätische, unendliche Einerlei unvermerkt – lange Weile zu machen anfange. Himmel und Meer, in Einen unermeßlichen Blick vereinigt, ist vielleicht das größte und erhabenste Bild, das unsre Seele fassen kann; aber nichts als Himmel und Meer, und Meer und Himmel, ist, wenigstens [1] in die Länge, keine Sache für deinen Freund Aristipp; und ich glaube wirklich, daß mir ein kleiner Sturm, mit Donner und Blitz und übrigem Zubehör, bloß der Abwechslung wegen, willkommen gewesen wäre. Du weißt, daß außer dem nah an Kreta liegenden Inselchen Gaudos, kein einziges Eiland zwischen Cyrene und Gortyna 2 zu sehen ist; überdieß wollte auch der Zufall, daß uns auf der ganzen Reise, außer drei oder vier Cyprischen Kornschiffen, und einer für Korinth befrachteten Tyrischen Pinasse, die sich so nah als möglich an der Küste hielten, kein einziges Fahrzeug begegnete, womit wir uns auf eine oder andre Art hätten unterhalten können. Es fehlte mir also, wie du siehest, nicht an Muße, so viele Grillen zu fangen als ich wollte; und wie weit es endlich mit mir gekommen seyn müsse, kannst du daraus abnehmen, daß ich stundenlang vom Verdeck in die See hinab schaute, ob nicht irgend einer von den Fischgöttern oder Götterfischen, womit ihr Dichter den Ocean bevölkert habt, aus der Tiefe herauffahren, bei unsrer Erblickung in sein krummes Horn stoßen, und die übrigen Meerwunder, seine Gespielen, zusammenrufen werde, um unsre auf den Wellen leicht dahin gleitende Barke zu umkreisen, und durch muthwillige Spiele und Neckereien aufzuhalten. Das Schauspiel, das wir ihnen gaben, ist freilich seit der Zeit, da das erste von Pallas Athene selbst erbaute Schiff 3 eine Schaar kühner Göttersöhne nach Kolchis trug, um – ein goldnes Widderfell zu erobern, etwas so Alltägliches für diese Meerbewohner geworden, daß ein unbedeutendes Fahrzeug, wie das unsrige, sich nicht schmeicheln durfte großes Aufsehen bei ihnen zu [2] erregen: aber daß in drei langen Tagen auch nicht ein einziges rosenarmiges Meermädchen mit grünen Locken und milchweißem Busen auftauchen wollte, um meine des Herumschwebens zwischen Luft und Wasser müden Blicke auf ihrer reizenden Gestalt ausruhen zu lassen, das war doch wirklich zu grausam, und bewies mir den großen Unterschied, den die Götter zwischen euch Dichtern und uns andern prosaischen Menschen machen, zu meiner nicht geringen Demüthigung. Wäre mein Freund Kleonidas hier, dacht' ich, was würd' er nicht, kraft des Vorrechts, das die Natur den Musolepten 4, ihren Günstlingen, zugestanden hat, in diesen, für mich Unbegeisterten so leeren, Elementen sehen und hören? Könnt' er gleich den Nebel, der mir die unsichtbare Welt verbirgt, nicht von meinen Augen treiben, so würde ich mich doch an seinen Visionen und Entzückungen ergötzen: und im Grunde könnte mir's ja gleichviel seyn, ob ich das alles unmittelbar mit meinen eigenen Augen, oder im Zauberspiegel der seinigen sähe. Sage dir nun selbst, ob ich nicht auf dich zürnen sollte, daß du dich nicht erbitten ließest, mich auf meiner Reise wenigstens nur bis nach Olympia zu begleiten, wo dich ein Schauspiel erwartete, das auf dem ganzen Erdboden einzig in seiner Art ist, und durch kein anderes ersetzt werden kann, wenn es auch ein Triumphsaufzug Poseidons und Amphitritens mit allen ihren Tritonen und Nereiden wäre. Im ganzen Ernste, Kleonidas, ich kann dir das Unrecht kaum verzeihen, das du durch deine Unerbittlichkeit noch viel mehr an dir selbst, als an deinem Aristipp begangen hast. Wer weiß ob dir die versäumte Gelegenheit in deinem ganzen Leben wieder[3] aufstoßen wird? und aus der Welt zu gehen, ohne die Olympischen Spiele und den Jupiter des Phidias gesehen zu haben, wahrlich, da verlohnte sich's kaum der Mühe da gewesen zu seyn! – Doch, wem sag' ich das? und wie kann ich einen Augenblick vergessen, daß du von einem Zauber gebunden bist, der dir weder Gewalt über dich selbst läßt, noch Augen für einen andern Gegenstand, als die schöne Unerbittliche, deren Blicke die Nahrung deines Lebens sind? Was ist im Himmel und auf Erden und im Reich des Oceanus, das einen von Amorn verwundeten Dichter von der süßen Quelle seiner Schmerzen entfernen könnte? Was ist dir die schimmernde Panegyris 5 alles dessen was die ganze Hellas Edles, Großes und Schönes hat, ihrer auserlesensten Jünglinge, ihrer berühmtesten Männer, ihrer reizendsten Weiber, ihrer Künstler, Weisen, Staatsmänner, Feldherren und Fürsten? dir, der das alles unbemerkt bei dir vorbeiziehen lassen würde, um deine Augen auf den bloßen Schatten der schönen Lycänion zu heften, wenn du sie selbst nicht erblicken könntest?

Wundre dich nicht, Kleonidas, daß ich so viel von dem Geheimniß deines Herzens weiß, wiewohl du es, ich weiß nicht warum, so sorgfältig vor mir verborgen hast. Ein Verliebter ist so leicht zu entdecken, wie gut er sich auch zu verstecken glaubt, und die Freundschaft ist scharfsichtig. Befürchte indessen nichts von der meinigen: sie soll dir nie durch Zudringlichkeit beschwerlich fallen, aber auch nie entstehen, wenn du dich aus eigenem Drange nach ihr umsiehst. Alles was ich mir dermalen von der deinigen verspreche, ist, daß du deinen trautesten Jugendfreund nicht ganz vergessen, und ihm [4] gern erlauben werdest, sich während einer Abwesenheit, deren Dauer noch unbestimmbar ist, von Zeit zu Zeit durch Briefe bei dir in Erinnerung zu bringen.

Widrige Winde zwingen mich einige Tage länger in Kreta zu verweilen, als meiner Geschäfte wegen nöthig war. Ich werde diese Zeit zu einem Ausflug nach Gnossus 6 anwenden, wo, wie man sagt, die vorzüglichsten Merkwürdigkeiten dieser fabelhaften Insel beisammen sind. Wie dürft' ich mich auch jemals wieder in Cyrene blicken lassen, wenn ich in Kreta gewesen wäre, ohne den berüchtigten Labyrinth und – das Grab des unsterblichen Königs der Götter und Men schen gesehen zu haben?

2. An Aritades, seinen Vater
2.
An Aritades, seinen Vater.

Nach einer glücklichen und größtentheils angenehmen Reise befinde ich mich seit zehn Tagen in dem reichen, gewerbevollen, prächtigen und wollüstigen Korinth, wo ich von dem Eupatriden 7 Learchus, vermöge der alten Gastfreundschaft, die seit Perianders Zeiten zwischen unsern Familien besteht, mit der gefälligsten Freundlichkeit aufgenommen wurde. Meine erste Sorge war, mich der Aufträge zu erledigen, womit mein Oheim Alketas mich an seine hiesigen Freunde beladen hatte; die zweite, die mir zum Behuf meines Aufenthalts in Griechenland mitgegebenen Waaren auf die vortheilhafteste [5] Art zu Gelde zu machen. Die Nähe des großen Marktes zu Olympia kam mir zu dieser Absicht sehr zu Statten, und der Gewinn, den ich dabei gemacht, ist so beträchtlich, daß ich – außer der Summe, die ich für das nächste Jahr nöthig haben mag, um deinem Willen gemäß meiner Vaterstadt und der Würde, die du in unsrer Republik bekleidest, durch einen anständigen Aufwand Ehre zu machen – fünfhundert Attische Minen 8 in Golde bei meinem Wirthe hinterlegt habe, über welche ich deine Befehle erwarte.

Korinth hat sich seit den vierzig Jahren, da du den Vater des Learchus besuchtest, sehr verändert. Großer und täglich zunehmender Reichthum in einem oligarchischen, äußerst mild regierten und vielleicht nur zu wenig gezügelten kleinen Freistaat, zumal in der glücklichen Lage von Korinth, die es zum Mittelpunkt des Asiatischen und Europäischen Handels bestimmt, muß, wie mich däucht, alle Vorzüge, worauf es stolz ist, und alle Uebel, die seinen Verfall ankündigen, nothwendig hervorbringen. Ich gestehe, daß die Wehklagen, die ich hier, sogar in den reichsten Häusern und von verständigen alten Männern, über die immer zunehmende Ueppigkeit, Verschwendung, Habsucht und Sittenverderbniß führen höre, mir keine hohe Meinung von der Weisheit der Korinther geben. Wo großer Reichthum ist, muß nothwendig auch große Armuth seyn, und von beiden ist sittliche Verdorbenheit die unausbleibliche Frucht. Der Reiche erlaubt sich alles, um gränzenlos genießen zu können, ohne die Quelle seines Genusses zu erschöpfen; der Arme thut, wagt und duldet alles, um reich zu werden. Daß es so und nicht anders ist, überzeugte [6] mich schon was ich in Cyrene sah, und Korinth hat mich darin bestätiget. Alle Gesetzgeber, Philosophen und Moralisten in der Welt können den Korinthern nicht helfen: es gibt nur Ein Mittel, das sie und ihres gleichen retten könnte, und das ist gerade das einzige, wozu sie keine Lust zu haben scheinen. Sie müßten wieder so arm werden als sie vor dreihundert Jahren waren. Wer weiß aber auch, ob dieß einzige Mittel nicht schon zu spät käme?

Doch wohin versteige ich mich? Ich bin noch zu neu in der Welt, um tiefe Blicke in den Zusammenhang der Dinge gethan zu haben, und zu jung, um mich in so verwickelte Speculationen einzulassen.

Die Zeit der Olympischen Spiele naht heran, und ich rüste mich ungesäumt nach Pisa 9 abzugehen, um, wo möglich, noch auf eine leidliche Art unterzukommen; denn der Zusammenfluß von Fremden soll schon unbeschreiblich groß seyn. Meine Ungeduld nach dem herrlichen Schauspiel, das mich dort erwartet, nimmt mit jedem Tage zu; auch hoffe ich bei dieser in ihrer Art einzigen Gelegenheit interessante Bekanntschaften zu machen; was am Ende doch wohl der einzige wahre Vortheil ist, den ich von Olympia zurückbringen werde.

3. An Kleonidas
3.
An Kleonidas.

Kaum bin ich einige Tage in Korinth, und schon hat mir meine leichtsinnige Unbefangenheit ein Abenteuer zugezogen, [7] welches vielleicht Folgen von Bedeutung hätte haben können, wenn mir der Zweck meiner Reise einen längern Aufenthalt erlaubte.

Indem ich nach Vollendung einiger Geschäfte in den Straßen dieser großen und prächtigen Stadt umher irre, fällt mir eines von den vielen öffentlichen Bädern, womit sie versehen ist, in die Augen, dessen zierliche Bauart mir Lust macht, mich darin abzuwaschen. Ich gehe hinein, und da sich nicht gleich ein Aufwärter zeigt, öffne ich auf Gerathewohl eine der Badekammern und treffe gerade den Augenblick, da eine junge Frauensperson, die sich ganz allein darin befand, im Begriff war aus dem Bade zu steigen. Dieß war das erstemal in meinem Leben, daß ich vor einem schönen Anblick zusammenfuhr; gleichwohl weiß ich nicht wie es kam, daß ich, anstatt zurückzutreten, und die Thür, die ich noch in der Hand hatte, vor mir wieder zuzuziehen, sie hinter mir zumachte und meine Verlegenheit dadurch vermehrte. Die Dame, die bei meiner Erblickung plötzlich wieder untertauchte, schien sich an meiner Bestürzung zu ergötzen. »Wie? (sagte sie lachend, mit einer Stimme, deren Silberton meine Bezauberung vollendete) fürchtest du das Schicksal Aktäons 10, daß du vor Schrecken sogar zu fliehen vergissest? Da ich weder so schön wie Artemis noch eine Göttin bin, darf ich auch weder so stolz noch so unbarmherzig seyn wie sie. Du bist ein Fremder, wie ich sehe, und hast vermuthlich die Ueberschrift über der Pforte dieser Thermen 11 nicht gelesen.«

Während sie dieß sprach, hatte ich, was du mein unverschämtes Gesicht zu nennen pflegst, wieder gefunden, und erwiederte ihr, von einer so zuvorkommenden Anrede aufgemuntert: [8] da ich das Glück dieses Augenblicks bloß meiner Unwissenheit und dem Zufall zu danken habe, so wär' es in der That grausam, schöne Unbekannte, mich dafür zu bestrafen, nicht daß ich, wie Aktäon, zu viel, sondern daß ich gesehen habe was man nie genug sehen kann. Nur ein längeres Verweilen, versetzte sie mit einem einladenden Lächeln, würde dich strafbar machen; denn es ist Zeit daß ich das Bad verlasse.

Indem sie dieses sagte, traten zwei junge Sklavinnen herein, die in zierlichen Körben alles, was zum Dienste des Bades erforderlich ist, auf ihren Köpfen trugen. Sie schienen verwundert einen Unbekannten zu finden, und hefteten ungewisse fragende Blicke bald auf mich, bald auf ihre Gebieterin. Was für eine Strafe, sagte die Dame, hat dieser junge Mensch verdient, für die Verwegenheit sich in ein fräuliches Bad einzudringen, das gewiß noch von keinem männlichen Fuße betreten worden ist? – Die gelindeste wäre wohl, ihn anzuspritzen und in einen – Hasen zu verwandeln, sagte die jüngere. Das wäre eine zu milde Strafe für ein so schweres Verbrechen, versetzte die ältere; ich weiß eine andere, die dem Verbrechen angemess'ner ist. Ich würde ihn dazu verdammen, so lange bis wir unsern Dienst verrichtet haben, hier zu bleiben, und dann die Thür hinter uns zuzuschließen. Meinst du? sagte die Dame, indem sie sich erhob, und, ihre in einen dicken Wulst über der Scheitel zusammengebundenen Locken auflösend, von einer Fülle bis unter die Knie herabfallender gelber Haare, wie von einem goldenen Mantel, umflossen, aus dem Wasser stieg, und sich, eben so unbefangen als ob sie mit ihren Mägden allein wäre, abtrocknen und mit wohlriechenden Oelen einreiben [9] ließ. Und mich, schöne Gebieterin, sagte dein unverschämter Freund mit der ganzen edeln Dreistigkeit, die du an ihm beneidest, mich, den du in Einem Augenblick zu deinem Sklaven gemacht hast, wolltest du hier müßig stehen lassen? Erlaube mir, deinen Nymphen zu zeigen, daß ich geschickter bin als sie mir zutrauen; und indem ich dieß sagte, machte ich eine Bewegung, als ob ich einer der Mägde ein Tuch von der schneeweißesten Wolle, womit sie ihre Gebieterin abzureiben begriffen war, aus der Hand ziehen wollte. Aber die Dame warf mich mit einem zürnenden Blick auf einmal wieder in die Schranken der Ehrfurcht zurück, die der Schönheit und dem Stande, von dem sie zu seyn schien, gebühren. Wenn du mein Sklave bist, sagte sie wieder lächelnd, sobald sie mich in gehöriger Entfernung sah, so erwarte schweigend meine Befehle und rühre dich nicht! Ich gehorchte wie einem wohlerzogenen sittsamen Jüngling zusteht, und erhielt dafür die zweideutige Belohnung, daß man die Mysterien des Bades mit der größten Gelassenheit vollendete, ohne sich um meine Gegenwart, oder wie mir dabei zu Muthe seyn möchte, im geringsten zu bekümmern.

Als sie wieder angekleidet war, heftete die Dame im Weggehen einen ernsten Blick auf mich und sagte: vergiß nicht, daß es dem Ixion 12 übel bekam, sich kleiner Gunstbezeugungen der Götterkönigin zu rühmen! – und ohne meine Antwort zu erwarten, stieg sie in eine prächtige Sänfte, die von vier Sklaven schnell davon getragen wurde. Mir war, als ob ich aus einem Traum erwachte. Natürlich durft' ich es nicht wagen, ihr sogleich zu folgen; und wie ich mich wieder aus dem Badhause unbemerkt wegschleichen wollte, wurde ich von einem [10] Aufwärter angehalten, der sich, nicht ohne Mühe, durch eine Handvoll neugeprägter Drachmen endlich überzeugen ließ, daß ich ein Fremder, und bloß aus Unwissenheit seit wenig Augenblicken hierher gerathen sey. Als ich mich wieder frei sah, war es zu spät, der Spur meiner Unbekannten nachzugehen, und ich kehrte, ungewiß was ich von meinem Abenteuer denken sollte, nach Hause. Die Dame schien nicht über achtzehn Jahre alt zu seyn, und ihre Gestalt hätte das Glück eines Alkamenes 13 machen können, wenn ihn der Zufall so wie mich begünstigt hätte. War sie eine Hetäre 14 von der ersten Classe, die zu Korinth unter Aphroditens Schutz einer Freiheit und Achtung genießen, welche ihnen in keiner andern Griechischen Stadt zugestanden werden? Oder war es eine junge Frau von Stande, die im Bewußtseyn ihrer Reizungen sich eine muthwillige Lust daraus machte, einen Unbekannten für seinen jugendlichen Uebermuth auf eine neue, wollüstig peinliche Art büßen zu lassen? Das letztere schien mir, allen Umständen nach, das Wahrscheinlichste. Indessen trieb mich doch, ich weiß nicht welche Unruhe, an diesem Abend in allen öffentlichen Spaziergängen herum, wo die Hetären der höhern Ordnung sich gewöhnlich, von ihren Liebhabern umschwärmt, oder von einem Zuge geputzter Mägde und Eunuchen begleitet, mit vielem Prunke zu zeigen pflegen. Aber ich sah mich vergebens unter ihnen nach meiner Anadyomene 15 um, und eine schlaflose Nacht war alles, was ich von meinen Nachforschungen davon trug. Am folgenden Morgen, wie ich vom Lechäischen Hafen zurückkehrte, glaubte ich eine von den beiden Sklavinnen aus einem kleinen Myrtengehölz am Wege auf mich zukommen zu sehen.

[11] Wir erkannten einander ersten Blicks; nur zeigte sich's, daß die Korintherin meinen Namen besser ausgekundschaftet hatte als ich den ihrigen. Sie grüßte mich beim Namen, und erkundigte sich lachend, wie dem unbefugten Epopten 16 der Vorwitz, zu sehen was er nicht sollte, bekommen sey? Wir wissen, wie du siehest, alle deine Gänge, fuhr sie fort, und meine Gebieterin, welcher nicht unbekannt ist, daß du morgen abzureisen gedenkest, schickt mich zu dir, ein kleines Denkzeichen des gestrigen Zufalls von ihr anzunehmen. Es war ein zierlich geflochtnes Deckelkörbchen von Silberdrath, worin eine ihrer goldgelben Haarlocken, mit einer Schnur von kleinen Perlen umwunden, lag. Du kannst dir leicht vorstellen, Kleonidas, daß ich alle meine Wohlredenheit aufgeboten haben werde, den Stand und Namen der Dame zu erfahren, und die dienstbare Iris 17 zu gewinnen, daß sie mir eine Gelegenheit auswirken möchte, ihr meinen Dank in eigner Person zu Füßen zu legen. Ich ging so weit, daß ich bei allen Liebesgöttern betheuerte, meine Reise nach Olympia einzustellen, wenn ich hoffen könnte, einer so großen Gnade gewürdiget zu wer den. Aber die lose Dirne spottete meiner vorgeblichen Leidenschaft, mit der Versicherung, daß man sich nur desto mehr vor mir hüten würde, wenn sie ungeheuchelt wäre, und daß alle meine Bemühungen, ihre Gebieterin wieder zu sehen, vergeblich seyn würden. Alles was ich mit vielem Bitten und einem kleinen Beutel voll Dariken 18 von ihr erhielt, war ein Versprechen, daß sie sich diesen Abend an einem gewissen Orte einfinden wollte, um eine unbedeutende Kleinigkeit für ihre Dame in Empfang zu nehmen, wodurch ich auch mein Andenken bei ihr lebendig zu erhalten [12] wünschte. Sie sagte mir's zu, aber ich erwartete sie vergebens.

Was dünkt dich von dieser närrischen Begebenheit, Kleonidas? – Für mich ist sie denn doch nicht ganz so unbedeutend als sie scheint; und da ein weiser Mann alles in seinen Nutzen zu verwandeln wissen soll, so denke ich einen zweifachen Vortheil aus ihr zu ziehen. Der erste ist, daß ich mich vor der Hand ziemlich sicher halten kann, daß die Erinnerung an meine reizende Unbekannte nur sehr wenigen Schönen gestatten wird, einigen Eindruck auf mich zu machen; der zweite, daß ich, vorausgesetzt ich könne das, was ich bei dieser Gelegenheit erfahren habe, als einen Maßstab meiner Empfänglichkeit für leidenschaftliche Liebe annehmen, große Ursache habe zu hoffen, daß ich weder meinen Verstand noch meine Freiheit jemals durch ein schönes Weib verlieren werde.

4. An Demokles von Cyrene
4.
An Demokles von Cyrene.

Griechenland zählt nun seit dem ersten Neumond nach der letzten Sommer-Sonnenwende das erste Jahr seiner vierundneunzigsten Olympiade; die Spiele sind geendigt, und ich habe gesehen – was zu sehen war. In der That große, auffallende, prachtvolle, und, nach der gewöhnlichen Schätzung der menschlichen Dinge, sehenswürdige Schauspiele! Aber, soll ich dir davon sprechen wie ich denke, Demokles? – Du hast oft mit[13] mir über meine (wie ich immer mehr zu glauben Ursache finde) angeborne Maxime »nichts zu bewundern« 19 gestritten; und wenn wir am Ende, wie gewöhnlich, jeder mit seiner eigenen Meinung davon gingen, söhntest du dich immer durch ein wohlwollendes Mitleiden mit mir aus, mich durch eine so gleichgültige Gemüthsstimmung des hohen Grades von Vergnügen entbehren zu sehen, welches, wie du sagtest, den gefühlvollen Seelen zu Theil werde, die gerade durch den Affect der Bewunderung zu erkennen geben, daß sie bei großen und schönen Gegenständen ungleich mehr empfinden, als derjenige, der sie ansehen kann, ohne aus seiner gewöhnlichen Fassung gesetzt zu werden. Es mag seyn, daß meine Maxime mich öfters eines lebhaftern Genusses beraubt: aber dafür gewährt sie mir auch den Vortheil, mich selten in meiner Erwartung getäuscht zu finden. Auch begegnet mir öfters, daß ich anstatt mit der Menge zu bewundern, mich (mit deiner Erlaubniß) nicht wenig verwundere, wie die Leute so gutmüthig seyn mögen, über Dinge in Entzückung zu gerathen, die, bei kaltem Blute aufs gelindeste beurtheilt, nur lächerlich sind, und bei strengerer Prüfung leicht in einem noch ungünstigern Licht erscheinen könnten.

Nach dieser Vorrede bist du vermuthlich schon auf das Geständniß gefaßt, daß dieß beim Anschauen der weltberühmten Kampfspiele zu Olympia ganz eigentlich mein Fall war, und daß ich, während alles um mich her in Entzückung zerfloß, mich in aller Stille nicht genug verwundern konnte, wie ein Volk, das sich selbst für das sittigste und aufgeklärteste des ganzen Erdbodens hält, und von andern dafür erkannt[14] wird, vor einer so großen Menge ausländischer Zuschauer sich nicht schämte, einen so hohen Werth auf den Sieg in so kindischen oder barbarischen Wettkämpfen zu legen, aus den dazu angesetzten Tagen sein höchstes Nationalfest zu machen, und sogar seine Zeitrechnung nach ihrer Feier zu bestimmen. Käme, dacht' ich, ein Perser oder Skythe, der noch nichts von diesem Institut gehört hätte, von ungefähr dazu, wenn im Angesicht einer unzählbaren Menge Volks, in einem Ehrfurcht gebietenden Kreise der edelsten und angesehensten Männer der Nation, nach einem dem Könige der Götter dargebrachten feierlichen Opfer, die Sieger öffentlich erklärt und gekrönt werden, und sähe das stolze Selbstbewußtseyn, womit sie, von ihren wonnetrunkenen Verwandten, Freunden und Mitbürgern umdrängt, und vom allgemeinen Jubel der Zuschauer bewillkommt, sich den Kampfrichtern nahen, um die Krone zu empfangen: müßt' er nicht glauben, diese Menschen könnten nichts Geringeres gethan haben, als ganz Griechenland durch einen Marathonischen 20 oder Salaminischen Sieg vom Untergang gerettet, oder wenigstens jeder um seine eigene Vaterstadt sich durch irgend eine außerordentliche That unendlich verdient gemacht zu haben? Aber wie erstaunt und betroffen würde dann ein solcher dastehn, wenn er hörte daß es weiter nichts ist, als daß der eine dieser gekrönten Helden am besten laufen kann, ein anderer die schnellsten Rennpferde und den geschicktesten Kutscher hat, ein dritter der größte Meister im Faustkampf oder in der edeln Kunst seinen Gegner zu Boden zu ringen ist? Wahrlich dieser Perser oder Skythe, [15] wiewohl die Griechen seiner Nation die Ehre erweisen sie nur für Halbmenschen anzusehen, würde sich schwerlich enthalten können, das widersinnische Schauspiel für die Wirkung irgend einer zürnenden Gottheit zu halten, und zu glauben, die ganze Nation müßte entweder von einem allgemeinen Wahnsinn befallen, oder, trotz ihrer übrigen Vorzüge, zu einer ewigen Kindheit der Vernunft verdammt seyn. Daß ein schnellfüßiger Jüngling, ein gewandter Wagenlenker, ein nerviger Kerl der den Kampfhandschuh am kräftigsten zu gebrauchen wußte, oder um den stärksten Gegner zu überwältigen, keiner andern Waffe als seiner eigenen eisernen Faust bedurfte, in den Zeiten, da der Thebanische Hercules diese feierlichen Spiele gestiftet haben soll, ein wichtiger Mann für seine kleine Vaterstadt war, ist natürlich, und aus dem rohen Zustand einer von ihrer ursprünglichen Wildheit noch langsam sich losarbeitenden Horde leicht zu erklären. Aber daß ein so gebildetes Volk, wie die Griechen dermalen sind, bei so gänzlich veränderter Lage der Sachen, noch immer ein so großes Aufheben von Geschicklichkeiten macht, die entweder ganz unbrauchbar, oder doch verhältnißmäßig von sehr geringem Nutzen geworden sind; daß der Mensch, der zu Olympia 21 öffentlich dargethan hat, daß er den stiermäßigsten Nacken, die stärksten Brustknochen und die derbeste Faust seiner Zeit besitze, oder mit jedem Hasen in die Wette laufen könne, für die höchste Zierde seiner Vaterstadt gehalten, im Triumph eingehohlt, über alle seine Mitbürger hinaufgesetzt, und als ein Wohlthäter seines Volks öffentlich unterhalten, geehrt und nur nicht gar vergöttert wird, wiewohl [16] die Stärke seiner Muskeln und Knochen, oder die Behendigkeit seiner Füße vielleicht das Einzige ist, was ihn von dem rohesten und verdienstlosesten seiner Mitbürger unterscheidet, – das ist doch wirklich so ungereimt, daß man es kaum seinen eigenen Augen zu glauben wagt.

Damit ich mich durch diesen verwegenen Tadel eines Instituts 22, das allen Hellenen so ehrwürdig und heilig ist, nicht selbst in den Verdacht einer Anmaßung bei dir setze, die mich sehr übel kleiden würde, will ich dir nicht verbergen, daß ich meinem Gefühl vielleicht weniger getraut hätte, wenn ich nicht durch das Urtheil eines weiseren Mannes als ich, mit welchem der Zufall mich bekannt machte, in dem meinigen bestärkt worden wäre. Er schien ein Mann von funfzig Jahren zu seyn, und sein Aeußerliches zeigte eben nichts, was unter einer so großen Menge von Menschen die Aufmerksamkeit auf ihn ziehen konnte. Er war nach Griechischer Sitte äußerst einfach, nach unsrer Cyrenischen beinahe ärmlich gekleidet, unbeschuht, von etwas finsterem Gesicht, lang, hager, und mit einem dünnhaarigen Barte geziert, der, wo nicht ihm selbst, wenigstens seinem Schatten so ziemlich die tragikomische Miene eines – alten Ziegenbocks gab. Bei dem allen hatte der Mann etwas in seiner Gesichtsbildung, das mir Zutrauen zu ihm einflößte, und den Wunsch erregte bekannter mit ihm zu wer den. Es traf sich, daß wir beide auf der Anhöhe, von welcher wir den Wettkämpfern zusahen, so nahe beisammen saßen, daß es nur von ihm abhing, jeden Eindruck, den diese Schauspiele auf mich machten, bemerken zu können. Er selbst zeigte bei [17] allem was zu sehen war immer eben dieselbe Miene, die weder merkliches Wohlgefallen noch Mißbelieben andeutete; nur zuweilen, wenn die Zuschauer durch irgend eine außerordentliche Probe von Stärke oder Geschicklichkeit zum Ausbruch einer gar zu unmäßigen Bewunderung und Freude hingerissen wurden, verrieth er durch ein leises Zucken der Lippen, daß das allgemeine Gefühl nicht das seinige war. Ich meines Orts überließ mich eine Zeit lang dem Vergnügen, welches der Anblick so vieler schönen Jünglinge, denen die Begierde des Sieges Schwingen an die Knöchel setzte, die Menge auserlesener Rennpferde und prächtiger Wagen, die Geschicklichkeit der Wagenführer, und mehr als alles andere, die unerschöpfliche Kraft und Gewandtheit, womit die Ringer durch die gelehrteste Fertigkeit in ihrer Kunst den entscheidenden Augenblick aufzuhalten strebten, einem jungen Menschen, der das alles zum erstenmale sah, natürlicherweise machen mußten. Sogar das grausenhafte Schauspiel, das uns gegen die Mittagsstunde, während die Sonne über unsrer Scheitel brannte, die kaltblütige Wuth der Faustkämpfer gab, und der furchtbare Handschuh, womit einige Paare neuer Eryxen 23 und Herculessen einander zermalmten, erfüllte mich anfangs mit einer seltsamen Art von schauderlichem tragischen Vergnügen, indem es mich in die alte Heldenzeit zu versetzen und mir die Erzählungen der Dichter von den unglaublichsten Thaten der Göttersöhne wahr zu machen schien. Ich wähnte eine Art unzerstörbarer titanischer Naturen vor mir zu sehen, die nur spielweise so grimmig auf einander losgingen, und an welchen die Wunden, die sie einander [18] schlugen, sich ohne Zweifel eben so schnell und narbenlos wieder schließen würden, als die Luft, die durch ihre gewaltigen Streiche zerrissen wurde. Aber die Täuschung war von kurzer Dauer; und als ich, nach einem kaum viertelstündigen Kampf, einen der Athleten, der kurz zuvor die Schönheit eines Paris oder Nireus 24 mit der Stärke eines Milanion 25 vereinigt darstellte, und einer Bildsäule des Apollo selbst zum Modell hätte dienen können, für todt aus den Schranken hinaus tragen sah, so übel zugerichtet, daß keine Spur seiner vorigen Bildung in seinem zertrümmerten Gesicht und an seinem ganzen, zu einem unförmlichen Klumpen zusammengeschlagenen Leibe zu erkennen war, überwältigte mich der gräßliche Anblick dermaßen, daß ich mich nicht zurückhalten konnte, meinem Abscheu durch einen lauten Ausruf Luft zu machen, der zu meinem Glücke, über dem Getümmel und Jubelgeschrei der Zuschauer, von niemand als dem besagten Fremden gehört wurde. Ich entfernte mich unverzüglich von dem Schauplatz der gräßlichen Scene, und zog mich in die einsamsten Gänge des geheiligten Hains zurück, der den Tempel des Olympischen Jupiter umgibt. Nicht lange so sah ich den Fremden mit dem Ziegenbart auf mich zukommen, von einem stattlichen Manne begleitet, der (wie ich in der Folge vernahm) eine ansehnliche Würde zu Elea bekleidet. Sie erlaubten mir, mich zu ihnen zu gesellen, und an dem Gespräche, worin sie begriffen waren, Theil zu nehmen. Es betraf, wie natürlich, die Spiele, von deren Anschauen beide, dem Ansehen nach sehr gesättiget, zurückkamen. Mein Fremder machte sich kein Bedenken, aus [19] Gelegenheit derselben ein strenges Urtheil über die Weisheit seiner Landsleute zu fällen. Wenn, sagte er, die Absicht dieses alle vier Jahre wiederkehrenden Nationalfestes ist, durch die Wettkämpfe, die man den Zuschauern zum Besten gibt, und die dazu vorbereitenden Leibesübungen, die Griechische Jugend zu tüchtigen Vertheidigern des Vaterlandes zu bilden, so kann nichts zweckwidriger seyn als diese Spiele. Die Art der Waffen, womit der Krieg heutzutage geführt wird, und die ganze Kriegskunst überhaupt, ist von dem, was in den Zeiten des Trojanischen Krieges üblich und nützlich war, so verschieden, daß dem Staate mit ganzen Heerschaaren zu Olympia und Delphi gekrönter Läufer und Ringer wenig gedient wäre. Wenn sie noch schwerbewaffnet in die Wette liefen, möchte eine solche Fertigkeit allenfalls bei einem Eilmarsch oder plötzlichen Rückzug von einigem Nutzen seyn: aber so leicht bekleidet wie unsre schnellfüßigen Achillen sind, können sie, wo es Ernst gilt, höchstens als Eilboten gebraucht werden, oder möchten, wenn man sie auch nur bei den leichten Truppen anstellen wollte, der Versuchung selten widerstehen, in gefährlichen Fällen vor allen Dingen ihre eigene Person in Sicherheit zu bringen. Was im Kriege mit nackten Ringern anzufangen wäre, ist schwer zu sehen; und wofern auch die Faustkämpfer durch ihr gigantisches Ansehen und den raschgeschwungenen Cestus 26 dem Feinde Schrecken einjagen könnten, so sind ihrer doch in der ganzen Hellas viel zu wenige, als daß man sich eine große Wirkung von ihrem Gebrauch versprechen dürfte. Und doch, wär' es nur der geringe Nutzen, den das Griechische Gemeinwesen von diesen Spielen zieht, [20] so möchten sie immer ihrem vergötterten Stifter zu Ehren beibehalten werden: aber der positive Schaden, den sie thun, scheint mir wichtig genug, um von den Vorstehern unsrer Republiken ernstlich beherzigt zu werden. Nichts davon zu sagen, daß der leidenschaftliche und bis zur Tollheit getriebene Wetteifer unsrer Jünglinge, wer die meisten, schönsten und behendesten Rennpferde zu halten vermöge, schon viele angesehene wohlbegüterte Häuser zu Grunde gerichtet hat, was für Fortschritte in der Cultur kann man von einem Volke erwarten, das sich aus so wilden und lebensgefährlichen Leibesübungen ein Spiel macht, das die Wuth, womit Gegen kämpfer, die sich zuvor nie gesehen, geschweige beleidigt haben, auf einander losgehen, durch die Lebhaftigkeit seiner Theilnehmung noch mehr anfeuert, und an einem so barbarischen Schauspiel, wie wir so eben sahen, die angenehmste Augenweide findet? Mit welcher Stirne können wir auf unsre wirklichen und vermeinten Vorzüge so stolzen Griechen alle übrigen Erdebewohner Barbaren 27 nennen, so lange es eine unsrer größten Glückseligkeiten ist, alle vier Jahre zusammenzukommen, um uns, zu gemeinschaftlicher Belustigung, in die Zeiten zurückzusetzen, da unsre eigenen Vorfahren wenig besser als rohe Waldmenschen, Räuber und Abenteurer waren, und an Humanität und Sittigkeit weit hinter den meisten Asiatischen Völkern zurückstanden? Wie übel ziemt es uns, die an eine edlere Denkart und Geschmack am Schönen und Erhabenen Anspruch machen, auf die Kunst einander die Glieder zu verrenken, oder uns mit geballten Fäusten so lange herumzuschlagen, bis den Kämpfern kaum noch eine Spur der [21] menschlichen Gestalt übrig bleibt, einen so hohen Werth zu setzen, und rohe Athleten 28 ihrer herkulischen Schultern und eisernen Knochen wegen mit Ehrenbezeugungen zu überschütten, welche die reinste und vollkommenste Tugend selbst nicht von uns erhalten kann? – Ich gestehe unverhohlen (setzte mein Unbekannter mit einem Feuer hinzu, das ich seiner kalten Miene nicht zugetraut hatte), diese Betrachtung hat mich gegen die allgemeine Freude der zahllosen Menge, die mich diesen Morgen umgab, unempfindlich gemacht, und bei Schauspielen, die so laut gegen das sittliche Gefühl und die Humanität meiner Landesleute zeugen, sogar mit Unmuth und Traurigkeit erfüllt. Du bist ein Philosoph, wie ich sehe, sagte der Mann von Elea mit einem Lächeln, dessen leisen Spott er durch den sanften Ton seiner Worte mildern zu wollen schien. Wenn ich es auch wäre, versetzte jener, die Wahrheit dessen, was ich gesagt habe, würde dadurch weder gewinnen noch verlieren. Du magst in der Hauptsache Recht haben, erwiederte der andere. Wir Eleer sehen die Sache freilich von einer gefälligern Seite; denn wir machen kein Geheimniß daraus, daß wir den Wohlstand unsrer Republik dem Institut, gegen welches du dich so streng erklärst, größten Theils zu danken haben. Du hast gesehen, was für eine glänzende Panegyris aus allen Griechischen und benachbarten Ländern durch diese Spiele nach Pisa gezogen wird. Glaubst du, das Gedränge von unzählbaren Menschen aus allen Ständen und Classen würde eben so groß seyn, wenn an die Stelle dieser Kampfspiele ein Wettstreit um den Vorzug an Weisheit und Tugend angeordnet, und die Kronen, die wir jetzt den besten [22] Rennern, Ringern und Pankratiasten 29 zuerkennen, denen aufgesetzt würden, die sich etwa durch die schönste Handlung der Menschlichkeit, Großmuth und Selbstüberwindung ausgezeichnet hätten? Desto schlimmer, sagte mein Unbekannter; das ist es eben was ich beklage! So lange dieses, den Eleern auf Kosten der übrigen Griechen so vortheilhafte Institut dauern wird, sehe ich nicht, wie eine richtigere Schätzung des Werthes der Menschen unter uns Platz greifen, und der Vorzug der geistigen und sittlichen Vollkommenheiten vor den körperlichen und mechanischen allgemeiner gefühlt und anerkannt werden könnte.

Laß uns die Welt nehmen wie sie ist, erwiederte der Eleer, denn sie ist doch wohl – wie sie seyn kann. Weisheit und Tugend belohnen sich selbst so reichlich, daß sie des Beifalls der Menge und der Kronen, die zu Olympia ausgetheilt werden, leicht entbehren. Wer weiß, ob sie durch eine so öffentliche und geräuschvolle Auszeichnung nicht an innerm Werthe verlieren würden? Wenigstens zweifle ich sehr, daß die stillen unscheinbaren Tugenden, welche gewöhnlich die reinsten sind, sich gern aus ihrer Verborgenheit herausziehen und einer so großen vermischten Menge zur Schau ausstellen lassen würden. Uebrigens scheint mir die lebhafte Theilnehmung, womit unsre Panegyrischen Spiele angesehen werden, so wenig gegen das sittliche Gefühl unsrer Nation zu beweisen, daß ich mir eher das Gegentheil zu behaupten getraue. Die Kampfspiele zu Olympia, Delphi, 30 Nemea und Korinth haben eben darum ein so lebhaftes und eigenes Interesse für unsre Nation, weil sie uns, gleichsam durch den Augenschein, [23] so wie durch die Siegesgesänge Pindars und seiner Nacheiferer, in die fabelhaften Zeiten jener Heroen versetzen, deren Andenken uns aus so vielen Ursachen heilig ist, die unsre meisten Städte gegründet haben, und von welchen unsre edelsten Geschlechter ihren Ursprung herleiten. Aber auch ohne diese Beziehung haben wir noch Ursache genug, sie als eines unsrer schönsten und wohlthätigsten Nationalinstitute anzusehen. Kein anderes vereiniget eine so große Menge Griechen aus allen Städten und Landschaften der ganzen Hellas an Einem Orte zu gemeinschaftlichen Feierlichkeiten, Opfern, Gastmählern und Ergötzungen. Während ihrer Feier hören alle Feindseligkeiten auf, in welche die uralte Antipathie der Dorier und Ionier 31 nur zu oft ausbricht. Wir vergessen in diesen halcyonischen Tagen aller Beleidigungen, aller Eifersucht und Rache, um uns bloß unsers gemeinsamen Ursprungs zu erinnern, und die Bande von neuem zusammenzuziehen, womit gemeinschaftliche Götter und Tempel, eine gemeinschaftliche Sprache und das große Interesse unsre Unabhängigkeit gegen auswärtige Mächte zu behaupten, die in so viele Stämme und Zweige verbreitete Nachkommenschaft Deukalions 32 zu einem einzigen Volke verbunden haben, das durch seine Cultur das erste in der Welt ist, und durch Eintracht unüberwindlich und unvergänglich dem ganzen Erdboden Gesetze geben würde.

Ich verschone dich, lieber Demokles, mit einer Menge anderer schöner Sprüche, welche der begeisterte Eleer mit einem großen Erguß von Redseligkeit hervorströmte, um dem kopfschüttelnden Philosophen eine höhere Meinung von den [24] Olympischen Spielen abzunöthigen. Es versteht sich, daß jeder auf seiner eigenen beharrte; so wie ohne Zweifel diese Spiele selbst, allen Veränderungen der Zeiten und allen Einsprüchen der Philosophie zum Trotz, ihre ursprüngliche Form und Einrichtung so lange Jupiter im Besitze seines Tempels zu Olympia bleibt, behalten werden, wie leicht es auch wäre, ihnen eine gemeinnützlichere und einem gebildeten Volk anständigere zu geben. Wir kamen indessen, da der Eleer ein sehr höflicher Mann war, noch ganz friedlich aus einander; denn die Höflichkeit hat dieß Eigene, daß sie es dem andern unvermerkt unmöglich macht, so grob zu seyn als er wohl Lust hätte. Doch muß ich es auch meinem bocksbärtigen Freunde nachrühmen, daß er sich beim Abschied mit mehr Urbanität betrug, als ich von seiner Freimüthigkeit erwartet hatte. Dieser Umstand und seine Mundart bestärkten mich in der Vermuthung daß er ein Athener sey; und so fand sich's auch bei näherer Erkundigung. Man sagte mir, er nenne sich Antisthenes, und sey einer der vertrautesten Freunde des berühmten Sokrates Sophroniskus Sohn, den der Delphische Gott 33, oder (wenn du lieber willst) der eifrigste seiner Anhänger, Chärephon, durch den gelehrigen Mund der Pythia, für den weisesten aller Menschen erklärt haben soll. Da mein Verlangen diesen merkwürdigen Mann persönlich zu kennen und durch seinen Umgang, wo möglich, selbst ein wenig weise zu werden, einer der ersten Zwecke meiner freiwilligen Verbannung aus dem schönen und wollüstigen Cyrene war, so kannst du leicht urtheilen, daß ich mich auf diese Nachricht um so eifriger um die Gunst einer Person bewarb, die mir zu [25] Beförderung meiner Absicht gute Dienste thun konnte. Ohne mir diese Bewerbung durch ein zuvorkommendes Wesen zu erleichtern, schien er doch eben so wenig gesonnen, sie gänzlich abzuweisen. Von Sokrates sprach er mit seiner gewöhnlichen Kälte, als von einem Manne, mit dem er seit vielen Jahren täglich umgegangen, und den er als seinen ersten, wo nicht einzigen Freund betrachte. »Wenn ich einen bessern als er gekannt hätte, sagte er, würde ich mich zu diesem gehalten haben; aber ich kenne keinen bessern, und, insofern diese Benennung einem Menschen zukommen kann, keinen weisern Mann als Sokrates. Er hat Eigenheiten, die man ihm lassen muß, und die, weil sie ihm wohl anstehen, darum nicht einen jeden kleiden würden: aber wenige Menschen sind so gut, daß sie nicht noch besser werden könnten, wofern sie ihn immer und in allen Verhältnissen und Vorfällen des Lebens zum Muster nähmen.«

Da ich von Antisthenes vernahm, daß er geraden Weges nach Athen zurückzukehren gedenke, bat ich ihn um Erlaubniß ihn begleiten zu dürfen, und äußerte den Wunsch, daß er mich bei Sokrates einführen möchte. »Ein guter Reisegefährte ist der halbe Weg, sagte er: ich nehme dein Anerbieten willig an; aber bei Sokrates bedarfst du keines Einführers. Er liebt junge Leute deiner Art, und du wirst den alten Glatzkopf gewöhnlich von einigen unsrer schönsten Jünglinge umgeben finden. Seine Absicht ist ihm mit Xenophon, Kritobulus 34, Plato und einigen andern so gut gelungen, daß ein Alcibiades und Kritias 35, die ihm verunglückten, ihn nicht abschrecken konnten, es immer wieder mit andern zu versuchen. Ein [26] Jüngling guter Art bedarf bei ihm weder einer Empfehlung noch einer besondern Aufmerksamkeit sich ihm angenehm zu machen; es wird also bloß auf dich selbst an kommen, wie viel oder wenig du dir seinen Umgang zu Nutze machen willst. Die Sonne strahlt gleich warm auf ein Stück Gold und auf ein Stück Blei; nur faßt das eine mehr Wärme, und behält sie länger als das andere.«

Wir werden unsre Reise über Orchomenos, Korinth, Megara und Eleusis machen; weil Antisthenes zu seinem ehrwürdigen alten Freund zurückeilt, welchen er in der trübseligen und verzweifelten Lage, worin seine Vaterstadt sich seit einiger Zeit befindet, nicht länger verlassen will. Denn es sind schon mehr als acht Monate verstrichen, seit er von Athen abgegangen ist, um die Angelegenheiten eines zu Megalopolis verstorbenen Anverwandten zum Besten seiner Hinterlassenen in Ordnung zu bringen.

Die Nachrichten von den abwechselnden Erfolgen der seit einigen Jahren zwischen den beiden Hauptstädten Griechenlands wieder ausgebrochnen Befehdungen kommen gewöhnlich so spät zu euch, daß du vielleicht erst aus diesem Briefe (dessen Abgang noch sehr ungewiß ist) erfährst, daß der Spartanische Feldherr Lysander, nach einem bei Aigos Potamos am Eingang des Hellesponts erhaltnen entscheidenden Sieg, die stolze Minervenstadt selbst eingeschlossen, und durch Hunger und Verzweiflung endlich gezwungen hat, sich auf Bedingungen, denen ihre Väter den Tod in jeder Gestalt vorgezogen haben würden, von dem schrecklichen Schicksal, welches sie vor eilf Jahren über die unglücklichen Melier 36 verhängt [27] hatten, loszukaufen. Die übermüthige Beherrscherin der Meere ist nun auf zwölf Schiffe, die ihr noch erlaubt sind, herabgebracht; die Stadt und die Vorstadt Piräum mit ihrem Hafen sind des herrlichsten Denkmals der Siege des großen Themistokles, ihrer prächtigen Mauern beraubt, die Spartaner haben eine Besatzung in der Akropolis 37; und eine von Lysandern beschützte, neuerrichtete Regierung von dreißig unter seinen Winken willkürlich herrschenden Gewalthabern macht das Elend der beklagenswürdigen, ihre eigene Thorheit zu theuer büßenden Athener vollständig. Dieß sind die neuesten Nachrichten, die uns aus jenen Gegenden zugekommen sind. Was sagst du, Demokles, zu einer so unerwarteten Katastrophe? – Du wirst mich vielleicht unklug und verwegen nennen, daß ich mich gerade in einem so verwirrten und gefährlichen Zeitpunkt nach Athen wage. Aber ich kann dem Verlangen nicht länger Einhalt thun, diesen Sokrates, von dem ich schon in Cyrene so viel Wunderbares hörte, und jetzt von Leuten, die ihn sehr gut zu kennen glauben, oder vorgeben, die seltsamsten und widersprechendsten Dinge höre, durch mich selbst kennen zu lernen. Auf alle Fälle sind meine Einrichtungen so getroffen, daß ich mich vielmehr in den Credit eines vorsichtigen und besonnenen Mannes bei dir zu setzen hoffe. Ich habe meine Cyrenische Kleidung bereits mit einem äußerst einfachen Costume im Geschmack meines neuen Freundes Antisthenes vertauscht; meine Baarschaft bleibt in Korinth niedergelegt, und ich werde nur gerade so viel Geld nach Athen tragen, als ein Mensch, der täglich drei bis vier Obolen zu verzehren hat, in sechs Monaten[28] nöthig haben mag. Du solltest mich wirklich in meinem neuen Sokratischen Schülermantel sehen! Er ist zwar etwas grob von Wolle, und reicht nicht sehr weit unter die Knie; aber Antisthenes versichert mich, daß er mir trefflich stehe. In diesem Aufzuge werde ich wahrscheinlich zu Athen nicht so viel Eindruck machen, daß die Dreißig sich viel um mich bekümmern werden.

5. An Kleonidas
5.
An Kleonidas.

Wie sehenswürdig auch die weltberühmten Olympischen Spiele sind, so zweifle ich doch nicht, daß die Einbildungskraft eines Dichters mit bloßer Hülfe des Hippodroms 38 und der Gymnasien 39 und Fechtschulen in Cyrene sich eine noch größere und den alten Heldenzeiten angemess'nere Vorstellung von ihnen machen könnte als diejenige ist, die wir andern gewöhnlichen Menschen mittelst unsrer Leibesaugen erhalten haben. Aber den Jupiter des Phidias muß man sehen, Freund Kleonidas, wenn man sich einen Begriff von ihm machen will. Also komm und sieh, und bete an.

Nach diesem Eingang erwartest du, natürlicher Weise, keine Beschreibung 40 von mir, die am Ende doch nur auf ein Verzeichniß der unzähligen einzelnen Stücke und Theile hinauslaufen würde, aus welchen dieses über allen Ausdruck große und reiche Kunstwerk, dem kein anderes in der Welt [29] vergleichbar ist, mit hohem Sinne zusammengesetzt, wie eine himmlische Erscheinung vor unsern Augen da steht. Jeder dieser Theile ist, für sich selbst betrachtet, schön, groß gedacht, mit reiner sicherer Bestimmtheit der Verhältnisse und Formen ausgeführt, und so zierlich vollendet, daß dem Liebhaber der Kunst nichts zu wünschen, dem Kenner wenig oder nichts zu erinnern übrig bleibt. Aber alle diese besondern Schönheiten verlieren sich, oder vereinigen sich vielmehr in dem Haupteindruck, den das herrliche Ganze – Jupiter auf seinem Thron, von seinem ganzen Göttergeschlecht umgeben – auf die Seele des Anschauers macht, indem er sich beim ersten Anblick von einem wunderbaren Schauder ergriffen fühlt, den der große und glaubige Haufe für ein unmittelbares Zeichen der Gegenwart des Gottes hält.

Dir, mein Freund, brauche ich nicht zu sagen, daß weder dumpfes Anstaunen noch Ueberfluß an Glauben unter die Gebrechen meiner Natur gehören. Ich betrat den Tempel mit der kaltblütigsten Gewißheit, einen Gott von Elfenbein und Gold von der Hand eines großen Bildners zu sehen, und konnte mich doch des besagten Schauders so wenig erwehren als ein andrer. Mit Blitzesschnelligkeit vermengte sich der Homerische Nephelegereta 41 Zeus mit dem huldreichen Phidiassischen Göttervater, und ich wähnte einen Augenblick den König des Himmels wirklich auf seinem Throne zu sehen, wie er der flehenden Thetis die Gewährung ihrer Bitte zunickt, und das Winken der schwarzen Augenbraunen die ambrosischen Locken auf seinem unsterblichen Haupte schüttelnd den ganzen Olympus erbeben macht. 42

[30] Du wirst mir indessen gerne zutrauen, daß ich bei dieser schnell vorüber gehenden Verzückung noch Besonnenheit genug behielt, dem Grunde des Zaubers nachzuforschen, wodurch dieses göttliche Machwerk eines sterblichen Meisters auf alle die es erblicken, ohne Ausnahme, eben dieselbe Wirkung thut. Glücklicherweise brauchte ich nicht tief zu graben; denn er fällt so stark in die Augen, daß die meisten, denen ich mein Räthsel aufzurathen gab, eher auf alles andre als das Wahre riethen. Ich gebe willig zu, daß der erhabene Charakter, womit der Künstler diese Göttergestalt, und alles was sie umgibt, zu bekleiden gewußt hat, sehr viel dabei thut; aber weder in ihm allein, noch in der majestätischen Form des dichtgelockten Hauptes, noch in der unerschütterlichen Festigkeit und Kraft, der ruhig ernsten Weisheit, und der von aller menschlichen Schwäche gereinigten Huld und Gnade, die, wie man sagt, in den Formrn und dem Blicke des Angesichts unnachahmlich ausgedruckt sind, kann der besagte Zauber liegen; oder, wenn Phidias diese nämliche Gestalt, mit allen diesen Vollkommenheiten, die man an ihr bewundert, nach verjüngtem Maßstabe, nur zehn oder zwölf Zoll hoch ausgearbeitet hätte, müßte das kleine Bild eben dieselbe Wirkung thun, – welches, denke ich, niemand behaupten wird.

Und was ist denn die wahre Ursache, warum uns der Olympische Jupiter so gewaltig ergreift? Es ist, mit Erlaubniß zu sagen, nicht mehr und nicht weniger als – warum uns ein Elephant mehr Respect gebietet als ein Stier – seine kolossalische oder vielmehr titanische Statur; denn bekanntermaßen war die ganze Familie des Uranos und der Gea, [31] von welchen Jupiter wie alle übrigen Titanen abstammte, ein Riesengeschlecht von der ersten Größe. Alle Majestät, die der erhabene Künstler dem Angesicht des Gottes zu geben vermochte, würde an einem Bilde von sechs oder sieben Fuß schwerlich viel mehr gewesen seyn, als ein Minos oder Agamemnon hätte tragen können, ohne darunter einzusinken. An einem Pygmäenkönige würde diese Majestät – in unsern, nicht in der Pygmäen, Augen – sogar etwas zum Lächeln Reizendes haben; aber an einem Jupiter von sechsundzwanzig Ellen erregt sie in uns Pygmäen das Gefühl des Uebermenschlichen und Göttlichen. Ich hörte einen ehrwürdigen Pythagoräer, den ich eines Tages im Tempel antraf, sagen: er halte sich überzeugt, daß Phidias der Religion einen größern Dienst erwiesen habe, als alle Priester, Hierophanten, Dichter und Philosophen der ganzen Welt zusammengenommen nicht zu thun vermocht hätten. Der Mensch, sagte er, ist nun einmal, er wolle oder wolle nicht, durch seine Natur genöthigt, sich die Gottheit unter einer menschlichen Gestalt vorzubilden. Was Homer und seine Nachfolger leisten konnten, erregt nur schwankende unbestimmte Phantomen; die Kunst des Bildners muß ihnen zu Hülfe kommen und die Einbildungskraft auf einer bestimmten Gestalt festhalten. Große Menschen waren das Höchste, was die Vorgänger und Zeitgenossen des Phidias in dieser Art zuwege brachten: er allein hat uns den König der Götter dargestellt. Wer den Olympischen Jupiter gesehen hat, trägt einen Eindruck in seiner Seele davon, dem keine Zeit etwas anhaben kann. Die priesterliche Miene und der prächtige Bart des Pythagoräers, [32] der selbst das Ansehen eines Göttersohns hatte, hielt mich zurück, etwas, das mir gegen seine Behauptung auf die Zunge kam, laut werden zu lassen; zumal da ich das Wahre in derselben an mir selbst erfuhr. Denn wie richtig es auch seyn mag, daß klein und groß, für Eigenschaften gewisser Dinge genommen, nur täuschende Begriffe sind, so gestehe ich doch ohne Bedenken, daß ich mich so gern von ihnen hintergehen lasse als irgend einer. Von den zehn Tagen, die ich zu Olympia verweilte, ging keiner vorbei, ohne daß ich den Jupiterstempel zweimal wenigstens besucht hätte; und ich schwöre dir beim goldnen Barte des Gottes, daß ich das Bild, das sich durch dieß so oft wiederholte Anschauen meiner Phantasie eingesenkt hat, nicht um die ganze Cyrenaika missen wollte.

Mehrere Leute haben mit einer bedenklichen Miene angemerkt, der Olympische Jupiter könnte nicht von seinem Thron aufstehen, ohne das Dach des Tempels einzustoßen. Ganz gewiß machte Phidias diese scharfsinnige Bemerkung auch, und tröstete sich und den Baumeister damit, daß sein Jupiter wahrscheinlich wohl immer sitzen bleiben werde. Nicht Wenige habe ich beklagen gehört, daß ein prächtig gearbeitetes Brustgeländer nicht erlaube so nahe zum Thron hinzukommen als man wohl wünschen möchte. Auch dieß ist ein Streich, den der lose Phidias den Leuten gespielt hat. Er machte es ihnen dadurch unmöglich, so nahe hinzuzutreten, daß sie, anstatt den Götterkönig auf seinem Thon zu sehen, nur einen Haufen geschnittenes Elfenbein und gegossenes Gold zu sehen bekommen hätten. Denn damit das Ganze seine gehörige Wirkung thue, muß es aus einem gewissen Standpunkt [33] betrachtet werden. Vielleicht wollte auch der kluge Künstler nicht, daß eine Menge Nebendinge und Verzierungen von allerlei farbichten Edelsteinen, Ebenholz, Perlenmutter und dergleichen, auf deren geschickte Zusammensetzung er zu Verstärkung des Haupteffects gerechnet hatte, zum Nachtheil desselben stückweise und in der Nähe besehen werden könnten. Denn bei einem Kunstwerke, wo am Ende doch alles auf eine gewisse Magie, und also auf Täuschung hinausläuft, muß man die Zuschauer nicht gar zu nahe kommen und zu gelehrt werden lassen.

Indem ich überlese, was ich dir von dem größten und schönsten aller Menschenwerke geschrieben habe, dünkt mich ich habe nichts gesagt. Aber wenn ich einen Stachel in dein Gemüthe geworfen habe, der dir keine Ruhe läßt bis du selbst kommst und siehest, so hab' ich genug gethan; denn das ist alles was ich wollte.

6. An Kleonidas
6.
An Kleonidas.

Ich lebe bereits einige Wochen in dieser weltberühmten und in ihrer Art einzigen Minervenstadt, welche zu sehen mich schon so lange verlangte. Hat sie meine Erwartung übertroffen? oder ist sie unter ihr geblieben? Beides, lieber Kleonidas, und ich werde täglich mehr in der Meinung bestärkt, daß es mir immer und allenthalben mit allen menschlichen [34] Dingen eben so gehen werde. Im Ganzen genommen kenne ich noch keinen Ort, wo ich lieber leben möchte als zu Athen, und, meinem Geschmack nach, hat die Stadt durch das Abtragen ihrer Mauern mehr gewonnen als verloren. Ob sie, vor dieser den Athenern so schmerzlichen Demüthigung, wirklich, wie sie sich schmeichelten, die schönste Stadt in der Welt war, ließe sich vielleicht noch fragen: aber daß sie jetzt das größte, schönste, prächtigste und volkreichste Dorf in allen drei Welttheilen ist, wird niemand zu läugnen begehren. Auch ohne Mauern bleibt sie immer der erste Tempel der Musen, der Sitz des Geschmacks, und die Werkstatt aller das Leben unterstützenden und verschönernden Künste, mit Einem Wort, Alles wozu Perikles sie machte, dessen Andenken aber, wie ich sehe, bei diesen leichtsinnigen und undankbaren Republikanern schon lange vergessen ist. Kannst du glauben, daß sie es sogar ungern hören, wenn ein Fremder mit Ehrerbietung von diesem großen Manne spricht, oder ihm die herrlichen Gebäude und Kunstwerke, womit er die Stadt und die Akropolis geziert hat, zum Verdienst anrechnet? Im Athenischen Styl zu reden hat das Volk alles gethan; ja sie sprechen nicht anders davon, als ob das alles so hätte seyn müssen, und mit ihnen zugleich aus dem Attischen Boden hervorgewachsen wäre. Selbst die Namen eines Miltiades, Themistokles, Aristides, Cimon (der Männer, denen Griechenland zu danken hat, daß es nicht zu einer Persischen Satrapie zusammenschrumpfte) werden selten oder nie gehört; aber dafür sind die Männer von Marathon und Salamin immer auf ihren Lippen, und der erste Schuster oder Kleiderwalker, [35] dem du begegnest, ist so stolz darauf, der Enkel eines Mannes von Marathon zu seyn, als ob er selbst dadurch zu einem Manne von Marathon würde, und schwatzt mit der unbeschreiblichsten Geläufigkeit der Zunge stundenlang von den Großthaten seiner Vorfahrer, ohne das mindeste Bewußtseyn, wie viele Ursache diese hätten, sich ihrer ausgearteten Nachkommenschaft zu schämen. In der That kannst du dir nichts Komischeres vorstellen, als den namenlosen Schmerz, womit sie von dem Verlust ihrer Mauern sprechen, wenn du zugleich bedenkst, daß es bloß auf sie ankam, durch einen den Spartanern zu rechter Zeit entgegen gesetzten kräftigen Widerstand, ihre so zärtlich geliebten Mauern zu erhalten. »Ach! daß wir leben mußten den Athenischen Namen so geschändet zu sehen!« rufen sie mit einem langen kläglichen Seufzer aus, und es kommt ihnen alles andere eher in den Sinn, als sich selbst die Schuld beizumessen, oder zu bedenken, daß sie ja, so gut wie die dreihundert Spartaner bei Thermopylä, mit den Waffen in der Hand sterben konnten, wenn sie eine solche Schmach nicht erleben wollten, und daß dieß in der That die einzige Entschließung war, die den Söhnen der Männer von Marathon geziemte.

Doch für jetzt nichts weiter von diesen der Geißel ihres Aristophanes so würdigen Kechenäern 43, weil ich dir nicht bald genug von dem Manne sprechen kann, um dessentwillen ich hauptsächlich hierher gekommen bin, und der dadurch, daß auch er ein geborner Athener ist, für alle andern Schonung und beinahe Achtung fordert.

Du zweifelst nicht, daß eine meiner ersten Sorgen war, [36] mich von Antisthenes bei seinem ehrwürdigen Freund einführen zu lassen.

Es wäre schwer, dir den Eindruck zu beschreiben, womit mich der erste Anblick dieses außerordentlichen Mannes überraschte. Meine Einbildungskraft (welcher ich überhaupt wenig Gehör zu geben pflege, weil sie mich fast immer irre führt) hatte sich ohne Zuthun meines Willens eine Vorstellung gemacht, wie jemand aussehen müsse um Sokrates zu seyn: und nun fand sich's, daß diese Vorstellung unter allen Sterblichen keinem weniger anpaßte, als dem wirklichen Sokrates. Ich stand einen Augenblick etwas betroffen da, war aber kaum eine halbe Stunde bei ihm gewesen, als ich nicht nur mit dem Unerwarteten in seiner Gesichtsbildung völlig ausgesöhnt war, sondern mir sogar schon in den Kopf gesetzt hatte, daß er so aussehen müsse, und daß kein andres Aeußerliches geschickter gewesen wäre, seinen innern Charakter schneller anzukündigen und stärker auszusprechen als gerade dieses. Denke dir einen corpulenten, breitschultrigen alten Mann, mit einem bis an die Seitenhaare kahlen Silenenkopf, und dem rüstigen Ansehen eines ächten Abkömmlings der Sieger bei Marathon und Salamin 44; und ermiß nun selbst, welch einen Contrast eine solche Figur mit der Erwartung eines jungen Menschen machte, der sich nach einem ziemlich allgemeinen Vorurtheil, einen wegen seiner Weisheit und Geistesgröße berühmten Mann nicht anders als mit dem Kopf eines Pythagoras oder Solon denken konnte! Aber der vielumfassende Verstand, der in dieser hohen und breiten, über den buschigen Augenbrauen sich weit hervor wölbenden Stirne wohnt; [37] der Geist, der aus diesen stieren Augen blitzt, und dir mit jedem Blick bis auf den Grund deines Innern zu sehen scheint; der entschiedene Ausdruck eines festen, männlichen, keiner Furcht noch Schwäche fähigen Charakters, einer unwandelbaren Heiterkeit und Gleichmüthigkeit und einer biedern allen Menschen wohlwollenden Seele, dieser Ausdruck, der seinem ganzen Gesicht scharf und tief aufgeprägt ist, macht in wenig Augenblicken den ersten widrigen Eindruck schwinden; du fühlst dich immer stärker und stärker von ihm angezogen; ein unerklärbarer Zauber hält dich in seinem Kreise fest, und du wünschest, dich in deinem ganzen Leben nie wieder von ihm entfernen zu dürfen. Wundre dich nicht, Lieber, daß ich mich so lange bei der Physiognomie des Sokrates verweile; denn ich habe mir in den fünf bis sechs Wochen, seit ich mit ihm lebe, ein ganz eigenes Studium aus ihr gemacht, und ich bin gewiß, daß sie einen wesentlichen Antheil an der außerordentlichen Gewalt und Ueberlegenheit hat, die dieser Mann – der seinem Aufzug und seinen Glücksumständen nach in ganz Athen wenige unter sich sieht, – über alle Menschen, die sich ihm nähern, zu behaupten weiß. Ich habe ihn während dieser Zeit, da ich selten von seiner Seite komme, nicht einen Augenblick anders als heiter und freundlich gesehen; aber Antisthenes versichert mich, daß sich nichts Fürchterlicher's denken lasse, als das drohende Gesicht, womit er in einem Handgemenge vor den Mauern von Potidäa einen feindlichen Trupp, der sich des verwundeten Alcibiades bemächtigen wollte, zurückgescheucht habe; und ich begreife vollkommen, daß er, sobald er will, grimmig genug [38] aussehen kann, um einem Löwen Angst einzujagen. Ohne Zweifel ist gerade dieß die Ursache, warum der Ausdruck von Wohlmeinung und Güte eine so große Wirkung in seinem Gesicht thut, weil die natürliche Schönheit der Züge so wenig dazu beiträgt, und man also um so gewisser seyn kann, daß es der Abdruck wahrer Gesinnungen ist, und unmittelbar aus dem Herzen kommt. Das Nämliche gilt (in seiner Art) von dem ziemlich nah an Hohn gränzenden Spotte, der in den aufgestülpten Nüstern seiner Delphinen-Nase lauert, aber durch die gewöhnliche heitere Freundlichkeit seiner Augen und das gutherzige Lächeln seines dicklippigen Mundes so sonderbar gemildert wird, daß er aufhört Spott zu seyn, oder daß nur gerade so viel davon übrig bleibt, um seiner Art zu scherzen, und der ihm eigenen Ironie etwas Säuerlichsüßes zu geben, das unendlich angenehm ist, aber sich weder beschrieben noch nachmachen läßt. Kurz, ich bin gewiß, diese sonderbare Mischung von Weisheit und Einfalt, von Ernst und Muthwillen, von Gleichmüthigkeit und genialischer Laune, Stolz und Bescheidenheit, Treuherzigkeit und Causticität, die das Eigenthümliche seines Charakters ausmacht, und wodurch er, mit Einem Wort, Sokrates ist, könnte gar nicht stattfinden, wenn ihm die Natur eine regelmäßige Gesichtsbildung gegeben hätte, und gerade diese die er hat sey diejenige, welche der in ihm wohnende Genius sich besser als eine andere anpassen konnte.


[39] Ich wurde von ihm mit seiner gewohnten Humanität aufgenommen; doch richtete er anfangs die Rede selten an mich, ließ nur zuweilen einen ziemlich scharfen Blick auf mich fallen, und setzte übrigens das Gespräch fort, worin er, da ich ihm vorgestellt wurde, mit seinen meistens noch jungen Freunden begriffen war. Aber als ich es für Zeit hielt mich wieder wegzubegeben, nahm er mich bei der Hand und sagte: ich höre du gedenkst dich einige Zeit zu Athen aufzuhalten, um zu sehen, zu hören und zu lernen was bei uns Sehens, Hörens und Lernens werth ist. Du wirst dessen von aller Art manches finden; des Gegentheils vielleicht noch mehr. Um desto weniger getäuscht zu werden, thut ein Fremder bei uns wohl, wenn er sein Urtheil zurückhält und etwas mißtrauisch gegen die ersten Eindrücke ist. Gefällt es dir in meiner Gesellschaft, so steht's bei dir, so oft um mich zu seyn als andere deines Alters, die mir ihr Zutrauen geschenkt haben und durch meinen Umgang besser zu werden glauben. Ich weiß wenig, wiewohl ich einen Theil meines Lebens mit Forschen zubrachte. Wo ich nicht weiter kann, behelfe ich mich mit dem, was mir das Wahrscheinlichste dünkt; denn immer in Zweifeln schweben, ist für einen besonnenen Menschen ein unerträglicher Zustand; indessen reiche ich mit dem wenigen, worüber ich gewiß bin, ziemlich aus, und halte mich desto fester daran. Meine Freunde haben ein Recht an alles, wodurch ich ihnen nützlich werden kann. Ich lasse mich gerne fragen, frage aber auch gern wieder, und hab' es aus langer Erfahrung, daß dieß die kürzeste und sicherste Art ist, einander auf die Spur [40] der Wahrheit zu helfen. – Ich bat ihn, mich als einen Jüngling zu betrachten, der das Schöne und Gute liebe, und in beiden das Wahre, und vornehmlich das Band das beide zusammenschlinge, durch ihn kennen zu lernen hoffte. Er schien mit dem was ich ihm sagte nicht unzufrieden, und ich denke, so muß einem Liebhaber, der von seiner Geliebten scheiden muß, zu Muthe seyn, wie mir's war, da ich mich von diesem zauberischen alten Mann entfernte.


Ich habe mir, so nah als möglich an dem Häuschen des Sokrates, eine kleine Wohnung bei einem ehrsamen Bürger gemiethet, der einer von den fünf bis sechstausend Richtern dieser proceßreichen Republik 45 ist, und da er wenig Vermögen hat, und (nach hiesiger Bürgersitte) zu vornehm ist ein Handwerk zu treiben, ohne sein tägliches Triobolon 46 mit seiner zahlreichen Familie sehr kümmerlich leben müßte. Da vielleicht zwei Drittel der Attischen Bürger sich in dem nämlichen Falle befinden, so erklärt sich daraus, warum du in dieser Republik, worin das Volk der Gesetzgeber ist, unter drei bis vier Bürgern immer unfehlbar einen Richter, nämlich ein Mitglied der zehn großen Gerichtshöfe dieser wundervollen Republik findest, und warum alles darauf angelegt ist, das Proceßfieber, womit die Athener sammt und sonders – den Sokrates und etliche seiner Freunde ausgenommen – behaftet sind, zu nähren und unheilbar zu machen. Das Leben eines Attischen Bürgers ist ein immerwährender Rechtsstreit, [41] und, die Festtage abgerechnet, vergeht kein Tag im ganzen Jahr, daß er nicht entweder als Richter oder als Partei, oder als Anwald oder als Zeuge, mit einem Rechtshandel beschäftigt ist. Wer diesem Uebel abhelfen wollte, würde dem größten Theil der Athener ihr tägliches Brot entziehen. Vermuthlich ist dieß auch die wahre Ursache, warum eine unbeschreibliche Geläufigkeit der Zunge (sie nennen's Stomylie) und eine gewisse angeborne Wohlredenheit und Begierde sich selbst reden zu hören, ein so allgemeiner Charakterzug dieses über allen Begriff lebhaften Volkes ist.

Du wirst dich, wie ich sehe, schon daran gewöhnen müssen, lieber Kleonidas, daß ich nicht lange in mei nem Wege fortgehen kann, ohne bald auf diesen bald auf jenen Gegenstand zu stoßen, der mich zu einer kleinern oder größern Abschweifung verleitet. Insofern ich dir nur keine Langeweile mache, wird es dir übrigens gleichviel seyn, was für einen Weg ich dich führe, da meine Briefe bloße Spaziergänge für dich sind.

Ich denke meinem Vorsatz, eine Zeitlang auf dem Sokratischen Fuß, d.i. ein wenig armselig zu leben (wiewohl mich der letzte Brief meines Vaters auf einmal um fünfhundert Minen reicher gemacht hat) so lange getreu zu bleiben – als ich es aushalten kann. Bis hierher geht es noch gut. In der That für einen Kosmopoliten ist nichts nothwendiger, als auf alle Fälle mit zwei bis drei Obolen des Tages auskommen zu können, wiewohl es zu müssen vielleicht nie mein Fall seyn wird.

Ich sehe und höre den Sokrates alle Tage, und habe, [42] außer seinen Freunden oder eigentlichen Anhängern, noch wenig Bekanntschaften gemacht; doch soll auch dieß mit der Zeit anders werden. Für jetzt ist mein Hauptzweck, den merkwürdigsten aller Menschen so lange zu beobachten und zu studiren, bis ich ihn ganz zu kennen und zu verstehen glaube.

Ein einzigesmal habe ich in dieser Zeit mit Sokrates einem großen Gastmahl bei einem Athenischen Kalokagathos 47 von der ersten Classe beigewohnt; wo einem Cyrener die Mischung von Ueppigkeit und Pracht mit übel verhehlter Armuth und Knauserei nicht anders als auffallend seyn mußte. Reich scheinen zu wollen, so wie überhaupt mehr zu scheinen als sie sind, ist eines der charakteristischen Erbübel der Cekropiden 48; dafür, daß niemand mehr reich sey, haben die Spartaner gesorgt, und es wird eine Reihe von Jahren dazu gehören, bis Athen sich von den Folgen ihres mißlungenen Anschlags auf Sicilien, und des so unglücklich für sie ausgefallenen Peloponnesischen Verheerungskrieges erholt haben wird.

Sokrates galt ehmals für einen sehr angenehmen Tischgesellschafter, und viele der vornehmsten Athener würden ein festliches Gastmahl für unvollständig gehalten haben, wenn Sokrates dabei gefehlt hätte. Jetzt pflegt er eine solche Einladung nur selten anzunehmen. Ziemlich oft hingegen geschieht es, daß seine Freunde Abends in seinem Hause speisen, indem jeder sein Gericht hinschickt; eine in Athen gewöhnliche und meines Erachtens sehr nachahmungswürdige Art, den Abend in auserlesener Gesellschaft ohne Belästigung des Hauswirths zuzubringen; vorausgesetzt, daß das Höchste was eine Schüssel kosten darf, durch gemeinschaftliche Abrede nach einem [43] sehr frugalen Maßstabe bestimmt sey. Diese kleinen freundschaftlichen Symposien 49 sind durch die genialische Art, wie Sokrates Ernst und Scherz bald abzuwechseln bald in einander zu schmelzen weiß, für mich wenigstens, die unterhaltendste und sogar die lehrreichste Zeit, die ich in seiner Gesellschaft zubringe.

7. An Ebendenselben
7.
An Ebendenselben.

Ich finde je länger je mehr, wie falsch der Begriff ist, den man sich im Auslande von Sokrates macht, indem man ihn für einen Philosophen oder Sophisten 50 von Profession und das Haupt einer eigenen Schule hält. Er ist, wiewohl er vielerlei Kenntnisse besitzt, kein eigentlicher Gelehrter, und ob er gleich ein sehr weiser und kluger Mann ist, weder das, was man einen Philosophen noch was man einen Staatsmann zu nennen pflegt; oder, richtiger zu reden, seine Weisheit und Klugheit war es eben, was ihn abhielt sich aus dem einen oder dem andern dieser Qualitäten eine Lebensart zu machen. Er ist ein zu edler und guter Mensch um ein bloßer Bürger von Athen, und gleichwohl zu sehr Bürger von Athen um ein ächter Weltbürger zu seyn. Man erstaunt, bei einem Manne, der (wenn man ein Paar Feldzüge ausnimmt) nie aus Athen gekommen ist, einen solchen Umfang von Welt- und Menschenkenntniß, einen so hellen, von Vorurtheilen [44] und Wahnbegriffen so gereinigten Verstand, und einen so feinen Sinn für die rechte Art mit allen Gattungen von Menschen umzugehen, zu finden; und doch däucht mich (wenn ich dieß ohne Schein eines thörichten Dünkels gestehen darf) ich sehe zuweilen eine gewisse Beschränktheit in seiner Vorstellungsart, die mir bloß daher zu kommen scheint, daß er sich unvermerkt angewöhnt hat, Athen, den Mittelpunkt seiner eigenen Thätigkeit, für den Mittelpunkt der Welt, und was außer Athen ist, keiner sonderlichen Aufmerksamkeit werth zu halten. Ob ich mich hierin irre, darüber werde ich vielleicht in der Folge Gelegenheit finden, dich selbst zum Richter zu machen.

Um mir beim Erforschen dieses in seiner Art so ganz einzigen Mannes viele Zeit und manchen Fehlschluß zu ersparen, habe ich mir Mühe gegeben, über seine Lebensgeschichte so viele und so zuverlässige Erkundigungen einzuziehen als mir nur immer möglich war.

Sein Vater Sophroniskus war ein Steinmetz, und seine Mutter Phänarete die geschickteste und ihres Charakters wegen geschätzteste Hebamme ihrer Zeit in Athen. Er scheint sich auf diese Mutter etwas zu gute zu thun; denn er liebt ihrer bei Gelegenheit öfters zu erwähnen, und soll einst, da ihm über sein Talent junge Leute zu bilden ein Compliment gemacht wurde, in seiner gewohnten Manier Ernst in Scherz einzukleiden, zur Antwort gegeben haben: es ist ein Erbstück von meiner Mutter; meine ganze Kunst besteht in einer gewissen Geschicklichkeit die Entbindung schwangerer Seelen zu befördern. 51 Die Frucht die ans Tageslicht kommen soll, muß [45] freilich schon lebendig, gesund und wohlgestaltet in der Seele verborgen liegen, und alles was ich bei der Geburt thun kann, ist, ihr leicht und mit guter Art herauszuhelfen. Personen, die seine Eltern gekannt haben, versicherten mich, daß er äußerlich seinem Vater, und dem Gemüth und der Sinnesart nach seiner Mutter sehr ähnlich sey.

Sophroniskus that an seinem Sohne – was er konnte; er gab ihm die gewöhnliche Erziehung aller jungen Athener jener Zeit, die du aus der Scene der beiden Streithähne, Dikäos und Adikos Logos 52, in den berüchtigten Wolken des Aristophanes kennst. Der junge Sokrates lernte bei einem Schulhalter vom gewöhnlichen Schlage den Homer und Hesiod, wo nicht verstehen, wenigstens fertig lesen; von einem Singmeister auf der Cither klimpern und alte Lieder nach alten Weisen singen; und übte sich übrigens fleißig im Wettlaufen, Ringen und Fechten auf der Palästra. Der Vater, um seiner Pflicht (nach einem bekannten Gesetze Solons) volle Genüge zu thun, lehrte ihn seine eigene Kunst; die Mutter, welche bei Zeiten merkte, an diesem Sohn etwas mehr als einen künftigen Steinhauer geboren zu haben, wollte wenigstens einen Bildhauer aus ihm werden sehen; und so wurde er, ich weiß nicht welchem damaligen Meister dieser Kunst, in die Lehre gegeben. Es scheint nicht daß er selbst eine besondre Anlage oder Neigung zu ihr in sich gefühlt habe; indessen bracht' er es doch darin auf einen gewissen Grad; machte bis über sein dreißigstes Jahr seine hauptsächlichste Beschäftigung daraus, und fertigte binnen dieser Zeit unter andern Arbeiten verschiedene Statuen, wovon die meisten in[46] einem Landhause seines Freundes Kriton zu sehen sind, der sich viele Mühe gegeben hat, so viele derselben zusammenzubringen, als für Geld zu haben waren. Ich habe sie gesehen, und da ich auch die Werke des Polyklet und Phidias gesehen habe, so darf ich dir ohne Scheu bekennen, daß Sokrates, dessen wahre Bestimmung war der weiseste und beste unter den Weisen und Guten seiner Zeit zu seyn, schwerlich weder der erste noch der zweite, noch der dritte unter den Bildhauern seiner Zeit geworden wäre. Indessen zeichnet sich doch unter seinen Versuchen in der Kunst eine Gruppe der Grazien aus, an welcher er wirklich mit Liebe und unter dem Einfluß der holdseligen Töchter Jupiters gearbeitet zu haben scheint; man sieht, daß ihm Pindars σεμναι Χαριτες, παντων ταμιαι εργων εν ουρανῳ 53 wirklich erschienen, und daß er im Bestreben, die Ideale, die seiner Seele vorschwebten, im Marmor festzuhalten, vielleicht noch mehr geleistet hätte, wenn er weniger hätte leisten wollen. Denn das einzige was an diesen Grazien auszusetzen ist, und was jedem der sie sieht auffällt, ist daß sie gar zu ehrwürdig sind.

Dem besagten Kriton hat es Griechenland zu danken, daß es sich unter seinen Heroen aller Art auch eines Sokrates rühmen kann; ohne ihn wäre dieser wahrscheinlich Bildhauer geblieben, und die reinste sittliche Gestalt, in welcher die Humanität je der Welt persönlich im wirklichen Leben sichtbar geworden ist, würde wo nicht unenthüllt, doch auf ewig mit dem Schleier der Unbekanntheit und Vergessenheit bedeckt geblieben seyn. Kriton, noch jetzt der erste, so wie der älteste unter den Freunden des Sokrates, dem er an Alter etliche [47] Jahre vorgeht, ist in den Augen aller, die ihn kennen und Menschenwerth zu schätzen wissen, einer der Edelsten, die dieses an vortrefflichen Männern fruchtbare Land seit Deukalion und Pyrrha hervorgebracht hat. Glücklicher Weise ist er auch einer der wohlhabendsten Athener, und im Gebrauch seines ansehnlichen Vermögens so großmüthig und freigebig als der berühmte Cimon, ja selbst auf eine noch verdienstlichere Weise, da kein Verdacht auf ihn fallen kann, daß ein ehrsüchtiges Streben nach Volksgunst oder irgend eine andere unlautere Absicht den mindesten Einfluß auf seine Freigebigkeit habe. Zufälliger Weise (wie man, vielleicht sehr uneigentlich, zu sagen pflegt) kam er in die Werkstatt des alten Sophroniskus, als der Sohn die erwähnte Graziengruppe eben vollendet hatte. Er betrachtete das Werk und den Werkmeister mit gleicher Aufmerksamkeit, ließ sich mit dem angehenden Künstler in ein Gespräch ein, und beschloß von Stunde an, sich um sein Vertrauen zu bewerben, und wenn er es gewonnen hätte, alles anzuwenden um ihn mit guter Manier aus der Stein-und Bildhauer-Werkstatt in eine seinen natürlichen Anlagen angemessenere Art von Thätigkeit zu versetzen.

Es befanden sich damals drei Männer in Athen, deren jeder in dem Fache von Gelehrsamkeit, welches er vorzüglich bearbeitete, für den ersten galt: Anaxagoras 54 von Klazomene, ein Philosoph aus der Schule des Thales, der Sophist Prodikus von Ceos und Damon, ein geborner Athener, einer der berühmtesten Tonkünstler seiner Zeit. Der erste hatte das Studium der Natur, wiewohl auf einem falschen Wege, der zweite die Kunst zu reden, als eines der mächtigsten Werkzeuge, [48] wodurch man in Republiken auf die Menschen wirken kann, der dritte, die Theorie der Musik, insofern sie eine Art von magischer Gewalt über das Gemüth und die Leidenschaften auszuüben fähig ist, zum Hauptgeschäfte seines Forschens gemacht. Alle drei genossen des Schutzes und der Achtung des großen Perikles, die vornehmsten Athener suchten ihren Umgang, und jedermann schätzte es für ein besondres Glück, wenn er seinem Sohne den Zutritt bei dem ersten, und den Unterricht der beiden an dern verschaffen konnte.

Sobald Kriton den Vorsatz gefaßt hatte, sich des jungen Sokrates mit Ernst anzunehmen, war seine erste Sorge, ihn mit diesen drei Männern, mit welchen er selbst auf einem freundschaftlichen Fuße lebte, in Bekanntschaft zu setzen; denn er zweifelte nicht, daß sie stark auf den jungen Mann wirken und gar bald den Gedanken in ihm erwecken würden, die Natur habe ihn zu einer höhern Bestimmung berufen, als in Thon, Holz und Stein zu arbeiten. Verehrern der Kunst, wie du und ich, mag dieß etwas anstößig klingen; aber die meisten Griechen machten sich damals und noch jetzt einen viel zu geringen Begriff von derselben, und ein Bildhauer war in ihren Augen am Ende doch nichts weiter als ein Handwerksmann, der sein Brod durch mechanische Handarbeit in einer harten Materie sauer und mühselig verdienen müsse. Wahrscheinlich hatte Kriton selbst damals keinen andern Gedanken, als den jungen Sokrates in eine höhere Classe hinaufzurücken, und durch Entwicklung und Ausbildung seiner Fähigkeiten in den Stand zu setzen, dereinst eine bedeutende Rolle in der Republik zu spielen. Auch erreichte er seine Absicht, wiewohl[49] in einem ganz andern Sinne, und in der That auf eine weit vollkommnere Art als er sich vorgestellt haben mochte. Der Sohn des Sophroniskus gewann in kurzer Zeit die Zuneigung des gelehrten Triumvirats; sie machten sich ein Vergnügen daraus, ihm Anleitung zu geben und von ihren Kenntnissen so viel mitzutheilen als er davon gebrauchen konnte und wollte. Denn, wiewohl er sich mehrere Jahre lang mit allen Arten der speculativen Wissenschaften, die von der Ionischen Philosophenschule damals mit ungemeinem Beifall betrieben, und von den sogenannten Sophisten nach ihrer eigenen Weise popularisirt wurden, mit vielem Fleiß gelegt haben soll, so scheint er doch ziemlich bald einen Beruf in sich gefühlt zu haben, seinen eigenen Weg zu gehen, und sich sowohl in Meinungen als im Leben unabhängig und frei von fremdem Einfluß zu erhalten. Es war ein Leichtes gewesen seine Wißbegierde zu erwecken: die sogenannte physische Philosophie, von welcher Anaxagoras Profession machte, hatte unendlich viel Anziehendes. Denn sie versprach nichts Geringeres, als den undurchdringlichen Vorhang, hinter welchem die Natur ihre Mysterien treibt, wegzuziehen, und über die angelegensten Fragen, die der menschliche Geist an sich selbst zu thun sich nicht erwehren kann, befriedigende Aufschlüsse zu geben. Aber sein guter Verstand ließ ihn bei Zeiten wahrnehmen, nicht nur daß sie nicht hielt was sie versprach, sondern auch, daß sie weit mehr versprach als sie halten konnte. Er suchte Wahrheit, und man fertigte ihn mit Hypothesen ab, die man zwar mit vielem Scharfsinn zu möglich scheinenden Auflösungen der Räthsel, die uns die Natur aufzurathen gibt, anzuwenden wußte, die [50] aber keinen festen Halt hatten, und, wenn sie scharf geprüft wurden, weder den Verstand noch die Einbildungskraft befriedigten. Er suchte nützliche Wahrheit, und man wollte daß er einen großen Werth auf Speculationen legen sollte, von welchen nicht der mindeste Gebrauch im menschlichen Leben zu machen war. Alles was er mit den Nachforschungen, die einen guten Theil seiner schönsten Jahre aufzehrten, gewonnen zu haben glaubte, war – und konnte für einen so reinen Wahrheitssinn, wie der seinige, nichts anderes seyn, als »das Bewußtseyn, daß er vom Ursprung der Welt und ihren elementarischen Bestandtheilen, von Materie und Geist, von Raum und Zeit, von den unsichtbaren Kräften, mit deren sichtbaren Wirkungen die Natur uns überall umgibt, kurz, von den überirdischen und übersinnlichen, himmlischen und überhimmlischen Dingen, gerade so viel wisse als vorher, nämlich nichts oder wenig mehr als nichts.« – Dieß war ein großer Abfall von den glänzenden Erwartungen, die man ihm vorgespiegelt hatte, und was für ein anderes Resultat konnte aus einer solchen Erfahrung hervorgehen, als die innigste Ueberzeugung, daß der größte Theil der Probleme, womit die speculativen Philosophen seiner Zeit sich selbst und ihre Lehrlinge unterhielten, ganz und gar keine Gegenstände des menschlichen Wissens seyen, und daß ein gesunddenkender Mensch in der kurzen Lebenszeit, die ihm von der Natur so kärglich zugemessen wird, mehr als genug zu thun habe, wenn er nur zu einem hinlänglichen Grade von Kenntniß dessen was allen Menschen zu wissen nöthig und was nicht zu wissen ein großes Uebel ist, gelangen wolle. Er schätzte diese Ueberzeugung [51] um so höher, je mehr Zeit und Mühe sie ihm gekostet hatte, und sie war's was seinem Geiste diese Richtung auf das Sittlichgute und überhaupt auf das Nützliche in allen Dingen gab, die er von dieser Zeit an nie wieder aus dem Auge verlor. Indessen fuhr er noch immer fort, die Bildhauerkunst nebenher zu treiben, insofern sie ihm zu Gewinnung seines nothdürftigen Unterhalts unentbehrlich war. Denn es währte ziemlich lange, bis der edle Kriton so viel über ihn vermochte, daß er, um sich aller mechanischen Arbeiten entschlagen zu können, diesem mit ganzer Seele an ihm hangenden Freunde gestattete dafür zu sorgen, daß es ihm für sein übriges Leben nie am Nothwendigen fehlen könne. Auch scheint dieß nicht eher geschehen zu seyn, als nachdem Sokrates in der Kenntniß seiner Selbst so weit gekommen war, daß er seinen innern Beruf, ein Menschenbildner in einem ganz andern und unendlich höhern Sinne zu seyn, nicht länger bezweifeln konnte.

Eine der wichtigsten Folgen des Verhältnisses, worin er mit Anaxagoras und Kriton stand, war (meines Erachtens) der freie Zutritt in das Haus des Perikles, und die Gelegenheit, die er dadurch erhielt, diesen großen Mann und seine Staatsverwaltung näher kennen zu lernen, und in dieser Absicht auch den Umgang mit der berühmten Aspasia, der Juno dieses Attischen Jupiters (wie sie der alte Kratinus in einer seiner Komödien nennt), sich zu Nutze zu machen. Aus dieser Zeit schreibt sich auch seine Bekanntschaft mit dem berüchtigten Neffen des Perikles, Alcibiades, her, von welchem er schon damals sehr richtig urtheilte, daß er entweder zum Heil oder [52] zum Verderben Griechenlands geboren sey, je nachdem sein guter oder böser Dämon die Oberhand über ihn gewinnen würde; und diese Ueberzeugung allein war es, was ihn bewog, sich unter die erklärten Liebhaber, von welchen dieser so viel Gutes und Böses versprechende Jüngling beständig umgeben war, zu mischen, und alles Mögliche anzuwenden, um das Vertrauen desselben zu gewinnen, die Liebe des Schönen und Guten in ihm zu entzünden, und ihm für seine Schmeichler und Verführer Gleichgültigkeit und Verachtung einzuflößen.

Ohne Zweifel trugen alle diese Verhältnisse vieles dazu bei ihn auf den wahren Standpunkt in seinem künftigen Wirkungskreise zu stellen, und über den Plan seines Lebens in sich selbst gewiß zu machen. Vermuthlich faßte er schon damals den festen Entschluß, dem er bisher immer treu geblieben ist, der strengsten Erfüllung aller seiner Bürgerpflichten unbeschadet, sich jeder Einmischung in die Staatsverwaltung zu enthalten, so selten als möglich in den Volksversammlungen zu erscheinen, und nie als öffentlicher Redner aufzutreten. Weder seine Familie, noch seine Glücksumstände, noch seine Neigung bestimmten ihn eine politische Rolle in Athen zu spielen; so viele andere hatten dazu einen nähern Beruf, und waren, wofern sie nur wollten, weit besser im Stande, sich auf diesem Wege um den Staat verdient zu machen. Ihm hingegen zeigte sich ein neuer, von keinem andern noch betretener Weg, wie er seinen Mitbürgern und Zeitgenossen auf eine ihm eigene Weise ungleich nützlicher als auf jede andere werden konnte. Die Republik hatte ein sehr dringendes Bedürfniß, an welches keiner von ihren Vorstehern und Rathgebern [53] dachte, und diesem nach Vermögen zu Hülfe zu kommen, fühlte er sich von seinem Genius berufen. In einer Zeit, wo niemand zu bemerken schien, daß die täglich zunehmende Ausartung der alten Sitten den Staat eben so unvermerkt dem Verderben immer näher bringe; in einer Zeit, wo der allzurasche Uebergang von der ehmaligen goldnen Mittelmäßigkeit zu der hohen Stufe von Macht und Reichthum, worauf Perikles die Republik erhoben hatte, den eiteln Athenern so glänzende Aussichten eröffnete, daß sie, aller Mäßigung vergessend, nichts als Alleinherrschaft und unbegränzte Vermehrung ihrer Besitzthümer und Einkünfte träumten; zu einer Zeit, wo ein Mann von so ruhigem Blick und gesundem Urtheil, wie er, leicht voraussehen konnte, daß sich ein furchtbares Ungewitter gegen Athen zusammenziehe und daß bald genug Umstände eintreten würden, in welchen der allgemeine Mangel an sittlicher und politischer Tugend durch die unseligsten Folgen tief gefühlt werden müßte: in einer solchen Zeit, sich selbst in Gesinnungen und Grundsätzen, Worten und Werken zum Vorbilde aller häuslichen und bürgerlichen Tugenden darzustellen, und Jünglinge von edler Art durch den Reiz seines Umgangs an sich zu ziehen, um sie zu gleichen Grundsätzen und Gesinnungen zu bilden; dieß war unläugbar der größte Dienst, den ein Mann dem Vaterlande leisten konnte; und der einzige Mann der es wollte und konnte – war Sokrates.

Du siehest nun, lieber Kleonidas, in welchem Sinne Sokrates ein öffentlicher Lehrer genennt werden kann, wiewohl er nie eine Schule gehalten noch gestiftet, nichts geschrieben, [54] und mit allen seinen Bemühungen, die Leute die mit ihm umgehen weiser und besser zu machen, keinen Obolus gewonnen hat. Auch ist zwischen ihm und den Sophisten, die den Unterricht in den Wissenschaften, besonders in der Moral, Politik und Demagogik 55 als eine Profession treiben, nicht die geringste Aehnlichkeit. Er gibt sich so wenig für einen Gelehrten aus, daß er sich vielmehr im Scherz, zuweilen auch wohl in vollem Ernst, auf seine Unwissenheit viel zu Gute thut. Der ganze Unterschied, hörte ich ihn einmal sagen, zwischen mir, der nichts weiß, und diesen bewunderten Herren, die alles wissen und sich dafür bezahlen lassen, besteht darin, daß sie zu wissen glauben was sie nicht wissen, ich hingegen weiß, daß ich nichts weiß. Offenherzig zu reden, scheint er sich in diesem Punkte zuweilen ein wenig zu täuschen, und die Geringschätzung gewisser spekulativer Wissenschaften, deren Nutzen nicht sogleich in die Augen fällt, oder vielleicht erst künftig noch entdeckt werden mag, weiter zu treiben, als er thun würde, wenn er sich seiner Unwissenheit immer bewußt wäre. Uebrigens, und wenn er auch mit einigen Fächern des menschlichen Wissens zu wenig bekannt ist, um ein vollgültiges Urtheil über ihren Werth fällen zu können, so ist er hingegen desto gelehrter in den Künsten und Handwerken, die im gemeinen und bürgerlichen Leben von anerkanntem Nutzen sind. Er spricht mit einem jeden sehr verständig von seiner Profession und gibt ihnen nicht selten Anleitung oder Winke, wie sie dieß oder jenes besser einrichten oder ihre Fabricate und Kunstwerke zu einer größern Vollkommenheit bringen könnten; benimmt sich aber so geschickt dabei, daß er, indem [55] er sich mit ihnen über ihre Kunst bespricht, vielmehr das Ansehen eines Unwissenden hat, der durch bescheidene Fragen von ihnen belehrt zu werden sucht, als eines Klüglings, der sich anmaßt den Meistern Lehren zu geben. Er hat sich in verschiedenen Feldzügen als einen guten Soldaten bewiesen, versteht sich auf alles was zum Kriegsdienst zu Wasser und zu Lande gehört, und weiß im Nothfall das Steuerruder so geschickt zu führen als der erfahrenste Schiffer. Schwerlich gibt es irgend ein Geschäft, das durch ruhige Besonnenheit, unerschütterliche Festigkeit, ausharrende Geduld, Nüchternheit, Wachsamkeit, Gleichgültigkeit gegen Vergnügen und Schmerz, gegen Hunger und Durst, Frost und Hitze, mit Einem Worte, durch alle Eigenschaften und Tugenden, die einen ächten Mann von Marathon ausmachen, und nur durch diese wohl gelingen kann, schwerlich gibt es ein solches Geschäft im Frieden oder im Krieg, womit er nicht zu seiner Ehre zu Stande kommen würde; und ich bin gewiß, wenn die Götter den armen Kechenäern zu einem so klugen Einfall verhelfen wollten, wie der wäre, wenn sie, anstatt ihre Kriegsobersten zu Duzenden aus dem Glückstopf zu ziehen, ihn zu ihrem Oberfeldherrn machten, ihre Angelegenheiten sollten gar bald eine bessere Gestalt gewinnen. Mit Einem Wort, Freund Kleonidas, Sokrates ist ein – tugendhafter Mann im höchsten und vollständigsten Sinne des Wortes, und darin besteht sein eigenthümlicher Charakter, Werth und Vorzug vor allen seinen Zeitgenossen. Er taugt zu allem wozu ein Mann taugen soll, kann alles was jedermann können sollte, weiß gerade so viel als niemand ohne seinen Schaden nicht wissen kann, und ist, [56] in jedem Verhältniß des Lebens, was man seyn muß, um ein Vorbild für alle zu seyn.

8. An Kleonidas
8.
An Kleonidas.

Daß Sokrates, wenn er mit andern philosophirt, sich nur zweier Methoden, der Induction 56 und der Ironie zu bedienen pflege, hat seine Richtigkeit; wenigstens habe ich nie gesehen, daß er in seinen Gesprächen, es sey nun daß sie auf Belehrung oder auf Widerlegung abzielen, einen andern als einen dieser beiden Wege eingeschlagen hätte.

Diese sonderbare Art zu philosophiren scheint mir deine hohe Meinung von ihm nicht wenig herabgestimmt zu haben. »Die Induction kann mich, sagst du, nichts lehren als was ich entweder bereits wußte, oder mir vermittelst eines kleinen Grades von Besinnung selbst sagen konnte; und wie ein so weiser Mann die Ironie für eine taugliche Methode die Wahrheit ausfindig oder einleuchtend zu machen halten könne, ist mir vollends unbegreiflich.« – Ueber beides, lieber Kleonidas hoffe ich dich ins Klare zu setzen, wenn ich dir sage, bei welchen Personen und zu welcher Absicht Sokrates von der einen und der andern Gebrauch zu machen pflegt. Die Personen, mit welchen er sich am meisten abgibt, sind (außer seinen nähern Freunden und Günstlingen) entweder solche, die von ihm belehrt zu werden wünschen, es sey nun daß sie ihre Unwissenheit [57] in der Sache, wovon die Rede ist, anerkennen, oder so schwach an ihrer bisherigen Meinung hangen, daß sie immer bereit sind sie mit einer bessern zu vertauschen; oder es sind naseweise Klüglinge und eingebildete Allwisser, die er, da sie Belehrung weder suchen noch anzunehmen aufgelegt sind, bloß beschämen und wenigstens zum stillen Bekenntniß ihrer Unwissenheit nöthigen will. Bei den erstern bedient er sich der Induction als einer Lehrart; gegen die letztern der Ironie als einer sowohl zur Vertheidigung als zum Angriff gleich bequemen Waffe.

Die Athener verbinden mit dem Worte Ironie ungefähr denselben Begriff (der Verspottung) wie wir und alle andern Griechen; nur daß sich ihm durch den gemeinen Gebrauch ein Nebenbegriff bei ihnen angehängt hat, der aus einem besondern Zug ihres Nationalcharakters zu entspringen scheint. Der Athener pflegt nämlich seine Meinung nicht leicht so kurz und geradezu herauszusagen, wie der Spartaner oder Böotier; nicht etwa aus vorsichtiger Zurückhaltung (wie ich dieß an den Korinthern bemerkt zu haben glaube), sondern weil es ihm, wenn er spricht, selten oder nie so viel um Wahrheit oder um die Sache selbst zu thun ist, als um das eitle Vergnügen mit der Feinheit und Gewandtheit seines Witzes und der Geläufigkeit seiner Zunge zu prunken, und den andern entweder seine Ueberlegenheit fühlen zu lassen, oder, falls es ein höherer an Stand und Rang oder ein Mann von vorzüglichen Verdiensten ist, die beiden großen Geburtsrechte des Attischen Bürgers, Freiheit und Gleichheit gegen ihn zu behaupten, indem er ihm zu verstehen gibt, er dünke sich nicht [58] geringer, und mache sich wenig aus Vorzügen die er nicht selbst besitzt. Du kannst dir kaum vorstellen, auf wie vielerlei Art die Eitelkeit der Athener sich, in dieser Absicht, durch Mienen, Gebärden, Ton und Beugung der Stimme, kleine Zwischenwörter u. dergl. zu äußern pflegt. Daher das Attikon blepos (wie es Aristophanes nennt) diese unnachahmliche edle Unverschämtheit im Blick und im Lächeln, die den Athener aus tausend andern kenntlich macht, und der höhnische Ton, den sie, sobald sie merken daß der andere nicht ihrer Meinung ist, in die Frageformeln, »wär's etwa nicht so?« oder, »was könntest du wohl dagegen haben?« zu legen wissen. Vermuthlich ist es diese Eitelkeit, was in Verbindung mit der lebhaften Ader von leichtem Witz, wovon der Athener immer sprudelt, diese Neigung zum Spotten, Necken und Auslachen erzeugt, die einer der gemeinsten Züge dieses Volkes ist. Ich erkläre mir daraus, daß sie so gern das Gegentheil von dem, was sie sagen wollen, sagen; zu loben scheinen, wenn sie tadeln, und zu schelten, wenn sie loben wollen; sich stellen als ob sie den andern unrecht verstanden hätten, um ihm widersprechen oder seiner Rede eine lächerliche Deutung geben zu können, und was dergleichen mehr ist. Diese Art von spottender oder auch bloß scherzhafter Verstellung ist es eigentlich, was die Athener Ironie nennen, und was sie, zumal bei fröhlichen Tischgelagen, und überall, wo ihre gute Meinung von sich selbst nicht zu sehr dabei ins Gedränge kommt, einander gern zu gut halten. Auch Sokrates, der überhaupt einer der witzigsten und gutlaunigsten Sterblichen ist, macht im gemeinen Umgang ziemlich häufigen Gebrauch von dieser Art von Ironie, und weiß [59] sie mit so vieler Leichtigkeit und Feinheit zu handhaben, daß sie, sogar wenn er einen wirklich schraubt, unmöglich beleidigen kann, sondern entweder für bloßen Scherz gilt, oder von einfältigen und sich selbst gefallenden Personen so aufgenommen wird, als ob er ihnen etwas Schmeichelhaftes gesagt hätte. Am gewöhnlichsten bedient er sich derselben, um den Verweisen, die er zuweilen seinen jüngern Freunden zu geben Ursache findet, den Stachel zu benehmen; und ich muß gestehen, daß er in solchen Fällen, wenn die Operation an einem seiner Günstlinge zu verrichten ist, eine sehr sanfte Hand hat; wiewohl ich mich nicht rühmen kann, es an mir selbst erfahren zu haben.

Aber die Ironie, die ihm als eine besondere Art zu disputiren, ausschließlich zugeschrieben wird, ist von jener gewöhnlichen, sowohl der Art als dem Zweck nach, sehr verschieden. Sie besteht darin, daß er, wenn er's mit Personen, die ihm in gewissen Stücken entweder wirklich oder in ihrer eigenen und andrer Leute Einbildung überlegen sind, z.B. mit schlecht denkenden aber vielvermögenden Männern in der Republik, oder mit angesehenen Sophisten zu thun hat, sich äußerst einfältig und unwissend stellt, und in diesem Charakter (zu dessen Simulierung ihm seine Gesichtsbildung ungemein zu Statten kommt) durch die scheinbare Naivetät seiner Fragen und die verdeckt spitzfindige Art, wie er aus ihren Antworten immer neue Fragen hervorzulocken weiß, sie endlich in die Nothwendigkeit setzt, sich entweder in offenbare Ungereimtheiten zu verwickeln, oder ihre erste Behauptung wieder zurückzunehmen. Du erräthst ohne mein Zuthun, wie viel er durch [60] diese Art von Ironie, eine Zeit lang wenigstens, über seine Gegner gewinnen mußte. Er verschaffte dadurch sich selbst desto leichter Gehör, und vernichtete unvermerkt die Vortheile, welche Stand, Name, Ansehen und Glücksumstände jenen über ihn hätten geben können. Sie waren nun minder auf ihrer Hut; antworteten desto rascher und zuversichtlicher, je weniger sie vorhersehen konnten wo er hinaus wolle; räumten ihm immer mehr ein, als geschehen wäre, wenn sie die Schlingen gemerkt hätten, die er ihnen durch seine einfältig scheinenden Fragen legte; und wenn sie sich endlich darin verfingen, schien er ganz unschuldig daran zu seyn, und die Lacher waren auf seiner Seite. Diese Methode war also da, wo er sie am gewöhnlichsten anwandte, ich meine gegen die Sophisten, sehr fein ausgedacht und vollkommen zweckmäßig. Denn es war ihm nicht darum zu thun sie zu belehren, sondern sie vor ihren Zuhörern und Verehrern in ihrer Blöße darzustellen. Aber du siehst auch, daß sie nur so lange mit Vortheil zu gebrauchen war, als der Gegner die Falle nicht gewahr wurde; und natürlicherweise konnte dieß in einer Stadt, wo beinahe alles öffentlich geschieht, nicht sehr lange anstehen. Sobald die Sophisten merkten, daß sie einen Schlaukopf vor sich hatten, der mit den Spitzfindigkeiten und Kunstgriffen der Dialektik wenigstens eben so bekannt war als sie selbst, so hätten sie noch zehenmal einfältiger seyn müssen als Sokrates sich stellte, wenn sie sich durch die schülerhafte Miene, womit er sich ihre Belehrung ausbat, und die vorgegebene Bewunderung ihrer hohen Weisheit länger hätten täuschen lassen. Auch zeigte sich's bald genug, daß er, außer dem erklärten Haß der Sophisten, [61] wenig mehr mit dieser Art zu disputiren gewonnen hatte, als daß er noch jetzt bei dem großen Haufen im Ruf eines Spötters steht, der nie seine wahre Meinung sagt, und dessen Reden man auch dann nicht trauen darf, wenn er etwas ernstlich zu behaupten scheint, weil man nie gewiß ist, ob es nicht Verstellung sey und was für geheime Absichten er darunter habe; – ein Ruf, der ihm, wie ich besorge, bei einem so argwöhnischen Volke wie das Athenische über lang oder kurz noch gefährlich werden kann.

Uebrigens muß ich noch bemerken, daß diese ironische Art zu fragen nicht mit einer andern vermengt werden muß, deren er sich, gewöhnlich in Verbindung mit der Induction, als einer Lehrart bei seinen Freunden (am häufigsten bei jungen Leuten) bedient, und in welcher, wenn ich nicht irre, seine Kunst den Seelen zur Geburt zu helfen besteht, deren ich in einem meiner vorigen Briefe gedacht habe. Die Fragen werden in dieser Absicht immer so gestellt, daß der Gefragte die rechte Antwort entweder gar nicht verfehlen kann, oder falls er sie verfehlte, durch die Folgerungen, welche vermittelst neuer Fragen aus seiner Antwort hervorgelockt werden, sich selbst gar bald von ihrer Unrichtigkeit überzeugen muß. Diese Lehrart, außer dem daß sie die leichteste und populärste ist, scheint mir vorzüglich darin auf den besondern Charakter der Athener berechnet zu seyn, daß sie die Aufmerksamkeit des Lehrlings fester hält, und indem sie dem Lehrer das Ansehen gibt, als ob er selbst durch seine Fragen erst belehrt zu werden wünsche, die Rollen gleichsam verwechselt und den Lehrer zum Schüler macht oder wenigstens beide auf gleichen Fuß setzt, nämlich [62] in aller Gelassenheit etwas mit einander zu suchen, das keiner von beiden hat, und woran beiden gleich viel gelegen ist. Er weiß es dann immer ohne Mühe so einzurichten, daß der Lehrling das schmeichelhafte Vergnügen hat, derjenige zu seyn der das Gesuchte findet, wiewohl dazu eben keine große Scharfsichtigkeit erfordert wird; denn er bringt ihn unvermerkt Schritt vor Schritt so nahe zu der Sache hin, daß er endlich mit der Nase darauf stoßen muß.

Ein Beispiel wird dir dieß am besten erläutern. Es war dem Sokrates darum zu thun, den Begriff eines seiner Lehrlinge von der Religiosität gegen die Götter ins Reine zu bringen. Daraus entstand der folgende Dialog. 57

Sokrates. Sage mir, Euthydem, was hältst du von der Gottesfurcht?

Euthydem. Ich halte sie für etwas sehr Schönes.

Sokrates. Kannst du mir also sagen, was du unter einem gottesfürchtigen Menschen verstehst?

Euthydem. Einen der die Götter in Ehren hat.

Sokrates. Steht es aber bloß in eines jeden Willkür, auf welche Weise er die Götter ehren will?

Euthydem. Nein; sondern es sind Gesetze vorhanden, deren Vorschrift man hierin zu befolgen schuldig ist.

Sokrates. Wer diese Gesetze befolgt, wüßte der also nicht, wie man die Götter zu ehren schuldig ist?

Euthydem. Ich sollt' es denken.

Sokrates. Wer nun weiß wie er die Götter zu ehren schuldig ist, glaubt also nicht, daß er es auf eine andere Art zu thun schuldig sey, als wie er es weiß?

[63] Euthydem. Gewiß nicht!

Sokrates. Meinst du daß es einen Menschen gebe, der die Götter anders ehrt als er glaubt daß er es zu thun schuldig sey?

Euthydem. Ich sollt' es nicht meinen.

Sokrates. Wer also weiß, was die Gesetze in Betreff der Götter verordnen, ehrt der die Götter gesetzmäßig?

Euthydem. Allerdings.

Sokrates. Und wer sie gesetzmäßig ehrt, ehrt sie wie es seine Schuldigkeit ist?

Euthydem. Wie könnt' er denn anders?

Sokrates. Wer sie also gesetzmäßig ehrt, ist gottesfürchtig?

Euthydem. Ganz unläugbar.

Sokrates. Wir haben also den Begriff des Gottesfürchtigen richtig bestimmt, wenn wir sagen: es sey derjenige, der da weiß, was die Gesetze in Betreff der Götter verordnet haben?

Euthydem. So dünkt mich's.

Ich sehe dich zu dieser Manier den Seelen zur Geburt zu helfen die Achseln ein wenig zucken, Kleonidas; – unter uns gesagt, auch ich habe schon oft große Noth gehabt, die meinigen bei solchen Gelegenheiten im Respect zu erhalten. Aber es ist nun nicht anders. Dieß ist einmal seine Manier, und du wirst wenigstens gestehen müssen, daß Mangel an Deutlichkeit nicht ihr Fehler ist. – »Sie ist nur gar zu deutlich, [64] hör' ich dich sagen. Was soll man von dem Verstande der jungen Athener denken, wenn sie einer so wortreichen Methode nöthig haben, um einen so leichten Satz zu begreifen? Und das Schlimmste ist denn noch, daß er nicht einmal wahr ist. Denn es ist doch ein täglich vorkommender Fall, daß einer recht gut weiß, was er nach dem Gesetz zu thun schuldig ist und es doch nicht thut.« – Auf das letztere hab' ich dir keine andere Antwort zu geben als, bei Sokrates ist zwischen Wissen und Ausüben dessen was pflichtmäßig ist kein Unterschied, und er bemüht sich, auch seine Zöglinge so zu gewöhnen. Was aber die Lehrart betrifft, wovon ich dir ein Beispiel aus Tausenden gegeben habe, so weiß ich mir die Sache selbst nicht anders zu erklären, als daß er sie nöthig gefunden haben muß, um die unsägliche Flatterhaftigkeit der jungen Leute in Athen, wenigstens einige Minuten lang, bei dem nämlichen Gegenstande festzuhalten. Hätte er zu Cyrene oder Korinth oder Theben gelebt, so würde er vermuthlich gefunden haben, daß er auf einem kürzern Wege zum Ziele kommen könne. Aber nun ist ihm diese Methode so sehr zur Gewohnheit geworden, daß er sie auch bei solchen Personen gebraucht, bei denen sie keine gute Wirkung thut. Ich wenigstens bekenne, daß ich schon mehr als einmal alle meine Geduld aufbieten mußte, um die Ehrerbietung nicht aus den Augen zu setzen, die jedermann, und ein junger Mensch mehr als irgend ein anderer, einem Greise schuldig ist, der an Naturgaben und Geisteskräften den Besten gleich ist, an sittlicher Vollkommenheit vielleicht alle übertrifft; und, da ein Sterblicher doch nicht ganz ohne Tadel seyn kann, sich durch die wenigsten und unbedeutendsten Schwachheiten von [65] dem allgemeinen Loose der Menschheit, so zu sagen, frei gekauft hat.


Die neuesten Nachrichten, die mir aus Cyrene zugekommen sind, lassen mich besorgen, daß die zeitherige Ruhe unsers so glücklich scheinenden Vaterlandes von keiner langen Dauer mehr seyn werde. Doch vielleicht gibt irgend ein guter Dämon unsern Regenten noch ein Mittel ein, das Ungewitter vor dem Ausbruch zu beschwören. Auf alle Fälle, mein Lieber, suche dich so lang' als möglich frei zu erhalten; und siehst du daß die Sachen eine Wendung nehmen, die dich entweder unvermerkt verwickeln oder wohl gar gewaltsam in eine der Factionen, die sich bereits zu bilden scheinen, hinein ziehen möchte, so folge mei nem Beispiel, und flüchte dich in Zeiten unter den zwar etwas engen aber sichern Mantel des weisen Sokrates. Das politische Meer, worin die griechischen Republiken, wie eben so viele schwimmende Inseln, hin und her treiben, ist zwar immer ein wenig stürmisch; aber in Vergleichung mit den letztern Zeiten, genießen wir dermalen halcyonischer Tage, und für einen aufstrebenden Zögling der Musenkünste ist doch Athen der einzige Ort in der Welt.

9. An Kleonidas
[66] 9.
An Kleonidas.

Der Komödiendichter, nach welchem du dich so angelegen erkundigest, lieber Kleonidas, ist hier eine so allgemein bekannte Person, daß es mir nicht schwer fallen kann, dein Verlangen zu befriedigen, zumal da ich (wie du mit Recht voraussetzest) Gelegenheiten genug gefunden habe, öfters in seiner Gesellschaft zu seyn, und sogar in eine Art von Vertraulichkeit mit ihm zu kommen. Ungeachtet er eine gewisse sehr gut zu seiner satyrischen Physionomie passende Ernsthaftigkeit affectiert, wovon sich der Beweggrund leicht errathen läßt, wird er doch, der witzigen Einfälle wegen, die ihm ohne Anspruch und Absicht gleichsam unfreiwillig zu entwischen scheinen, für einen der angenehmsten Tischgesellschafter (einer in Athen sehr zahlreichen Classe) gehalten, und man findet ihn gewöhnlich bei allen großen Gastmählern, die in vornehmern Häusern gegeben werden. Da er sich den Freunden des Sokrates durch seine Wolken 58 (die sie ihm nach mehr als zwanzig Jahren noch immer nicht vergessen haben) sehr übel empfohlen hat, so wird mir's nicht zum Besten ausgelegt, daß ich kein Bedenken trage, mit einem so verworfenen Menschen umzugehen. Aber Sokrates selbst scheint davon keine Kenntniß zu nehmen, und spricht überhaupt weder Gutes noch Böses von ihm; wiewohl er, so oft sich eine Gelegenheit dazu findet, seine Geringschätzung der Komödie, wie sie ehmals zu Athen beschaffen war und es zum Theil noch jetzt ist, mit seiner gewohnten Freimüthigkeit zu Tage [67] legt. Nicht als ob er das komische Drama überhaupt mißbilligte; denn ich hörte ihn einst von den Komödien des Epicharmus 59 mit Achtung sprechen; sondern weil er den gränzenlosen Muthwillen, die leidenschaftlichen Anfälle auf einzelne Personen, und die pöbelhaften Späße, Unflätereien und unzüchtigen Darstellungen, womit die Stücke der neuern Athenischen Komiker besudelt sind, vermöge seiner Grundsätze und seines ganzen Charakters, unmöglich duldbar finden kann. Nichts ist gewisser, als daß diese Art von Komödie, worin Kratinus 60, Aristophanes und Eupolis mit einander wetteiferten, schon lange auf immer abgeschafft worden wäre, wenn Sokrates eine entscheidende Stimme in Athen gehabt hätte: aber ohne allen Grund ist, was ich in Cyrene von einem unsrer gereisten Leute (die alles besser als andre wissen wollen) gehört habe: Sokrates und seine Freunde hätten das Gesetz bewirkt, wodurch unter dem Archon Myrrhichides die Komödie aufgehoben wurde, und dieser an der komischen Muse begangene Frevel sey die wahre Ursache des Hasses, den die Komödienschreiber auf den Sokrates geworfen, und der Rache, welche Aristophanes, im Namen der ganzen Gilde, an ihrem gemeinschaftlichen Feinde genommen habe. Ich sage, dieses Vorgeben ist ohne allen Grund; denn der Sohn des Sophroniskus, der im ersten Jahre der fünfundachtzigsten Olympiade, als jenes Gesetz gegeben wurde, erst achtundzwanzig Jahre zählte, war damals noch ein unbekannter Steinmetz, und weit entfernt unter den Sophisten selbiger Zeit einen Namen und Rang zu haben. Das Wahre ist, daß Perikles selbst der unsichtbare Urheber jenes Gesetzes war, aber es doch mit allem seinem Einfluß [68] nicht länger als zwei Jahre aufrecht erhalten konnte, weil der pöbelhafte Theil des souveränen Volks sich eine seiner liebsten Belustigungen schlechterdings nicht länger vorenthalten lassen wollte.

Es wird dir vielleicht nicht unangenehm seyn, bei dieser Gelegenheit die Substanz einer Unterredung zu lesen, die zwischen Aristophanes und mir, nachdem wir bekannter mit einander geworden waren, vorfiel. Denn ich darf nicht vergessen, dir zu sagen, daß sein Satyr, ich weiß nicht warum, eine Art von Geschmack an meinem – weißen oder schwarzen Genius gefunden, und (da wir beide so ziemlich unter der Herrschaft unsrer angebornen Hauskobolde stehen) eine Art von gutem Vernehmen zwischen uns gestiftet hat, welches ich mir gleichwohl in meinen Verhältnissen weit weniger zu Nutze machen kann, als ich thun würde, wenn ich bloß dem Antrieb meines Dämons oder der Lockstimme seines Satyrs folgte, der, sobald er will, der artigste und wohlgezogenste aller Bocksfüßler ist.

Die Rede war von seinen Wolken, die er noch immer für sein bestes Werk hält, wiewohl die Athener geschmacklos oder launisch genug waren, ihm die Weinflasche des neunzigjährigen Kratinus vorzuziehen. Es versteht sich, daß ich ihm so viel Schmeichelhaftes über das Lieblingskind seines Witzes gesagt hatte, als nöthig seyn mag, um einen Autor in gute Laune zu setzen; und so entspann sich denn folgender Dialog zwischen uns.

Ich. Wiewohl wir Cyrener dermalen noch kein scenisches Schauspiel besitzen, so gehen doch vielleicht mehr als zwanzig Abschriften deiner Stücke bei uns aus einer Hand in die andere; und – abgerechnet, daß unsre Schuhflicker, Sackträger [69] und Bootsknechte über Werke der Musenkunst keine Stimme haben, – wird das, was die Wolken zum schönsten deiner Stücke macht, schwerlich in einer griechischen Stadt mehr Beifall gefunden haben, als bei uns. Um so viel größer war die Verwunderung, da man hörte, die Athener, deren Urtheil in solchen Dingen im Auslande einem Götterspruch gleich ist, hätten ganz anders dar über erkannt; und da das Bestreben sich das Unbegreifliche begreiflich zu machen nun einmal unter die stärksten Naturtriebe des Menschen gehört, so war und ist noch jetzt die gemeine Meinung bei uns, das Schicksal, das die Wolken zu zweien Malen betroffen haben soll, könne von keiner andern Ursache herrühren, als weil dem weisen Sokrates so übel darin mitgespielt wird.

Er. Die Cyrener schließen, wie ich sehe, von sich auf die Athener, und glauben, weil sie eine so hohe Meinung von Sokrates und seiner Weisheit hegen, so müßten wir, seine Mitbürger, die das Glück haben, von dieser Sonne täglich angestrahlt zu werden, nothwendig um so viel größer von ihm denken. Dieß ist aber keineswegs der Fall, und würde es vermuthlich auch in Cyrene nicht seyn, wenn er euer Mitbürger wäre. Gesetzt aber, Sokrates gälte zu Athen wirklich für das, wofür ihn die von seinem Chärephon befragte Pythia erklärt haben soll, so kennst du die Athener noch wenig, wenn du nicht auf den ersten Blick siehst, daß ich ihm in diesem Falle keinen größern Dienst hätte erweisen können, als ihn dadurch, daß ihn dem öffentlichen Gelächter preisgab, vom Ostracism 61 oder einem vielleicht noch härtern Schicksal zu retten. Denn daß wir keine gar zu rechtschaffnen, gar zu klugen, gar zu vorzüglichen [70] Leute unter uns dulden können, ist, sollt' ich denken, durch unser Ver fahren gegen einen Miltiades, Aristides, Themistokles, Cimon, Anaxagoras, Diagoras, und so manche andre, schon lange außer allen Zweifel gesetzt. Indessen fehlt viel, daß der Sohn des Steinhauers Sophroniskus und der Hebamme Phänarete den Athenern in einem eben so glänzenden Licht erscheinen sollte als Ausländern, die ihn nur dem Namen und Rufe nach kennen. Wir, die wir ihn leibhaft vor unsern Augen herum wandeln sehen, und mit unsern Ohren reden hören, wir kennen der Ehrenmänner gar viele, die eben so barfuß und spärlich gekleidet gehen wie er, ihren Bart eben so selten dem Barbier untergeben, eben so schlecht essen und wohnen, sich eben so ehrbar und genügsam mit ihrer Xantippe behelfen, und den ganzen langen Tag eben so geläufig, und ungefähr eben so gescheidt und witzig, Moral und Politik sprechen wie er. Natürlich können also alle, die nicht zu seinen besondern Freunden gehören, außer seinem silenenmäßigen Kopf und Bauch (hinter welchen man eben nicht die höchste Weisheit zu suchen pflegt) nicht viel mehr an ihm sehen, als was er mit hundert und tausend andern gemein hat. Was ihn aber von andern unterscheidet, sein Blick und Gang und Tragen des Kopfs, wodurch er sich gleich beim ersten Anblick als einen Mann ankündigt, der nichts bedarf, nichts fürchtet, und seinen Werth nicht erst von andern zu erfahren braucht, ingleichen die ihm eigene Art von Ironie, die ihm seine Verehrer sogar zum besondern Verdienst anrechnen; das alles ist gerade das, was ihn dem großen Haufen seiner Mitbürger entweder lächerlich, oder gewissermaßen verhaßt und furchtbar macht. Denn wie gesagt, der Athener [71] kann nicht leiden, daß jemand durch seine eigene Größe über ihn hervorrage, und er duldet seine Obern nur deßwegen, weil er ihnen die Kothurnen, worin sie um so viel größer als er sind, selbst angeschnallt hat, und sie, sobald es ihm beliebt, wieder auf ihre eigenen Füße stellen kann. Du siehst also, daß die Ursache, warum die Wolken nicht so gut als ich billig erwarten konnte, aufgenommen wurden, nicht darin zu suchen ist, daß sie die öffentliche Meinung von dem Manne, der darin verspottet wird, gegen sich gehabt hätten: auch hat derjenige, der euch sagte, daß sie von den Zuschauern übel aufgenommen worden, die Sache sehr übertrieben. Ich müßte meine guten Kechenäer gröblich verleumden, wenn ich nicht bekennte, daß bei weitem der größere Theil über die drei ersten und die drei oder vier letzten Auftritte das lebhafteste Vergnügen äußerte; und ohne den Einfluß des Alcibiades, und die Furcht, in welche sein Anhang (ein Haufen handfester verwegner Gesellen) den friedeliebenden Theil der Zuschauer setzte, würde mein Stück wenigstens den zweiten Preis erhalten haben, da doch einmal der gutherzige Entschluß dem alten halbkindischen Kratinus aus Dankbarkeit für ehmalige Verdienste vor seinem Ende noch eine Freude zu machen, von den Meisten schon vorausgefaßt war, bevor sie noch beide Stücke gehört hatten.

Ich. Bei dieser Bewandtniß der Sache muß man sich um so mehr verwundern, daß die Wolken (wie man sagt) bei der zweiten Aufführung keinen bessern Erfolg hatten, als bei der ersten.

Er. Auch hierin hat euch die Sage falsch berichtet. Die Wolken sind nicht zweimal aufgeführt worden. Anfangs hatte [72] ich zwar den Vorsatz, mein Glück an den nächsten Dionysien noch einmal zu versuchen. Ich machte zu diesem Ende einige wenig bedeutende Veränderungen, und schrieb eine Anrede an die Zuschauer, wodurch ich diese zweite Vorstellung gegen das Schicksal der ersten sicher zu stellen hoffte. Aber bei kälterm Blute hielt ich für besser, dem Rathe meiner Freunde zu folgen, denen es zu viel gewagt schien, den jungen Alcibiades, der damals eben auf der höchsten Stufe der Volksgunst stand, so geflissentlich zum Kampf herauszufordern. Denn daß Alcibiades, der ohnehin sich alles zu erlauben gewohnt war, sich des feurigsten seiner Liebhaber mit verdoppeltem Eifer annehmen würde, war leicht genug vorherzusehen.

Ich. Seiner Liebhaber? – Du willst doch damit nichts sagen, was einen zweideutigen Schein auf die Sitten des weisen Sokrates werfen könnte?

Er. Ich weiß nicht wie ihr andern Cyrener diese Dinge nehmt; zu Athen weiß jedermann genau, was er dabei zu denken hat, wenn sich jemand öffentlich als der Liebhaber eines so schönen und liederlichen Jünglings beträgt, wie der Sohn des Klinias damals war.

Ich. Mich dünkt das Verhältniß des Sokrates zu dem Sohn des Klinias lasse sich auf eine ganz ungezwungene Art so erklären, daß seine Freundschaft für einen der Republik so wichtigen jungen Mann, und der moralische Zauber, wodurch er den hoffärtigsten, muthwilligsten und verwegensten aller Griechischen Jünglinge an sich zu fesseln wußte, ihm bei einem unbefangenen Richter vielmehr zum Verdienst als zum Vorwurf gereichen muß. Aber, wenn du (wie es scheint) [73] anders dachtest, wie kam es, daß du von diesem Umstande keinen Gebrauch in den Wolken machtest?

Er. Soll ich dir die reine Wahrheit gestehen? Ich wußte damals noch so wenig von dem ehrlichen Sokrates, daß mir sogar sein vertrauter Umgang mit dem jungen Alcibiades unbekannt war, bis mir der Fall meines Stücks Gelegenheit gab, gelehrter über diesen Punkt zu werden. Ich hatte ihn nur selten in der Nähe gesehen und nicht für bedeutend genug gehalten, ihm genauer nachzufragen; das meiste, was ich von ihm wußte, war von zufälligem Hörensagen. Aus seinem öftern Umgang mit den Sophisten, welche Perikles nach Athen gezogen hatte, schloß ich, daß er selbst von ihrer Kunst Profession mache. Ich glaubte damals wie viele andere, und glaub' es noch, daß diese kunstreichen Leute, die sich dafür ausgaben, daß sie Schwarz zu Weiß und Recht zu Unrecht machen könnten, einen schädlichen Einfluß auf unsre Jugend hätten, und also dem Staate selbst gefährlich wären. Nun gehört es, wie du weißt, zum Beruf eines Komödiendichters bei uns, Leute dieser Art dem Volke auf der Schaubühne in unsrer eignen Manier zu denunciren; und ich für meinen Theil hatte mir, von der Zeit an da ich mich der komischen Muse widmete, zu meinem besondern Zweck vorgesetzt, meinen Stücken eine politische Richtung auf die Verwaltung und den Zustand der Republik überhaupt zu geben, und mich dadurch von meinen Vorgängern zu unterscheiden, die ihren stolzesten Wunsch erfüllt sahen, wenn ihnen ein wieherndes Gelächter aus allen Bänken des Theaters entgegen schallte, und die ihre Pritschenhiebe den einzelnen Personen, denen sie zum Spaß [74] oder aus bösem Willen zu Leibe wollten, nur im Vorbeigehen auszutheilen pflegten. In der That war ich der erste, der den Muth hatte, nicht nur einen Mann des Volks, wie Kleon, in Person auf die Bühne zu stellen, und ohne alle Schonung und Barmherzigkeit zu behandeln, sondern sogar den Heliasten 62, dem Senat, den Prytanen 63, ja dem souveränen Volke selbst die derbesten Wahrheiten ins Gesicht zu sagen. Ich hatte dieß in den Rittern so weit getrieben, daß es mir aus mehr als Einem Grunde rathsam schien, in meinem nächsten Stücke einen andern Weg einzuschlagen, meine Geißel gegen eine andere, für mich weniger gefährliche Gattung von Menschen zu führen, und aus dem häuslichen Leben einen Stoff zu wählen, der mir Gelegenheit gäbe, die Nachtheile der neumodischen Erziehung und den verderblichen Einfluß der Sophisten auf die Denkart und Sitten der Alten und Jungen in Athen nach meiner Weise darzustellen. Dieß, Aristipp, war's im Grunde, was ich mit den Wolken beabsichtigte, und wer sie für eine Personalsatyre auf den guten Sokrates ansieht, hat meine Meinung und Absicht ganz unrecht gefaßt. Ich kannte den Mann, wie gesagt, zu wenig dazu, und er war keine so wichtige Person in meinen Augen, daß ich für nöthig gehalten hätte, nun auch an ihm zu thun, was ich ein Jahr zuvor an Kleon gethan hatte. Auch sollt' es, denke ich, aus der ganzen Anlage des Stücks in die Augen fallen, daß es mit der komischen Person, der ich seinen Namen gab, bloß darauf abgesehen war, aus den stärksten Charakterzügen eines abgeschmackten Pedanten, eines sophistischen Taschenspielers, und eines armen Schluckers, ein Zerrbild [75] zusammenzusetzen, womit ich die ganze löbliche Sophisten-In nung der unverdienten Achtung, worin sie bei den Unwissenden steht, verlustig machen könnte. Uebrigens läugne ich nicht, daß die Verachtung, welche Sokrates (wie mir gesagt wurde) bei allen Anlässen gegen die neuern Komödiendichter und ihre Werke äußerte, natürlicherweise mit ins Spiel kam, und daß ich es für meine Schuldigkeit hielt, ihm bei dieser Gelegenheit im Namen der ganzen Brüderschaft unsre Dankbarkeit zu beweisen.

Ich. Bei dem allen kann ich – verzeihe meiner Freimüthigkeit! – nicht anders als beklagen, daß, da es dir nur um ein Zerrbild zu thun war, gerade ein so tugendhafter und ehrwürdiger Mann wie Sokrates seinen Namen und seinen guten Ruf dazu hergeben mußte.

Er. Vielleicht kann ich deinen Schmerz durch ein paar kleine Betrachtungen lindern, die auch wohl nebenher zu meiner Rechtfertigung dienen mögen. Ich finde sehr natürlich, daß dir Sokrates, den du erst in seinem sechs oder siebenundsechzigsten Jahre kennen gelernt hast, so ehrwürdig vorkommt. Aber bedenke, daß er seit der Zeit, da ich mir die Freiheit nahm ihn auf die komische Bühne zu stellen, um ganze zweiundzwanzig Jahre älter, weiser und respektabler geworden ist. Man hält einem alten Manne manches zu gut, was man ihm vor zwanzig Jahren nicht zu übersehen schuldig war. Damals war man manches noch nicht an ihm gewohnt, und es kleidete ihn vielleicht auch nicht so gut als jetzt. Er trug z.B. die Nase immer höher als andere, schaute über die Leute weg ins Blaue hinaus, beunruhigte jeden, der ihm in [76] den Wurf kam, durch unerwartete kleine Fragen, und wenn sich einer in den Antworten, die er ihm treuherzig gab, zuletzt so verfangen hatte daß er sich nicht mehr zu helfen wußte, ging er lachend davon.

Ich. Das that er, um etwa einen jungen von sophistischem Wind aufgeblasenen Jüngling zum Gefühl seiner Unwissenheit zu bringen. Ich weiß daß ihm dieses Mittel bei verschiedenen gelungen ist. Der schöne Euthydem 64 z.B., den er dadurch beinahe zur Verzweiflung brachte, ist jetzt einer seiner eifrigsten und lehrbegierigsten Anhänger.

Er. Das mag seyn. Aber dafür gibt es Hundert gegen Einen, denen diese neue Methode, die Leute durch Schrauben und Necken weiser zu machen, nicht ansteht; und ich finde nichts natürlicher, als daß sie ihm den Ruf eines spitzfindigen, einbildischen, streitsüchtigen und beschwerlichen Menschen zuzog. Dazu kam denn noch, daß sein Aeußerliches und der kurze, öfters ziemlich schmutzige Mantel, der gewöhnlich seine ganze Garderobe ausmachte, wenig dazu beitragen konnte, denen die ihn nicht genauer kannten eine große Ehrfurcht für seine Person einzuflößen. Mit Einem Wort, er gab den Spöttern und Lachern, und das ist so viel als neun Zehnteln unsrer Attischen Autochthonen 65, zu vielerlei Blößen, als daß wir Komiker seiner hätten schonen dürfen; und du wirst mir daher auch keinen meiner Kunstverwandten nennen können, der sich nicht bei jeder Gelegenheit, mehr oder weniger, über ihn lustig gemacht hätte.

Ich (lachend). Ihr seyd in der That gefährliche Leute; [77] da ein Sokrates nicht sicher vor euch war, wer darf hoffen eurer Pritsche zu entgehen?

Er. Das soll auch niemand hoffen. Man hört wohl, daß du ein Ausländer bist, Aristipp: du nimmst die Sache gar zu tragisch. Bei uns lachen die Getroffenen oft am lautesten; die meisten stecken ihre Hiebe stillschweigend ein; ja, ich versichre dich, Hyperbolus und seines gleichen wußten es uns sogar Dank, daß wir ihnen eine Art von Celebrität verschafften, und bei unsern Matrosen, Abladern, Sackträgern, Wurstmachern und Salzfischhändlern die Meinung erregten, als ob sie Leute von Bedeutung wären, da ihnen eine Ehre von uns widerfuhr, die gemeiniglich nur einem Perikles, Lamachus, Kleon, Nicias, Alcibiades und andern dieses Schlages erwiesen wurde. Ihr andern Fremden könnt euch nicht vorstellen, wie wenig die Satyre bei uns einem Manne, der nicht ohne allen Werth ist, Schaden thut; besonders hat unser Volk seine Freude daran, wenn seinen Günstlingen recht übel von den Komikern mitgespielt wird. Es ist ihnen gesund, denkt mein grillenhafter, griesgrämischer, kindischer alter Kauz von Demos 66, es ist ihnen sehr gesund wenn sie die Geißel immer über ihrem Rücken schweben sehen; und hab' ich es doch immer in meiner Gewalt sie zu entschädigen, wenn ihnen zu viel geschieht. So wurde z.B. der berüchtigte Kleon, bald darauf nachdem ihn meine Ritter auf eine wirklich grausame und nie erhörte Art mißhandelt hatten, zum Oberfeldherrn gegen die Spartaner erwählt: und bedarf es wohl eines stärkern Beweises, wie unschädlich das Salz ist, womit wir unsre Mitbürger zu ihrem eigenen und dem gemeinen [78] Besten reiben, als daß Sokrates seit mehr als fünf Olympiaden ungestört sein Wesen unter uns treibt, und an Ansehn und Ruhm zu Athen, und allenthalben wo unsre Sprache gesprochen wird, von Jahr zu Jahr zugenommen hat? Was ihm auch in der Zukunft noch begegnen könnte, immer bleibt gewiß, daß die Wolken keine Schuld daran haben 67, da ihm in einer so langen Zeit nicht ein Haar um ihrentwillen gekrümmt wurde.

Ich. Und was könnte denn dem besten aller Menschen, die ich kenne, noch Uebels begegnen? Wohin müßte es mit euch Athenern gekommen seyn, wenn das untadeligste Leben, die reinste Tugend, und die größten Verdienste um seine Mitbürger einem Manne von seinen Jahren kein ruhiges und glückliches Ende zusicherten?

Er. Mein guter Aristipp, Unschuld, Tugend und Verdienste schützen weder zu Athen noch irgendwo vor dem Hasse der Bösen, dem guten Willen der Thoren, und den Gruben, in die uns unsre eigene Sorglosigkeit fallen macht. Ueberdieß denken nicht alle Athener so günstig von ihm wie du. Sokrates lebt, spricht, und beträgt sich in allem wie ein freier, aber nicht immer wie ein kluger Mann. Er hat sich durch seine Freimüthigkeit Feinde gemacht; er verachtet sie, und geht ruhig seinen Weg. Ich bin keiner von seinen Feinden; aber wenn ich einer seiner Freunde wäre, so würde ich ihn bitten auf seiner Hut zu seyn.

Diese Rede machte mich stutzen, wie du denken kannst: aber ich konnte meinen Mann nicht dahin bringen sich näher zu erklären; er wich mir immer durch allgemeine Formeln [79] aus, und ein Dritter und Vierter, die sich zu uns gesellten, lenkten das Gespräch auf andere Gegenstände.

Wie ich den Sokrates kenne, würde es zu nichts helfen, wenn ich ihm etwas von dem Inhalt meiner Unterredung mit dem Komiker, den er weder liebt noch achtet, mittheilen wollte; und über eine Bitte, auf seiner Hut zu seyn, würde er lachen. Niemand weiß besser als er selbst, wie unzuverlässig die Gemüthsart der Athener ist, und daß es unter seinen Mitbürgern Leute gibt, die ihm übel wollen, wiewohl keiner von ihnen auftreten und sagen kann: Sokrates hat mir jemals Unrecht gethan. Er weiß daß er Feinde hat: aber (wie der Komiker sagte) er verachtet sie und geht seinen Weg. Ich erinnere mich, daß einst in einem kleinen vertrauten Kreise der unerschütterlichen Festigkeit erwähnt wurde, womit Sokrates, als damaliger Vorsteher der Prytanen 68, sich der Wuth des Volks, bei dem gesetzwidrigen Verfahren gegen den Admiral Diomedon und seine Collegen, entgegen gestellt hatte. Das Gespräch fiel unvermerkt auf die Unmöglichkeit, daß ein Staatsbeamter in einer Demokratie, bei einer ausdauernden Beharrlichkeit auf seiner Pflicht, dem Haß und der Verfolgung, die er sich dadurch zuzöge, nicht in kurzer Zeit unterliegen sollte. Es ist traurig, sagte Kriton, sich gegen seinen alten Freund wendend, sich's nur als möglich zu denken, daß ein rechtschaffner Mann, gerade deßwegen, weil er rechtschaffen ist, Feinde haben soll. Da es nun aber nicht anders ist, versetzte Sokrates, was soll es uns kümmern? Das ärgste, das sie uns zufügen können, ist doch nur, daß sie uns dahin versetzen, wo wir nichts mehr von ihnen zu leiden haben werden.

[80] Gestehe, Kleonidas, Sokrates ist ein herrlicher Mann! Ich fühle dieß zuweilen so lebhaft, daß ich – Sokrates seyn möchte, wenn mir's möglich wäre etwas anders zu seyn als dein Aristipp.

10. An Kleonidas
10.
An Kleonidas.

Du bist begierig von mir zu erfahren, was für eine Bewandtniß es mit dem Dämonion des Sokrates habe, von welchem dir dein Megarischer Gastfreund, wie es scheint, seltsame und unglaubliche Dinge erzählt hat. »Was denkt sich Sokrates dabei? Von welcher Gattung Dämonen ist dieses Dämonion? Hat es eine Gestalt? Oder ist es eine bloße Stimme, die ihm leise ins Ohr flüstert, oder vielleicht ohne Worte sich nur dem innern Sinne vernehmbar macht? Oder wirkt es etwa bloß durch leise Berührung? Im Wachen oder im Traum? Gefragt oder ungefragt? Häufig oder selten? Hat es nie getäuscht? Sind die Dinge, die es ihm vorhersagt, so beschaffen, daß es schlechterdings unmöglich ist sie vorherzusehen? Oder läßt sich begreifen, wie ein Mann von scharfem Blick in den Zusammenhang der Dinge sie auch ohne Dämonion errathen konnte?«

Alle diese kleinen Fragen, mein Freund, könnte uns niemand besser beantworten als Sokrates selbst. – »Warum fragst du ihn denn nicht?« – Ich wollt' es wirklich; zwei [81] oder dreimal lag mir die Frage schon auf der Zunge: aber immer hielt mich ein ich weiß nicht was, eine Art von Scheu zurück, als ob ich im Begriff wäre etwas Unziemliches zu thun. Aufrichtig zu reden, Kleonidas, ich schäme mich ein wenig, mit einem so ehrwürdigen alten Glatzkopfe von – seinem Dämonion zu reden, und es ist mir gerade so dabei zu Muthe, als ob ich ihn fragen wollte, was ihm diese Nacht geträumt habe? Wenn ich aber auch über diese Scham Meister werden könnte, so würde ich vermuthlich nicht mehr damit gewinnen als einer meiner Cameraden, Simmias von Theben, der sich das Herz nahm, eine Frage über sein Dämonion an ihn zu thun, und keine Antwort von ihm erhielt. Im Gegentheil (sagte mir Simmias in seiner böotischen Treuherzigkeit), er drehte sich mit einem so finstern Blick von mir weg, daß mir die Lust ihn wieder zu fragen auf immer vergangen ist.

Weil also, wie du siehst, die Quelle selbst, aus welcher wir allenfalls die reinste Wahrheit zu schöpfen hoffen dürften, unzugangbar ist, so wirst du dich schon an dem begnügen müssen, was ich von seinen ältern Freunden und Anhängern, nach und nach, meistens nur tropfenweise habe herauspressen können. Denn es ist als ob sie Bedenken trügen sich offenherzig gegen mich heraus zu lassen; woran freilich wohl die etwas unglaubige Miene Schuld seyn mag, die ich bei solchen Gelegenheiten nicht völlig in meine Gewalt bekommen kann. Ich habe immer bemerkt, daß Personen, die mit der Neigung wunderbare Dinge zu glauben etwas reichlich begabt sind, sich zurückgehalten fühlen, mit kalten Köpfen so freimüthig [82] und nach Herzenslust von solchen Dingen zu sprechen, wie sie mit ihres gleichen zu thun pflegen. Was ich indessen von der Sache selbst herausgebracht habe (denn an den Meinungen dieser Leute kann dir nicht viel gelegen seyn) läuft auf Folgendes hinaus.

Sokrates glaubt, durch eine besondere göttliche Schickung von Kindheit an eine Art von ihm allein hörbarer Stimme vernommen zu haben, als ein Warnungszeichen, wenn er etwas beginnen wollte, dessen Ausgang oder Erfolg ihm nachtheilig gewesen seyn würde. Ueber die Art und Weise, wie diese angebliche Stimme ihm vernehmbar werde, hat er sich nie erklärt: gewiß aber ist, daß er sie für etwas Göttliches (δαιμονιον τι), oder genauer zu reden, für etwas Divinatorisches von eben der Art, wie die Götter, nach dem gemeinen Volksglauben (welchem auch er immer zugethan war) durch Orakel, oder die Eingeweide der Opferthiere, den Flug gewisser Vögel, und andere solche Anzeichen, den Menschen zukünftige Dinge, die sich durch keinen Grad menschlicher Klugheit und Erfahrenheit vorhersehen lassen, andeuten sollen. Niemand hat ihn je sagen gehört, daß er einen eigenen Dämon habe; dieß aber ist gewiß, daß er diese wahrsagende Stimme – die er jedesmal so oft er selbst oder seine Freunde etwas, das zu ihrem Verdruß oder Schaden ausgefallen wäre, unternehmen wollte, zu vernehmen glaubte – für eine göttliche Wirkung hielt, und sich daher der Ausdrücke »die Stimme, oder das Dämonion, oder Gott hat mich gewarnt« als gleichbedeutend zu bedienen pflegte. Auch darüber, wie er dazu gekommen sey die Bedeutung dieses göttlichen Warnungszeichens zu [83] verstehen, hat er sich nie erklärt; vermuthlich mag es ihm in seiner frühen Jugend öfters begegnet seyn, einer Stimme, deren Sprache ihm noch unbekannt war, nicht zu achten; weil es ihm aber jedesmal übel bekam, so wurde er endlich aufmerksamer, und entdeckte auf diese Weise die Meinung und Absicht derselben. Auch ist bemerkenswerth, daß – nachdem er sich durch häufige Erfahrungen ein für allemal überzeugt hatte, daß die Stimme sich allezeit richtig hören lasse, so oft er, oder einer seiner Freunde in seiner Gegenwart, etwas das unglücklich für ihn ausgegangen wäre unternehmen oder beschließen wollte – er nun auch das Stillschweigen derselben für ein sicheres Zeichen nahm, daß der Himmel sein Gedeihen zu dem, was er oder seine Freunde vornehmen wollten, geben werde: so daß er also diese Wundergabe sowohl auf der rechten als auf der umgekehrten Seite als Warnungs- und Billigungszeichen gebrauchen konnte. Zum Beweise, wie übel der Ungehorsam gegen die Warnungen dieses Orakels einigen Bekannten des Sokrates bekommen sey, sind mir verschiedene Beispiele erzählt worden, womit ich dich verschonen will, da dir diese Leute unbekannt sind, und die Umstände, in welche ich mich einlassen müßte, kein Interesse für dich haben können. Genug, daß ich diese Thatsachen zum Theil aus dem Munde unverwerflicher Zeugen habe, und daß wenigstens nicht leicht zu erklären wäre, was den Sokrates hätte bewegen können, die besagten Personen durch ein erdichtetes Vorgeben, er höre das gewohnte Warnungszeichen, von Ausführung dessen, was sie im Sinne hatten, zurückzuhalten. Uebrigens muß ich zur Steuer der Wahrheit noch hinzuthun, daß ich den Sokrates[84] selbst in den zwei Jahren, seitdem ich ihn alle Tage sehe und ihm oft in ganzen Wochen nicht von der Seite komme, dieser ihm beiwohnenden Art von Divination mit keinem Wort erwähnen gehört habe. Dieß kann zufälliger Weise, oder vielleicht wohl gar auf Abrathen des Dämonions selbst geschehen seyn; denn ich habe zuweilen einen Argwohn, daß es mir nicht recht grün ist, und bin ziemlich geneigt, ihm die Schuld zu geben, daß Sokrates mich mit einer gewissen Zurückhaltung und Kälte zu behandeln scheint, die ich mir lieber aus dieser als irgend einer andern Ursache erklären mag. Indessen beruht die Sache auf so übereinstimmenden Zeugnissen aller, die schon viele Jahre mit ihm gelebt haben, daß es ungereimt wäre, daran zweifeln zu wollen, daß er wirklich und schon von langer Zeit her diese übernatürliche Einwirkung zu erfahren vorgegeben habe.

Und hat er dieß vorgegeben, so zweifle ich nicht, und auch du, Kleonidas, würdest, wenn du nur ein paar Tage mit ihm umgegangen wärest, keinen Augenblick zweifeln, daß er selbst von der Realität der Sache vollkommen überzeugt ist.

»Aber wie sollen wir uns die Möglichkeit einer solchen Ueberzeugung, bei einem so verständigen, gesetzten und helldenkenden Manne wie Sokrates ist, erklären?« fragst du. – Es gibt der Dinge so viele, mein Freund, die wir uns nicht erklären können, daß es auf eines mehr oder weniger nicht ankommt. Soll ich dir indessen freimüthig sagen was ich denke? – Sokrates ist unläugbar ein sehr weiser Mann; aber am Ende sind wir doch alle – von Weibern geboren; und wem hängt nicht irgend eine Schwachheit an, die ihn[85] mit allen andern so ziemlich auf gleichen Fuß setzt? Die seinige ist (unter uns), daß er ein wenig aberglaubischer ist als einem weisen Manne ziemt. Es scheint wirklich ein Erbstück von seiner Mutter oder Großmutter zu seyn. – »Aberglaubisch? Sokrates aberglaubisch? 69« rufst du. – Ja, Kleonidas! entweder aberglaubisch, oder der größte Heuchler, den je die Sonne beschienen hat. Das letztere ist er nicht, bei Gott, kann er nicht seyn! – Also jenes! oder wie nennst du den, der, nicht zufrieden in solchen Dingen den Gesetzen seines Landes genug zu thun, in ganzem Ernst an alle Götter und Göttinnen, von Uranus und Ge bis zum kleinsten Quellnymphchen auf dem Pernes, an Orakel, prophetische Vögel, Träume und Anzeichen aller Arten glaubt, und seine Freunde nach Delphi oder Klaros schickt, um sich Raths zu erholen, ob das, was sie beginnen wollen, wohl von Statten gehen werde? Der Grund dieser Anhänglichkeit an den gemeinen Volksglauben muß tief und fest bei ihm sitzen, da Anaxagoras selbst, zu welchem er doch schon in seiner Jugend freien Zutritt hatte, es nicht weiter bei ihm brachte, als ihm in den reinern Begriffen von der Gottheit in neues Mittel zu Unterstützung des Aberglaubens an die Hand zu geben. – »Die Gottheit, oder die Götter (denn er pflegt sich ohne Unterschied bald auf die eine bald auf die andere Art auszudrücken), die Gottheit also, sagt er, welche für alle Dinge, um des Menschen willen, und für den Menschen allein, als ihren Liebling, um seiner selbst willen sorgt, hat ihn mit einem Körper, woran alles zu seinem bequemsten Gebrauch und Nutzen aufs künstlichste eingerichtet ist, versehen; und damit [86] er im Stande sey, alle möglichen Vortheile aus der Natur der Dinge zu ziehen, hat sie ihm die Vernunft mitgetheilt, um ihre Eigenschaften und Beziehungen auf ihn zu erkennen und sie zu dem, was sie seyn sollen, zu Mitteln seines eigenen Zwecks zu machen. Aber seine Vernunft dringt nicht so tief in den Zusammenhang der Dinge, daß sie ihm auch ihre künftigen Verknüpfungen und den Nachtheil, der seinen Unternehmungen dadurch zuwachsen kann, hinlänglich zu enthüllen vermochte. Sie zeigt ihm wohl, wo, wann und wie er handeln soll; aber die Folgen und der Ausgang seines Thuns und Lassens bleiben meistens ungewiß. Sollten die Götter für ihren Liebling nicht besser gesorgt haben, als ihn ohne alle Gewähr und auf bloßes Gerathewohl im Dunkel der Zukunft umher tappen zu lassen? Allerdings! sie selbst kommen der Unzulänglichkeit seiner Vernunft zu Hülfe, und entschleiern, so weit sie es ihm nöthig oder zuträglich finden, durch Orakel, Träume und Vorbedeutungen die Zukunft vor ihm. Da es also in seiner Macht steht, sich auf diesem Wege über den Ausgang seiner Unternehmungen zu unterrichten, so wäre es eben so thöricht und gottlos, diesen ihm angebotenen Beistand der Götter zu verachten, als es thöricht und vermessen wäre, wenn er in Dingen, worin seine Vernunft ihm hinlängliches Licht geben kann, zu Orakeln und Divinationen seine Zuflucht nehmen wollte.«

Was meinst du, Kleonidas, sollte ein Mann von sehr lebhaftem Geiste, der so räsonnirt, nicht unvermerkt dahin gelangen können, das divinatorische Vermögen der Vernunft, das in höherm oder geringerm Grade allen Menschen beiwohnt, [87] zumal das dunkle Vorgefühl eines Uebels, welches uns oder andere unter gewissen Umständen und Anscheinungen treffen könnte, für einen Wink der Gottheit, eine seinem Innern zuflüsternde dämonische Stimme, zu halten, und wenn etwa der Erfolg zufälligerweise einem solchen vermeinten Wink entsprochen hätte, sich in seiner Einbildung dergestalt zu bestärken, daß was vielleicht anfangs eine bloße Vermuthung war, ihm endlich zur Gewißheit würde; und dieß um so leichter, wenn er, wie Sokrates, sich angewöhnt hätte, von der Gottheit, nach morgenländischer Weise, bei allen Gelegenheiten so zu reden, als ob sie die unmittelbare Ursache aller natürlichen und menschlichen Dinge sey?

Doch bin ich nicht selbst ein Thor, dich und mich mit einer Sache dieser Art so lange aufzuhalten? muß denn an einem so ungewöhnlichen Manne wie Sokrates, alles so begreiflich wie an einem Alltagsmenschen seyn?


Die neuesten Berichte, die ich aus Cyrene erhalte, lassen mich ohne Dämonion voraussehen, daß Ariston, durch das Uebergewicht, das ihm seine eigennützige Freigebigkeit bei der zahlreichsten und handfestesten Volksclasse verschafft, vermuthlich in kurzem den Sieg über seine Nebenbuhler davon tragen, und es in seine Gewalt bekommen wird, der Republik eine neue Gestalt zu geben. Ob auch eine bessere?


– das liegt im Schooße der Götter.


Immer finde ich, daß deine Familie nicht übel gethan [88] hat, sich, wie du mir meldest, noch in Zeiten und mit guter Art an die Partei anzuschließen, die, allen Anscheinungen nach, das Spiel gewinnen wird. Wenn man keine Hoffnung hat, etwas fürs Allgemeine ausrichten zu können, so gebietet die Klugheit, wenigstens für sich selbst zu sorgen. Aber sollte denn wirklich für die Republik nichts mehr zu thun seyn? Ich fürchte, nein! und sehe, bei der allgemeinen Verderbniß unsrer Sitten, es noch für ein Glück an, daß es keine energischen Seelen unter uns gibt, die uns den schnell verlodernden Enthusiasmus für Freiheit und Gleichheit, unter dessen Gewalt wir gar bald zusammensänken, mit schrecklichen Krämpfen und Zuckungen büßen lassen würden. In unsrer Lage wäre vielleicht das schlimmste was begegnen könnte, wenn die demokratische Partei Mittel fände, sich der Zügel zu bemächtigen. Indessen, da der Ausgang bürgerlicher Unruhen immer ungewiß ist, rathe ich dir und deinen Freunden, es mit keiner Partei ganz zu verderben, und keine so eifrig zu nehmen, daß ihre Niederlage auch euern Untergang nach sich ziehen müßte.

11. An Demokles
11.
An Demokles.

So ist sie denn endlich geborsten, die Gewitterwolke, die wir schon so lange über unser ungewahrsames Vaterland herhangen sahen! Jetzt, lieber Demokles, darf ich dir doch wohl [89] bekennen, daß die Besorgniß, in eine von den Factionen, die einander dermalen in den Haaren liegen, wider Willen hineingezogen zu werden, ein Hauptgrund war, meine Reise nach Griechenland zu beschleunigen. Dächte mein Verwandter Ariston wie ich, oder hätten meine Vorstellungen Eingang bei ihm gefunden, so möchte sich unsre Regierung noch lange zwischen Oligarchie und Demokratie hin und her geschaukelt haben, ohne daß die öffentliche Ruhe viel dabei gelitten hätte. Aber seine hohe Meinung von sich selbst, die zehn Jahre die er älter ist als ich, das Unglück zu früh zum Besitz eines beinahe fürstlichen Vermögens gekommen zu seyn, und der Hof von Schmeichlern und Parasiten, wovon er überall umgeben ist, standen immer zwischen ihm und mir. Die Republik hat nun einmal den Grad der Verderbniß erreicht, der eine Veränderung ihrer Regierungsform unvermeidlich macht; unter den drei oder vier Nebenbuhlern, die sich um die schöne Basileia 70 bewerben, muß sie (wie es scheint) am Ende doch Einem zu Theil werden; und da einer so viel Recht an sie hat als der andere, warum sollte der eitle und ehrsüchtige Ariston sie einem andern überlassen, ohne wenigstens zu versuchen, wie weit er es durch seine Gunst beim Volke, und durch seinen Anhang unter den jungen Leuten der Mittelklassen bringen könne? zumal, da der Umstand, daß seine Aeltermutter dem königlichen Geschlechte des Battus angehörte, ihm einen anscheinenden Vorzug vor den übrigen gibt, deren mehr oder weniger verdeckte Anschläge auf eben dasselbe Ziel gerichtet sind?

Daß dieß nicht meine Vorstellungsart sey, glaube ich [90] durch die That bewiesen zu haben. Aber wie ich sah, daß Ariston seine Partei genommen hatte, was blieb mir übrig, als mich so weit als möglich zu entfernen, wenn ich nicht in den Fall kommen wollte, mich öffentlich entweder für oder wider einen Mann zu erklären, der seit dem Tode seines Vaters als das Haupt unsrer Familie angesehen, und aus leicht begreiflichen Ursachen von allen übrigen Gliedern derselben theils geschont, theils offenbar begünstiget wird?

Aber auch ohne diesen besondern Bewegungsgrund würde ich sehr verlegen seyn, wenn ich eine von euern Factionen schlechterdings zur meinigen machen müßte. Seit Erlöschung des letzten männlichen Sprößlings der Battiaden, ging Cyrene (wie dir bekannt ist) in eine ziemlich anarchische Demokratie über, auf welche unser Volk, zur Ehre seines Menschenverstandes, gar bald freiwillig Verzicht that, um sich einer Art von Aristokratie zu unterwerfen, bei welcher es sich (wie es immer zu gehen pflegt) so lange wohl befand, als die Regenten redliche und verständige Männer waren, keinen andern Zweck als die allgemeine Wohlfahrt hatten, und Einsicht genug besaßen, sich in der Wahl der Mittel nicht zu vergreifen. Daß diese goldne Zeit nicht bis zur dritten Generation dauerte, versteht sich von selbst. Die Geschichte aller Oligarchien ist auch die unsrige, und es ist leicht vorauszusehen, daß wir in dem krampfhaften Zustande, worin sich unsre Republik dermalen befindet, noch von Glück zu sagen haben werden, wenn wir, ohne die fürchterlichen Folgen einer langwierigen Anarchie zu erfahren, recht bald, es sey nun durch Wiederherstellung der Demokratie, oder Einwilligung in die[91] Oberherrschaft eines Einzigen, wieder zur Ruhe kommen, bevor das mächtige Carthago unsern Händeln auf eine Art, die uns noch weniger behagen dürfte, ein Ende macht. Zwischen zweien Uebeln das kleinste zu wählen, ist oft eine schwere Aufgabe. Ich danke den Göttern, daß ich bei dieser Wahl keine entscheidende Stimme habe; müßte ich aber schlechterdings meine Meinung sagen, so würde ich rathen, das, was man sich am Ende doch gefallen lassen wird, weil man muß, lieber freiwillig und zu einer Zeit zu verfügen, da es noch in unsrer Gewalt ist, die Bedingungen selbst zu machen, unter welchen wir die Regierung mit dem wenigsten Nachtheil des Gemeinwesens in die Hände eines Einzigen legen könnten.

Meines Erachtens gibt es für einen kleinen oder mittelmäßigen Staat keine bessere Verfassung, als diejenige, welche Solon den Athenern gab, gewesen wäre, wenn ihm Pallas Athene den guten Gedanken eingeflüstert hätte, den Pisistratus von freien Stücken zur Uebernahme eines zehnjährigen Archontats zu berufen; allenfalls mit der Bedingung, ihm diese höchste Würde nach zehn Jahren, wenn das Volk mit seiner Regierung zufrieden wäre, auf seine ganze Lebenszeit zu verlängern. Die Athener sind nie glücklicher gewesen als unter der Regierung des Pisistratus und Hipparchus. Es fehlte ihr nichts als daß sie nicht verfassungsmäßig war. Wäre sie es gewesen, so würde der Tyrann 71 Pisistratus ein Muster guter Fürsten heißen; so würde Athen wahrscheinlich der blühendste, mächtigste und dauerhafteste unter den Griechischen Staaten geworden seyn, und so viele tragische Glückswechsel und alles Unheil des siebenundzwanzigjährigen Verheerungskrieges, [92] der sich so übel für sie endigte, nicht erfahren haben. Möchten die Factionen welche unsre Republik zerreißen, und deren keine noch stark genug ist die Oberhand zu erhalten, sich auf diese Weise zu Rettung des Vaterlandes vereinigen! Auf allen Fall, und da mein besagter Rath alles ist, was ich für dasselbe thun kann, sey es dir frei gestellt, von diesem Briefe nach deinem Gutbefinden Gebrauch zu machen. Damit ich dir bei meinem Vorschlage nicht etwa einer eigennützigen Rücksicht verdächtig werde, erkläre ich unverhohlen, daß Ariston meine Stimme, wofern ich eine zu geben hätte, nie erhalten würde, so lange Cyrene noch mehr als Einen Mann aufweisen kann, dem ungleich größere Verdienste ein besseres Recht geben, der erste im Staate zu seyn. Lebe wohl, Demokles, und berichte mir mit der ersten Gelegenheit, was für eine Wendung diese Händel nehmen, deren Ausgang mir um so weniger gleichgültig seyn kann, da ich aller Wahrscheinlichkeit nach in jedem Falle mehr dabei zu verlieren als zu gewinnen haben werde.

12. An Ebendenselben
12.
An Ebendenselben.

Es fehlt viel daran, lieber Demokles, daß mir die Nachrichten von dem immer wahrscheinlicher werdenden Erfolg der Anschläge meines Verwandten, die du mir durch den Schiffer von Gortyna zugefertiget hast, so angenehm wären, als [93] du zu glauben scheinst. Sie würden es auch dann nicht seyn, wenn ich nicht voraussähe, daß meiner Familie vielleicht kein größeres Unglück zustoßen könnte, als wenn Ariston in seinem Unternehmen glücklich wäre. Denn wie lange glaubst du wohl, daß die willkürliche Regierung eines jungen Schwindelkopfes dauern würde, der sich selbst nicht zu regieren weiß, und immer das Spielzeug seiner eigenen und fremder Leidenschaften ist? Ich beklage es, daß mein Bruder, durch täuschende Aussichten verblendet, seine Partei so eifrig zu unterstützen scheint, daß, wenn die kurze Herrlichkeit vorüber seyn wird, sein Fall nothwendig auch der ihrige seyn muß. Lass' mich's wiederholen, mein Freund, um unsre Republik vor einer unabsehbaren Reihe unseliger Folgen der gegenwärtigen Störung ihres innern Gleichgewichtes zu retten, ist kein anderes Mittel als eine neue Regierungsform: und dieß vorausgesetzt, fordere ich alle Weisen unter Griechen und Barbaren heraus, in diesem Augenblick eine bessere für euch zu ersinnen, als die Solonische unter der Bedingung, deren ich neulich erwähnte; wenn ihr euch nämlich von freien Stücken entschlösset, unter den vier Ehrgeizigen, die einander die Tyrannie über Cyrene streitig machen, den tauglichsten, d.i. den, der den besten Kopf mit der meisten Stärke des Charakters vereiniget, an die Spitze der Republik zu stellen. Da du, wie ich aus deiner Antwort sehe, meine Meinung nicht ganz gefaßt zu haben scheinst, so erlaube mir, mich über diesen Punkt deutlicher zu erklären.

Als die Athener nach dem Tode des edelmüthigen Kodrus beschlossen, daß Jupiter allein würdig sey, der Nachfolger [94] eines solchen Königs zu seyn, gingen sie nicht plötzlich zu einer demokratischen Verfassung über. Die Republik wurde von einem Archon regiert, welcher anfänglich auf Lebenslang, hernach auf zehn Jahre mit dieser höchsten Würde bekleidet wurde: und auch, nachdem man in der Folge für besser hielt, die Verrichtungen derselben unter neun jährliche Archonten zu vertheilen, war die Verfassung zu Solons Zeiten noch immer aristokratisch. Das Volk schmachtete unter dem Druck der vornehmen und reichen Familien, in deren Händen die ganze Staatsverwaltung lag, und selbst die blutigen Gesetze Drakons scheinen einen aristokratischen Geist zu athmen, und dahin abgezielt zu haben, durch ihre furchtbare Strenge dieser Regierungsform eine ewige Dauer zu verschaffen. Natürlicher Weise erfolgte das Gegentheil. Das zur Verzweiflung getriebene Volk fühlte endlich seine Stärke; die Republik zerfiel in Parteien; jede hatte einen mächtigen Aristokraten an der Spitze, dessen wahre Absicht wohl keine andere war, als sich seines Anhangs zu Ueberwältigung der übrigen zu bedienen, und sich zum einzigen Stellvertreter des Königs Jupiter zu erklären. In dieser Lage der Sachen fand Solon in dem allgemeinen Vertrauen auf seine Weisheit ein Mittel, alle Parteien zu vereinigen. Man bevollmächtigte ihn, nicht nur die alten Gesetze zu verbessern, sondern auch (was alle Parteien für das Nöthigste hielten) der Republik selbst eine neue Verfassung zu geben. Ein so weiser Mann, wie Solon, konnte, da er selbst ohne Ehrgeiz war, unmöglich auf den Gedanken fallen, daß den Gebrechen der Aristokratie abgeholfen wäre, wenn er eine reine Demokratie an ihre [95] Stelle setzte: er war bloß darauf bedacht, die Republik durch Vertheilung der Gewalten unter die Archonten, den Areopagus, einen Senat von Vierhundert, und die Volksgemeine, dergestalt zu ordnen, daß er sich eine dauerhafte Harmonie des Ganzen davon versprechen konnte. Indessen bewies der Erfolg in wenig Jahren, daß seine neue Staatseinrichtung mit Einem Gebrechen behaftet war, welchem hätte vorgebeugt werden können, wenn er etwas weiter vor sich hinausgesehen, und der momentanen Stimmung des Volkes auf der einen, und der verstellten Mäßigung der ehmaligen Oligarchen auf der andern Seite, nicht zu viel getraut hätte. Das Volk nämlich war durch die plötzliche Befreiung von den bisherigen Bedrückungen und die Aussicht auf die Vortheile, die es von der Solonischen Gesetzgebung mit Recht erwartete, so zufrieden gestellt, daß es sich mit dem sehr beschränkten Antheil an der Staatsverwaltung, der ihm durch dieselbe eingeräumt wurde, vor der Hand willig abfinden ließ: auf der andern Seite sahen die Ehrgeizigen, die es während der Unruhen auf Alleinherrschaft angelegt hatten, daß sie die Ausführung ihrer Anschläge auf einen günstigern Zeitpunkt verschieben müßten. Aber Solon hätte billig unbefangen genug seyn sollen, vorauszusehen, daß weder die untern Volksclassen noch die Häupter der mächtigsten Familien sich in den Schranken, worein er sie eingeschlossen hatte, lange halten lassen würden; und daß er also, um der Ruhe des Staats Dauer zu verschaffen, auf ein haltbares Mittel bedacht seyn müsse, den einen und den andern jede Ausdehnung ihrer politischen Rechte unmöglich zu machen. Dieses Mittel würde er in einem [96] Eparchen (oder wie man ihn sonst nennen wollte) gefunden haben, dem die Constitution nicht mehr, aber auch nicht weniger Macht in die Hände gegeben hätte, als erfordert wurde, um das Volk durch die Aristokratie, die Aristokratie durch das Volk, und beide durch die Allmacht des Gesetzes in ihren Schranken zu erhalten. Der Einwurf, »die Athener hätten das Nachtheilige eines solchen Vorstehers an den ehmaligen lebenslänglichen Archonten bereits erfahren,« wäre von keiner Erheblichkeit gewesen. Das Nachtheilige lag bloß darin, daß die Gewalt der ersten Archonten zu unbestimmt und zu willkürlich war: denn im Grunde stellten sie eine Art von Königen unter einem andern Namen vor. Aber dieß würde bei meinem Eparchen der Fall nicht gewesen seyn, da er durch den aristokratischen Areopagus, den aus den drei ersten Bürgerclassen gezogenen Senat der Vierhundert, und die allgemeinen Volksversammlungen gesetzmäßig beschränkt gewesen wäre, und diese drei Gewalten einander (wie es ihr Interesse erforderte) mit gehörigem Nachdruck unterstützt haben würden. Jeder Versuch des Eparchen sich über die Gesetze wegzuschwingen und unabhängig zu machen, hätte nothwendig mißlingen müssen. Wie gut und wie nöthig es gewesen wäre, daß Solon seinem übrigens so verständig angelegten Staatsgebäude diesen Gipfel aufgesetzt hätte, zeigte sich nach seiner Entfernung nur zu bald. In wenig Jahren wachten die alten Factionen wieder auf: Lykurgus bearbeitete die mittlern Bürgerclassen, Megakles die Aristokraten, Pisistratus das gemeine Volk; weder Solon noch seine Gesetze konnten dem überhandnehmenden Uebel wehren; kurz, es bedurfte der Alleinherrschaft [97] des Pisistratus, der zuletzt die Oberhand behielt, Ordnung und Ruhe wieder herzustellen, und die Gesetze Solons wieder in Wirksamkeit zu setzen.

Ich hoffe nun, Freund Demokles, dir meine Gedanken über das, was in den dermaligen Umständen zum Besten unsrer Vaterstadt gethan werden könnte, durch dieses so genau auf unsre Umstände passende Beispiel einleuchtend genug gemacht zu haben, um dich von selbst auf die Betrachtungen zu leiten, die ich deiner anscheinenden Vorliebe für die reine Demokratie entgegenstellen könnte, wenn ich ein Freund dieser Art von Kämpfen wäre, wo man Stirn an Stirn und Knie auf Knie mit dem andern um seine Meinung ringt, oder wenn ich sie für eine gute Art, jemand von seiner Meinung zurückzubringen, hielte. Zudem würde auch ein solcher Streit in diesem Augenblick ein wahres Schattengefecht seyn. Denn nach allem was du mir berichtest zu urtheilen, würde, wenn auch du und deine Freunde euch thätig für die Demokratie erklären wolltet, schwerlich zu hoffen seyn, daß ihr eine Partei zusammenbringen könntet, die nur jeder einzelnen der bestehenden Gegenparteien, geschweige allen zusammen, die Spitze zu bieten vermöchte. Und gewiß würden diese sogleich gemeine Sache gegen jeden machen, der sich nur den leisesten Verdacht zuzöge, als ob er mit einem solchen Anschlage umgehe. Hingegen müßte ich mich sehr betrügen, wenn mein Vorschlag nicht noch durchzusetzen wäre, wofern die redlichen Freunde des Vaterlandes und der Freiheit mit gehöriger Mäßigung und Klugheit zu Werke gingen, und sich zu rechter Zeit für denjenigen erklärten, der sich an der höchsten Würde [98] im Staat unter den Einschränkungen der Solonischen Constitution genügen lassen wollte.

Ich habe meinen Verwandten ausführlich und nachdrücklich über diese Sache geschrieben; aber ich gestehe, daß ich mir wenig Erfolg davon verspreche. Auf alle Fälle hab' ich das Meinige gethan, vielleicht mehr als von einem noch nicht volljährigen Staatsbürger gefordert werden kann. Geschehe nun was die Götter über uns beschlossen haben, oder – um den guten Göttern kein Unrecht zu thun – was von dem allgewaltigen Einfluß der beiden großen Regenten unsers wetterlaunischen Planeten, der Thorheit, die uns von innen, und dem Zufall, der uns von außen beherrscht, vernünftigerweise zu erwarten ist. Es wäre viel Glück, wenn wir, indem wir so blindlings in den Glückstopf des Schicksals greifen, gerade das beste Loos herauszögen. Ich für meine Person bin auf alles gefaßt, und falls ich dahin kommen sollte, wie Bias 72 alles was ich mein nennen kann bei mir zu tragen, so tröste ich mich damit, daß ich wenigstens nicht schwer zu tragen haben werde.

13. An Kleonidas
13.
An Kleonidas.

Ich gestehe unverhohlen, daß ich ein großer Freund aller Tage bin, die von unsern frommen Vorfahrern dem allgemeinen Müßiggang und Wohlleben gewidmet wurden. Immerhin mögen Arbeitsamkeit und Enthaltsamkeit, wo sie nicht [99] Töchter der Nothwendigkeit sind, unter die preiswürdigsten Tugenden gerechnet werden: wenigstens sind sie es bloß als Mittel zu dem was der letzte Wunsch aller lebenden Natur ist; Ruhe ist die angenehmste Belohnung des Arbeiters, und der Arme behilft sich die meiste Zeit schlecht, um sich zuweilen einen guten Tag machen zu können. An Festtagen seh' ich allenthalben fröhliche Gesichter; jedermann ist besser als gewöhnlich gekleidet, thut sich gütlicher, geht ins Bad, kränzt sich mit Blumen. Gemeinschaftliche Opfer, Gesänge und Gebete, feierliche Aufzüge, Uebungsspiele, Tänze und Schauspiele nähren und erhöhen den sympathetischen Trieb, und lassen uns vom geselligen Bürgerleben, dessen tausendfache Collisionen die Tage der Arbeit und Geschäftigkeit so häufig erschweren und verbittern, nur das Gefügige, Angenehme und Tröstliche empfinden. Die Natur hat mir wie du weißt, zu einem ziemlich kalten Kopf ein warmes Herz gegeben. Mir ist nie wohler, als wenn ich mich so ganz aufgelegt fühle allen Menschen hold zu seyn, und dieß bin ich immer wenn ich sie in Gemeinschaft fröhlich sehe. Denn da wiege ich mich unvermerkt in die süße Täuschung ein, sie alle für gut und wohlwollend zu halten, und mache mir selbst weiß, sie würden es immer seyn, wenn sie sich immer glücklich fühlten. Du wirst es also ganz begreiflich finden, lieber Kleonidas, daß ich, ungeachtet der schelen Gesichter, die ich mir von meinen gravitätischen Mitgesellen, und zuweilen auch wohl von dem Meister selbst gefallen lassen muß, keine Gelegenheit versäume, wo ich mir diesen behäglichen Lebensgenuß verschaffen kann.

[100] Einer meiner hiesigen Bekannten, ein Mann von Geist und angenehmem Umgang, der nach Athenischer Art reich ist, und (was hier in den Augen einer gewissen Classe noch mehr zu sagen hat) sein Geschlechtsregister auf mütterlicher Seite von Kodrus ableitet, besitzt ein schönes Landgut auf der Insel Aegina, die nicht viel über zweihundert Stadien 73 von Athen entfernt liegt, und wiewohl von Natur nur ein kahler Felsen, durch eine fünfhundertjährige Anbauung und den Wetteifer ihrer durch Gewerbe und Handelschaft reich gewordenen Einwohner sie auf alle nur mögliche Weise zu verschönern, eines der anmuthigsten Eilande ist, die im Myrtoischen Meer und im Saronischen Meerbusen zerstreut umher liegen. Eurybates (so nennt sich mein Freund), der das vornehmste Fest der Aeginer, die Poseidonia 74, gewöhnlich auf seinem Gute zuzubringen pflegt, bat mich ihm dießmal Gesellschaft zu leisten, und ich nahm seine Einladung um so williger an, da diese Festtage gerade in die schönste Jahreszeit fallen, und durch einen großen Markt belebt werden, der eine Menge Fremde vom festen Lande und den benachbarten Inseln herbeizieht.

Wir hatten bereits einige Tage in allerlei festlichen Lustbarkeiten verlebt, als Eurybates mir den Antrag machte: ob ich nicht Lust hätte, den Abend in Gesellschaft der schönen Lais 75 zuzubringen? Er setzte, vermuthlich um mir desto mehr Lust zu machen, hinzu: »wenn ich meinen Augen glauben darf, so ist schwerlich ein Weib im ganzen Griechenlande, das ihr den Preis der Schönheit streitig machen kann.« Da mir die Landessitte bekannt ist, so konnt' ich natürlicherweise nichts anders denken, als die Rede sey von einer Hetäre, mit deren [101] Gesellschaft Eurybates seine Freunde diesen Abend zu bewirthen gedenke; und, wiewohl ich bisher den Umgang mit Frauenzimmern aus dieser Classe immer zu vermeiden suchte, so kamen doch hier mehrere Umstände zusammen, die eine Ausnahme schicklich zu machen schienen. Kurz, ich sagte meinem Wirthe, es werde mir um so angenehmer seyn, ihm eine so interessante Bekanntschaft zu danken zu haben, da ich gestehen müßte, daß ich eine Art von Ideal in meinem Kopfe hätte, dem die schöne Lais den Vorzug abzugewinnen einige Mühe haben würde. Indessen kam der Abend heran, und wie ich eben mit Verwunderung zu bemerken anfing, daß sich nirgends eine Anstalt zu einem Gastmahl im Hause zeigte, kam Eurybates, mir zu sagen, es wäre nun Zeit ihm zu seiner schönen Nachbarin zu folgen. – Zu welcher Nachbarin? – »Zu welcher andern als der schönen Lais, die vor einigen Tagen hierher gekommen ist, um von einem kleinen Gute Besitz zu nehmen, das ihr durch den Tod eines Freundes zugefallen ist, und das glücklicherweise unmittelbar an das meinige stößt.« – Die Rede ist also nicht von einer Hetäre? sagte ich. – »Nun ja, Hetäre oder auch nicht Hetäre, wie du willst; im Grunde läßt sie sich nicht wohl in eine andere Classe stellen, wenn sie ja classificiert seyn muß: aber dann ist sie eine Hetäre, wie es, zwei oder drei ausgenommen, noch keine gegeben hat. Sie kommt nicht zu uns, mein guter Aristipp; man muß zu ihr kommen, und auch dieß ist eine Gunst, die nicht jedem zu Theil wird, der sie allenfalls bezahlen könnte. Die schöne Lais liebt ausgesuchte Gesellschaft, und dem müssen die Grazien sehr hold seyn, der ihr bis auf einen gewissen Grad gefallen zu können [102] hoffen darf. Ohne diese Bedingung ist sie, wie man sagt, um keinen Preis zu haben. Ob es immer so seyn werde, läßt sich vielleicht, ohne sich an Amor und Aphrodite zu versündigen, bezweifeln; daß es aber jetzt so sey, ist um so glaublicher, da sie kaum zwanzig Jahre zählt, und von ihrem ersten Liebhaber in einer sehr glücklichen Lage hinterlassen worden ist.«

Dieser Vorbericht spannte meine Neugier und Erwartung so stark, daß mir der Weg, der uns nach dem Hause der schönen Korintherin führte, dreimal länger vorkam als er in der That war. Wir fanden sie in einem geräumigen, auf Ionischen Marmorsäulen ruhenden Gartensaale, von einem kleinen Kreise dem Ansehn nach feiner junger Männer umgeben, und, wie es schien, in einem lebhaften Gespräche begriffen. Schon von ferne, bevor es möglich war ihre Gesichtszüge genau zu unterscheiden, däuchte mir ihre Gestalt die edelste, die ich je gesehen hätte. Ihr Anzug war mehr einfach als gekünstelt und eher kostbar als schimmernd; leicht genug, um einen Bildner, der keine schöne Form unangedeutet lassen will, zu befriedigen, aber zugleich so anständig daß selbst die Grazie der Scham nicht untadeliger bekleidet werden könnte. – Die hat einen feinen Tact für ihre Kunst, dachte ich. Aber stelle dir vor, mein Freund, wie gewaltig ich überrascht wurde, da ich ein paar Schritte näher die nämliche Dame in ihr zu erkennen glaubte, mit welcher ich vor drei Jahren zu Korinth auf eine so seltsame Art in Bekanntschaft gekommen war, ohne damals ihren Stand und Namen erfahren zu können. Ich mußte alle meine Gewalt über mich selbst zusammenraffen, um der edeln Unbefangenheit, womit [103] sie mich empfing, keine größere Betroffenheit entgegenzusetzen, als sich allenfalls mit der Wirkung ihrer Schönheit auf jeden, der sie zum erstenmale sah, entschuldigen ließ. Daß ich es wollte, war ich mir deutlich genug bewußt; doch zweifle ich sehr, ob es mir in der ersten Viertelstunde so gut gelang als ich wünschte; denn gewöhnlich verräth einer durch die Bemühung, etwas unter seinem Mantel zu verbergen, daß er etwas verberge, und dieß ist genug, um die Aufmerksamkeit aller Umstehenden zu erregen. Das Wahre ist, daß die Furcht mich zu irren und das Verlangen mich nicht zu irren, den Blicken, womit ich sie durch und durch zu erspähen und nach allen Dimensionen auszumessen scheinen mußte, mir (wie sie mir in der Folge selbst sagte) etwas zu gleicher Zeit so schüchtern Unverschämtes, Gieriges und Erstauntes gab, daß sie selbst Mühe gehabt hätte sich in gehöriger Fassung zu erhalten, wenn sie nicht auf diese, bloß von meiner Seite unerwartete Zusammenkunft vorbereitet gewesen wäre. In der That hatte sie sich in den drei Jahren, die seit der ersten verflossen waren, dermaßen verschönert, daß, ungeachtet das Bild meiner Korinthischen Anadyomene noch wenig in meiner Erinnerung verloren hatte, oder vielmehr eben deßwegen, ein kleines Mißtrauen in meine Augen oder in mein Gedächtniß ganz natürlich war. Sie war indessen merklich größer geworden, und die Blüthe ihrer prächtigen Gestalt schien so eben den Augenblick der höchsten Vollkommenlieit erreicht zu haben; den Augenblick, wo die Fülle der hundertblättrigen Rose sich nicht länger in der schwellenden Knospe verschließen läßt, sondern mit Gewalt aufbricht, um ihre glühenden Reize der Morgensonne [104] zu entfalten. Dieß verbreitete einen so blendenden Glanz um sie her, daß ich, wiewohl die Aehnlichkeit mit sich selbst zu entschieden war um nicht jeden aufsteigenden Zweifel sogleich wieder niederzuschlagen, doch nicht aufhören konnte, mich durch immer wiederholtes Anschauen von einer so angenehmen Wahrheit immer gewisser zu machen. Bei allem dem behielt ich doch noch so viel Besonnenheit, um, zu meinem Troste, wahrzunehmen, daß die andern Anwesenden (den einzigen Eurybates vielleicht ausgenommen), jeder für sich zu stark mit unsrer schönen Wirthin beschäftigt waren, um sich viel um mich zu bekümmern. Auch blieb mir nicht unbemerkt, daß sie selbst am wenigsten gewahr zu werden schien, daß etwas Besonderes in mir vorgehe; und wenn mich ein paar verstohlne Seitenblicke nicht verständiget hätten, würde die höfliche Kälte, womit sie sich gegen mich benahm, neue Zweifel haben erregen müssen. Diese nur mir verständlichen Blicke sagten mir so zuverlässig sie sey es, daß keine Möglichkeit zu zweifeln übrig blieb; und nun war es auch um so viel leichter, die Rolle einer ganz neuen Bekanntschaft natürlich genug zu spielen, um selbst den beobachtenden Eurybates dadurch zu täuschen, und den leisesten Verdacht eines frühern Verhältnisses zwischen uns unmöglich zu machen. Ich überließ mich jetzt mit meinem gewöhnlichen Frohsinn oder Leichtsinn, wenn du willst, dem heitern Genuß des schönsten Abends, den ich bisher erlebt hatte, und ich wollte alles in der Welt wetten, daß Tantalus an der Tafel Jupiters nicht halb so glücklich war, als ich im Speisesaal dieser irdischen Göttin, welche, nicht zufrieden, uns mit dem Ambrosia und Nektar ihrer [105] Schönheit und ihres Witzes zu sättigen, außerdem noch allem aufgeboten hatte, was Land und Meer und die Kunst eines Korinthischen Kochs vermochte, um selbst den Gaumen eines Sybariten zu befriedigen.

Nimm es als einen Beweis der Stärke meiner Liebe zu dir auf, daß ich in diesen Stunden der süßesten Seelenberauschung, wo es so leicht war, ein letheisches Vergessen alles dessen, was man sonst liebte, aus den Augen dieser neuen Circe zu trinken, mehr als einmal herzlich wünschte: möchte doch mein Kleonidas hier seyn, wär' es auch auf Gefahr seiner ersten Liebe ein wenig ungetreu zu werden! Es ist, denke ich, dem Menschen überhaupt, und vor allen dem Künstler, zuträglich, in allen Gattungen und Arten das Höchste gesehen zu haben.

Eine vollkommene Schönheit ist in Griechenland und vermuthlich allenthalben etwas sehr Seltenes; die Vereinigung einer solchen Schönheit mit geistigen Reizungen noch seltner. Dieß vorausgesetzt, ist die schöne Lais unter den Griechischen Weibern, was der Phönix unter den Vögeln ist. Ich habe die berühmte und von Sokrates selbst geschätzte Aspasia, wiewohl in einem schon ziemlich vorgerückten Alter, mehrmal gesehen und gesprochen; sie kann selbst in der Blüthe ihrer Schönheit nie ein Recht gehabt haben, mit Lais um den goldnen Apfel zu streiten. An Stärke des Geistes und an Kenntnissen mag ihr vielleicht der Vorzug bleiben; aber an Lebhaftigkeit und Vielgestaltigkeit des Witzes und der Laune ist Lais vielleicht einzig. Die feinsten Wendungen der scherzenden oder nur leicht ritzenden Ironie sind ihr so geläufig, als [106] ob sie bei meinem alten Mentor in die Schule gegangen wäre. Sie spricht gern und viel, und findet immer den zierlichsten Ausdruck und das rechte Wort ungesucht auf ihren Lippen.

Ohne wie Kassandra 76 vom Delphischen Gotte besessen zu seyn, glaube ich voraus zu sehen, daß diese neue Helena in ihrer Art wenigstens eben so viel Un heil unter den ohnehin so leicht entzündbaren Griechen unsrer Zeit anrichten wird, als die Tochter der Leda unter den Achäern und Trojanern des heroischen Zeitalters. Was sie in meinen Augen am gefährlichsten macht, ist ein gewisser unnennbarer Zauber, den ein Dichter mit den unsichtbaren und unzerreißbaren Schlingen vergleichen würde, welche Homers Vulcan aus hinterlistigen Absichten um das Lager seiner treuen Gemahlin legte. Weil ich mich nicht gern mit unerklärbaren und nichts erklärenden Wörtern behelfe, so habe ich in aller Stille ausfindig zu machen gesucht, worin dieser magische Iynx 77 (mit Sokrates zu reden) eigentlich bestehe, und, so viel ich jetzt davon sagen kann, dünkt mich, er liege darin, daß sie sich aller ihrer Reizungen immer bewußt ist, ohne daß es scheint, als ob sie ihrentwegen Anspruch an große Bewunderung mache, oder mit geheimen Anschlägen auf Eroberungen umgehe. Sie scheint in vollkommener Selbstgenügsamkeit sich mit der Gewißheit zu befriedigen, es hange nur von ihr ab, sobald sie Lust dazu habe, jeden Sterblichen zum Gott und jeden Weisen – zum Narren zu machen; da es hingegen in keines Mannes Gewalt stehe, mehr über sie zu gewinnen, als sie ihm freiwillig einzuräumen geneigt sey. Sie bedient oder [107] begibt sich dieses Vorrechts mit gleicher Sorglosigkeit, ohne Anschein einer besondern Absicht; aber wenn sie sich dessen bedient, thut sie es öfters mit einem Muthwillen der an Grausamkeit gränzt, wiewohl es vielleicht bloßer Naturtrieb, ihre Macht zu versuchen, seyn mag. Sie schießt ihre Strahlen umher, wie die Sonne die ihrigen ergießt, unbekümmert wohin sie fallen und wie sie wirken, ob sie erwärmen und beleben, oder auftrocknen, versengen und zerstören. Daß die Sprache der Griechen keinen Namen für diesen gefährlichen Charakter hat, beweiset vermuthlich, daß die schöne Lais in ihrer Art die erste ist.

Ich sehe dich für die Freiheit und Ruhe deines Aristipp zittern; aber sey unbesorgt, mein Freund! Der Salamander, sagt man, befindet sich sehr wohl in eben dem Feuer, worin andre lebendige Wesen verzehrt werden. Ich schwöre dir, daß ich in meinem Leben nie freier, heitrer und aufgeräumter war als diesen Abend. Nicht als ob ich mich einer Gleichgültigkeit rühmen wolle, die mir im Grunde wenig Ehre machen würde; genug, Lais selbst scheint zu merken, daß sie an einen jungen Mann gerathen ist, den Hermes mit dem berühmten Kräutchen Moly 78, das alle Bezauberung unkräftig macht, bewaffnet hat, und ich denke wir wollen noch sehr gute Freunde werden. Ueberdieß war auch hier keine Ursache zur Eifersucht; ich sahe keinen Begünstigten; und wie hätte ich mich darüber ärgern sollen, gerade so viele Nebenbuhler zu sehen als Personen zugegen waren? Das wird nun einmal in den nächsten zehen oder zwanzig Jahren nicht anders seyn. Alles kommt darauf an, nicht ob man ihr gefallen will [108] (wer wollte das nicht?), sondern ob man ihr gefällt, und das muß man den Göttern und ihrer Laune anheimstellen. Ausschließliche Anmaßungen an ein solches Wesen machen zu wollen, wäre, nach meiner Vorstellungsart, als wenn Einer Sonne und Mond für sich allein behalten wollte. Wenn ich auch die Macht des großen Königs 79 besäße, ich würde schwerlich thöricht genug seyn, ein solches Unrecht an ihr und an mir selbst zu begehen. Wer wäre berechtigt frei zu seyn, wenn ein so hoch von der Natur begünstigtes Weib es nicht seyn sollte? Und wie wenig müßte der seinen eigenen Vortheil kennen, der, wenn er es auch vermöchte, die Liebesgöttin zu seiner Sklavin machen wollte?

Wir brachten einen Theil der Nacht mit den gewöhnlichen Ergötzlichkeiten zu, womit die Griechen ihre Symposien zu würzen pflegen. Die schöne Lais hat verschiedene niedliche junge Sklavinnen, die mit Fertigkeit tanzen, singen und auf allen Arten von besaiteten Instrumenten spielen. Die Unterhaltung wechselte bald mit muntern Gesprächen, bald mit Musik und mimischen Tänzen ab, und die Dame des Hauses selbst war so gefällig, oder (wie es einige von uns nannten) so grausam, uns zum Abschied mit einer wahren Sirenenstimme ein süßes Liedchen von Anakreon zu singen, wobei vermuthlich jedermann eben dasselbe fühlte, was Odysseus als der einladende Zaubergesang der Töchter des Achelous über die Wellen zu ihm herüber schallte; und im Weggehen versicherte mehr als Einer, daß er die Erlaubniß zu bleiben mit dem Schicksal der Unglücklichen, die in die Klauen jener mörderischen Sängerinnen geriethen, nicht zu theuer erkauft gehalten [109] hätte. Daß ich keiner von diesen war, kannst du mir auf mein Wort glauben.

Es hatte sich zufälligerweise gefügt, daß ich an diesem Tage den Ring am Finger trug, in welchen ich die Haare meiner Korinthischen Unbekannten hatte fassen lassen; und so konnt' es nicht wohl fehlen, daß ich Gelegenheit fand, ihr meine Hand, als wie von ungefähr, nahe genug zu bringen, daß sie ihr durch den Druck einer Feder aus dem Kasten des Rings heraufgebrachtes Geschenk erkennen konnte. Ein leises Erröthen und ein lächelnder Blick, der unsre alte Bekanntschaft zu gestehen schien, versicherte mich dessen, und mehr verlangte ich für dießmal nicht.

14. An Ebendenselben
14.
An Ebendenselben.

Diesen Morgen zog mich, ich weiß nicht was – oder vielmehr, ich wußte sehr wohl was – in das anmuthige Platanenwäldchen, das die Gränze zwischen dem Landgute meines Wirths und den Gärten der schönen Lais zieht. Es stände jetzt nur bei mir, lieber Kleonidas, dir weiß zu machen, daß ich so gut wie mein alter Sokrates einen kleinen Dämon in meinen Diensten habe, und das noch dazu mit dem Vorzuge, daß der meinige, anstatt mich (wie der Sokratische) bloß abzumahnen wenn ich etwas nicht thun soll, mir z.B. ganz vernehmlich zuflüsterte: wenn du in das Platanenwäldchen [110] gingest, würdest du einer schönen Nymphe begegnen, die vermuthlich so wenig vor dir davon liefe als du vor ihr. Ich will aber ehrlich mit dir verfahren, und nicht mehr aus mir machen als sich gebührt; und so kannst du dir die Sache, wenn du willst, ganz natürlich vorstellen. In beiden Fällen wird das Nämliche herauskommen. Denn kurz und gut, als ich auf meinem Spaziergange an die Gartenhecke unsrer Nachbarin kam, sah ich sie durch eine halb offne Thür, in einem zierlichen Morgenanzug, beschäftigt einige so eben aufbrechende Rosen im Gebüsch abzuschneiden, und dazu eines von Anakreons Liedern auf die Rose halb zu singen, halb zu sumsen, wie man zu singen pflegt, wenn man nur sich selbst zum Zuhörer hat. Sie erblickte mich sogleich, indem ich mit der dreisten Schüchternheit, die mir (wie die Mädchen sagen) so wohl ansteht – vermuthlich weil etwas Kunst dabei ist – gleichsam ungewiß, ob ich es wagen dürfe weiter zu gehen, in der Thür stehen blieb. Sie kam mir einige Schritte entgegen. Du scheinst, fiel sie mir ins Wort, da ich eine Entschuldigung zu stottern anfing, mit einer Gabe zu glücklichen Würfen geboren zu seyn, Aristipp. Wer hätte gedacht, daß wir uns in weniger als zwei Jahren zu Aegina wiedersehen würden? – Und das in einem so reizend aufblühenden Rosengebüsche, setzte dein Freund hinzu. – »Glaubst du auch an Vorbedeutungen?« – Wenn sie meinen Wünschen entgegenkommen, ja. – »Da du dich nun einmal (versetzte sie lächelnd) eben so unschuldig, wie ich glauben will, als ehmals zu Korinth, in mein Gebiet verirrt hast, würde mir's übel ziemen dich unbewirthet zu entlassen. Ich will das Frühstück in die Myrtenlaube [111] dort bringen lassen, und wir setzen uns zusammen und schwatzen die Morgenstunden vorbei, wenn du nichts Angenehmeres zu versäumen hast.«

Meine Antwort kannst du leicht errathen, Kleonidas; aber was du vielleicht nicht errathen hättest, war, daß es unvermerkt Mittag und Abend wurd, ohne daß wir eher ans Abschiednehmen dachten, bis uns die untergehende Sonne daran erinnerte. Das Benehmen meiner schönen Wirthin war munter, offen und absichtlos, immer anständig und edel, ohne Ziererei und Ansprüche, und doch zugleich so traulich, als ob wir nicht anders als Freunde seyn könnten. Mit Einem Worte, du kannst dir nichts Liebenswürdigeres denken als sie, und keinen glücklichern Sterblichen als mich, der, im Genuß des Gegenwärtigen gänzlich befriedigt, keinen Augenblick Zeit hatte zu denken daß noch viel zu wünschen übrig sey, und (was dir vielleicht unglaublich scheinen mag) auch nicht durch die leiseste Begierde daran erinnert wurde. Dieß ist, denke ich, die natürliche Wirkung der vollkommenen Schönheit, wenigstens auf einen Menschen meiner Sinnesart; und hätten die Grazien nicht so viel Reiz und Anmuthendes über alles was sie sagt und thut, bis auf die leiseste Bewegung der Falten an ihrem Gewand, ausgegossen, ich glaube ich könnte Jahre lang täglich um Lais gewesen seyn, ohne jemals aus dem süßen Schlummer, worin ihr Anschauen meine Sinne ließ, aufzuwachen. Seltsam wirst du sagen; aber so ist's! Oder vielmehr, so war und blieb es – rathe wie lange? – Beim Poseidon! Vier ganzer Sommertage lang; und ohne einen zufälligen Umstand, der dir die Sache zu gehöriger Zeit begreiflich [112] machen wird, dürften es vielleicht, Amor und Aphrodite verzeihen mir's! eben so viele Wochen oder Monate gewesen seyn.

Daß neu angehende Freunde, wovon der eine aus Cyrene und der andere aus der Pelopsinsel kommt, einander ihre Geschichte erzählen, versteht sich von selbst. Die meinige war bald abgethan, wiewohl Lais nicht glauben wollte, daß ich noch so sehr Neuling sey, als ich, mit völliger Wahrheit wie dir bekannt ist, zu seyn vorgab, oder vielmehr mit Bescheidenheit andeutete. Die ihrige war indessen nicht viel reicher an Abenteuern; und da du das Beste an ihrer Erzählung, den Zauberklang ihrer Stimme und den Geist ihrer Augen entbehren mußt, so will ich sie so kurz als möglich zusammenfassen.

Lais wurde zu Hykkara in Sicilien geboren. Sie erinnerte sich, daß sie in einem großen Hause auferzogen wurde, und daß ihr zwei Sklavinnen zu ihrer Besorgung zugegeben waren. Sie war ungefähr sieben Jahr alt, als sie das Unglück hatte (ich nenn' es Glück, und du wirst mir's nicht verdenken), bei Eroberung und Zerstörung ihrer Vaterstadt durch den bekannten Athenischen Feldherrn Nikias, vermöge des barbarischen Rechts des Sieges, das unter unsern Völkern zu ihrer Schande noch immer gilt, in die Sklaverei zu gerathen, und mit andern Kindern ihres Alters an den Meistbietenden verkauft zu werden. Leontides, ein reicher Korinthischer Eupatride, kaufte sie, und bezahlte sie beinahe so theuer, als ein marmornes Mädchen von einem Polyklet oder Alkamenes. Dieser Leontides war immer ein großer Liebhaber aller schönen Dinge gewesen; und wiewohl er im Dienste der Paphischen [113] Göttin bereits grau zu werden begann, oder vielmehr eben deßwegen, kam er auf den Gedanken, sich an der kleinen Laidion Trost und Zeitvertreib für seine alten Tage zu erziehen. Er ließ ihr also Unterricht in allen Musenkünsten und überhaupt eine so liberale Erziehung geben, als ob sie seine Tochter gewesen wäre, ergötzte sich in der Stille an ihren schnellen Fortschritten, und belohnte sich selbst zu rechter Zeit für alles, was er auf sie gewandt hatte, so gut als Gicht, Podagra und Hüftweh es erlauben wollten. Dagegen betrug auch sie sich so gefällig und dankbar gegen ihn, und leistete ihm die Dienste einer Krankenwärterin etliche Jahre lang mit so viel Sorgfalt, Geschicklichkeit und gutem Willen, daß er ihr seine Erkenntlichkeit nicht stark genug beweisen zu können glaubte. Sie lebte in seinem Hause als ob sie seine Gemahlin wäre, schaltete nach Belieben über sein Vermögen, und durfte sich der Freiheit, die er ihr geschenkt hatte, um so unbeschränkter bedienen, da er Ursache zu haben glaubte, sich auf ihre Klugheit und Bescheidenheit zu verlassen. In dieser Lage befand sie sich, als ich, durch den bewußten Zufall, eine Art von Aktäon (wiewohl mit besserm Glück) bei ihr zu spielen berufen wurde; und der plötzliche Einfall, sich auf Unkosten eines zudringlichen Unbekannten eine kleine Lust zu machen, wobei sie selbst nichts zu wagen sicher war, hätte einer lebhaften jungen Sicilianerin, welche die schönste Blumenzeit ihres Lebens einem abgelebten gichtbrüchigen Liebhaber aufzuopfern sich gefallen ließ, von meinem runzligen Freunde Antisthenes selbst nicht übel gedeutet werden können. Bald nach dieser Begebenheit starb der alte Leontides, und hinterließ seiner schönen Wärterin die [114] Freiheit zu leben wie und wo sie wollte, nebst einer beträchtlichen Summe an baarem Gelde und dem zierlichen Landsitz zu Aegina, der zwar von keinem großen Ertrag, aber durch seine reizende Lage und die Schönheit der Gebäude und Gärten beinahe so einzig in seiner Art ist, als seine Besitzerin in der ihrigen.

Die schöne Wittwe des Korinthischen Eupatriden befindet sich nun, wie du siehest, in einer Lage, die derjenigen ziemlich ähnlich ist, in welche Prodikus seinen jungen Hercules auf dem Scheidewege 80 setzt. Zwey Lebenswege liegen vor ihr, zwischen welchen sie, wie sie selbst glaubt, wählen muß. Soll sie, kann sie, bei diesem lebhaften Bewußtseyn einer Schönheit und einer Zaubermacht, die ihr, sobald sie will, alle Herzen und alle Begierden unterwirft, bei solchen Talenten und einem Triebe zur Unabhängigkeit, dessen ganze Stärke sie in ihrer vorigen Lage kennen zu lernen Gelegenheit hatte, sich entschließen, mit Aufopferung ihrer Freiheit und ihres ganzen Selbst an einen Einzigen, das ist, mit Gefahr einer ewigen Reue, sich in die venerable Gilde der Matronen einzukaufen? – oder soll sie, mit Verzicht auf diesen ehrenvollen Titel, sich auf immer der reizenden Freiheit versichern, nach ihrem eignen Gefallen glücklich zu seyn, und glücklich zu machen wen sie will.

Es müßte einem Paar hochweiser Zottelbärte komisch genug vorgekommen seyn, wenn sie, hinter unsrer Myrtenlaube verborgen, eine junge Dame wie Lais, und einen schwarzlockigen wohlgenährten Philosophen von zweiundzwanzig Jahren, mit einer zwischen Pythagorischer Sophrosyne 81, Sokratischer Ironie, [115] und Aristophanischer Leichfertigkeit leise hin und her schwebenden Miene, in der ernstlichsten Conferenz über diese Frage hätten behorchen können. Nichts müßte ihnen lustiger vorgekommen seyn, als das anscheinende Vertrauen der jungen Schönen zu der Weisheit eines beinahe eben so jungen Freundes, dessen eigenes Interesse bei der Sache stark genug in die Augen fiel, um ihr seinen Rath auf jeden Fall verdächtig zu machen.

Das Wahrste bei dieser Berathschlagung war indessen, daß die schöne Lais recht gut wußte, wozu sie sich bereits entschlossen hatte. Vermuthlich war es ihr mehr darum zu thun, mir ihre eigene Art über diese Dinge zu denken mitzutheilen, als sich in der Meinung, daß ich sie nicht anders als billigen könne, zu bestärken. Dieß glaubte ich in ihren Augen zu lesen, da sie, nachdem sie das Problem besagtermaßen gestellt hatte, sich auf einmal mit der treuherzigen Frage an mich wandte: was räthst du mir nun, Aristipp? – Sage mir deine Meinung ohne Zurückhaltung, und, wenn du die Forderung nicht unbillig findest, so unbefangen, als ob du der Mann im Monde wärest, und einer Bewohnerin des Hesperus rathen solltest.

Was du von mir verlangst, schöne Lais (antwortete ich ihr), ist eben nicht ganz so leicht als du zu glauben scheinst. Indessen wär' es mir wenig rühmlich, wenn ich schon zwei Jahre um den weisesten aller Menschen (mit der Delphischen Priesterin zu reden) gewesen wäre, und nicht wenigstens eine Hand voll brauchbarer Maximen auf die Seite gebracht hätte, womit ich mir und andern bei Gelegenheit aushelfen könnte. Eine dieser [116] Maximen ist: wenn ich um Rath gefragt werde, immer zu rathen was mir wirklich für die fragende Person das Beste scheint; aber zugleich ehrlich zu gestehen, daß, wofern ich selbst auf irgend eine Art dabei betroffen bin, immer auch, mit oder ohne klares Bewußtseyn, einige Rücksicht auf meine eigene Wenigkeit dabei genommen wird. So würde ich z.B. wenn ich dächte, daß eine geheime Vorliebe zu dem ehrsamen Matronenstande in deinem schönen Busen schlummere, und ich selbst etwa der Glückliche sey, mit dem du deine Freiheit in die Schanze zu schlagen Lust hättest, nicht umhin können dich vor mir zu warnen, weil in diesem Falle Zehn gegen Eins zu wetten wäre, daß es uns beide gereuen würde, mich dir gerathen, dich mir gefolgt zu haben. Eine andere meiner Lebensmaximen ist, meine Handlungen so wenig als möglich von den Meinungen andrer Leute abhangen zu lassen. Ich müßte mich sehr irren, wenn diese Regel nicht auch für dich gemacht wäre. Endlich ist auch bei mir festgesetzt, daß die Person den Stand, nicht der Stand die Person adeln muß. Ich sehe keine Unmöglichkeit, warum ein junges Frauenzimmer von deinen seltenen Vorzügen, in der unabhängigen Lage worein dich dein alter Patron gesetzt hat, unter dem Schutz der Grazien nicht so viel Freiheit, als ihr selbst zuträglich ist, mit einem gehörigen Betragen, dem die Welt ihren Beifall nie versagt, sollte vereinigen können. Mein Rath, schöne Freundin, wäre also – mit mehr oder weniger Rücksicht auf meine Maximen, wenn du willst, zu thun was dir dein Herz und deine Klugheit eingeben.

Ich bin mit deinem Rath vollkommen zufrieden, weiser [117] Aristipp, versetzte sie mit einem Lächeln, wie die Augen der Liebesgöttin lächeln mögen, wenn ihr Blick von ungefähr in einen Spiegel fällt. Höre mich also an, mein Freund; denn ich will mich dir so unzurückhaltend erklären, wie Personen meines Geschlechts kaum mit sich selbst zu reden pflegen. Ich habe noch so wenig Gelegenheit gehabt die Stärke oder Schwäche meines Herzens aus Erfahrung kennen zu lernen, daß es Vermessenheit wäre, wenn ich, wie der Sohn der Amazone 82 beim Euripides Amorn und seiner Mutter Trotz bieten wollte. So weit ich mich indessen kenne, scheint es nicht als ob die Leidenschaft, die der besagte Dichter an seiner Phädra so unübertrefflich schildert, jemals mehr Gewalt über mich erhalten werde, als ich ihr freiwillig einzuräumen für gut finde; und ich wünsche vor jeder andern Thorheit so sicher zu seyn, als vor dem lyrischen Einfall, aus Liebe zu irgend einem Phaon der schönen Sappho den Sprung vom Leukadischen Felsen nachzuthun. Bei allem dem gestehe ich gern, daß ich den Umgang mit Männern eben so sehr liebe, als mir die Unterhaltung mit den Griechischen Frauen vom gewöhnlichen Schlage unerträglich ist. Du weißt vermuthlich, wie wenig bei der Erziehung der Griechischen Töchter in Betrachtung kommt, daß sie auch eine Seele haben, und daß die Seele kein Geschlecht hat. Sie werden erzogen um so bald als möglich Ehfrauen zu werden; und der Grieche verlangt von seiner ehlichen Bettgenossin nicht mehr Geist, Talente und Kenntnisse, als sie nöthig hat, um (wo möglich) schöne Kinder zu gebären, ihre Mägde in der Zucht zu halten, und die Geschäfte des Spinnrockens und Webestuhls zu besorgen. Ist sie überdieß [118] sanft, keusch und eingezogen, trägt sie wie die Schnecke ihr Gynäceon 83 immer auf dem Rücken, und verlangt von keinem andern Manne gesehen zu werden als von ihm, läßt sich an und von ihm alles gefallen, und glaubt in Demuth, daß es keinen schönern, klügern und bravern Mann in der Welt gebe als den ihrigen: so dankt er den Göttern, die ihn mit einem so frommen tugendsamen Weibe beschenkt haben, ist höchlich zufrieden, und hat wahrlich Ursache es zu seyn. Vor der langen Weile, die ihm eine so fromme und tugendreiche Hausfrau machen könnte, weiß er sich schon zu verwahren. Er sieht sie so wenig als möglich: und verlangt er einen angenehmern weiblichen Umgang, so hält er sich irgend eine liebenswürdige Gesellschafterin auf seinen eigenen Leib, oder bringt von Zeit zu Zeit einen Abend mit seinen Freunden in Gesellschaft von Hetären zu. Und wie könnt' es anders seyn, da unsre ehrbaren Frauen, von aller männlichen Gesellschaft zeitlebens ausgeschlossen und auf den Umgang mit ihren Mägden, Schwestern, Basen und Nachbarinnen eingeschränkt, aller Gelegenheit sich zu entwickeln, und die Eigenschaften, wodurch man gefällt und interessant wird, zu erwerben schlechterdings beraubt sind? – Was bleibt also einer jungen Person meines Geschlechts, wenn sie mit der Gabe zu gefallen und einem Geiste, der sich nicht in den engen Raum eines Frauengemachs einzwängen lassen will, von Mutter Natur ausgestattet worden ist, was bleibt ihr anders übrig, als entweder sich selbst und das ganze Glück ihres Lebens der leidigen Landessitte aufzuopfern; oder die Freiheit mit allen Arten gebildeter und liebenswürdiger Männer Umgang zu haben (als das einzige [119] Mittel wie sie selbst entwickelt und gebildet werden kann), dadurch zu erkaufen, daß sie sich gefallen läßt – zu einer Classe gerechnet zu werden, die der weise Solon zwar durch einen schonenden Namen gewissermaßen zu Ehren gezogen hat, die aber doch sowohl durch ihre Bestimmung als den Charakter und die Sitten des größten Theils ihrer Mitglieder von einem unheilbaren Vorurtheil gedrückt wird, und mit einem Flecken behaftet ist, den alle Vorzüge einer Korinna, Sappho und Aspasia nicht auszulöschen vermögen. Oder könntest du mir einen andern Weg, dem gemeinen Schicksal der frommen und tugendhaften Frauen und – der tödlichen Langweile ihres Umgangs zu entgehen, zeigen, Aristipp?

Ich. Wo wolltest du einen Gemahl finden, der dich für das unendliche Opfer, das du ihm bringen müßtest, entschädigen könnte, wenn er auch wollte, und von dem du gewiß wärest, er werde es immer wollen?

Sie. Wenigstens wirst du mir zugeben, daß ich einiges Recht hätte, auch von ihm ein größeres Gegenopfer zu verlangen, als er mir vermuthlich zu bringen geneigt wäre. Und gesetzt er wär' es, glaubst du wohl, selbst ein Gott und eine Göttin könnten, von jeder andern Gesellschaft entfernt, einander lange alles seyn? Ich wenigstens bin mir meines Unvermögens, eine solche Zweisiedlerei in die Länge auszuhalten, vollkommen bewußt. Gute Gesellschaft, oder was in Griechenland wenigstens eben so viel ist, Männergesellschaft, ist für mich ein unentbehrliches Bedürfniß. Ich habe zu wohl erfahren, was es ist, mit einem einzigen Manne und mit lauter Weibern zu leben, um das Experiment zum zweitenmale zu [120] machen! – Es ist also fest beschlossen, Aristipp, ich werde meine Freiheit behalten, und mein Haus wird allen offen stehen, die durch persönliche Eigenschaften oder Talente berechtigt sind eine gute Aufnahme zu erwarten.

Ich. Gegen diesen heroischen Entschluß kann niemand weniger einzuwenden haben als ich. Aber – freilich wirst du – wie du selbst sagtest – in der Welt –

Sie. Nur heraus mit dem Worte! – Für eine Hetäre passiren? Vermuthlich. Aber warum sollt' ich mich über das Vorurtheil, das auf diesem Namen liegt, nicht hinwegsetzen? Jeder Stand in der Gesellschaft hat gewisse Vorurtheile gegen sich. Unsre ehrbaren Matronen passiren, im Durchschnitt genommen, für Gänse und Elstern, oder, falls sie Verstand genug dazu haben, für Heuchlerinnen, die Tag und Nacht auf nichts als Ränke sinnen, wie sie ihre Männer hintergehen, und die Vortheile des Hetärenstandes mit der Achtung, die dem Frauenstande gebührt, zugleich nutznießen wollen; und wenn man die Komödiendichter hört, so ist noch die Frage, ob eine Person von Geist und feinem Gefühl nicht mehr Ehre davon habe, eine so seltne Hetäre wie Aspasia oder Thargelia 84 zu seyn als eine Matrone, wie unter jedem Hundert, nach der gemeinen Meinung, wenigstens drei Fünftel sind. Hier oder nirgends tritt der Fall ein, mein Freund, wo ich sehr Unrecht hätte, meine Entschließung von der Meinung anderer Leute abhängen zu lassen. Ich liebe den Umgang mit Mannspersonen, aber als Männer sind sie mir gleichgültig. Ich kenne sie, denke ich, bereits genug, um die Stärke und den Umfang der Macht zu berechnen, die ich mir ohne Unbescheidenheit [121] über sie zutrauen darf. Ich weiß was sie bei mir suchen; und da es bloß von mir abhängt, sie durch so viele Umwege als mir beliebt im Labyrinth der Hoffnung herumzuführen, so verlass' dich darauf, daß keiner mehr finden soll, als ich ihn finden lassen will; und das wird für die meisten wenig genug seyn. Kurz, du sollst sehen, Aristipp, wie bald die allgemeine Sage unter den Griechen gehen wird, es sey leichter die Tugend der züchtigsten aller Matronen in Athen zu Falle zu bringen, als einer von denen zu seyn, zu deren Gunsten die Hetäre Lais (weil sie doch Hetäre heißen soll) sich das Recht Ausnahmen zu machen vorbehält.

Sie sagte dieß mit einem so reizenden Ausdruck von Selbstbewußtseyn und Muthwillen, daß es mir beinahe unmöglich war, nicht auf der Stelle die Probe zu machen, ob ich vielleicht unter diese Ausnahmen gehören könnte: aber die Furcht, durch ein zu rasches Wagestück mein Spiel auf immer zu verderben, zog mich noch stark genug zurück, daß ich Meister von mir selber blieb. Solltest du, sagte ich, indem ich eine ihrer Lilienhände, die in diesem Augenblick auf ihrem Schooße lag, etwas wärmer als der bloßen Freundschaft zukommt, mit der meinigen drückte, solltest du wirklich hartherzig genug seyn, ein so grausames Spiel mit uns Armen zu treiben, als du dir jetzt einzubilden Belieben trägst? – Hartherzig? versetzte sie mit spottendem Lächeln, ihre Hand schnell unter der meinigen wegziehend, indem sie sich eben so schnell von der Bank, wo wir saßen, aufschwang und wie eine Göttin vor mir stand; zum Beweise, daß ich es wenigstens nicht für dich bin, lass' dir ein für allemal rathen, Freund Aristipp, keine Kunstgriffe [122] bei mir zu versuchen. Unser Verhältniß ist von einer sehr zarten Art; ich erlaube dir den Augenblick zu belauschen, aber hüte dich, ihm zuvorzukommen! Beinahe sollt' ich denken, schöne Lais (erwiederte ich), du seyst bei dem weisen Sokrates in die Schule gegangen – »Wie so?« – Weil die Lehre oder Warnung, die du mir so eben gibst, die nämliche ist, die ich ihn einst einer jungen Hetäre zu Athen geben hörte. – »Du scherzest, Aristipp; wie käm' ein Mann wie Sokrates dazu, sich mit dem Unterricht einer Hetäre abzugeben?« – Du kennest ihn noch wenig, schöne Lais, wie ich sehe. Kein Sterblicher ist freier von Vorurtheilen als er, und das Geschäft seines Lebens ist, allen Arten von Personen, unbegehrt und ohne auf ihren Dank zu rechnen, Unterricht und guten Rath zu geben. Er lehrt einen Gerber besseres Leder machen, einen Tänzer gefälliger tanzen, einen Maler geistreicher malen, einen Hipparchen seine Reiter und Pferde besser abrichten: warum sollte er nicht auch eine unerfahrne aber schöne und lehrbegierige junge Hetäre zur Virtuosin in ihrer Kunst zu machen suchen? – »Du erregst meine Neugier; wolltest du mir wohl das Vergnügen machen, mir alles zu erzählen, was du von dieser sonderbaren Begebenheit noch im Gedächtniß hast?« – Sehr gern; ich erinnere mich noch eines jeden Wortes, wiewohl es schon über Jahr und Tag ist, daß sie sich zugetragen hat. Einer von den Unsrigen, Kleombrotos von Ambracien, ein junger Schwärmer, wenn je einer war, erzählte uns, er habe so eben durch einen glücklichen Zufall Gelegenheit gehabt, das schönste Mädchen in Athen zu sehen, und zwar, wie nicht jedermann sie zu sehen bekomme; denn sie sitze eben einem [123] Maler als Modell. Da er nicht aufhören konnte, von der Schönheit dieser jungen Person als einer unaussprechlichen Sache zu reden, sagte Sokrates endlich lächelnd: wenn das ist, so könntest du uns den ganzen Tag davon sprechen, ohne daß wir ein Wort mehr wüßten als zuvor; denn von einer unaussprechlichen Sache einen Begriff durchs Ohr zu bekommen, ist unmöglich. Da wäre also, sagte dein naseweiser Freund Aristipp, kein andres Mittel uns zu überzeugen, daß Kleombrotos nicht zu viel gesagt habe, wiewohl er eigentlich nichts gesagt hat, als daß wir selbst hingingen und mit eignen Augen sähen. So gehen wir denn, sagte Sokrates. Kleombrotos führte uns also alle, so viel unser gerade um den Meister waren, nach der Wohnung der schönen Theodota, mit welcher er durch seinen Freund, den Maler, schon bekannt war; wir wurden gefällig empfangen, stellten uns in bescheidener Entfernung um den Künstler her, und sahen – was zu sehen war. – War das Mädchen wirklich so schön? unterbrach mich Lais im Ton der vollkommensten Gleichgültigkeit – In der That, antwortete ich in eben dem Ton, schön genug, daß sie mit allen Ehren die Stelle einer von deinen drei Grazien einnehmen könnte. Schmeichler! sagte sie, indem sie mir einen leichten Schlag auf die Schulter gab; ich unterbreche dich nicht wieder.

Als der Maler aufgehört, und die schöne Theodota sich in ein Nebengemach begeben hatte, um ihren Anzug wieder in die gewöhnliche Ordnung bringen zu lassen, warf Sokrates, in einem ihm ganz eigenen unnachahmlichen Mittelton zwischen Scherz und Ernst, die Frage auf: ob wir, die Zuschauer, der [124] schönen Theodota für die Erlaubniß ihre Schönheiten in einen so genauen Augenschein zu nehmen, oder Theodota nicht vielmehr uns für die Beschauung, Dank schuldig sey? und entschied sie, nach Maßgabe des ihr oder ihnen wahrscheinlich daraus zuwachsenden Vortheils oder Nachtheils, zu Gunsten der Zuschauer. Immittelst hatte er, seiner Gewohnheit nach, mit seinen weit hervorragenden scharf blickenden Augen das Innere des ganzen Hauswesens ausgekundschaftet; und als Theodota wieder sichtbar ward, machte er ihr sein Compliment über den reichen und glänzenden Fuß, auf welchem alles bei ihr eingerichtet sey. Das alles setzte er hinzu, muß dich viel Geld kosten, und ein so großer Aufwand setzt ein großes Vermögen voraus. Du hast ohne Zweifel ein schönes Landgut? – Keine Erdscholle, antwortete Theodota etwas schnippisch. – »Also vermuthlich ein Haus, das dir ansehnliche Renten abwirft?« – Auch das nicht, erwiederte sie, indem sie ein paar große Augen an den Mann machte, der einer Unbekannten so sonderbare Fragen vorlegte, und ihr dennoch, seines schlechten Aufzugs ungeachtet, Ehrfurcht und Zutrauen einzuflößen schien. – »Aha! Nun versteh ich; du bist Eigenthümerin einer großen Fabrik, worin eine Menge geschickter Arbeiter Geld für dich verdienen?« – Ich? ich besitze nichts dergleichen. – »Wovon kannst du denn einen solchen Aufwand machen?« – Die Freigebigkeit meiner guten Freunde, erwiederte sie erröthend, und hielt inne – »Gute Freunde? Das gesteh' ich! Da hast du allerdings ein großes Besitzthum. Ein Rudel Freunde ist freilich ein ganz andrer Reichthum als eine Heerde Rinder, Schafe und Ziegen! Aber wie fängst du es an, schöne Theodota, [125] daß du so gute Freunde bekommst? Läßt du es auf den Zufall ankommen, ob sich so ein Freund, wie eine Fliege, von ungefähr an dich setzt, oder gebrauchst du etwas Kunst dazu?« – Ich verstehe dich nicht; wie käme ich zu einer solchen Kunst? »Wenigstens so leicht als eine Spinne. Du weißt doch wie sie es machen, um sich ihren Unterhalt zu verschaffen? Sie weben eine Art feiner Netze; die Mücken verfangen sich darin, und dienen ihnen zur Speise.« – Ich soll also auch so ein Netz weben, meinst du? – »Warum nicht? Du wirst dir doch nicht einbilden, daß ein so köstliches Wildbret, als gute Freunde sind, dir so ohne alle List und Mühe, mir nichts dir nichts, in die Küche laufen werde? Siehst du nicht, wie mancherlei Anstalten die Jäger machen, um nur einen schlechten Hasen zu erhaschen? Weil der Hase immer bei Nacht auf die Weide geht, schaffen sie sich Hunde an, die bei Nacht jagen; und weil er ihnen bei Tage entlaufen würde, halten sie Spürhunde, die, wenn er von der Atzung in sein Lager zurückgeht, seiner Fährte folgen und ihn dort zu fangen wissen. Weil er so schnellfüßig ist, daß er ihnen im Freien gar bald aus den Augen kommt, haben sie Windspiele bei der Hand, die ihn im Laufen fangen; und da er ihnen auch so vielleicht noch entrinnen könnte, stellen sie überall, wohin er seinen Lauf nehmen könnte, Jagdnetze auf, worein er sich verwickeln muß.« – Das alles mag zur Hasenjagd sehr dienlich seyn, sagte Theodota mit einem kleinen spöttischen Naserümpfen; nur sehe ich nicht, welches von diesen Mitteln mir dienen könnte um Freunde zu erjagen. – »Was meinst du, Theodota, wenn du dir statt eines Spürhundes jemand [126] anschaffen könntest, der die Gabe hätte dir die reichen Dilettanten auszuriechen und in deine Netze zu jagen?« – In meine Netze? Was für Netze hätte ich denn? – »Das fragst du, schöne Theodota? Eines wenigstens gewiß, das auf alle Fälle schon weit reicht, und von der Natur selbst gar zierlich gestrickt wurde; und wie kannst du vergessen, daß du in diesem schönen Leibe eine Seele hast, die dich lehren könnte, wie du die Augen brauchen mußt um die Männer durch deine Blicke zu bezaubern; was du reden mußt um sie aufgeräumt und fröhlich zu machen; wie du den, der dich ernstlich liebt, durch die Anmuth deines Betragens fest halten, und den Lüstling, der nur in deinen Reizen schwelgen will, abschrecken und entfernen sollst. Und hast du nicht auch ein Gemüth, das dich an deinem Freunde Antheil nehmen macht? Das dich antreibt die zärtlichste Sorgfalt an ihn zu verschwenden wenn er krank ist; ihm die lebhafteste Theilnehmung zu zeigen wenn er irgend etwas Rühmliches gethan hat, und mit ganzer Seele an ihm zu hangen, wenn er dir Beweise gibt, daß auch er es recht herzlich mit dir meine? Ich zweifle nicht, du kannst mehr als nur liebkosen, du kannst auch lieben; und du machst dir ein Geschäft daraus, die Gewalt, die du über die Gemüther deiner Freunde hast, dazu anzuwenden, sie zu den edelsten und besten Menschen zu machen.« – Ich versichre dich (sagte Theodota, indem sie den Mund mehr als nöthig war aufthat, um uns zwei Reihen der schönsten Perlenzähne zu weisen), von dem allen ist mir nie etwas in den Sinn gekommen. – »Das ist mir leid für dich; denn es ist nichts weniger als gleichgültig, ob man den Menschen gehörig und seiner Natur [127] gemäß behandelt, oder nicht. Mit Gewalt wirst du wahrlich keinen Freund weder bekommen noch behalten; das ist ein Wild, das sich nicht anders fangen und an die Krippe gewöhnen läßt, als daß man ihm wohl begegnet und Vergnügen macht. Das erste also, worauf du zu sehen hast, ist, daß du von deinen Liebhabern nichts verlangest als was sie dir leicht und mit dem wenigsten Aufwand gewähren können; das zweite, daß du ihnen in eben dieser Art keine Gefälligkeit schuldig bleibest. Dieß ist ein unfehlbares Mittel zu machen, daß sie dich immer lieber gewinnen, dich desto länger lieben und desto freigebiger gegen dich sind. Du weißt, warum es ihnen eigentlich bei dir zu thun ist; und es ist wohl nicht deine Meinung die Tyrannin mit ihnen zu spielen. Das, wovor du dich hüten mußt, ist also bloß, vor lauter Gefälligkeit, dem Guten nicht zu viel zu thun. Du siehest daß die leckerhaftesten Gerichte dem, der keine Lust zum Essen hat, nicht schmecken wollen, und dem Satten sogar Ekel erwecken: kannst du hingegen deinem Gaste Hunger machen, so wird ihm auch gemeine Kost willkommen seyn.« – Was müßt' ich denn thun (sagte Theodota mit der schafmäßigsten Miene in einem der schönsten Gesichter), um denen die mich besuchen Hunger zu machen? – »Vor allen Dingen dich wohl in Acht nehmen, ihnen wenn sie satt sind nichts weiter vorzusetzen, geschweige sie noch gar nöthigen zu wollen. Lässest du ihnen Zeit, so wird der Appetit von selbst wiederkommen; wenn du aber siehest, daß dieß der Fall ist, so übereile dich ja nicht; locke sie durch die artigsten Manieren, die feinsten Liebkosungen: sey lebhaft, reizend, sogar muthwillig; aber entschlüpfe ihnen immer wieder wenn sie [128] dich zu haben meinen, und ergib dich nicht eher, bis du gewiß bist daß sie den höchsten Werth auf deine Gefälligkeit legen.« – Diese Lehre schien der jungen Person einzuleuchten. Wenn nur du, sagte sie und lächelte den alten Herrn so holdselig an als ihr möglich war, wenn nur du mir Freunde jagen helfen wolltest? – »Warum nicht, wenn du mich dazu bereden kannst?« – Das möchte ich wohl gern, wenn du mir nur sagen wolltest, wie ich es machen muß. – »Das ist deine Sache; du mußt eine Seite ausfindig machen, wo du mir beikommen kannst.« – So besuche mich nur recht fleißig, lieber Sokrates! – Ich habe nur nicht viel übrige Zeit, meine gute Theodota, erwiederte Sokrates, der des Scherzens mit der albernen Puppe überdrüssig zu werden anfing; meine häuslichen und öffentlichen Geschäfte lassen mir wenig müßige Augenblicke. Auch habe ich eine hübsche Anzahl guter Freundinnen, die mich Tag und Nacht nicht von sich lassen wollen, weil ich sie gar wirksame Liebestränke und Zauberlieder lehre. – Ei, was du sagst! Verstehst du dich auch auf solche Dinge, Sokrates? – »Wie sollt' ich nicht? Meinst du der Apollodor und der Antisthenes hier gehen mir um nichts und wieder nichts nie von der Seite? Oder Cebes und Simmias kommen ohne ihre guten Ursachen bloß meinetwegen bis von Theben hergelaufen? Du begreifst doch daß so was nicht ohne Hexerei und Liebestränke und Zauberschnüre möglich ist.« – So sey so gut und leihe mir eine solche Schnur, damit ich sie gleich auf dich werfen kann. – »Ich will aber nicht zu dir gezogen seyn, sagte Sokrates lächelnd, du sollst zu mir [129] kommen.« – Von Herzen gern, wenn du mich nur annehmen willst. – »Das will ich wohl, es wäre denn daß eben eine bei mir wäre die ich lieber habe.« – Hier endigte sich dieser in seiner Art einzige Sokratische Dialog; 85 wir empfahlen uns und gingen lachend unsres Weges. Schade, sagte Lais, daß so viel Witz und Laune an so ein Attisches Hühnchen verschwendet wurde! Ich hätte mir nie vorgestellt, daß es eine so erzeinfältige Hetäre in einer Stadt wie Athen geben könnte. – Das macht, sie ist eine geborne Athenerin, eines ehrsamen Bürgers Tochter, so wohl erzogen wie du vorhin sagtest daß die Griechischen Töchter beinahe alle erzogen würden, und bloß durch Armuth und Hang zum Müßiggang und zur Ueppigkeit verleitet, sich in eine Profession zu werfen, worin sie, ungeachtet aller Mühe, die sich Sokrates selbst mit ihr gegeben, schwerlich jemals eine Virtuosin zu werden die Miene hat.

Aber weißt du, sagte Lais, daß ich ganz verliebt in deinen Sokrates bin, und große Lust habe, dich nach Athen zu begleiten und seine Schülerin zu werden? – Beim Anubis! fuhr ich etwas unbesonnen heraus, ich traue dir Muthwillen genug zu, einen solchen Einfall, wenn er dich anwandelt, auszuführen. Niemand kann eine größere Meinung von deiner Zaubermacht haben als ich; ich glaube daß dir – alles mögliche möglich ist; und doch wollte ich dir nicht rathen, diese Probe an dem kaltblütigsten Achtundsechziger, den vermuthlich der Erdboden trägt, zu machen – falls es dich etwa verdrießen könnte wenn sie fehl schlüge. – Reize mich nicht, Aristipp! versetzte sie; wer weiß wie weit ich es, trotz [130] seiner achtundsechzig Jahre und seiner Kaltblütigkeit, mit Hülfe seiner eigenen Theorie, bei ihm bringen könnte?

Ich schmeichle mir, Freund Kleonidas, durch die großmüthige Vertraulichkeit, womit ich dich an meinem neuen Verhältniß und der schönen Lais Theil nehmen lasse, einigen Dank von dir zu verdienen; und in dieser gerechten Voraussetzung könnt' ich mich leicht zu der angenehmen Arbeit entschließen, eine Art von Tagebuch über alles Merkwürdige, was während meines Aufenthalts in Aegina vermuthlich noch begegnen wird, für dich zu halten. Freilich werd' ich wenig Zeit zum Schreiben haben, und große Arbeitsamkeit ist leider auch keine meiner glänzendsten Tugenden. Ich will mich also zu nichts anheischig gemacht haben. Ich überlasse mich, wie du weißt, am liebsten den Eingebungen des Augenblicks, und so thue ich oft mehr als ich mir selbst zugetraut hatte.

Mein Wirth Eurybates, der sonst mit Sokratischen Tugenden eben nicht schwer beladen ist, besitzt wenigstens Eine, und gerade die, wodurch er sich jetzt am meisten um mich verdient machen kann, in einem hohen Grade; und das ist die edle Tugend, seinen Freunden nicht durch übermäßige Dienstgeflissenheit lästig zu seyn, und sie ihrer Wege gehen zu lassen, wenn er merkt daß ihnen ein Gefallen damit geschieht. Ich gestehe daß mir anfangs ein wenig bange war, ich möchte ihn bei der schönen Lais in meinem Wege finden. Aber nichts weniger! man sieht ihn nie in ihrem Hause als wenn sie große Gesellschaft hat, und auch dann ist er eine ziemlich seltene Erscheinung, und oft schon wieder verschwunden, [131] ehe man seine Gegenwart recht gewahr wurde. Auch zeigt er nicht die geringste Neugier, von meinem Verhältniß gegen sie mehr zu wissen als andere. Kurz, es ist etwas ganz Exemplarisches, wie wenig wir einander mit unsrer Freundschaft beschwerlich sind. – Ohne Zweifel wundert dich eine solche Gleichgültigkeit gegen eine Nachbarin, wie es keine andere in der Welt gibt? Es ging mir wie dir; ich erkundigte mich unter der Hand ein wenig nach seinem Thun und Lassen, und es entdeckte sich, als ein neues Beispiel der Unlauterkeit aller menschlichen Tugenden, daß – mein Freund Eurybates bis über die Ohren in Liebe zu einer – Dame in Aegina, der Frau eines dasigen Rathsherrn, befangen ist, die ihn so künstlich bei der Nase herumzuführen weiß, daß er sich ihr für das Opfer ihrer Tugend zu gränzenloser Erkenntlichkeit verbunden glaubt, während die gleißnerische Spitzbübin einen geheimen Plan mit ihrem ehrenfesten und wohlweisen Gemahl angelegt hat, ihm ihre besagte Tugend so theuer zu verkaufen, daß er sich für das, was sie ihn kostet, das schönste Haus, die schönsten Gemälde und Statuen, die schönsten Pferde und Hunde, und ein Halbduzend der schönsten Tänzerinnen und Flötenspielerinnen im ganzen Achaja hätte anschaffen können; wiewohl noch viel fehlt, daß sie die schönste Frau auch nur in Aegina wäre. So spielt »der Götter und der Menschen Herrscher Amor« einem Abkömmling des großen Kodrus mit, mein Freund.

15. An Kleonidas
[132] 15.
An Kleonidas.

Vor einigen Tagen langte ein junger Künstler aus Paros auf dem Landsitze der schönen Lais an, um ihr eine beinahe vollendete Venus von Parischem Marmor zu überbringen, welche Leontides, kurz vor seiner Reise in das Land, aus welchem man nicht wiederkommt, bei ihm bestellt hatte. Sie war für einen kleinen Tempel in dem Myrtenwäldchen bestimmt, das einen Theil der weitläufigen Gärten dieser schönen Villa ausmacht; und Lais hatte auf Verlangen ihres Patrons zum Modell dazu dienen müssen. Es versteht sich, daß diese Venus – zwar nur hier und da von einem nebelartigen Gewand umflossen, aber doch nicht gewandlos ist; denn zu einer noch größern Gefälligkeit hatte sich die junge Dame schlechterdings nicht bequemen wollen. Die Stellung, die der Eupatride selbst gewählt hat, und die dir keine schlechte Meinung von seinem Geschmack geben wird, ist der Augenblick, da die junge Göttin zum erstenmal in der Olympischen Götterversammlung erscheint. Die Ausführung läßt von dem jungen Künstler, der sich Skopas 86 nennt, noch viel Schönes und Großes erwarten; aber schwerlich wird er jemals etwas Vollkommneres aufstellen, als der Kopf und der halb entblößte Oberleib dieser Liebesgöttin ist. – »Man verlangt von uns,« sagte mir Skopas, daß wir göttliche Naturen nach einem höhern Ideal bilden sollen als was die menschliche im Einzelnen darstellt: aber hier war die Rede nicht [133] davon mein Modell zu verschönern; mir war nur bange daß ich es nicht würde erreichen können, und in der That bin ich noch nicht mit mir selbst zufrieden. – Ich der das Werk freilich mit keinem Künstlerauge ansah, wußte, sogar wenn Lais dabei stand, nichts zu finden, worin es dem Urbilde noch ähnlicher seyn könnte. Selbst den Geist, der die Beschauer anzusprechen scheint, ein wundervolles unbeschreibliches Gemische von jungfräulicher Befangenheit und innigem Selbstbewußtseyn dessen was sie ist, hat er aus dem Zaubergesichte meiner schönen Freundin herausgestohlen; gleich beneidenswürdig, es mag Geschicklichkeit oder Glück seyn, wodurch es ihm gelang. Fühlt ihr's, scheint sie den um sie her sich drängenden Göttern zu sagen, daß ich die Göttin der Schönheit bin?

Dieser Skopas ist ein sehr interessantes Wesen für mich, und wiewohl viel fehlt, daß ich es auch für ihn seyn müßte, so scheint er doch einiges Belieben an meiner Unterhaltung zu finden, und ich bringe täglich etliche Stunden in seiner Werkstatt zu. Denn außer der besagten Venus hat er noch eine Gruppe des Eros und Anteros, und einige Stücke in halberhabener Arbeit zu fertigen, die für den kleinen Tempel bestimmt sind. Er ist ein helldenkender Kopf, und hat (wie ich sehe) ohne es von Sokrates gelernt zu haben, ausfindig gemacht, daß ein Bild eben so wohl seine eigene Seele zu haben und dessen was es vorstellen soll, sich bewußt zu seyn, als Leben zu athmen, scheinen müsse. Seiner Versicherung nach, hat er es dem berühmten Sophisten Prodikus zu danken, daß er von Natur und Kunst, und von dem was für den Menschen in beiden das Höchste ist, klärere Begriffe hat [134] als die meisten seiner Kunstverwandten. Lais ist nicht selten die dritte Person in seinem Arbeitsaale, und wenn ich zur Eifersucht geneigt wäre, so käm' es bloß auf mich an, in dieser häßlichen Leidenschaft schnelle und große Fortschritte zu machen. Denn es ist nicht zu läugnen, daß Skopas durch seine Venus sich eine Art von Recht an sie erworben hat, und ich müßte mich sehr irren, oder er hat auf ihre Dankbarkeit um so sicherer gerechnet, da er wirklich ein liebenswürdiger junger Mann, und, dem Ansehen nach, von unverdorbenen Sitten ist. Wie ich mich in dieser Lage benehme, fragst du? – wie ein weiser Mann, Kleonidas! Ich scheine nichts zu merken, nichts zu fürchten, nichts vorauszusehen; bin offen und vertraulich gegen meinen Nebenbuhler, freundschaftlich und anspruchlos gegen die Dame des Hauses, und glaube durch dieses Betragen bei der letztern desto mehr zu gewinnen, da der gute Skopas (wie alle Göttermacher, denke ich) ziemlich hitzig ist, und einen zu seinem Nachtheil begünstigten Mitwerber nicht so leicht ertragen könnte als ich, der sich's zum Gesetz gemacht hat, den Grazien keine Gunst weder abverdienen, noch viel weniger abnöthigen zu wollen. Daß wirkliche Gleichgültigkeit die Quelle meiner anscheinenden Ruhe seyn könnte, ist ein Gedanke, der ihr gar nicht in den Sinn kommt.


Gestern traf Lais die Einrichtung, daß wir den ganzen Tag ungestört allein beisammen seyn konnten, weil Skopas noch eine Sitzung nöthig fand, um den Kopf seiner Venus [135] zu vollenden. Gleichwohl schien er selbst nicht recht zu wissen, was noch fehlen sollte, und begnügte sich indessen, hier und da mit leisen Schlägen an den Haarlocken herum zu spielen. In der That hatte er etwas ganz anderes auf dem Herzen, und weil ihm vermuthlich keine feinere Wendung, um die Sache einzuleiten, beifallen wollte, fing er zuletzt an, eine Art von mißmüthiger Laune zu zeigen, zu welcher nirgends ein sichtbarer Grund vorhanden war. Was fehlt dir, Skopas? fragte ihn Lais endlich in einem so sanften Ton, als ein übellauniger Ehemann von der geduldigsten Gattin nur immer verlangen könnte. – »Ich kann es nicht länger verbergen, ich bin ärgerlich, daß einem Bilde wie dieß etwas fehlen soll.« – Und was fehlt ihm denn noch? fragte ich so bescheiden als einem in den Mysterien der Kunst Uneingeweihten gebührt. – Alles, antwortete Skopas. – Alles ist viel, sagte Lais mit einem komischen Zucken der Augenbrauen und Lippen: arme Aphrodite! da müßten wir dich ja gar in irgend einen unzugangbaren Gartenwinkel verbannen?

Skopas. Genug, es fehlt ihr daß sie nicht so schön ist als sie seyn könnte; ich nenne dieß Alles.

Lais. Erkläre dich, lieber Skopas. Du siehest mehr als wir andern. Glaubst du noch etwas verbessern zu können? Bricht sich vielleicht irgend eine Falte nicht zierlich genug? Ich will dir gern noch stehen, so oft und lange du es nöthig findest.

Eine Falte? sagte Skopas mit einem schweren Seufzer; die Falten sind es eben was mich ärgert; die Göttin der Schönheit sollte gar keine Falten haben!

[136] Lais. Also ein nasses Gewand, meinst du?

Skopas. Wozu überall ein Gewand? Kann das verwünschte Gewand, wie leicht es auch geworfen ist, etwas anders thun als die Schönheit umwölken, die, vermöge ihrer Natur, nichts, was nicht wesentlich zu ihr gehört, an sich dulden kann?

Lais. Kommst du wieder auf deine alte Grille?

Skopas. Verzeih', schöne Lais! daß die Göttin der Schönheit auch durch die zierlichste Bekleidung verliert, ist Natur der Sache; das Grillenhafte – es muß nun einmal heraus – ist die falsche Scham, die eines edlen und freidenkenden Wesens unwürdig ist. Daß ein einfältiges Ding von einem Attischen Bürgermädchen, wiewohl es sich den Augen der Künstler ohne Bedenken stückweise vermiethet, sich mit Zähnen und Klauen wehrt, wenn es sein letztes Gewand fallen lassen soll, begreift sich und hat immer seine guten Ursachen. Aber was für einen Grund könnte eine untadelige Schönheit haben, sich verbergen zu wollen? Ohne Verschleierung gesehen zu werden, ist ja ihr höchster Triumph.

Lais. Und wenn sie nun keine Lust hätte sich dem möglichen Fall auszusetzen, von lüsternen Augen entweiht zu werden?

Skopas. Das ist als wenn die Sonne nicht leuchten wollte, um ihr Licht zu keinen schlechten Handlungen herzugeben. Vollkommene Schönheit ist das Göttlichste in der Natur; so betrachtet sie das reine Auge des wahren Künstlers, so jeder Mensch von Gefühl; für beide ist sie ein Gegenstand der Anbetung, nicht der Begierde.

[137] Lais. Das mag von der Göttin selbst gelten, Skopas; aber welche Sterbliche dürfte sich ohne Uebermuth einer vollkommenen Schönheit vermessen?

Skopas. Wenn dieß deine einzige Bedenklichkeit ist, so hab' ich gesiegt. Ich nehme die Verantwortung bei der furchtbaren Nemesis auf meinen Kopf.

Lais. Komm mir zu Hülfe, Aristipp! du siehst mit was für einem verwegenen Menschen ich zu kämpfen habe.

Aristipp. Ich fürchte sehr, du wirst einen schwachen Beschützer an mir haben. Der Genius der Kunst ist auf seiner Seite; das Rathsamste wäre, däucht mich, einen gütlichen Vergleich mit ihm zu treffen.

Lais (in einem tragischen Ton). Auch du gegen mich, du den ich für meinen Freund hielt? Nun dann, wenn ich ja das Opfer seines Eigensinns werden soll.

Skopas. Um Vergebung, schöne Lais! Ich fühle daß mich das Interesse meiner Bildsäule und der Kunst über die Gebühr zudringlich gemacht hat. Ich besinne mich. Es wäre allerdings unbillig – in der That – am Ende bist auch du nur eine Sterbliche –

Aristipp. Mir fällt ein Ausweg ein, der, wofern er deinen Beifall hat, schöne Lais, den Künstler zufrieden stellen könnte. Wenn mich meine Augen nicht sehr getäuscht haben, so ist unter deinen Aufwärterinnen eine, welche völlig deine Größe hat, und, die Gesichtsbildung ausgenommen, dir an Gestalt so ähnlich ist, daß sie in einiger Entfernung leicht mit dir verwechselt werden könnte. Wie wenn du diese an deiner Statt der Kunst Preis gäbest?

[138] Skopas. Dem Aristipp ist's zu verzeihen, einen solchen Vorschlag gethan zu haben; ich machte mich des Namens eines Künstlers auf immer unwürdig, wenn ich ihn annähme. Meine Venus muß in sich selbst vollendet, muß (so zu sagen) eine reine Auflösung des Problems der Schönheit seyn; nicht das leiseste Mißverhältniß darf die vollkommne Symmetrie aller Theile und die höchste Einheit des Ganzen stören.

Lais. Dieses Unglück ist leicht zu verhüten. Wir lassen das Bild, wozu ich selbst, weil es mein ehmaliger Gebieter wollte, zum Modell dienen mußte, wie es ist, wenig und leicht genug bekleidet, sollt' ich denken, um einen nicht gar zu eigensinnigen Kunstliebhaber zu befriedigen; und weil Skopas so große Lust hat, seine Idee einer vollkommenen Schönheit in einer ganz enthüllten Aphrodite darzustellen, so überlasse ich ihm meine Lesbia dazu. Ihr Gesicht mag wohl einiger Verschönerung fähig seyn: aber dafür bin ich gut, daß er im ganzen Griechenland und allen seinen Inseln keinen schönern Körper finden soll.

Skopas. Als den, dessen Hälfte in diesem Bilde eine jede andere, als die Göttin selbst, eifersüchtig machen muß.

Lais. Da mich Skopas aus billiger Rücksicht daß ich doch nur eine Sterbliche bin, und also meine geheimen Ursachen haben kann, ein für allemal dispensirt hat, so kann von mir nicht mehr die Rede seyn.

Ungütige Lais, rief Skopas, gewiß zweifelst du nicht, daß das in einer ganz andern Absicht gesagt wurde?

Wirklich? versetzte sie mit einer naiven Miene, deren Ironie der junge Mann nur zu stark zu fühlen schien; aber [139] was sollte man einem so heißen Liebhaber seiner Kunst nicht zu gut halten? Und wie könnt' ich dir meinen Dank für deine andere Absicht thätiger beweisen, als indem ich dir in meiner Lesbia eine so reiche Entschädigung anbiete? Dieß war zu viel für die Empfindlichkeit und den Stolz eines Künstlers, der sich auf einmal, wiewohl durch seine eigene Unvorsichtigkeit, von einer schon nahe geglaubten Hoffnung herabgestürzt sah. Ich werde mein Aeußerstes thun (sagte er, sich vergeblich bemühend ihre Ironie mit einer eben so naiven Miene zu erwiedern), um dich von dem hohen Werth zu überzeugen, den ich auf die reiche Entschädigung lege, die du mir versprichst. Ich gehe mit deiner Erlaubniß sogleich, um zu dem neuen Werke, das du mir aufträgst, Anstalt zu machen.

Was für ein reizbares Völkchen diese Götter- und Menschenbildner sind, sagte Lais als Skopas sich entfernt hatte. – »Du mußt es ihm zu gute halten, schöne Lais; er fiel auf einmal von einer so schönen Hoffnung herab!« – Aber that ich nicht wohl daran, fuhr sie fort, daß ich seinem grillenhaften Eigensinn nicht nachgab? – Wenn ich meine Meinung unverhohlen sagen soll, erwiederte ich, so ist die Idee der Göttin der Schönheit, wie sie unter den Händen ihrer Dienerinnen, der Grazien, mit ihrem Gürtel geschmückt hervorgeht, erst lebendig in mir geworden, seitdem ich dieses Bild gesehen habe. Skopas hat unstreitig Recht, wenn er behauptet, daß die Bekleidung der Schönheit insofern nachtheilig ist, als sie uns die reinen Formen der bedeckten Theile mehr oder weniger entzieht, und das Ganze mehr errathen als sehen läßt. Aber er hat Unrecht zu vergessen, daß Schönheit [140] mit Grazie in Eins verschmolzen eine viel stärkere Wirkung thut; und ich wenigstens bin überzeugt, daß eine Bekleidung wie diese hier (die Bildsäule stand uns gegenüber) gerade das ist, was jene Vereinigung bewirkt und einen großen Theil ihres Zaubers ausmacht. Während sie die Schönheit des Unverschleierten dem äußern Sinn auffallender macht, setzt sie zugleich den innern in Bewegung, und verdoppelt das Vergnügen des Anschauers, indem sie die Einbildungskraft beschäftigt, mit leiser lüsterner Hand den neidischen Schleier von dem Verhüllten wegzuziehen.

Lais. Das ist es eben was ich meinte.

Ich. Und was ich nicht hätte sagen sollen, denn ich rede gegen mein eigenes Interesse. Vielleicht hättest du mir erlaubt zugegen zu seyn, wenn du dem Verlangen des Skopas nachgegeben hättest? – Du sollst nichts dabei verlieren, daß es nicht geschehen ist, sagte sie, indem sie mir die Hand reichte, und mich durch eine kleine Galerie in einen anmuthigen, einsamen Theil des Gartens führte; ich glaube zu fühlen, daß wir dazu geboren sind Freunde zu seyn. Es gibt keine ewige Liebe; aber Freundschaft ist ewig, oder verdiente diesen Namen nie. – Der Altar hier ist dieser Unsterblichen geheiligt. Hier, Aristipp, lass' uns schwören, Freunde zu bleiben so lange wir leben, und dieser erste Kuß sey das Siegel unsers schönen Bundes. –

Beneide mich nicht zu sehr, guter Kleonidas! Lais ist eine große Zaubrerin; sie läßt immer noch viel zu wünschen übrig, und indem wir uns trennen müssen, wundre ich mich hintennach, [141] wie wenig das war, wodurch sie mich so glücklich wie einen Gott gemacht hatte.

16. An Kleombrotus von Ambracien
16.
An Kleombrotus von Ambracien.

Ich danke dir, Lieber, für die guten Nachrichten, die du mir von unsern Freunden gibst. Mir ist angenehm daß sie die Dauer der Poseidonien zu Aegina so genau ausrechnen; ich nehme es als ein Zeichen ihrer Zuneigung auf, daß sie mich so bald zurück verlangen, wiewohl mir leid wäre, wenn sie aus meinem langen Ausbleiben (wie sie es nennen) das Gegentheil von mir vermuthen wollten. Die Zeit ist vielleicht das zauberartigste Ding in der ganzen Natur, wenn man anders ein Ding nennen kann, was das, was es ist, bloß durch unsre Einbildung und unsern Maßstab wird. Eben dieselbe Zeit, sagt man, die dem Einen eine Stunde däucht, dünkt 87 dem Andern ein Augenblick, dem Dritten ein Tag, dem Vierten ein Jahrhundert. Ich denke man könnte eben so gut sagen, sie ist es, für den nämlich, dem sie es däucht; denn daß sie einem andern mehr oder weniger ist als mir, gibt ihm kein Recht zu fordern, daß es mir auch so seyn soll. Ich bin nun bereits – laß sehen! – zwanzig ..... fünfundzwanzig ... achtundzwanzig ... wahrlich, beim großen Poseidon! einunddreißig Tage hier, und ich versichre dich, heute am Morgen des zweiunddreißigsten, ist mir ich hätte [142] die achtundzwanzig nur geträumt und sey erst vor drei Tagen in Aegina angekommen.

Was für ein Zauber kann das seyn, fragst du, der den kaltblütigen Aristipp zu einem solchen Schwärmer zu machen vermag? – Komm und siehe! – Du bist zu nahe bei mir, um zu erwarten, daß ich Stunden, die ich besser anwenden kann, Stunden die für mich nur Augenblicke und gleichwohl, dem Sonnenzeiger nach, volle Stunden von dreitausend und sechshundert Pulsschlägen sind, dazu verschwenden werde, dich mit schönen Beschreibungen, wie wohl mir's hier geht, zu unterhalten. Komm herüber, lieber Kleombrotus; was hast du in Athen zu versäumen? oder kannst du nicht, wenn du es recht anfängst, für das, was du versäumst, überall Ersatz finden? Was wir in unserm Cirkel zu Athen philosophiren nennen, ist eine sehr gute Sache; nur zu viel ist nicht gut. Auch Aegina wird von den Musen besucht; du wirst sie mitten unter uns, oder uns mitten unter ihnen finden; und (was bei euch nicht immer der Fall ist) Arm in Arm mit den Grazien, und von Amorn mit Blumenketten gebunden. Du bedarfst einer kleinen Unterbrechung deiner gewöhnlichen Studien, die du mit einem so enthusiastischen Eifer betreibst, daß dein Magen und Unterleib, und (unter uns gesagt) dein Kopf selbst in Gefahr dabei gerathen. Auch darf ich dir nicht verhalten, daß mir vor dem feinen Netz ein wenig bange ist, womit die weise Aspasia dich zu umspinnen sucht. Fahre nicht auf, Lieber, und mache kein solches Gesicht an mich, als ob ich den Tempel zu Delphi beraubt, oder die Geheimnisse der Eleusinischen Göttinnen [143] verrathen hätte! Aspasia ist unläugbar eine Frau von vieler und langer Erfahrung; von hohem Geist, großer Menschenkenntniß und feiner Lebensart, eine Meisterin in der Kunst zu reden und zu überreden; wahrlich, der klügste unter den dermaligen Demagogen zu Athen müßte noch lange bei ihr in die Schule gehen, bis er ihr alle die feinen Kunstgriffe abgelernt hätte, womit sie vor dreißig Jahren den Mann, der Griechenland regierte, zu regieren wußte. Kurz, ich weiß alles, was du mir zur Rechtfertigung der hohen Meinung, die du von ihr gefaßt hast, sagen kannst. Aber was du nicht weißt, nicht siehst, nicht eher bis es zu spät ist sehen wirst, ist, daß die Freundschaft, die sie dir zeigt, nicht ganz so uneigennützig ist, als du dir einbildest. Denke nicht, sie habe immer so exemplarisch gelebt, wie sie jetzt zu leben scheint, da sie als Wittwe von zwei Athenischen Demagogen ihren sechzigsten Sommer herannahen sieht. – »Ihren sechzigsten Sommer? rufst du aus; das ist unmöglich, wenn sie nicht von Heben oder Auroren das Geheimniß, niemals alt zu werden, zum Geschenk erhalten hat.« – Das Geheimniß liegt in einem halben Duzend Alabasterbüchschen auf ihrem Putztische, mein Freund. Glaube mir, ich kenne diesen Schlag von Weibern, und die Art, wie sie sich für die Mühe, ihre jungen Freunde zu bilden und in die Welt einzuführen, bezahlt zu machen pflegen, und ich könnte dir ein Lied davon singen, wiewohl mich keine von ihnen je gefangen hat. Mit dir ist's ein anderes, mein lieber Enthusiast. Du bist (mit Erlaubniß zu sagen) eine unschuldige schwärmerische Motte, die dem Lichte zufliegt, weil sie von seinem Schein entzückt [144] ist, und nicht eher erfährt daß es auch brennt, bis sie mit versengten Flügeln am Boden zappelt. Lass' dich warnen, Freund Kleombrotus; und wenn du jetzt, wie ich nicht zweifeln will, mit gewarnten Augen Entdeckungen machst, die dir meine Meinung von den Absichten der weisen Dame bestätigen, so eile dich von ihr loszuwinden, und komm' zu mir herüber. Solltest du einen Vorwand dazu nöthig zu haben glauben, so brauchst du ja nur ein Geschäft auf einer der Aegeischen Inseln vorzuschützen, und du begleitest mich dann auf der Reise, die ich in kurzem antreten werde, um die beträchtlichsten und berühmtesten derselben, Delos, Naxos, Samos, Chios und Lesbos zu besuchen. Fremde, wie wir, haben ohnehin den Cekropiden keine Rechenschaft zu geben, wenn wir ihr schönes, öltriefendes, veilchenbekränztes Athen wieder zu verlassen für gut finden; wiewohl sie keinen Begriff davon zu haben scheinen, wie man auch anderswo, wo man nicht um zwei oder drei Obolen von Sardellen, Gerstenbrot und Knoblauch lebt, ein menschliches Leben führen könne.

17. An Antisthenes zu Athen
17.
An Antisthenes zu Athen. 88

Wie ich höre, wird die unvermuthete Verlängerung meines Aufenthalts zu Aegina von meinen Freunden in Athen nicht gebilliget. Man erwartete, daß ich mit Eurybates, den ich dahin begleitet hatte, wiederkommen würde, und die Auskunft, [145] die er über die Ursache meines Zurückbleibens gab, wiewohl ich nicht zweifle, daß sie mit der Wahrheit übereinstimmt, scheint seiner Absicht, mich dadurch zu rechtfertigen, nicht entsprochen zu haben. Du hast, wie ich hoffe, nicht vergessen, Antisthenes, daß die Strenge deiner Grundsätze das Zutrauen, das du mir schon in der ersten Stunde unsres Zusammentreffens zu Olympia einflößtest, seit dieser Zeit so wenig vermindern konnte, daß sie vielmehr der Grund ist, warum ich mich immer, vor allen andern Freunden des ehrwürdigen Sokrates, vorzüglich an dich angeschlossen habe. Ich weiß sehr wohl, daß meine Jugend und eine gewisse mir angeborne Sorglosigkeit, die ziemlich nahe an Leichtsinn gränzen mag, zuweilen der Zucht eines strengen Freundes bedarf: indessen, wie bescheiden einer auch von sich selbst denkt, kann es ihm doch nicht gleichgültig seyn, wenn sein Charakter (voraus gesetzt er habe einen) von denen verkannt wird, mit welchen er am meisten umgeht; und ich gestehe gern, daß die Gerechtigkeit, die du mir widerfahren lässest, indem du nicht verlangst, daß ich etwas anders als das Beste wozu mich die individuelle Form meiner Natur fähig macht, in meinem Leben darstelle, im Grunde die wahre Ursache meiner Anhänglichkeit an dich ist, und daß die Strenge deiner Moral mich längst von dir entfernt hätte, wenn sie nicht durch eine billige Schätzung meines wirklichen Werths gemildert würde.

Ich weiß nicht, warum unser Meister, den ich (wie du mir bezeugen kannst) höchlich ehre und liebe, für gut befunden hat, mich immer in einer gewissen Entfernung von sich zu halten. Hat mir etwa sein Dämonion einen schlimmen Streich [146] bei ihm gespielt? oder entdeckte sein Scharfblick einige Aehnlichkeit zwischen mir und einem seiner ehmaligen Lieblinge, von welchem er sich in seinen Erwartungen am Ende übel betrogen fand? Oder ist ihm irgend ein Zug in meiner Physiognomie zuwider? Was es auch sey, genug ich fühle mich, ohne meine Schuld, wie mich dünkt, zurückgehalten, so offen gegen ihn zu seyn als ich wünschte, und wende mich daher lieber an dich, um durch deine Vermittlung bei ihm gerechtfertigt zu werden, wenn es mir gelingen sollte, mich zuvor bei dir selbst zu rechtfertigen.

Meine Sokratischen Freunde – oder wie soll ich sie nennen? – scheinen, wenn sie über mich Gericht halten, zu vergessen, daß jeder Mensch, außer dem allgemeinen Maß der Menschheit, noch sein eigenes hat, womit er gemessen werden muß, wenn man das, was sich für ihn schickt oder nicht schickt, richtig beurtheilen will. Ich bin weder ein Athener, noch Thebaner, noch Megarer, weder eines Steinmetzen, noch Gerbers, noch Wurstmachers Sohn; sondern ein Cyrener aus einer Familie, die unter ihren Mitbürgern in Ansehen steht und sehr begütert ist. Ich bin, diesen Umständen gemäß, nach Cyrenischer Weise erzogen worden; und es wäre daher nicht ganz billig, eben dieselben Anlagen und Gewohnheiten in Rücksicht auf manche Dinge, die zum menschlichen Leben gehören, von mir zu fordern, als von einem in Dürftigkeit und Schmutz aufgewachsenen und an Entbehrungen aller Art gewöhnten Jüngling. Indessen habe ich zu Athen Jahre und Tage lang gezeigt, daß ich eben so gut von zwei oder drei Obolen des Tags leben kann als ein anderer; nur sehe ich nicht, warum ich überall und immer [147] so leben soll, oder warum ein kurzer Caputrock ohne Unterkleid für das einzige und ausschließliche Costume der Philosophie gelten müßte. Ich achte mich bei Linsenbrei und Salzfisch für keinen bessern, und bei einer Mahlzeit für achtzig oder hundert Drachmen für keinen schlechtern Men schen als ich sonst bin; und wenn ich es dahin bringe, daß ich auf jede Weise leben kann, im Ueberfluß ohne Uebermuth und Ausschweifung, in Einschränkung auf das Unentbehrlichste ohne Störung meiner guten Laune oder Abwürdigung meines Charakters, so denke ich, alles, was ein vernünftiger Mensch in diesem Stücke von sich selbst fordern kann, erreicht zu haben. – Doch dieß ist nicht der Hauptpunkt. Die große Frage ist: was für einen Zweck habe ich mir überhaupt für mein künftiges Leben vorgesteckt? und hier ist meine Antwort. Ich bin ein freigeborner Mensch, und, trotz unserm barbarischen Völkerrecht, als ein solcher sollte jeder Mensch betrachtet und behandelt werden. Daß ich ein geborner Bürger in Cyrene bin, macht mich nicht zum Sklaven von Cyrene; ich bin auch als Bürger der allgemeinen menschlichen Gesellschaft geboren, und in dieser großen Kosmopolis ist Cyrene nur ein einzelnes Haus. Da mir der Zufall Vermögen genug für meine Bedürfnisse zugeworfen hat, warum sollt' ich dieß nicht als eine Erlaubniß ansehen, in Erwählung einer Lebensart und Beschäftigung bloß meinem innern Naturtriebe zu folgen? In meinen Augen ist es noch mehr als Erlaubniß; es ist ein Wink, ein Gebot des Schicksals, mich zu der edelsten Lebensart zu bestimmen; und die edelste, für mich wenigstens (denn von mir ist jetzt bloß die Rede) ist nach meiner Ueberzeugung, als Weltbürger zu leben, das heißt, ohne [148] Einschränkung auf irgend eine besondere Gesellschaft, mich den Menschen bloß als Mensch so gefällig und nützlich zu machen als mir möglich ist. In dieser Gesinnung und mit diesem Zweck ging ich aus Cyrene in die weite Welt, um vor allen Dingen die Menschen kennen zu lernen, unter denen ich leben will, und mir so viele Kenntnisse und Geschicklichkeiten zu meinem und ihrem Nutzen und Vergnügen zu erwerben, als Fähigkeit, Zeit und Umstände nur immer gestatten werden. Der Ruf des weisen Sokrates zog mich zuerst nach Athen; aber wahrlich nicht in der Meinung, mich einer Schule oder Secte zu verpflichten, oder einem einzelnen Menschen mehr Recht und Macht über mich einzuräumen, als ich ihm entweder freiwillig zu überlassen geneigt, oder jedem andern zuzugestehen schuldig bin. Ich kam als ein schon ziemlich gebildeter und keineswegs unwissender Jüngling nach Athen, und machte mir die Erlaubniß, welche Sokrates allen gutartigen und lehrbegierigen jungen Leuten gibt, ihn zu besuchen und um ihn zu seyn, so viel zu Nutze, als mir zu der Absicht, weiser und klüger in seinem Umgange zu werden, nöthig schien; ohne darum andern nützlichen und angenehmen Verhältnissen auszuweichen, in welche ein junger Fremdling meiner Art in einer Stadt wie Athen zu kommen so viele Gelegenheit findet. Nach einem zweijährigen ununterbrochnen Aufenthalt in dieser ehmaligen Hauptstadt der gesitteten Welt, lockt mich das Bedürfniß einer kleinen Veränderung nach Aegina. Zufälligerweise treffe ich da eine junge Frau an, mit welcher ich schon vor zwei Jahren zu Korinth bekannt geworden war; eine Frau, deren geringster Vorzug ist, daß Griechenland nie [149] eine schönere gesehen hat. Sie ist die nächste Nachbarin des Landhauses, wo ich wohne. Sie versammelt öfters auserlesene Gesellschaft in dem ihrigen, und sie selbst ist die unterhaltendste Gesellschaft, die sich ein Mann, und wenn er Sokrates selbst wäre, nur immer wünschen könnte. Wir finden Geschmack an einander, wir sehen uns öfters, wir werden Freunde. Wohlgebrauchte Zeit fliegt schnell dahin. Eurybates, von dringenden Geschäften gerufen, geht nach Athen zurück; Aristipp, der keine dringenden Geschäfte hat, bleibt zu Aegina. Was ist in diesem allen Anstößiges? oder Aristipps, Aritades Sohns von Cyrene und Gesellschafters des weisen Sokrates, Unwürdiges? – »Aber diese schöne Dame, die so viel Geschmack an dir gefunden hat, und für deren Freund du dich erklärst, ist eine Hetäre.« Nun ja, wie Korinne, wie Sappho, wie Aspasia von Milet, bevor Perikles sie zu seiner Gemahlin machte, eine Hetäre war; eine Gesellschafterin (das ist doch die Bedeutung des Wortes?), mit welcher euer Solon selbst, der Erfinder des Namens, den Rest seines Lebens mit Freuden ausgelebt hätte. Was kümmern mich eure Namen? Für mich ist sie das, wozu Natur und Ausbildung, und die verschwenderische Gunst aller Musen und Grazien sie gemacht haben. Ihresgleichen wird selbst in dem schönen Lande, wo sie das Licht zuerst erblickte, nur alle tausend Jahre geboren. Und ich, dessen einziges Geschäft ist, die Menschen und sich selbst in allen Verhältnissen, die er zu ihnen und sie zu ihm haben können, zu studiren, ich sollte eine solche Gelegenheit nicht benutzen? Entschuldiget mich, lieben Freunde, wenn ich dießmal viel mehr meinem Genius folge, als euerm Urtheil [150] oder Vorurtheil! Es wird vermuthlich nicht das letztemal seyn. – Vor der Gefahr, daß mich diese Circe unauflöslich an sich fesseln, oder gar in – einen Gefährten des Ulysses verwandeln werde, seyd ohne Sorgen. In drei Tagen geht die schöne Lais nach Korinth zurück, und Aristipp tritt seine Reise nach den Cykladen an.

18. Antwort des Antisthenes
18.
Antwort des Antisthenes.

Nach Empfang deines Briefes, mein junger Freund, glaubte ich nicht besser thun zu können, als wenn ich ihn dem Sokrates selbst zu lesen gäbe, für welchen er doch eigentlich geschrieben zu seyn schien. Nachdem er ihn, bei einigen Stellen lächelnd, bei andern den Kopf ein wenig wiegend, überlesen hatte, sagte er, indem er mir den Brief zurückgab: unser Freund Aristipp ist erstarkt, und kennt den Weg, den er gehen will, so gut, daß er weder eines Führers noch Wegweisers bedarf. Wenn Cyrene keine Ansprüche an ihn macht, wie sie wohl schwerlich machen wird, so sehe ich nicht, warum er nicht eben so wohl als ein Weltbürger sollte leben können, wie irgend ein Vogel in der Luft, der sich auf welchen Baum er will setzt, und sich übrigens nur vor Leimruthen und Schlingen in Acht zu nehmen hat. Mit uns Athenern ist es ein anderes. Wir andern sind zu Bürgern von Athen geboren, und hangen nur als Athenische Bürger mit der übrigen Welt zusammen. [151] Oder was meinst du, Kritobul, (fuhr er fort, sich auf einmal an diesen wendend), hältst du es für so leicht, dich von der Pflicht gegen Athen loszusagen?

Das kann und darf ich nicht, antwortete Kritobul, so lange ich in Athen lebe und Gutes von Athen empfange und erwarte.

Sokrates. Solltest du nicht Pflichten gegen Athen haben, die dir gar nicht erlauben, ohne den Willen der Athener anderswo zu leben?

Kritobul (stutzte und antwortete nach einigem Zögern): Wenn ich Vermögen genug hätte zu leben wo es mir am besten gefiele, und es gefiele mir an einem andern Orte besser, warum sollte ich an Athen gebunden seyn?

Sokrates. Von wem hast du dein Vermögen?

Kritobul. Das meiste ist von meinen Voreltern erworben; einen Theil hab' ich vielleicht mir selbst zu danken.

Sokrates. Wie kommt es, daß die mißgünstigen und ungerechten Menschen, deren es so viele in der Welt gibt, Diebe, Straßenräuber oder andere Feinde, so gutherzig waren, deinen Voreltern und dir Zeit und Mittel zum Erwerben zu lassen, und, wenn ihr etwas erworben hattet, es euch nicht wegzunehmen?

Kritobul. Davor schützten uns die Gesetze und die bewaffnete Macht von Athen.

Sokrates. Diesen hättet ihr also die Möglichkeit des Erwerbs und die Erhaltung eures Vermögens zu danken?

Kritobul. So scheint es.

Sokrates. Nun möcht' ich wohl wissen, was die [152] Athener bewegen könnte, euch zu schützen, und um dazu immer bereit zu seyn, großen Aufwand zu machen, wenn ihr ihnen nichts dagegen thun solltet?

Kritobul. Auch fehlt sehr viel daß wir ihnen etwas schuldig blieben. Wir gehorchen ihren Gesetzen, wir steuern nach unserm Vermögen zu ihren gemeinsamen Ausgaben bei, ziehen in den Krieg oder rüsten eine Galeere aus, wenn sie uns dazu auffordern, und was dergleichen mehr ist.

Sokrates. Denkst du aber nicht, die Athener haben damals, da sie es auf sich nahmen, euch bei dem Vermögen, das ihr unter dem Schutz ihrer Gesetze erwarbet, so viel in ihren Mächten ist, zu erhalten, darauf gerechnet, daß auch ihr euch den Pflichten nie entziehen würdet, die euch schon die natürliche Dankbarkeit gegen den Staat, als euern ersten und größten Wohlthäter, auferlegt?

Kritobul. Ich denke in der That, das haben sie.

Sokrates. Und wenn nun, z.B. dem Kritobul die Lust ankäme, seinem Vaterlande die Pflicht aufzukünden, könnt' er das, ohne sich als einen undankbaren und gegen sein Vaterland ungerechten Menschen darzustellen?

Kritobul. Ich sehe, daß ich Unrecht hatte, Sokrates.

Sokrates. Ueberlege die Sache noch weiter mit dir selbst, und sage mir deine Meinung, wenn wir uns wiedersehen.

So viel, Aristipp, den Punkt der Weltbürgerschaft betreffend. Ueber den andern Hauptpunkt deiner Rechtfertigung habe ich dir noch weniger zu sagen; denn natürlicher Weise hängt es gänzlich von dir ab, ob du lieber in der Gesellschaft [153] einer schönen und dich angenehm unterhaltenden Hetäre, oder im Umgang mit Sokrates und seinen Freunden leben willst.

19. Aristipp an Ebendenselben
19.
Aristipp an Ebendenselben.

Ich liebe den Lakonism 89 im Reden und Schreiben, guter Antisthenes – das will sagen, ich liebe ihn zuweilen, wo Zeit, Ort, Personen und andere Umstände seinen Gebrauch erfordern oder schicklich machen. Ich will mich also, da ich jetzt wirklich so wenig Zeit zu verlieren habe als irgend ein Spartanischer Ephor 90, in der Antwort, die ich euch schuldig zu seyn glaube, so kurz als möglich fassen. Ich gestehe, daß ich mich nicht so leicht überwunden gegeben hätte als Kritobul. Da mir aber die Abwesenheit nicht gestattete, ihm zu Hülfe zu kommen, oder an seinen Platz zu treten, so habe ich über den mitgetheilten Dialog eine Art von Selbstgespräch angestellt, wovon Folgendes das Resultat ist.

Die Natur, meine und aller Dinge Mutter, weiß nichts von Cyrene und Athen. Sie machte mich zum Menschen, nicht zum Bürger: aber, um ein Mensch zu seyn, mußt' ich von jemand gezeugt und irgendwo geboren werden. Das Schicksal wollte, daß es zu Cyrene und von einem Cyrenischen Bürger geschehen sollte. Aber man wird nicht Mensch um Bürger zu seyn, sondern man wird Bürger damit man Mensch seyn könne, d.i. damit man alles das sichrer und besser seyn und[154] werden könne, was der Mensch, seinen Naturanlagen nach, seyn und werden soll. Der Mensch ist also nicht, wie man gemeiniglich zu glauben scheint, dem Bürger, sondern der Bürger dem Menschen untergeordnet. Hingegen steht die Pflicht des Bürgers gegen den Staat, und des Staats gegen den Bürger in genauem Gleichgewicht. Sobald meine Voreltern Bürger von Cyrene wurden, übernahm diese Stadt die Pflicht, sie und ihre Nachkommen bei ihren wesentlichsten Menschenrechten und bei ihrem Eigenthum zu schützen, und wir sind ihr für die Erfüllung dieser ihrer Pflicht keinen Dank schuldig: wir übernahmen dagegen die Leistung der Bürgerpflichten gegen sie, und sie ist uns eben so wenig Dank dafür schuldig; jeder Theil that was ihm oblag. Der Vertrag aber, den wir darüber mit einander eingingen, war nichts weniger als unbedingt. Cyrene versprach uns zu schützen insofern sie es könnte; denn gegen den großen König oder eine andere überlegene Macht vermag sie nichts. Wir hingegen behielten uns das Recht vor, mit allem was unser ist auszuwandern, falls wir unter einem andern Schutze sichrer und glücklicher leben zu können vermeinen würden; ein Vorbehalt, der überhaupt zu unsrer Sicherheit nöthig ist, weil zwar Cyrene uns zu Erfüllung unsrer Pflichten mit Gewalt anhalten kann, wir hingegen nicht vermögend sind, sie hinwieder zu dem, was sie uns schuldig ist, zu zwingen. Was mich selbst persönlich betrifft, so sehe ich meine Menschheit, oder, was mir ebendasselbe ist, meine Weltbürgerschaft, für mein Höchstes und Alles an. Die Cyrener können mir, wenn es ihnen beliebt (was vielleicht bald genug begegnen wird) alles nehmen was ich zu Cyrene [155] habe; so lange sie mir erlauben ein freier Mensch zu seyn, werde ich mich nicht über sie beklagen. Meine guten Dienste, glaube ich, mit gehöriger Einschränkung, jeder besondern Gesellschaft, deren Schutz ich genieße, so wie allen Menschen mit denen ich lebe, schuldig zu seyn. Träte jemals ein besonderer Fall ein, wo ich meinem Vaterlande nützlich seyn könnte, so würde ich mich schon als Weltbürger dazu verbunden halten, insofern nicht etwa eine höhere Pflicht, z.B. nicht Unrecht zu thun, dabei ins Gedränge käme. Denn wenn etwa den Cyrenern einmal die Lust ankäme Sicilien zu erobern 91, so würde ich mich eben so wenig schuldig glauben, ihnen meinen Kopf oder Arm oder auch nur eine Drachme aus meinem Beutel dazu herzugeben, als ihnen den Mond erobern zu helfen. Auch verlangt man zu Cyrene nichts dergleichen von mir. Fordert Athen von ihren Bürgern mehr, so ist das ihre Sache, und geht mich, denke ich, nichts an.

So viel über den ersten Punkt deiner Antwort, ehrenwerther Antisthenes. Den zweiten, an welchem Sokrates schwerlich Antheil hat, glaube ich nur auf eine einzige anständige Art beantworten zu können, und diese ist, daß ich gar nichts darüber sage.

20. An Kleonidas
[156] 20.
An Kleonidas.

In der Voraussetzung daß ich dir dadurch einiges Vergnügen mache, fahre ich in meinem, wiewohl nur uneigentlich so genannten, Aeginischen Tagebuche fort: denn es wäre deiner Gefälligkeit zu viel zugemuthet, wenn ich dich mit den abgeschiedenen Schatten aller Tage, die ich hier verlebt habe, in Bekanntschaft setzen wollte, in der Meinung, daß sie für dich eben so viel Interesse haben müßten, als sie in ihrem Leben für mich hatten. Von meinen glücklichsten Tagen und Stunden pfleg' ich gar nicht zu sprechen; ich betrachte sie als eine Art von heiligen Dingen, auf welchen, wie auf den Körben der Kanephoren an den Eleusinien 92, der Schleier des Geheimnisses liegen muß. Wird er weggezogen, so erblicken uneingeweihte Augen, wie in jenen mysteriösen Körben, nichts als – Honigkuchen, Granatkörner, Bohnen und Salz.

Skopas ist nun mit seiner Venus-Lesbia (vorerst nur aus gebranntem Thon, wie sich von selbst versteht) fertig, und hat sein Möglichstes gethan, den Stolz der undankbaren Lais durch eine gefährliche Nebenbuhlerin zu kränken, die bei dem großen Haufen der Angaffer schon allein durch ihre vollständige Naktheit keinen geringen Vortheil über sie erhält. Die junge Sklavin aus Lesbos, die ihm (nicht ungern, wie es schien) zum Modell dabei diente, ist wirklich in ihren individuellen Formen von einer so seltenen Schönheit, daß es [157] wohl, so lange uns ein allgemein anerkannter Kanon der Schönheit fehlt, unmöglich seyn dürfte, das Problem, welche von beiden Bildsäulen die schönere sey, rein aufzulösen. Meine Vorliebe für die erste beweist bloß für meinen eigenen Geschmack. Mehrere Anbeter der schönen Lais, die man in der Meinung ließ, sie wäre das Modell zu beiden, streiten für die zweite, und Lais scheint sich so wenig dadurch beleidigt zu finden, daß sie, unter der Bedingung, das Exemplar, das aus Marmor gemacht werden soll, für sich zu behalten, so großmüthig gewesen ist, dem in sein eignes Werk verliebten neuen Pygmalion ein Geschenk – mit dem Urbilde zu machen. Da du dir, sagte sie scherzend zu Skopas, schwerlich Hoffnung machen darfst, daß Amor das Wunder, das er einst zu Pygmalions Gunsten that, dir zu Liebe wiederholen werde, so nimm meine Lesbia dafür, und bilde dir ein, sie sey dein eigenes, für dich von ihm belebtes Kunstwerk selbst. – Die Wahrheit ist, daß der arme Skopas, wofern die allzureizende Sklavin nicht ein Mittel gefunden hätte, das gestörte Gleichgewicht seines äußern und innern Menschen (nach der Sokratischen Maxime, deren du dich aus einem mei ner Briefe erinnern wirst) bald möglichst wieder herzustellen, schwerlich jemals mit seiner Arbeit fertig geworden wäre; so mächtig wirkte das zauberisch anziehende Lächeln, womit die gefällige Nymphe, um die ihr aufgetragene Rolle der Göttin mit der gewissenhaftesten Treue zu spielen, ihn unter der Arbeit anzusehen für ihre Schuldigkeit hielt. Skopas arbeitete nun immer besser je ruhiger er arbeitete, und wer weiß, ob er nicht am Ende das Modell selbst für das unter seinen Händen unvermerkt [158] zum Ideal veredelte Nachbild ohne Aufgeld zurückgegeben hätte, wenn Lais zum Tausche geneigt gewesen wäre. Man behauptet allgemein, sagte sie in ihrem gewohnten scherzhaften Ton, ein Künstler, der etwas Vollkommenes hervorbringen wolle, müsse mit Liebe arbeiten: aber Skopas hat noch mehr gethan, er hat mit Begierde gearbeitet 93; und vermuthlich ist dieß die Ursache, warum er in dieser Venus sein Urbild und sich selbst übertroffen hat.

Dem wackern Skopas muß ich es zum Ruhme nachsagen, daß er sich bei den kleinen Spöttereien der schönen Lais ziemlich artig benahm; vielleicht weil er sie als Wirkungen einer geheimen Eifersucht betrachtete, und sich also schmeicheln konnte, eine Art von Triumph über sie erhalten zu haben. Uebrigens hatte er Ursache mit seiner Reise nach Aegina sehr zufrieden zu seyn; denn er wurde – außer der reizenden Lesbierin, in welcher er nun ein treffliches Modell eigenthümlich und ausschließlich besitzt – noch mit baaren Dariken königlich belohnt.

Diese großherzige Freigebigkeit, und, um dem Kinde seinen rechten Namen zu geben, eine ungezügelte Neigung zum Verschwenden überhaupt, ist ein so starker Zug im Charakter meiner schönen Freundin, daß ich sehr besorge, er werde in der Folge, und nur zu bald, eine Aenderung in dem Plane, dessen ich bereits erwähnt habe, nöthig machen. Ich hielt es für eine Pflicht der Freundschaft, ihr, da wir einsmals allein waren, mit einigem Ernst davon zu sprechen. Ich sehe nur zu wohl, war ihre Antwort, daß deine Warnung [159] nichts weniger als überflüssig ist; aber ich kann weder meine Art zu leben noch meine Sinnesart ändern.

Ich. Noch nie fühlte ich so lebhaft als in diesem Augenblick, beste Laiska, daß meine Liebe zu dir Freundschaft ist. Ich würde mich selbst hassen, wenn ich der selbstsüchtigen Anmaßung fähig wäre, die Glückseligkeit die du zu geben fähig bist, zu meinem ausschließlichen Eigenthum machen zu wollen. Aber daß das, was nur die edelsten oder ganz besonders von den Göttern und dir begünstigten Sterblichen zu genießen würdig sind, jemals wenn auch einen noch so hohen Marktpreis haben sollte, dieß nur zu denken, ist mir, in bloßer Rücksicht auf dich selbst, unerträglich.

Sie. So weit, lieber Aristipp, soll und wird es niemals kommen.

Ich. Gewiß nicht, so lange ich selbst noch eine Drachme 94 im Vermögen habe.

Sie (lachend). Damit würdest du das Unglück, das du befürchtest, nicht lange verhüten. Ich denke einen für dich und mich bequemern Ausweg gefunden zu haben; und damit ich dich über dieses Kapitel auf einmal und für immer ins Klare setze, so höre, wie ich über mein Verhältniß zu deinem Geschlecht denke, und was für eine Maßregel ich, zu meiner Sicherheit vor den Anmaßungen desselben, bei mir selbst festgesetzt habe. Ich sagte dir bereits mit der Offenheit, die du immer bei mir finden sollst, daß ich auf einen zwangfreien Umgang mit welchen Männern es mir beliebt nicht Verzicht thun könnte, ohne ein wesentliches Stück meiner Glückseligkeit aufzuopfern; ich sagte dir auch die wahre Ursache, warum [160] ein solcher Umgang Bedürfniß für mich ist. Denn daß die gewöhnliche Triebfeder der wechselseitigen Anmuthung beider Geschlechter gegen einander sehr wenig Antheil an diesem Zug meines Charakters habe, darf ich dir um so mehr gestehen, da ich mir nichts darauf zu gut thue, und wofern es der Natur beliebt hätte, mir das, was seine Besitzerinnen Zärtlichkeit und Bedürfniß zu lieben nennen, in einem reichern Maße mitzutheilen, mich dessen keineswegs schämen würde. Es wird dich also wenig befremden, wenn ich dir sage, daß, meiner Meinung nach, eine Frau, die ihre Unabhängigkeit behaupten will, euer Geschlecht überhaupt als eine feindliche Macht betrachten muß, mit welcher sie, ohne ihre eigene Wohlfahrt aufzuopfern, nie einen aufrichtigen Frieden eingehen kann. Dieß ist, däucht mich, eine nothwendige Folge der unläugbaren Thatsache, daß der weibliche Theil der Menschheit sich beinahe auf dem ganzen Erdboden in einem Zustande von Abwürdigung und Unterdrückung befindet, der sich auf nichts in der Welt als Ueberlegenheit der Männer an körperlicher Stärke gründen kann; da die Vorzüge des Geistes, in deren ausschließlichen Besitz sie sich zu setzen suchen, nicht ein natürliches Vorrecht ihres Geschlechts, sondern eine der Usurpationen ist, deren sie sich kraft ihrer stärkeren Knochen über uns angemaßt haben. Bei allen Völkern ist der Zustand der Weiber desto unglücklicher, je roher die Männer sind: aber auch unter den policirten Nationen, und bei der gebildetsten unter allen, werden wir von den Männern überhaupt genommen entweder als Sklavinnen ihrer Bedürfnisse oder als Werkzeuge ihres Vergnügens behandelt, und die schönste unter uns müßte sehr [161] blödsinnig seyn, wenn sie sich auf den Glanz oder die Zahl ihrer vorgeblichen Anbeter und Sklaven das Geringste einbildete, und sich selbst verbergen könnte, was die Herren bei dem betrüglichen Spiele, das sie mit unsrer Eitelkeit und Schwachherzigkeit treiben, gewinnen wollen. Anakreon meint, die Natur, die jedes ihrer Geschöpfe mit irgend einer Waffe zu seiner Vertheidigung versehe, habe dem Weibe zur Schutzwehr gegen die Stärke des Mannes die Schönheit verliehen; aber ohne den Verstand, einen klugen und weisen Gebrauch von ihr zu machen, ist die Schönheit selbst eine sehr zweideutige Gabe, und ihrer Besitzerin meistens mehr nachtheilig als nützlich. Ich für meinen Theil danke der guten Mutter Natur, daß sie mich gerade mit so viel Verstand bewaffnet hat, als ich nöthig habe, um den Mann, im Allgemeinen, als den natürlichen Feind meines Geschlechts anzusehen, gegen welchen wir nie zu viel Vorsichtsmaßregeln nehmen können. Der gesellschaftliche Zustand hat zwar einen anscheinenden Frieden zwischen beiden Geschlechtern gestiftet; aber im Grund ist dieser Friede auf Seiten der Männer bloß eine andere Art den Krieg fortzusetzen; und da ihnen von der Stärke ihrer Knochen und Muskeln gewaltsamen Gebrauch gegen uns zu machen untersagt ist, so lassen sie sich's desto angelegener seyn, die treuherzigen Vögelchen durch Schmeichelei und Liebkosungen in ihre Schlingen zu locken. Und uns sollte nicht eben dasselbe gegen sie erlaubt seyn? Wir sollten die Betrüger nicht wieder betrügen, und falls wir klug genug sind uns vor ihren Schlingen zu hüten, das Einzige, wodurch wir an ihre schwache Seite kommen können, unsre Reizungen, nicht auf jede uns [162] beliebige und vortheilhafte Art gegen sie gebrauchen dürfen? Bei der großen Nemesis! ich mache mir so wenig Bedenken darüber, daß ich mich selbst verachten würde, wenn ich mir jemals ein anderes Verhältniß gegen das Männergeschlecht geben wollte, als das, wozu uns sein Verfahren gegen uns einladet, und, wenn wir anders unsre alberne Gutherzigkeit nicht zu spät bereuen wollen, nöthiget. Da sie uns keine andere Wahl gelassen haben, als entweder ihre Sklaven zu seyn oder sie zu den unsrigen zu machen, was hätt' ein Weib, das seine Freiheit liebt, hier lange zu bedenken? – Du siehst die Grundlage meines Plans, lieber Aristipp; ich habe dir ohne Zurückhaltung gezeigt, wie ich über die Männer denke, weil du für mich kein Mann, oder, wenn du lieber willst, mehr als ein Mann, weil du mein Freund, ein mir verwandtes congenialisches Wesen bist. Was ich noch hinzuzusetzen habe, erräthst du vermuthlich von selbst. Ich opfre meiner Liebe zur Unabhänglichkeit und dem Verlangen nach meiner eigenen Weise glücklich zu seyn, einen Namen auf, und unterziehe mich dadurch den Folgen des nicht ganz ungerechten Vorurtheils, das alle Arten von Personen drückt, die sich dem Vergnügen des Publicums widmen und dafür belohnt werden; aber meine Meinung ist nicht, diesen Namen anders als auf eine eignen Bedingungen zu tragen. Diesen sich zu unterwerfen, kann ich niemand zwingen; wer sie sich also gefallen läßt, sollt' es ihm auch am Ende dünken, daß er einen schlechten Handel gemacht, und das Vergnügen mich zu sehen, zu hören und etliche fröhliche Stunden unter Scherz, Musik und Tanz, mit Komus und Bacchus, oder mit Amorn und [163] den Grazien in meinem Hause zugebracht zu haben, allzu theuer bezahlt habe, der würde von mir und allen Verständigen ausgelacht werden, wenn er sich über Unrecht beklagen wollte. Ich setze einen ziemlich hohen, wiewohl unbestimmten Preis auf das Vorrecht, freien Zutritt in meinem Hause zu haben, mache aber kein Geheimniß daraus, daß ich mich durch die Geschenke, die ich von meinen Liebhabern, wie die morgenländischen Fürsten von ihren um Gehör bittenden Unterthanen, annehme, zu keinen besondern, geschweige ihnen selbst beliebigen Gefälligkeiten verbunden halte. Es steht einem jeden frei, seine Eitelkeit, oder seinen Wetteifer mit reichen und freigebigen Nebenbuhlern, so weit zu treiben als er will; und wer an der Zulänglichkeit seines persönlichen Werths zu zweifeln Ursache hat, mag immerhin versuchen, ob er diesen Mangel durch den Werth der Opfergaben ersetzen könne, die er seiner Abgöttin zu Füßen legt. Sie befindet sich, wiewohl sie ihre Gottheit bloß der Thorheit ihrer Anbeter zu danken hat, in diesem Stück in dem nämlichen Falle wie alle andern Götter, welche sehr wohl wissen, warum die Menschen ihnen Opfer bringen, aber sich durch die Annahme derselben keineswegs verpflichten, alle Wünsche der Opfernden zu erfüllen, oder auch nur das, warum gebeten wird, zu gewähren. – Was sagst du zu diesem Plan, Aristipp? Denkst du nicht, daß er mir im Nothfall hinlängliche Mittel verschaffen könne, meine dermalige Lebensweise fortzusetzen, ohne jemals, wie du vorhin besorgtest, genöthigt zu seyn, mich unter mich selbst herabzuwürdigen?

Ich. Ich sage, wenn er dir nicht gelänge, so würde ich [164] keiner andern rathen, den Versuch zu machen. Aber es hat keine Noth; ich bin vielmehr überzeugt, du wirst auf diesem Wege, selbst durch den Ruf daß es eine höchst mißliche Sache sey, deinetwegen nach Korinth zu reisen 95, in Gefahr kommen, nach und nach Deukalions und Hellens ganze edle Nachkommenschaft, Dorier, Ionier und Aeolier, vor deiner Thür liegen zu sehen.

Sie (lachend). Das soll ihnen herzlich gern erlaubt seyn, vorausgesetzt, daß es immer von mir abhange, wem ich sie öffnen lassen will.

Ich. Einer Theodota möchte ich deinen Plan nicht rathen. Um ihn mit Erfolg auszuführen, muß man im Besitz deiner Schönheit, deiner Talente, deines Verstandes und deiner – Kälte seyn.

Sie. Wie, mein schöner Herr? Solltest du dich über meine Kälte zu beklagen haben?

Ich. Nicht zu beklagen, liebe Laiska! denn sie ist es eben, was deinen kleinsten Gunstbezeugungen einen so hohen Werth gibt, daß die Grazien dem Manne nie gelächelt haben müßten, der nicht den leisesten Händedruck von dir den freigebigsten Liebkosungen einer jeden andern vorzöge. Auch ist dieß eine der nothwendigsten Bedingungen der Ausführbarkeit deines Plans. Denn kein Liebhaber dient lange ohne allen Sold, und eine Schöne, die nicht gesonnen ist, viel zu geben muß die Gabe besitzen, das Wenige mit einer Art zu geben daß es viel scheint. Du, schöne Lais, besitzest diese Gabe in einem so hohen Grade, daß ich keinen Augenblick zweifle, du würdest dir mit dieser Kunst, deine Liebhaber durch den Zauber einer[165] sich immer annähernden und entfernenden Hoffnung bei gutem Muthe und in deiner Gewalt zu erhalten, so gut als die berühmte Thargelia ein Diadem verschaffen können, wofern dich je die Lust anwandelte, deine Freiheit gegen ein Diadem zu vertauschen.

Sie. So hoch fliegen meine Wünsche nicht.

Ich. In der That würdest du einen schlimmen Tausch treffen.

Sie. Das denke ich auch.

Diese Lais – höre ich dich sagen, Kleonidas – ist in der That eine Hetäre, wie vermuthlich noch keine war und vielleicht in tausend Jahren keine wieder erscheinen wird; aber mit aller ihrer Philosophie doch – nur eine Hetäre, und eine um so viel gefährlichere, je mehr sie vor andern voraus hat. Nimm dich in Acht, Aristipp! – Ich bin so ziemlich deiner Meinung, Freund Kleonidas; sie ist ein gefährliches Geschöpf. Sie wird manchen Kopf verrücken, der vorher recht stand, manchen Narren noch närrischer machen, und manchen vollen Beutel leeren. Was sie aus mir und dir machen wird (denn auch du wirst, wie ich hoffe, nach Korinth kommen), wird die Zeit lehren.

Der Tag meiner Trennung von dieser Circe, in der ich gleichwohl mehr einen Freund als ein Weib liebe, rückt immer näher. Sie geht nach Korinth zurück, und ich mache mich zu einer Reise in die Inseln fertig, von wannen ich in einigen Monaten etwas leichter an Dariken, und reicher an Kenntnissen der Natur und der Kunst, nach der schönen Athenä zurückkehren werde. Bewunderst du mich nicht, daß ich mich [166] mit so leichtem Herzen von der reizendsten aller Zaubrerinnen trennen kann?

21. An Kritobulus
21.
An Kritobulus.

Mein Aufenthalt in Aegina hat länger gedauert als ich vorhersehen konnte, und meine Abwesenheit von Athen wird sich in eine noch größere Länge ziehen; denn ich bin im Begriff einen Streifzug durch die merkwürdigsten Inseln des Aegeischen und Ionischen Meeres zu thun. Du hast vielleicht schon gehört, daß ich unsern Freund Kleombrotus eingeladen habe, herüber zu kommen und mich auf dieser Reise zu begleiten. Die Luftveränderung wird seiner Gesundheit zuträglich seyn, und die mannichfaltige Menge neuer Gegenstände seiner allzuwirksamen Phantasie eine andere Nahrung und einen weitern Spielraum geben, und sie dadurch verhindern, sich in diejenigen, die ihn zeither einzig beschäftigten, gar zu tief hineinzugraben. Der Kreis, den unser ehrwürdiger Meister um sich her zu sehen gewohnt ist, wird durch unsre Abwesenheit auf einige Zeit – um zwei, die man kaum vermissen wird, vermindert: und wir werden mit einer Menge neuer Ideen und praktischer Kenntnisse schwer beladen zurückkommen, die uns Stoff zum Fragen, und ihm Gelegenheit, unsre Begriffe zu berichtigen, geben werden. Sage ihm, es vergehe kein Tag, da ich mich nicht einer seiner weisen Lehren [167] erinnere, oder von einer seiner Maximen Gebrauch mache – nach meiner Weise, versteht sich; denn an einer ängstlichen schülerhaften Copey würde er selbst kein Wohlgefallen haben. Wenn ich einen Weg zu machen habe, worauf man sich leicht verirren kann, bin ich froh, wenn ich einen kundigen Wegweiser finde; ich gehe neben, auch wohl zuweilen ein wenig vor oder hinter ihm, ohne meine Füße in seine Tritte zu setzen, oder mich der Freiheit zu begeben, dann und wann einen kleinen Umweg zu nehmen, um etwa einer Nachtigall im Gebüsche zuzuhören, mich an einer schönen Ansicht zu ergötzen, oder die Aufschrift an einem verfallenden Denkmal zusammen zu buchstabiren. Es ist mit der Philosophie, denke ich, wie mit den Nasen; das, was eine Nase zur Nase macht, ist bei allen dasselbe, und doch hat jedermann seine eigene.

22. Lais an Aristipp
22.
Lais an Aristipp.

Wie, mein weiser Freund? Sollt' es wirklich dein Ernst seyn? Ich soll mich von Lesbos aus so treuherzig machen lassen, nach einer Abwesenheit, binnen welcher der Mond fünfmal gewechselt hat, an – deine Treue zu glauben? Du hättest dich nur darum in einen Liebeshandel mit der reizenden Lesbierin verwickelt, um mir einen recht heroischen Beweis zu geben, daß die bloße Erinnerung an deine Anadyomene hinlänglich sey, alle Pfeile, die Eros aus den großen [168] schwarzen Augen der schönen Leukonoe nach deinem Busen schießt, kalt und kraftlos abglitschen zu lassen? und daß ein Mann nichts als eine Haarlocke von Lais am Finger zu tragen brauche, um einer so warmen und verführerischen Liebhaberin, wie du mir deine Wirthin beschreibst, widerstehen zu können? Und deine freilich noch ziemlich unerfahrne Freundin sollte so gefällig seyn, sich ein solches Mährchen weiß machen zu lassen? bloß weil sie gestehen muß, es wäre ganz artig, wenn es – kein Mährchen wäre? Nein, guter Aristipp! so weit geht die Liebe zum Wunderbaren nicht bei mir, und ich wollte den besten Kuß, den ich zu geben vermag, daran setzen, könnt' ich mich in diesem Augenblick (die Stunde sag' ich dir aus guten Ursachen nicht) in das zierliche kleine Cabinet, wovon du mir eine so genaue Beschreibung machst, versetzen; ich würde etwas nicht halb so Wunderbares sehen, als die Treue, woraus du dir, vermuthlich um der Seltenheit der Sache willen, ein so großes Verdienst bei mir zu machen scheinst. Aber denke nicht, mein guter Philosoph, daß ich die kleine Schlange nicht gewahr werde, die unter diesen Blumen versteckt liegt. Du hast ausfindig gemacht, daß Großmuth meine schwache Seite ist. Wenn ich sie, denkst du, nur erst so weit bringen kann, daß sie an meine Treue glaubt, so ist mir die ihrige gewisser, als wenn ich sie unter sieben Riegel im ehernen Thurm der Danae eingeschlossen hielte. Sie wird sich in der seltensten aller Tugenden nicht von mir übertreffen lassen wollen, und käme auch der schönste der Götter, der ewig junge Bacchus selbst, mich aus ihrem Herzen zu vertreiben. Nicht wahr, Aristipp, ich habe dich [169] errathen? Aber was du mit allem deinem Scharfsinn ewig nicht errathen hättest, während du dich zu Lesbos mit der schönen Leukonoe – in der Tugend übst, hab' ich unter dem prächtigsten Ahorn in der Welt am Quell des Ilissus, unweit Athen, eine Eroberung gemacht, die du mir nicht zugetraut hättest – und nun rathe!

23. Lais an Ebendenselben
23.
Lais an Ebendenselben.

Wenn eine Frau die Neugier eines Mannes geflissentlich erregt, so macht sie sich dadurch anheischig, sie zu befriedigen. Nicht wahr? Ihr andern nehmt das für eben so gewiß, als ob sie sich mit Brief und Siegel dazu verbindlich gemacht hätte, und – ihr habt Recht. Ich säume also nicht, lieber Aristipp, dir vor allen Dingen begreiflich zu machen, wie ich unter den großen Ahorn am Quell des Ilissus gerathen bin.

Meine Zurückkunft nach Korinth erneuerte die Ansprüche zweier oder dreier junger Eupatriden, die keinen schlimmen Handel zu treffen glauben, wenn sie sich mit dem Eigenthum meiner kleinen Person ein gesetzmäßiges Recht an den Nachlaß meines alten Patrons erkaufen könnten, der ihnen überaus gelegen käme, die Lücken ihrer verpraßten Erbgüter wieder auszufüllen. Weil ich alles gern auf eine decente Art mache, so dulde ich die Bewerbungen dieser speculativen Köpfe, ohne sie weder aufzumuntern noch abzuschrecken, und hätte [170] sich noch ein vierter gefunden, dessen Umgang etwas mehr Interesse für mich gehabt hätte, so möchte ich den Isthmus 96 von acht oder neun Monaten, der mich von Aegina trennt, noch erträglich gefunden haben. – Ihr seyd so eitle Geschöpfe, ihr andern, daß ich dir's vielleicht nicht gestehen sollte; aber da du es doch von selbst errathen hättest, will ich's lieber frei bekennen, daß ich dich, bevor die sieben ersten Tage vorbei waren, schon lebhafter vermißte als ich mir selbst zugetraut hätte. Meine Liebhaber hatten freilich, nach der lästigen Unverdrossenheit ihrer Aufwartungen zu urtheilen, keine lange Weile bei mir; aber dafür machten sie mir deren so viel, daß ich des albernen Spiels endlich überdrüssig ward. Nein, sagte ich, es ist nicht länger auszuhalten; Aristipp läßt mich sitzen und schaukelt sich zwischen den Cykladen herum. Wie wenn ich ihm nachreis'te? – Nachreisen? – Pfui! das sähe ja gleich so aus, als ob eine verlass'ne Ariadne ihren Ungetreuen verfolgen wollte? Nein, nicht nachreisen, aber reisen will ich, und zwar nach Athen, um, während er sich auf den Schauplätzen alter Götter und Heldenmährchen herumtreibt, seine Stelle – bei dem weisen Sokrates einzunehmen. Gedacht, gethan! Es wird eingepackt, angespannt, ich setze mich mit meinen Grazien (wie du sie zu nennen pflegtest) in den Wagen und rolle davon, von drei wohl bewehrten Dienern zu Pferde begleitet, wiewohl die Landstraße zwischen Korinth und Athen nicht mehr so unsicher ist wie zu Theseus Zeiten. Ich verweile mich etliche Tage zu Megara, wo ich Geschäfte mit einem alten Gastfreund des Leontidas abzuthun hatte, setze meine Reise fort, und lange an einem schönen Abend in einiger [171] Entfernung von Athen auf einem mit Bäumen und Gebüschen bekränzten Hügel an, dessen Anmuth mich und meine Nymphen zum Absteigen einladet. Ich befehle meinen Leuten langsam fortzufahren und mich bei einem gewissen Tempel, der an unserm Wege liegt, zu erwarten. Kaum sind wir auf dem weichsten Rasen ein paar hundert Schritte vorwärts gegangen, als ein prächtiger Ahorn 97 von ungewöhnlicher Größe und Schönheit unsre Augen auf sich zieht, neben welchem in kleiner Entfernung eine krystallhelle Quelle, zwischen Rosen und Lorberbüschen rieselnd, unvermerkt zu einem Bach wird, der den durchgehenden kaum die Knöchel benetzt. Ein rüstiger, wiewohl glatzköpfiger Alter, an Gestalt und Gesichtsbildung wie man die Silenen abzubilden pflegt, und ein schöner zum Manne heranreifender Jüngling, beide unbeschuht, der Alte nur mit einem kurzen hier und da ausgefaserten Mantel, der andere weniger spärlich und beinahe zierlich bekleidet, sitzen auf einer Rasenbank am Fuß des Ahorns, und scheinen, in einem lebhaften Gespräche begriffen, uns nicht eher gewahr zu werden, bis wir, völlig aus dem Gebüsche hervortretend, kaum noch zwanzig Schritte von ihnen entfernt sind. Jetzt erblicken sie uns, stutzen, flüstern einander etliche leise Worte zu, und sehen aus, als ob irgend eine magische Gewalt es ihnen unmöglich mache aufzustehen und sich zu entfernen. Wir waren alle vier zwar so leicht wie es die Hitze des Tages erforderte, aber (was sich ohnehin versteht) sehr sittsam und einfach gekleidet, und es begreift sich, daß der unerwartete Anblick vier solcher Figuren wie wir, an einem so einsamen und dichterischen Orte, etwas Auffallendes [172] und beinahe Wunderbares für sie haben mußte. Ich gehe langsam auf sie zu, grüße sie, und frage, weil mir nicht gleich eine andere Einleitung beifallen will, ob dieß der nächste Weg nach Athen sey? Mir däuchte als ob sie sich durch diese Frage merklich erleichtert fühlten; denn ich wollte wetten, der alte Herr, der etwas abergläubisch seyn soll, würde verlegen gewesen seyn, wie er uns anreden müsse, um der Sache weder zu viel noch zu wenig zu thun. Nun übersah er mich aus seinen großen weit hervorstehenden Augen vom Kopfe bis zu den Füßen, und erwiederte in einem freundlichen Tone, wir könnten die Stadt auf keinem Wege mehr verfehlen. Dieser Ort ist so anmuthig, sagte ich, daß wir uns, wenn es euch nicht zuwider ist, einen Augenblick zu euch setzen, und an euerm unterbrochnen Gespräch, wofern es keine Geheimnisse betrifft, Antheil zu nehmen wünschen. Beides, versetzte er, steht euch frei, wiewohl der Gegenstand, womit wir uns beschäftigten, wirklich eine Art von Geheimniß ist. An einem den Musen geheiligten Orte wie die ser, sind Personen wie ihr nie zu viel. Nicht wahr, junger Mann? Der Jüngling erröthete, sah ihn lächelnd an, und nickte Beifall. Geheimnisse, erwiederte ich, an denen man die ersten besten Antheil nehmen lassen kann, müssen wenigstens sehr unschuldig seyn. Das eurige war vermuthlich ein philosophisches?

Der Alte. Und gehört ganz besonders unter eure Gerichtsbarkeit; denn es betraf Schönheit und Liebe. Da die Liebe sich doch nur an das Schöne hält, so suchten wir dahinter zu kommen, was denn eigentlich das Schöne sey.

Ich. Und was fandet ihr?

[173] Der Alte. Daß, wiewohl jedermann das Schöne liebt, doch vielleicht nicht Einer sich selbst oder andern zu sagen weiß, was es sey.

Ich. Vielleicht ist es mit dem Schönen wie mit der Farbe, die jeder Sehende kennt und unterscheidet, wiewohl er nicht sagen kann was Blau oder Grün ist.

Der Alte. Du meinst vermuthlich, jedermann kann sagen, dieß Kraut ist grün, diese Blume roth, diese blau; aber niemand kann sagen, was die Grüne, die Bläue, die Röthe sey?

Ich. Es kann auch, dächte ich, niemanden viel daran gelegen seyn, ob er's sagen kann oder nicht.

Der Alte. Mit den Farben mag es immerhin diese Bewandtniß haben: aber was das Schöne betrifft, so möcht' es wohl gut, ja sogar nöthig seyn, sagen zu können, was es ist, damit wir immer sicher seyn könnten nichts zu lieben als was wirklich und immer schön ist.

Ich. Aber sollte dieß denn auch so nöthig seyn als du zu glauben scheinst? Verzeih, ehrwürdiger Unbekannter, wenn ich meine Meinung zu frei sage!

Der Alte. Ich werde die meinige eben so frei sagen, und so sind wir quitt.

Ich. Man hat Beispiele, daß auch Gegenstände, die entweder nie schön waren oder es zu seyn aufgehört hatten, leidenschaftlich geliebt wurden.

Der Alte. Gewiß! Aber diese Gegenstände werden dann geliebt, nicht weil sie häßlich, sondern weil sie ungeachtet ihrer Häßlichkeit dennoch liebenswürdig sind. Ich [174] glaube nicht daß jemals ein Mensch war, dem ein Höcker etwas sehr Liebreizendes gedäucht hätte; aber daß eine höckerige Person demungeachtet sehr liebenswürdig seyn könne, ist wohl unläugbar.

Ich. Nicht nur das; es gibt Leute welche behaupten, ein wahrer Liebhaber finde sogar den Höcker des Geliebten schön, und es soll wirklich solche bezauberte Virtuosen in der Liebe geben.

Der Alte. Was dir, schöne Dame, unbegreiflich ist; nicht wahr?

Der Jüngling. Ich bekenne daß ich einer von diesen Bezauberten bin.

Der Alte. Alles was du diesen Damen damit bewiesen hättest, wäre, daß es eine Liebe gibt, die eine Art von Wahnsinn ist.

Ich. Sollte nicht jede wahre Liebe eine Art von Wahnsinn seyn? – Der Alte betrachtete mich, statt der Antwort, mit einem forschenden Blick; aber der Jüngling platzte heraus: wenn dieß ist, schöne Fremde, so brauchst du nur zu reisen, um alle unsre Städte, vom Tänaros bis zum Athos 98 in lauter Irrenhäuser zu verwandeln.

Ich. Wenn es wahr wäre, daß die Wahnsinnigen die glücklichsten unter den Menschen sind, so hättest du mir etwas sehr Verbindliches gesagt. Wer wollte nicht wünschen, alle Menschen glücklich machen zu können?

Der Alte. Das wären sie schon lange, wenn Wahnsinn glücklich machte. Aber noch hab' ich keinen Menschen gesehen, der sich gewünscht hätte wahnsinnig zu seyn.

[175] Ich. Vermuthlich auch keinen Liebhaber, der es zu seyn geglaubt hätte, wiewohl sie es alle sind.

Der Alte. Ich hätte große Lust, dir zu beweisen, daß du dich sehr an der Liebe versündigest; aber der Tag neigt sich, und es ist noch eine ziemliche Strecke von hier bis zur Stadt.

Ich. Ich habe einen Wagen der auf mich wartet. Er hat viel Raum, und doch darf ich es wohl schwerlich wagen, euch einen Platz darin anzubieten?

Der Alte. Wenn du einen Triumpheinzug in Athen halten willst, so wäre dieß das kürzeste Mittel; du würdest unfehlbar in wenig Augenblicken die ganze Stadt vor, neben und hinter dir her haben. Wir beide sind, wie du siehest, Fußgänger und ganz dazu eingerichtet. Aber, wenn die Frage nicht unbescheiden ist, gedenkst du dich in Athen zu verweilen?

Ich. Der Zweck meiner Reise ist sehr einfach. Ich wollte von allem, was in Athen zu sehen ist, nur einen einzigen Mann kennen lernen, und der Zufall hat mich mehr als ich hoffen durfte begünstiget. Lebet wohl!

Und so eilte ich mit der Leichtfüßigkeit einer Waldnymphe von dannen, bestieg meinen Wagen wieder, und ließ meine beiden Bewunderer, vermuthlich sehr ungewiß was sie aus mir machen sollten, bald so weit hinter mir, daß ich sie völlig aus den Augen verlor.

Wie gefällt dir dieser Anfang, Aristipp? Er ist, wie du nicht zweifeln wirst, mit großen Begebenheiten schwanger, und wenn du mich recht schön bittest – oder auch nicht bittest, so habe ich große Lust, dich mit der ganzen Geschichte meiner [176] philosophischen Mystificirung in Athen zu beschenken. Ich bin nicht eitel genug mir im Ernst mit der einzigen Eroberung zu schmeicheln, die mich hoffärtig machen könnte – der Mann sieht mir zu hell aus seinen Delphinsaugen – Aber daß er die meinige gemacht hat, es mag ihm nun schmeicheln oder nicht, das hat seine Richtigkeit.

24. Aristipp an Lais
24.
Aristipp an Lais.

Vor allen Dingen, schöne Halbgöttin, lass' dir ein kleines Abenteuer erzählen, das mir dieser Tage aufstieß, da ich den ganzen Morgen damit zugebracht hatte, die Berge um Mytilene zu durchstreichen. Du weißt, denke ich, daß die Kräuterkunde seit einiger Zeit meine Lieblingsbeschäftigung ist, als eine Art Studien, wozu ein wandernder Weltbürger, wie ich, aller Orten Stoff findet, und wovon er gelegentlich allerlei nützlichen Gebrauch machen kann. Ich hatte mich ziemlich weit ins Gebirge hinein verirrt; die Sonne wurde drückend und mein Gaumen sehr trocken, als ich endlich am Fuß eines Felsens, an welchem eine Heerde Ziegen herumkletterte, unter einem hohen Nußbaum eine Hütte, und vor der Thür der Hütte ein junges Weib erblickte, die im Schatten sitzend Wolle spann. Ich bat sie um ein wenig Wasser meinen Durst zu löschen, und sie eilte mir einen Topf voll frischer Milch zu holen, und bot mir ihn freundlich hin, weigerte sich aber, beinahe beleidigt, [177] da ich ihr ein paar Drachmen in die Hand drückte, etwas anzunehmen, weil es (sagte sie) nicht Sitte in Lesbos sey, sich für solche kleine Liebesdienste bezahlen zu lassen. – Werde nicht ungehalten, liebe Laiska! Mein Abenteuer war freilich des Erzählens nicht werth; aber es ist gerade, als ob ich dir meine Geschichte mit meiner gefälligen Wirthin zu Mytilene erzählt hätte. Leider ist hier keine Gelegenheit, mir aus der Treue, über die du spottest, ein Verdienst bei dir zu machen. Es ist etwas, das einem jeden ächten Sokratiker, ja dem Meister selbst, alle Tage begegnen könnte. Schwerlich gibt es eine anspruchlosere Tochter der Natur als die gute Leukonoe. Was sie zu geben hat, ist in ihren eigenen Augen etwas so Unbedeutendes, daß sie sich schämen würde, einen größern Werth darauf zu legen, als meine Ziegenhirtin auf ihren Topf mit Milch. Meine Treue bleibt dir also auf rühmlichere Gelegenheiten vorbehalten; auch wollt' ich wetten, du bist von der Unmöglichkeit meiner Untreue so völlig überzeugt, daß es lächerlich wäre, wenn ich jemals damit groß gegen dich thun wollte. Es gibt nur Eine Lais, die alle Arten von Reizen in sich vereiniget, und auf alle mögliche Weise liebenswürdig ist. Ueber wen wollte sie eifersüchtig seyn? Das ist eine Leidenschaft, die sie ihren Liebhabern überläßt. Aber wehe dem, der nicht gleich bei ihrem ersten Anblick seine Partie darüber nimmt! Ich weiß wohl, du wirst die stolze Ruhe, womit ich dich in der Welt herumschwärmen sehe, mit dem verhaßten Namen Kaltsinn belegen; aber ich hülle mich in meine Unschuld. Denn ich bleibe dabei, der ruhige Liebhaber ist der einzige zuverlässige Liebhaber. Bei allem dem ist es nicht[178] einmal wahr daß ich so ruhig bei deiner Reise nach Athen bin als ich vorgebe: nicht, weil du gerade so viel Anbeter dort zurücklassen wirst, als Männer die dich gesehen haben; und wer wird dich nicht sehen wollen? Die ganze Welt soll vor dir knien, das ist es ja eben was ich will! Was ich befürchte ist bloß, daß du gerade den Einzigen, dessen Eroberung dir schmeicheln würde, nicht erobern wirst. Denn daß du sie bereits gemacht hättest, ist doch wohl nur Scherz. Arme Laiska! Ich fühl' es schon in allen Nerven, wie es dich kränken würde, vergebens nach Athen gereist zu seyn! Aber ich fürchte! ich fürchte! Diesen Kopf zu verrücken, würde der Göttin selbst, deren sichtbare Statthalterin du bist, nicht möglicher seyn als dir. Ich werde deinen nächsten Brief mit Zittern erbrechen, und kann ihn doch kaum erwarten.

25. Lais an Aristipp
25.
Lais an Aristipp.

Aber wer sagt dir denn, wunderlicher Mensch, daß ich mir nur im Traum einfallen lasse, den einzigen gesunden Kopf in ganz Griechenland verrücken zu wollen? – Und wenn ich es könnte, würdet ihr andern desto weiser seyn? Daß ihr doch alle, ohne Ausnahme, wie es scheint, gar viel dabei zu gewinnen glaubt, wenn ihr einen großen Menschen ein paar Stufen zu euch herunterziehen könntet; als ob er nicht immer um eben so viel größer bliebe als ihr, wenn er auch auf derselben [179] Fläche mit euch steht. Wie konntest du dir einbilden, ich werde nicht merken, warum du so ängstlich für den Ruhm meiner Reizungen bekümmert bist? Aber sey ohne Sorgen, mein Freund! Ich mache keinen Anspruch von einem Manne wie Sokrates anders als nach seiner eigenen Weise geliebt zu werden, und es würde mir unendlichemal weniger schmeicheln, wenn ich, um sein Herz zu gewinnen, ihm vorher den Kopf verrücken müßte. Glücklicher Weise ist die Sache bereits entschieden; mein Spiel ist gewonnen, und ich bin desto besser mit mir selbst zufrieden, weil ich es ohne hetärische Winkelzüge aufrichtig und redlich gewonnen habe. Doch alles an seinem Ort und zu seiner Zeit!

Es gefällt mir hier so wohl, daß ich gute Lust habe, ein Tagebuch über meinen hiesigen Aufenthalt zu schreiben, und du sollst sehen, daß der weiseste aller Menschen keine schlechte Rolle darin spielt.


Ich lebe nun vierzehn volle Tage hier, und von diesen ist kein einziger vorbeigegangen, ohne daß ich deinen Sokrates gesehen und gesprochen hätte. Allenthalben, wo ich zu sehen bin, ist er auch; in der großen Halle, in der Akademie, im Odeon, auf dem Ziegelplatz, im Piräos, unter den Propyläen, überall wo ich hingehe, find' ich ihn immer schon da, oder bin doch gewiß, daß er wie gerufen kommen wird. Du lachst, Aristipp, daß ich so einfältig bin, etwas auf meine Rechnung zu setzen, was Sokrates schon seit vierzig Jahren alle Tage zu thun [180] pflegt. – »Man ist es, sagst du, zu Athen gewohnt, ihn aller Orten zu sehen, wo viele Menschen zusammenkommen; und er würde gar nicht mehr bemerkt werden, wenn er nicht so viel und so laut spräche, daß man ihn wohl hören muß, man wolle oder nicht.« – Aber, mein schöner Herr, daß er mich in acht ganzen Tagen auch nicht ein einzigesmal verfehlt haben sollte, wenn unser Zusammentreffen bloßer Zufall wäre, das sollst du mich nicht bereden! Und daß er immer nur mit mir spricht, kommt wohl auch daher, weil sonst niemand mit ihm reden mag? Und daß er, seit ich zu Athen bin, täglich ins Bad geht, und Sohlen unter die Füße bindet, und immer in seinem besten neugewalkten Mantel prangt, hat er wohl auch seit vierzig Jahren immer so gemacht? – Höre, Aristipp! ich sage dir, verkümmere mir meine Freude nicht, oder wir bleiben nicht lange gute Freunde!


Das muß ich den Athenern nachrühmen, sie betragen sich, auch seitdem der erste Taumel vorüber ist, mit vieler Urbanität und Artigkeit gegen mich und meine Grazien. Aber freilich, immer in Ungewißheit zu schweben wie ich heiße? Wer ich bin? Wo ich herkomme? Was ich zu Athen zu suchen habe? Wie lange ich bleiben werde? Wie es mir da gefällt? – und einander über alle diese Fragen keine Antwort geben zu können, ist mehr als man einem so lebhaften und wißbegierigen Volke zumuthen kann. Ueber den letzten Punkt erhalten sie zwar bei jeder Gelegenheit die verbindlichsten [181] Erklärungen; aber über alles Uebrige mußten sie sich einige Tage mit der allgemeinen Nachricht, die sie von meinen Leuten in größtem Vertrauen erhielten, behelfen: daß wir sehr weit herkämen, daß ich mich eines Gelübdes gegen die große Göttermutter von Berecynth 99 zu entledigen hätte, und daß ich nach Athen gekommen sey, weil ja niemand sagen könnte, er habe etwas Sehenswürdiges in seinem Leben gesehen, wenn er Athen nicht gesehen hätte. Damit kamen wir nun etliche Tage so ziemlich aus: aber wie das Aufsehen, das ich gegen meine Absicht erregte, immer auffallender wurde; wie man überall von nichts als der schönen Unbekannten sprach, und tausenderlei lächerliche Sagen, Vermuthungen und Hypothesen über sie herumliefen, fanden endlich die Gynäkonomen 100 für nöthig, ihr Amt zu verrichten, und sich etwas näher, wiewohl sehr manierlich, nach meinem Namen und Stande zu erkundigen. Um ihrer recht bald und mit eben so guter Manier los zu werden, fiel mir in der Eile nichts Besser's ein, als mich (mit deiner vorausgesetzten Erlaubniß) für eine Cyrenerin, Namens Anaximandra, eine Verwandte von Aristipp, Aritadessohn, auszugeben, die, wegen der neulich zu Cyrene ausgebrochnen Unruhen, für gut gefunden hätte, auszuwandern, und sich bis zur Wiederherstellung der Ordnung in ihrer Vaterstadt in Griechenland aufzuhalten. Die Herren zogen sich nach Empfang dieser Auskunft mit allem möglichen Atticism wieder zurück, und seitdem begegnet mir, wie mich dünkt, jedermann mit verdoppelter Aufmerksamkeit und Achtung; so groß ist der Credit, in welchen mein neuer Vetter die Stadt Cyrene bei den guten Kechenäern gesetzt hat. Du [182] kannst dir leicht vorstellen, daß ich mich, um meinen neuen Namen und Stand gehörig zu behaupten, bei meinem Verehrer Sokrates nach dir erkundigen mußte. Um dich weder zu stolz noch zu demüthig zu machen, will ich dir nicht wieder sagen, was er von dir urtheilt. Genug, ich sagte ihm: da du, bei vielen Fähigkeiten und guten Eigenschaften, von etwas leichtem Sinne wärest, und das Vergnügen vielleicht etwas mehr liebtest, als einem edeln emporstrebenden Jünglinge zuträglich sey, so hätte die Familie geglaubt nicht besser thun zu können, als wenn sie dir auf einige Zeit das Glück um Sokrates zu seyn verschaffte; – und er versicherte mich dagegen, die Schuld werde nicht an ihm liegen, wenn die gute Absicht deiner edeln Familie verfehlt werden sollte. Das lass' dir gesagt seyn, Vetter Aristipp!


Wenn ich Lust hätte, dem guten Willen der Attischen Jugend von der ersten Classe, und den übel verhehlten kleinen Entwürfen ihrer Väter, einige Aufmunterung zu geben, so würde mein Aufenthalt zu Athen eine Kette von Lustpartien, Gastmählern und Vergnügungen aller Gattung seyn. Die allgemeine Schwärmerei, die meine Erscheinung erregte, ging anfangs so weit, daß ich sogar einem Freunde nicht ohne Unbescheidenheit davon sprechen kann. Ich glaube, wenn ich mit meinen drei Grazien gerades Weges vom Tempel der Aphrodite Besitz genommen hätte, niemand würde mir das Recht dazu streitig gemacht haben. Dieser Grad von Berauschung [183] konnte natürlicher Weise von keiner langen Dauer seyn: dagegen hat der Wetteifer sich um mich verdient zu machen, bei allen, die sich durch persönliche oder angeerbte Vorzüge dazu berechtigt halten, eher zu als abgenommen. Aber ich entziehe mich den Wirkungen desselben so viel möglich, und bleibe meinem Plan getreu. Des Sokrates wegen bin ich nach Athen gekommen, und ihm vorzüglich soll die Zeit meines Hierbleibens gewidmet seyn. Ich habe mir alle Einladungen in die Häuser meiner Verehrer verbeten, und sehe, außer an öffentlichen Orten, keine Gesellschaft als in meiner eigenen Wohnung. Denn ich habe durch Vermittlung deines Freundes Eurybates (der mir die strengste Verschwiegenheit versprochen hat) ein ganz artiges kleines Haus mit einem geräumigen Saale gemiethet, wo sich alle Abende eine auserlesene Gesellschaft von ältern Freunden des Sokrates einfindet, unter welchen er selbst nur selten fehlt. Die jüngern sind (zu großer Unlust des schönen Phädrus, meines erklärten Anbeters) ohne Barmherzigkeit ausgeschlossen. Ich wollte, du könntest sehen, wie hübsch ich mich als Wirthin mitten unter einer Gesellschaft von sechs oder acht weisen Männern ausnehme, von denen der jüngste seine funfzig Jahre auf dem Rücken hat; und wie stolz würdest du erst auf deine neue Base seyn, wenn du sie mit solchen Antagonisten über das selbstständige Schöne und Gute, über den Grund des Rechten, über das höchste Gut und über die vollkommenste Republik ganze Abende lang disputiren hörtest, und bemerktest, mit welcher Natur oder Kunst (wie du willst) sie diesen spröden Materien ihre Trockenheit zu benehmen, und die graubärtigen Streithähne [184] selbst in gebührender Zucht und Ordnung zu erhalten weiß. Aber freilich darf uns dann die Hauptperson nicht fehlen; er, dessen scharfer Blick, treffender Witz und muntre Laune ihn zur Seele unsrer Gesellschaft macht. Der undankbarste Stoff wird unter seinen Händen reichhaltig, und die scherzhafte sympotische Manier 101, womit er die subtilsten Probleme der Moral und Menschenkunde zu unterhaltenden Tischgesprächen zuzurichten weiß, scheint die verwickeltsten Knoten oft feiner, wenigstens immer zu größerm Vergnügen der Zuhörer, zu lösen, als durch eine ernsthaftere und schulgerechtere Analyse geschehen würde. Aber Ehre dem Ehre gebührt! Die schöne Anaximandra thut natürlicherweise ihre Wirkung, und seine ältesten Freunde versichern mich, daß sie ihn in seinem ganzen Leben nie so aufgeräumt und jovialisch gesehen haben, als – seit dem Tage meiner Ankunft in Athen. Nenn' es nun und erkläre dir's wie du willst; ich streite nie um Worte, aber du wirst mir erlauben, daß ich mich an die Erklärung halte, die für meine Eigenliebe die schmeichelhafteste ist.


Ich gefalle mir so wohl zu Athen, daß ich, wenn mir Eurybates reinen Mund hält, und nicht etwa ein neidischer Dämon mir jemand, der mich zu Korinth gekannt hat, in den Weg wirft, große Lust habe, meinen Aufenthalt noch um mehrere Tage zu verlängern.

Mein geheimes Liebesverständniß mit dem alten Spötter (denn bis zu Erklärungen über einen so zarten und unaussprechlichen [185] Gegenstand ist es zwischen uns noch nicht gekommen) geht noch immer seinen Gang, und ich schließe aus dem Vergnügen, das ich an seinem Umgang finde, daß ihm der meinige wenigstens eben so angenehm seyn müsse. Wiewohl er eine Aspasia gekannt hat, glaube ich doch etwas Neues für ihn zu seyn; und bei aller seiner anscheinenden Beschränktheit, hat vielleicht kein Sterblicher jemals eine allgemeinere Empfänglichkeit und einen reinern Sinn für alles Menschliche gehabt als er.


Wünsche mir Glück, Aristipp! heute hab' ich einen ganzen Morgen mit meinem Liebhaber Sokrates auf der Burg von Athen unter vier Augen zugebracht; denn die ehrliche Haut Simmias von Theben und den feinen wohlerzogenen Kritobul, die ihn begleiteten, rechne ich für nichts, weil sie so bescheiden waren uns fast immer allein zu lassen. Wir besahen alle Merkwürdigkeiten des Orts, der das Sublimste und Schönste, was Baukunst und Bildnerei in der Welt hervorgebracht haben, in keinem größern Raume vereiniget, als gerade nöthig war, um dem Auge alles unter einem einzigen Gesichtspunkte als das erhabenste Ganze darzustellen. Mir war als ob ich diese Wunder der Kunst zum erstenmal sähe, da ich sie mit Sokrates sah, wiewohl ich schon zuvor in Gesellschaft des Eurybates hier gewesen war. Am längsten verweilten wir, wie billig, unter den Propyläen, wo die schönsten Bildsäulen von Phidias, Alkamenes, Myron [186] und Menon uns ein paar Stunden unterhielten. Sokrates, wiewohl in seiner Jugend selbst ein Bildhauer, sprach von diesen Werken mit der verständigen Bescheidenheit eines Mannes der den Meißel seit vierzig Jahren nicht geführt hatte und, seinem eigenen Urtheil nach, nie weiter als in den Vorhof der Kunst gekommen war. Indessen schien er mir Bemerkungen zu machen, wovon auch ein Meister hätte Vortheil ziehen können. Ich fragte ihn, in welche Rangordnung er die genannten Künstler stelle. Frage lieber dein eigen Gefühl, war seine Antwort. – So ist Phidias der erste. – Unstreitig, erwiederte er. In Phidias findet sich alles, was den großen Künstler macht, beisammen; er ist, so zu sagen, ein Homer, der statt in Versen, in Marmor und Elfenbein dichtet. Ihm allein scheinen die Götter, die er bildete, wirklich erschienen zu seyn: Alkamenes bestrebte sich menschliche Gestalten zu göttlichen zu veredeln. Beide haben dem Myron nichts als den Vorzug der Grazie übrig gelassen. Menon, vielleicht der beste unter den Lehrlingen des Phidias, ist gegen diese drei – nichts als ein Lehrling. Eine Diane von Myron veranlaßte mich, den Wunsch hören zu lassen, daß ich die Grazien sehen möchte, welche Sokrates selbst in seiner Jugend gearbeitet hatte. Sie sind nicht werth von dir gesehen zu werden, versetzte er; ich bin nie mit ihnen zufrieden gewesen; aber seitdem ich deine Grazien kenne, würde ich die meinigen noch zehnmal steifer und steinerner finden als sonst. – Meine Grazien? sagte ich verwundert: es sind allerdings drei liebliche Mädchen; aber doch – »Ich rede nicht von deinen Aufwärterinnen, [187] schöne Anaximandra: ich meine deine eigenen Grazien« – Mache mich nicht stolz, Sokrates; ich dachte nicht daß du auch schmeicheln könntest. – »Zum Beweise daß ich weder schmeichle noch scherze, will ich mich näher erklären. Ich habe seitdem ich dich kenne drei Dinge an dir bemerkt, die dich aus allen Schönen, die mir jemals vorgekommen sind, auszeichnen, und dir gerade das sind, was der Liebesgöttin die Grazien. Das erste ist ein dir eignes, kaum sichtbares, deinen Mund, deine Augen, dein ganzes Gesicht sanft umfließendes Lächeln, das nie verschwindet, es sey daß du sprichst oder einem andern zuhörst, auch sogar dann nicht, wenn du etwas Mißfälliges siehest oder hörest, zu trauern oder zu zürnen scheinst; das zweite, eine unnachahmlich zierliche Leichtigkeit im Gang und in allen Bewegungen und Stellungen des Körpers, die dir, wenn du gehest, etwas Schwebendes, und wenn du in Ruhe bist, das Ansehen gibt, als ob du, ehe man sich's versehe, davon fliegen werdest; eine Leichtigkeit, die niemals weder an sich selbst vergessende Lässigkeit noch an Leichtfertigkeit streift, und immer mit dem edelsten Anstand und mit anspruchsloser angebornen Würde verbunden ist.« – Eine plötzliche Schamröthe ergoß sich, wie er dieß mit so viel anscheinender Treuherzigkeit sagte, über mein ganzes Gesicht, bei dem Gedanken, daß ich mit einem so guten und ehrwürdigen Manne am Ende doch nur Komödie spiele. – Gut; rief er, da haben wir deine dritte Grazie! diese holde Schamröthe, die Tochter des zartesten Gefühls, die dem Adel deiner Gesichtsbildung und dem Ausdruck des Selbstbewußtseyns nichts benimmt, [188] und sich dadurch so wesentlich vom Erröthen der kindischen oder bäurischen Verlegenheit unterscheidet. Ein Bildhauer, der Genie und Kunst genug besäße, dieses Lächeln, diese Leichtigkeit und dieses Erröthen zu verkörpern und in Gestalt dreier lieblicher Nymphen darzustellen, hätte uns die Grazien dargestellt.

Gestehe, Aristipp, daß es keine sehr leichte Sache war, in diesem Augenblicke nicht ein wenig aus mei ner Rolle zu kommen. Aber Sokrates selbst half mir ohne sein Wissen wieder hinein. Ich sage dir dieß, fuhr er fort, weder um deine Eigenliebe zu kitzeln, noch weil es mir im geringsten schwer gewesen wäre, meine Bemerkungen für mich zu behalten; sondern, weil ich diese Gelegenheit nicht entschlüpfen lassen möchte, ohne dir die hohe Bestimmung zu Gemüthe zu führen, um derentwillen die Götter so viel Schönheit und Würde mit so viel Reiz und Anmuth in dir vereiniget haben.

Und nun, Freund Aristipp, setzte er sich mit mir unter den großen Oelbaum vor dem Tempel der Athene Polias 102, und begann, mit einer ihm nicht gewöhnlichen Begeisterung, eine lange Rede über – Schönheit und Liebe. Er setzte als etwas, woran ich nicht zweifeln könne, voraus, daß beide ohne Tugend weder zu ihrer Vollkommenheit gelangen, noch von Dauer seyn könnten. Er bewies, indem er die Begriffe in seiner etwas spitzfindigen Manier sonderte und entwickelte, daß das Schöne und Gute im Grund eben dasselbe, und Tugend nichts anders als reine Liebe zu allem Schönen und Guten sey; eine Liebe, die vermöge ihrer Natur, gleich der [189] Flamme, immer emporstrebe, durch nichts Unvollkommnes befriediget werde, und nur im Genuß des höchsten Schönen, zu welchem sie stufenweis emporsteige, Ruhe finde. – Und was meinst du, daß er mit dem allen wollte? Nichts geringeres als mich überzeugen, »daß die Natur mich ganz eigentlich zu einer Lehrerin und Priesterin, ja noch mehr, zu einer unmittelbaren Darstellerin des Ideals der Tugend, mit Einem Wort, zur personificirten Tugend selbst bestimmt und ausgerüstet habe; und daß es also die erste meiner Pflichten sey, die Erreichung dieses hohen Ziels zum großen Geschäfte meines Lebens zu machen.«

Es würde mir kaum möglich seyn, nur den zehnten Theil der erhabenen Dinge, die er mir sagte, wieder zusammen zu bringen; aber des Schlusses seiner Rede erinnere ich mich noch von Wort zu Wort. »Wenn, sagte er, die Tugend sich sichtbar machen könnte, was für eine andere Gestalt als die deinige könnte sie annehmen wollen, um alle Herzen an sich zu ziehen und fest zu halten? Es hängt bloß von deinem Wollen ab, der Welt zu zeigen daß sie sichtbar werden könne: und wenn Tyche 103 dich zur Königin des ganzen Erdkreises erhübe, wie wenig wäre das gegen die Höhe, zu welcher du dich aus eigener Macht, ohne etwas anders als dich selbst vorzustellen, erheben kannst, bloß indem du die Pflicht, die dir deine Schönheit auferlegt, in ihrem Umfang erfüllst.«

Du wirst mir gern glauben, Aristipp, daß es mich einige Mühe kostete, die Bewegung zu verbergen, in welche mich diese sonderbare Anrede setzte. Was in seiner Moral überspannt [190] war, that doch die komische Wirkung nicht, die es vielleicht in dem Munde eines andern gethan hätte. Ich fühlte es sehr wohl, aber ich hätte um alles in der Welt nicht darüber scherzen können; denn ich fühlte zugleich daß etwas Wahres daran war, das sich nicht wegscherzen lassen würde. In diesem Augenblick, glaube ich, eilten mir die Grazien, die er selbst mir zugegeben hatte, alle drei zu Hülfe. Ich legte meine Hand mit einem kaum merklichen Druck auf die seinige, und sagte, indem ich ihm mit ernstem Lächeln erröthend in die Augen sah: der Ort, wo wir sind, und die sichtbare Gegenwart so vieler Götter und Heroen, die uns umgeben, hat dich mächtig ergriffen, ehrwürdiger Sokrates; du sprichst wie ein Begeisterter und beinahe wie ein Gott. Ich bin nur eine schwache Sterbliche: und doch schwebt auch mir ein hohes Ideal vor, das ich vielleicht nie erreichen werde. Ich hoffe dieses Morgens und aller andern Stunden, die ich in deiner Gesellschaft lebte, nie zu vergessen; und wenn ich –

Zu gutem Glücke zog mich Aristophanes, der auf einmal hinter den Säulen hervorrauschend auf uns zugelaufen kam, aus der Verlegenheit, meine Periode auszuründen. Da wir uns schon öfters gesehen hatten, hielt er sich berechtigt, mich im Ton einer alten Bekanntschaft anzureden, und darüber zu scherzen, daß er mich mit dem weisen Sokrates so allein überrascht hätte. Dieser antwortete ihm mit der gewandtesten Leichtigkeit in eben demselben Ton, und beide bewiesen mir (da ich ihr wahres Verhältniß kannte) durch ihr Benehmen gegen einander, daß die Attische Urbanität eine sehr [191] preisliche Bürgertugend ist. Bald darauf gesellten sich noch mehrere Bekannte zu uns, und als sich der Komiker wieder entfernt hatte, sagte Sokrates lächelnd zu mir: an diesem Menschen könntest du gleich dein erstes Meisterstück machen, Anaximandra. – Ich würde schwerlich viel Ehre davon haben, versetzte ich, wenn Sokrates selbst in zwanzig Jahren nichts über ihn vermochte. – Keineswegs, erwiederte er, da du alles hast was mir fehlt. Schönheit, Anmuth und Jugend sind gar mächtige Anlockungen. – Aber ein so schlauer Vogel wie dieser, sagte ich, würde sich die Lockspeise belieben lassen und der Schlinge doch zu entgehen wissen.

Wir stiegen nun durch die Propyläen wieder in die Stadt herab, und ich konnte dem Einfall nicht widerstehen, meinen Blumenkranz abzunehmen, und die Bildsäule des großen Mannes damit zu krönen, dessen königlichem Geist Athen ihren hohen Glanz über alle andern Städte in der Welt zu danken hat.


So eben erhalte ich von Korinth Nachricht, daß der beschwerlichste meiner Nachsteller den Weg, den ich genommen, entdeckt habe, und morgen in Athen eintreffen werde. Er soll das Nest leer finden. Morgen mit dem frühesten fliege ich nach Korinth zurück. Aber damit sich doch die Athener eine Zeit lang meiner erinnern, muß ich noch etwas thun, das in ihrer Stadt vermuthlich noch nie gesehen worden ist. Ich habe alle Bekannten, die ich hier gemacht, junge und alte, [192] zwanzig bis dreißig an der Zahl, zu einem kleinen Abschiedsfest einladen lassen. Ein halb Duzend Köche sind bereits in voller Arbeit; denn ich werde meine Gäste mit einem Symposion in Korinthischer und Cyrenischer Manier bewirthen. Alle Götter der Freude sollen von der Partie seyn; ich lasse die berühmtesten Citherspielerinnen und Auletriden 104 dazu bestellen, und deine Grazien sollen alle ihre Talente in Gesang, Tanz und Mimik den Augen und Ohren der entzückten Cekropier Preis geben. Du siehst es will sich nicht anders schicken, als daß die edle Anaximandra von Cyrene, die mit dem Pracht und Vergnügen liebenden Aristipp verwandt zu seyn die Ehre hat, den Athenern ihre Dankbarkeit für die gute Aufnahme, die sie bei ihnen fand, auf eine seiner würdige Art beweise; und muß ich nicht meinem erhabnen Liebhaber zeigen, daß seine Lehren und Ermahnungen auf keinen unfruchtbaren Boden gefallen sind? Denke ja nicht, daß ich seiner dadurch spotten wolle. Die Grazien haben auch ihre Philosophie, und er soll sehen, daß sie sich mit der seinigen, wenn sie anders nicht gar zu störrisch ist, ganz gut verträgt. Ob ich auch deinen sauertöpfischen Antisthenes zu der freundlichen Tugend bekehren werde, die, um die Herzen zu gewinnen, die Gestalt der Freude annimmt? Wir wollen sehen.


Ich melde dir von Eleusis aus, daß alles recht gut abgelaufen ist. Meine Gäste schienen von mir und meinem Gastmahl und den Talenten meiner Grazien bezaubert. Sogar die [193] finstere Stirne des strengen Antisthenes entrunzelte sich. Den Sokrates allein glaubte ich bald ernsthafter bald ironischer zu sehen als gewöhnlich, und man hätte zuweilen denken sollen, er sey von der Polizei bestellt mich zu beobachten, so scharfe Seitenblicke heftete er von Zeit zu Zeit auf mich. Aber Anaximandra machte es wie Hippokleides 105 und ließ sich's nicht kümmern; oder vielmehr, sie begegnete ihm mit der zärtlichen Aufmerksamkeit einer guten Tochter, und schien nichts an ihm zu sehen, was ihre fröhliche Stimmung hätte unterbrechen können. Das Fest dauerte ziemlich weit in die Nacht, und Sokrates war einer der letzten, die sich zurückzogen. Nachdem die Gesellschaft sich in einzelne Gruppen getheilt hatte, und während die meisten den Spielen und Tänzen zusahen, fanden wir uns wie durch Zufall in einer Ecke des Saals allein. Ich lenkte das Gespräch mit guter Art auf dich, und bat ihn, mir ganz offenherzig zu sagen was er von dir denke. Aristipp, antwortete er, ist ein junger Mann von vorzüglichen Anlagen; als ein Liebhaber des Schönen möchte er auch wohl die Tugend lieben, wenn sie nur keine Opfer forderte. Seine Sinnesart ist edel; aber was ihm immer gefährlich seyn wird, ist sein Hang zu einem freien Leben und zur Sinnenlust.

Ich. Wir haben ihn nie ausschweifend gekannt. Sollte er die Gelegenheit, weiser bei dir zu werden, so wenig benutzt haben, daß er sich erst zu Athen verschlimmert hätte?

Sokrates. Auch ich habe ihn nie über die Gränzlinien des Wohlanständigen hinausschweifen sehen, und über einen gewissen Punkt beschämt seine Unsträflichkeit unsre meisten [194] Jünglinge. Aber sein letzter Aufenthalt zu Aegina machte mich vielleicht seinetwegen besorgter als nöthig war.

Ich. Wie so? Hat man dir vielleicht von seiner Anhänglichkeit an eine gewisse Lais von Korinth gesprochen?

Sokrates. Ich höre wenig auf Gerüchte. Sie soll außerordentlich schön, geistvoll und liebenswürdig seyn; und eben darum halte ich sie bei der freien Denkart, wovon sie Profession macht, für eine sehr gefährliche Zaubrerin.

Ich. Sokrates, du siehst Anaximandren jetzt zum letztenmal, und sie könnte sich nicht verzeihen dich länger zu täuschen. Ich selbst bin diese Lais, die du unter einem andern Namen liebenswürdig gefunden hast, und die dir in diesem Augenblick des Scheidens gesteht, daß sie dich allen Männern vorzieht, die sie jemals gesehen hat.

Sokrates. Deine Aufrichtigkeit, schöne Lais, ist der Erwiederung werth: du sagst mir nichts Neues; schon diesen Morgen wußte ich wer du warst. Du glaubtest ich schwärme; jetzt begreifst du, daß ich bei ruhigem Muthe war. Lebe wohl, und erinnere dich zuweilen an den Oelbaum der Polias! – Ich konnte mich nicht erwehren meinen Mund auf seine Hand zu bücken, und so wahr mir Urania gnädig sey, eine Thräne, glaube ich, fiel auf sie herab. Er drückte die meinige und entfernte sich.

26. Aristipp an Lais
[195] 26.
Aristipp an Lais.

Es war der allesvermögenden Lais Anaximandra vorbehalten, uns an Sokrates eine Seite zu zeigen, die ohne sie entweder gar niemals, oder wenigstens in keinem so schönen Lichte, sichtbar geworden wäre. Die ganze Art seines Benehmens gegen dich macht ihn in meinen Augen sehr ehrwürdig; und besonders am letzten Tage ist er so ganz Sokrates, so ganz, was nur er allein seyn kann, der seltenste, oder soll ich sagen seltsamste, Hermaphrodit von Vernunft und Schwärmerei, den die menschliche Natur vielleicht jemals hervorgebracht hat! Wirklich glaube ich, daß du dir nicht zu viel schmeichelst, wenn du ihn (wiewohl nur im Scherz) unter deine Liebhaber zählest. Wer weiß, ob du nicht wohl gar diesen philosophischen Hercules so weit hättest bringen können als weiland deine Zauberschwester Omphale den Thebanischen, wenn es nicht Grundsatz bei ihm wäre, in solchen Nothfällen sich eines schnellwirkenden Hausmittels zu bedienen 106. Ich wollte wetten, seine griesgrämische Xantippe hat ihn in zwanzig Jahren nicht so zärtlich gesehen, als während deines Aufenthalts in Athen.

Schön war es von dir, liebe Laiska, daß du ihm noch in den letzten Augenblicken deinen wahren Namen entdecktest, und noch schöner das Spiel des Zufalls, daß du ihm nichts offenbartest als was er schon wußte. Vermuthlich muß er dem Eurybates das Geheimniß abgelockt haben; denn er besitzt [196] einen zu scharfen Spürsinn, als daß er nicht hätte merken sollen, daß es mit der Anaximandra von Cyrene, Aristipps Verwandtin, nicht ganz richtig sey. Uebrigens hoffe ich, durch deinen genialischen Einfall, dich in persönliches Verhältniß mit Sokrates zu setzen, ein Beträchtliches bei ihm gewonnen zu haben; oder, wofern er mich nach meiner Zurückkunft nicht mit günstigern Augen ansieht, werde ich geradezu behaupten, daß es bloße Eifersucht darüber sey, daß meine Weisheit mir nicht verbietet – glücklicher zu seyn als er. Wirklich zieht mich die Neugier, zu sehen wie er mich aufnehmen wird, mächtig nach Athen zurück. Aber ich bin seit etlichen Tagen zu Lemnos, und dem Schauplatze der Homerischen Gesänge zu nahe, um es bei den Musen verantworten zu können, wenn ich nicht nach der Trojanischen Küste vollends hinüber setzen wollte. Indessen hoffe ich längstens in acht Wochen, mit Hülfe der nördlichen Winde, die um diese Zeit regieren, wieder in Athen zu seyn: und dort, schöne Lais, schmeichle ich mir einen Brief von dir zu finden, der mir sagt, ob dir indessen irgend ein günstiger Wind einen Liebhaber zugeweht hat, der dich des alten Sokrates vergessen machen kann.

27. Demokles an Aristipp
27.
Demokles an Aristipp.

Dein Rath kam zu spät, Aristipp. Die Freunde der Freiheit, unter welchen eine beträchtliche Anzahl entschloss'ner [197] Männer war, sind auf einmal aus dem Nebel der Verborgenheit hervorgetreten. Evagoras, den du als einen ehrgeizigen und unternehmenden Mann kennen wirst, hat Mittel gefunden sich an ihre Spitze zu stellen. Sie haben sich versammelt, verschiedene kräftige Vorkehrungen für die öffentliche Sicherheit getroffen, und die Häupter der drei Factionen, jeden insbesondere, zu einer förmlichen Erklärung über die Absicht ihrer, schon lange nicht mehr geheimen, Zurüstungen aufgefordert. Man hat einander eine Zeit lang mündlich und schriftlich mit allerlei Ausflüchten, und als diese erschöpft waren, mit Vergleichungsvorschlägen aufgezogen. Wie aber die Demokratische Partei in vollem Ernst erklärte, daß sie sich selbst so lange als die rechtmäßigen Beschützer der Gesetze und der Freiheit ansehen und benehmen würden, bis die Oligarchen die Waffenvorräthe, womit sie ihre Häuser, gewiß zu keinem unschuldigen Gebrauch, angefüllt, ausgeliefert, alle ihre Aemter niedergelegt und der allgemeinen Bürgerversammlung Treue und Gehorsam geschworen haben würden, machten (wie leicht vorherzusehen war, und doch nicht vorhergesehen wurde) die Triumvirn, Alcimedon, Hippokles und Ariston, plötzlich Friede unter einander und gemeine Sache gegen den gemeinen Feind, mit der Uebereinkunft, wenn sie die Oberhand erhalten hätten, die Regierung des Staats gemeinschaftlich zu führen.

Die Götter haben uns nicht begünstiget, Aristipp. Es kam in diesen Tagen zu einem wüthenden Gefecht auf dem großen Marktplatze. Die Triumvirn, welche außer einem Trupp schwerbewaffneter Reiterei, einige Hundert Kretische [198] Söldner und den ganzen Cyrenischen Pöbel auf ihrer Seite hatten, überwältigten uns endlich nach einem langen verzweifelten Widerstand, durch ihre Ueberlegenheit an Waffen und Anzahl. Etliche Hundert der feurigsten Patrioten fielen, mit rühmlichen Wunden bedeckt; der Ueberrest hielt es für Pflicht, sich dem Vaterlande auf einen glücklichern Tag aufzusparen, und rettete sich durch die Flucht.

Du vermuthest ohne Zweifel voraus, daß die Sieger sich ihres Glücks, anstatt mit Mäßigung, mit aller Grausamkeit bedienen, die von übermüthigen und mißtrauischen Tyrannen zu erwarten ist. Die Gefängnisse sind mit Personen von allen Ständen, die man für verdächtig hält, angefüllt, und reich zu seyn, oder dafür zu gelten, ist schon allein mehr als hinlänglich, um den raubgierigen Herrschern und ihren Günstlingen verdächtig zu seyn. Die entflohenen Patrioten werden für vogelfrei erklärt, ihre Anverwandten aus der Stadt verbannt, und ihre Güter eingezogen. Alle unsre Hoffnung beruht nun – auf unserer Verzweiflung, und auf der alten Erfahrung, daß Räuber, wie eifrig sie auch, um Beute zu machen, zusammengehalten haben, gewöhnlich über der Theilung zerfallen. Wir haben uns indessen nach und nach wieder zusammengefunden, und uns im Gebirg, an der Gränze der Cesammonen, eines festen Postens bemächtiget, wo wir, täglich durch Verbannte oder Flüchtlinge verstärkt, uns so lange zu halten hoffen, bis uns etwa ein günstiger Stern eine Wahrscheinlichkeit zeigt, die Befreiung des Vaterlandes mit besserm Erfolg zu unternehmen. Vielleicht ist mir einer von den Deinigen (deren leider! keiner auf unsrer Seite stand) [199] mit Nachrichten von diesen Ereignissen bei dir zuvorgekommen; denn die Nothwendigkeit, mich von einigen Wunden heilen zu lassen, verhinderte mich eher an dich zu schreiben. Beklage das traurige Schicksal der vor kurzem noch so blühenden und glücklichen Cyrene, und versuche alles was du kannst, da du es nicht abzuwenden vermochtest, es wenigstens zu erleichtern!

28. Kleonidas an Aristipp
28.
Kleonidas an Aristipp.

Du bist bereits benachrichtiget, lieber Aristipp, daß es bei uns endlich zu einem Ausbruch gekommen ist, wobei die Oligarchen den Sieg erhalten haben. Möchten sie, da es nun einmal unser Schicksal ist, sich dessen nur mit Mäßigung bedienen! Aber noch stürmen die Leidenschaften von allen Seiten zu wild, um der Humanität, ja nur der Klugheit, die ihren eigenen Vortheil kaltblütig berechnet, Gehör zu geben.

Die Eintracht unsers Triumvirats ist von kurzer Dauer gewesen. Ariston, der freigebigste und popularste unter ihnen, hat (wie man sich ins Ohr sagt) Mittel gefunden, seine beiden Collegen mit guter Art auf die Seite zu schaffen. Sie wurden bei einem öffentlichen Opfer von drei seltsam verkleideten Banditen angefallen, und mit einigen Dolchstichen ermordet. Beide waren ihrer Raubgier und Grausamkeit wegen so verhaßt, daß niemand ihr Schicksal bedauerte. Ariston[200] selbst, sagt man, sollte das dritte Schlachtopfer seyn; er wurde aber glücklicher Weise von deinem Bruder Aristagoras und etlichen andern gerettet, bevor der ihm zugedachte dritte Dolch seine Brust erreichen konnte. Die Mörder, die sich (nach ihrem eignen freien Geständniß) aus bloßem Patriotism zu dieser That verschworen hatten, wurden ohne Widerstand in Verhaft genommen, und in die engeste Verwahrung gebracht. Wie es aber auch zugegangen seyn mag, als sie am folgenden Morgen zum Verhör abgeholt werden sollten, fand man das Gefängniß leer, und die Vögel waren sammt dem Kerkermeister ausgeflogen. Du kannst leicht denken, daß verschiedlich über diese Geschichte glossirt wird. Indessen benutzte Ariston die Schwärmerei, womit das Volk an seiner Gefahr und Erhaltung Antheil nahm, und ließ sich unverzüglich, vermöge des Rechts seiner Großmutter, die von einer Seitenlinie der Battiaden abstammt, unter dem wildesten Zujauchzen und Frohlocken des herbeiströmenden Pöbels zum König von Cyrenaika ausrufen. Prächtige Feste und öffentliche Lustbarkeiten bezeichneten die ersten Tage seiner Regierung, und machten mit den Hinrichtungen und Proscriptionen des verhaßten Triumvirats einen sehr auffallenden Contrast. Ariston schien dadurch (in der raschen Meinung des Volkes wenigstens) von allem Antheil an jenen Gräueln losgesprochen zu werden, und seinen Mitbürgern unter einer milden Regierung goldne Zeiten zuzusichern. Vermuthlich zu diesem Ende hat er, wie es heißt, die Sorgen der Staatsverwaltung deinem Bruder und einigen andern, die sich damit beladen[201] wollten, überlassen, und er scheint nichts Angelegneres zu haben, als sich mit allen Arten von Genüssen, die ihm die wirkliche Gewalt verschaffen kann, so schnell als möglich zu überfüllen. Wohl mög' es ihm bekommen, sag' ich, zweifle aber sehr daß ich wahr gesagt habe. Dein Vater, der an dieser raschen Umkehrung der Dinge kein sonderliches Wohlgefallen haben soll, hat sich, unter dem Schutze seines hohen Alters, auf sein Landgut zurückgezogen, und scheint alle Wünsche, wozu ihn die gegenwärtigen Verhältnisse berechtigen, auf die Freiheit und Ruhe, die in seinen Jahren so wohlthätig sind, oder (wie er selbst sich ausdrückt) auf die Erlaubniß im Frieden auszuleben, beschränkt zu haben. Ich besuche ihn öfters; er scheint mich gern zu sehen, weil ich ihm immer etwas Angenehmes von dir zu erzählen weiß.

Ich danke den Göttern, daß ich zu unbedeutend bin, um in diesen gefährlichen Zeitläuften eine Rolle spielen zu müssen, und nicht ehrgeizig oder unruhig genug, um etwas bedeuten zu wollen. Meine Familie ist durch die goldene nie genug gepriesene Mittelmäßigkeit vor Neid und Raubgier gleich gesichert; und so lange wir uns, wie bisher, des Schutzes deines edeln Bruders erfreuen können, ist der Antheil den wir an der allgemeinen Ruhe des Vaterlandes nehmen, das einzige was die unsrige stören kann. Leider fehlt noch viel, daß wir uns der Hoffnung bess'rer Zeiten frohen Muthes überlassen dürften. Die demokratische Partei ist noch nicht gedämpft, und unsre dermalige Regierung, zu sehr mit der innern Polizei beschäftigt, scheint den Bewegungen ihrer [202] Feinde mit einer Gleichgültigkeit zuzusehen, die ich mir nicht wohl erklären kann. Gewiß ist, sie muß ihre Ursachen dazu haben; ungewiß, ob der Ausgang sie rechtfertigen wird.

29. Aristipp an Ariston
29.
Aristipp an Ariston.

Das Glück hat deine Wünsche begünstiget, Ariston; du hast das höchste Ziel des menschlichen Ehrgeizes erreicht. Unglücklicher Weise sind die Stufen, auf denen du bis zum Thron hinauf gestiegen bist, mit Bürgerblut befleckt. Wenn du ihn nur durch Verbrechen ersteigen konntest, so glaube wenigstens den Schmeichlern nicht, die dich bereden wollen, unter dem Glanz des Thrones würden auch Verbrechen schön. – Doch, das Geschehene kann kein Gott ungeschehen machen: aber das Andenken desselben im Gedächtniß der Menschen auslöschen, kannst du selbst. Je größer die Opfer waren, die deine Erhebung dem Vaterlande kostete, desto größer und ausgebreiteter ist das Gute, das es jetzt aus deiner Hand zu erwarten berechtigt ist, da du alles vermagst. Den Weg haben dir Gelon, Hieron, Pisistratus und Perikles vorgezeichnet. Möge das Volk, das dich mit Jubel zu seinem König ausrief – und nicht wußte was es that – Ursache finden, noch in funfzig Jahren den Tag zu segnen, da es sein Wohl oder Weh in deine Hände legte; und möge Ariston [203] der König nie vergessen, daß er einst seines Volkes Mitbürger war!

30. Aristipp an Lais
30.
Aristipp an Lais.

Nach einer Wanderung von mehr als fünf Monaten bin ich wieder wohlbehalten auf dem »öltriefenden Boden angelangt, den Pallas Athene beschützt;« in dieser Stadt von welcher der Dichter Lysippus 107 sagt:


Hast du Athenä nicht gesehn, bist du ein Klotz,

Sahst du sie und sie fing dich nicht, ein Stockfisch;

Trennst du dich wohlgemuth von ihr, ein Müllerthier.


Ich hoffe dieß letztere werde nicht im strengsten Sinn der Worte zu nehmen seyn; denn ich sehe wohl, daß ich Athen noch mehr als einmal wohlgemuth verlassen werde; aber dafür bin ich auch gewiß, ich werde eben so oft wieder zurückkommen; und ich müßte mich sehr irren, oder dieses wechselnde Kommen und Gehen ist das wahre Mittel, wie man der Vortheile und Annehmlichkeiten des Aufenthalts in dieser Hauptstadt der gesitteten Welt genießen kann ohne ihrer überdrüssig zu werden, oder sie von den übermüthigen, naseweisen und wetterlaunischen Einwohnern gar zu theuer zu erkaufen. Nimm es nicht übel, Laiska, daß ich von den edeln Theseiden, deinen erklärten Liebhabern, mit so wenig Ehrerbietung rede. Ich läugne es nicht, ein Fremder, der sich [204] eine Zeit lang unter ihnen aufhält, und, es sey nun durch persönliche Eigenschaften oder durch Geburt, Stand und glänzenden Aufzug, ihre Aufmerksamkeit erregt, muß von ihrer Liebenswürdigkeit bezaubert werden; aber lass' ihn nur so lange bleiben, bis sie es nicht mehr der Mühe werth halten Umstände mit ihm zu machen: ich wette, er wird den Unterschied zwischen dem Athener im Feierkleide und dem Athener im Caputrocke sehr auffallend finden. Das ist allenthalben so, wirst du sagen. Ich gesteh' es; aber doch zweifle ich sehr, ob irgend ein anderes Volk dich die zuvorkommende Artigkeit und Gefälligkeit, womit es dich Anfangs überhäuft, so theuer bezahlen läßt, als der Athener, von dessen Charakter einer der wesentlichsten Züge ist, daß er Andere gerade so viel unter ihrem wahren Werth schätzt, als er sich selbst über den seinigen würdigt.

Ich weiß nicht, ob du von einem Gemälde des berühmten Parrhasius gehört hast, worin er den schon vom Aristophanes so treffend personificirten Athenischen Demos 108 in einer Art von allegorisch historischer Composition zu schildern unternahm. Seine Absicht, sagt man, war, die Athener von der schönen und häßlichen Seite, mit allen ihren Tugenden und Lastern, Ungleichheiten, Launen und Widersprüchen mit sich selbst, zugleich und auf einen Blick darzustellen. Es war keine leichte Aufgabe, eben dasselbe Volk rasch, jähzornig, unbeständig, ungerecht, leichtsinnig, hartnäckig, geitzig, verschwenderisch, stolz, grausam und unbändig auf der einen Seite, und mild, lenksam, gutherzig, mitleidig, gerecht, edel und großmüthig auf der andern, zu zeigen; oder vielmehr, er [205] unternahm etwas, das seiner Kunst unmöglich zu seyn scheint. Du bist vielleicht neugierig zu wissen, wie er es anfing? Das Gemälde stellt eine Athenische Volksversammlung vor, welche, nachdem sie in möglichster Eile irgend eine Ruhm und Gewinn versprechende Unternehmung beschlossen, eine summarische Rechnung über Einkünfte und Ausgaben des Staats abgehört, und einen General etwas tumultuarisch zum Tode verurtheilt hat, eben im Begriff ist auseinander zu gehen. Man zählt mehr als hundert halbe und ganze Figuren, von welchen die bedeutendsten in drei große Hauptgruppen vertheilt sind. In der ersten ist der Demagog, der so eben irgend ein ausschweifendes Project (etwa die Eroberung von Sicilien oder Aegypten) durch seine rhetorische Taschenspielerkunst durchgesetzt hat, die Hauptfigur. Das hoffärtigste Selbstgefühl und der Vorgenuß des Triumphs über den glücklichen Erfolg seiner Vorschläge, den er als etwas Unfehlbares voraussetzt, ist in der ganzen Person, im Tragen des Kopfs, im Ausdruck des Gesichts, und in der ganzen Haltung und Gebärdung des stolz einherschreitenden Projectmachers auf die sprechendste Weise bezeichnet. In den Gesichtern und Stellungen seiner ihn umgebenden Anhänger zeigt sich, in verschiedenen Schattirungen, Leichtsinn, Selbstgefälligkeit, Kühnheit und herausfordernder Trotz. Es ist als ob sie sagen wollten: »Das kann nicht fehlen! Arme Schelme! wir wollen bald mit euch fertig seyn! Wer kann den Athenern widerstehen? Was wäre Männern wie wir unmöglich?« Gleichwohl bemerkt man hinter jenen ein Paar Achselzucker, die dem Unternehmen einen unglücklichen Ausgang zu weissagen scheinen; ein dritter hängt [206] den Kopf so melancholisch als ob schon alles verloren sey; ein vierter scheint mit einem schwärmerischen Beförderer des Projects in einem lebhaften Wortwechsel begriffen zu seyn. Die zweite Gruppe drängt sich um den Schatzmeister der Republik, der seine Freude über die Gefälligkeit, womit ihm das Volk seine Rechnungen passiren ließ, unter einer sorgenvollen Finanzministermiene zu verbergen sucht. Ein Schwarm lockerer Brüder, im vollständigen Costume ausgemachter Kinäden und Parasiten, schlendern neben und hinter ihm her, und scheinen, in fröhlichem Gefühl, daß es weder ihnen selbst noch der Republik jemals fehlen könne, einen großen Schmaus auf den Abend zu verabreden. Ein anderer, der sich durch die schlaueste Schelmenphysiognomie auszeichnet, und etliche hungrige zu allem bereitwillige Gesellen hinter sich her schleichen hat, nähert sich dem Ohr des Ministers, und scheint ihn durch Darbietung der halb offnen Hand der versprochnen Erkenntlichkeit für den geleisteten Dienst erinnern zu wollen. Aber auf der Seite sieht man ein paar ältliche heliastische Figuren, mit bedenklichen Gesichtern, deren einer dem andern die Fehler in der abgelegten Rechnung vorzuzählen scheint, während ein dritter allein stehender, den sein schäbiger Kittel und ein Gesicht, das einer mit Zahlen beschriebenen Rechentafel gleicht, für das was er ist ankündigt, auf einem Stückchen Schiefer nachrechnet, und durch die Miene, womit er seitwärts nach dem Schatzmeister schielt, den nahen Staatsbankrott weissagt. Die dritte Gruppe begleitet den verurtheilten Feldherrn nach dem Gefängniß. Einige, die ihn zunächst umgeben, drücken in verschiedenen Graden Theilnehmung, Schmerz und Mitleiden [207] aus; während er selbst seinem Schicksal mit großherziger Entschlossenheit entgegen geht. In einiger Entfernung sieht man einen Haufen Sykophanten und falsche Zeugen hinter etlichen Männern von Bedeutung, die sich durch ihre boshafte Freude über den gelungenen Streich als die Feinde des verurtheilten Feldherrn ankündigen. Ein einzelner junger Mann, an eine Herme angelehnt, scheint durch seine Gebärde und einen wehmüthig scheuen Seitenblick auf das schuldlose Opfer einer schändlichen Cabale seine Reue zu verrathen, daß er die Anzahl der schwarzen Steine durch den seinigen vermehrt hat. Außer diesen Hauptgruppen erblickt man hier und da einzelne oder in kleine Haufen verstreute Figuren, die, an dem Vorgegangenen keinen Antheil nehmend, nichts Angelegener's zu haben scheinen, als der Palästra, oder dem Bad, oder dem Prytaneon, wo eine wohlbesetzte Tafel ihrer wartet, zuzueilen. Alles das ist mit eben so viel Geist und Leben als Fleiß und Zierlichkeit ausgeführt, und gewiß ist dieses in seiner Art vielleicht einzige Meisterwerk die große Summe werth, für welche ein reicher Kunstliebhaber zu Mitylene es vor kurzem an sich gebracht hat. Indessen, wiewohl ich gestehen muß, daß Parrhasius wo nicht die einzige, doch die sinnreichste und verständigste Art, das, was er uns durch dieses Gemälde zu errathen geben wollte, anzudeuten, ausfindig gemacht habe, ist doch nicht zu läugnen, daß seine Absicht, – wenn es anders seine Absicht war, die Veränderlichkeit und Vielgestaltigkeit des alle mögliche Widersprüche in sich vereinigenden Charakters des Athenischen Demos allegorisch darzustellen – nur unvollkommen und zweideutig dadurch erreicht wird. Denn was [208] er uns darstellt, ist nicht die personificirte Idee, die man mit dem Worte Volk verbindet, insofern ihm ein gewisser allgemeiner Charakter zukommt; sondern eine Menge einzelner Glieder dieses Volks, in der besondern Handlung, Leidenschaft oder Gemüthsstimmung, worein sie sich in diesem Moment gesetzt befinden. Die Arbeit, sich selbst einen allgemeinen Volkscharakter aus allen diesen Ingredienzen zusammenzusetzen, bleibt dem Anschauer überlassen; aber auch dieser kann doch, da alles das eben so gut zu Korinth oder Megalopolis oder Cyrene hätte begegnen können, weiter nichts als den Charakter des Volks in einer jeden Demokratie darin aufsuchen; und der Maler hat diesen Einwurf dadurch, daß er die Scene auf den großen Markt zu Athen setzte, höchstens aus den Augen gerückt, aber keineswegs vernichtet. Doch, wie gesagt, die Schuld, daß er nicht mehr leisten konnte, liegt nicht an ihm, sondern an den Schranken der Kunst; und, außerdem daß dieses Stück, bloß als historisches Gemälde betrachtet, alle Wünsche des strengsten Kenners befriediget, gesteh' ich gern, daß man auf keine sinnreichere Art etwas Unmögliches versuchen kann.

Ich bin durch diese zufällige Abschweifung ziemlich weit von dem, was ich dir schreiben wollte, weggekommen; aber da ich dieß treffliche Stück noch so frisch im Gedächtniß habe, und du eine so warme Liebhaberin der Kunst bist, so konnte ich, oder wollte ich – doch, wozu bedarf es einer Entschuldigung? Was ich geschrieben habe, steht nun einmal da, und ich komme noch immer früh genug dazu, dir ins Ohr zu sagen, daß du mir, wie es scheint, mit deinem Versuch, das Herz [209] meines alten Chirons durch eine Kriegslist zu erobern, keinen sonderlichen Dienst bei ihm geleistet hast. Ich finde ihn seit meiner Zurückkunft noch merklich kälter als zuvor, und seine Vertrauten begegnen mir so fremd und vornehm, daß ich oft alle meine Urbanität zusammennehmen muß, um – ihnen nicht ins Gesicht zu lachen. Aber ich habe eine andere Manier sie zu ärgern; ich thue als ob ich nichts merke, benehme mich gegen Meister und Gesellen wie vorher, und sehe den erstern fast täglich an öffentlichen Orten, wiewohl selten in seinem Hause. Um meine müßigen Stunden auszufüllen, übe ich mich mit einigen der besten Citharisten in der Musik, und lasse mir von dem berühmten Hippias Unterricht in der Redekunst geben. Er ist theuer; aber er könnte doppelt so viel fordern, ohne daß ich es zu viel fände, so groß ist das Vergnügen, ihn reden zu hören. Seine gewöhnliche Methode ist, heute für, morgen gegen einen Satz zu sprechen. Die Sokratiker nehmen ihm das übel; mit Unrecht, dünkt mich. Es gibt schwerlich ein besseres Mittel, die Urtheilskraft zu schärfen, und sich vor Einseitigkeit und Unbilligkeit gegen anders Denkende zu verwahren, als wenn man jede Sache von allen ihren Seiten und im verschiedensten Lichte betrachtet. Noch eine Ursache, warum ich den Um gang mit Hippias liebe, und ihn so oft als möglich sehe, ist seine große Menschenkenntniß; versteht sich, der wirklichen Menschen, wie sie leiben und leben, und des Laufs der Welt, nicht wie wir ihn alle gern hätten, sondern wie er ist. Du kannst dir leicht vorstellen, Laiska, daß ich mich durch diese kleine Vorliebe für einen Sophisten, von welchem die Anhänger des Sokrates, [210] besonders der junge Plato, mit der größten Verachtung sprechen, schlecht bei den letztern empfehle; zumal, da ich seit meiner Zurückkunft meine Art zu leben abgeändert habe, mich besser kleide, etliche Bediente und einen Sicilischen Koch halte, und wöchentlich ein oder zweimal die artigsten Leute, die ich hier kenne, zum Abendessen einlade. »Auch Hetären?« fragst du mit deiner eignen schelmischen Miene – Hetären? Nein, bei allen Grazien des weisen Sokrates und der schönen Lais! – Hoffentlich nimmst du das nicht so, als ob ich dir ein Compliment damit machen wolle. Ich würde mich selbst verachten, wenn mir eine solche Katachresis 109 nur im Traum einfallen könnte. Nie, nie wird es mir möglich seyn, mir das liebenswürdigste aller weiblichen Wesen anders als einzig in ihrer Art, geschweige unter einer Rubrik zu denken, die ich auch dann, wenn sie mit lauter Korinnen, Melissen und Aspasien besetzt wäre, ihrer noch unwürdig finden würde. Ich kenne dermalen keine dieses Standes in Athen, die eine Gesellschaft, wie diejenige, die ich zuweilen bei mir versammle, zu verschönern liebenswürdig genug wäre. Aber schicke mir nur diejenige unter deinen Nymphen, die es am wenigsten ist, und sie soll durch einen einstimmigen Beschluß zur Königin unsrer kleinen Symposien ernennt werden.

31. Lais an Aristipp
[211] 31.
Lais an Aristipp.

Ich habe Uranien zwei schneeweiße Täubchen und dem Wogenbändiger Poseidon einen Stör von der ersten Größe für deine glückliche Wiederkunft geopfert. Ein schwarzer Stier mit vergoldeten Hörnern ist ihm auf den Tag gelobt, an dem wir uns in Aegina widersehen werden.

Es ist doch eine schöne Sache, Freund, so in der Welt herumzustreichen, und alles was groß, selten und sehenswerth ist, mit seinen eignen Augen zu besehen. Die Beschreibung, die du mir von dem Gemälde des Parrhasius zu Mitylene gibst, könnte mich leicht dahin bringen, selbst nach Lesbos zu reisen, um mich gewiß zu machen, daß die Kunst binnen dreißig bis vierzig Jahren schon zu einer solchen Höhe hinaufgestiegen sey. Leontides sagte mir, sein Landsmann und Zeitgenoß Kleophant habe für einen großen Maler gegolten, weil man einige Verschiedenheit in den Gesichtern seiner Figuren wahrgenommen; von Ausdruck der Leidenschaften, Gemüthsregungen und Sitten hatte man damals noch keinen Begriff, und an die feinern Bezeichnungen der Gradationen in allem diesem war vollends gar nicht zu denken. Aber die sinnreichen Anmerkungen, die du über die verfehlte Absicht des Künstlers und über die Unmöglichkeit, den Charakter eines ganzen Volkes in einer historiirten Allegorie zu personificiren, machst, hättest du dir, dünkt mich, ersparen können, mein lieber Philosoph. Wer sagt dir denn, daß Parrhasius eine solche Absicht [212] hatte? oder wie kannst du dir einbilden, ein Maler, der das alles, was du an seinem Werke rühmst, leisten konnte, habe etwas unternehmen wollen, das der Kunst unmöglich ist? Ich bin gewiß, es fiel ihm so wenig ein, das Attische Volk, insofern es sich als eine moralische Person denken läßt, in diesem Gemälde darstellen zu wollen, als die Anwohner der Imaus, oder das Volk im Mond. Warum wollen wir ihm eine andere Absicht leihen, als die sich in seinem Werke selbst ankündigt? Warum soll es noch etwas andres seyn als es augenscheinlich ist? Parrhasius wollte eine auseinandergehende Athenische Volksversammlung malen, und zwar so, daß wir errathen könnten was in derselben verhandelt worden, und wie es überhaupt darin zuzugehen pflege. Es war ein sinnreicher Gedanke, und, ihn auszuführen, unläugbar eine Aufgabe, an die sich nur ein großer Meister wagen durfte. Deiner Beschreibung nach, hat er das, was er leisten wollte, wirklich in einem so hohen Grade geleistet, daß die Kunst in Andeutung dessen, was sie dem Scharfsinn des Anschauers überlassen muß, schwerlich weiter gehen kann. Was wollt ihr noch mehr?

Die Nachricht, die du mir von dem Benehmen der Sokratiker und des Meisters selbst gegen dich gibst, hat für mich nichts Unerwartetes. Alles, dünkt mich, ist wie es seyn kann: wenn jeder bleiben soll, wozu ihn Natur und Umstände gemacht haben, könnt ihr in keinem andern Verhältniß mit einander stehen, und ich bin mit deinem Betragen gegen sie völlig zufrieden.

Dein neuer Freund Hippias ist mir nicht so neu als du [213] zu glauben scheinst. Ich lernte ihn schon vor einigen Jahren bei meinem Alten kennen, und ich müßte mich sehr irren, wenn es ihn schwer ankommen sollte, bloß mir zu Gefallen nach Korinth zu reisen. Wenn er's thäte, so ist er bis jetzt vielleicht der einzige, der dir gefährlich werden könnte. Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein, daß ich dir eine vor kurzem gemachte Entdeckung mitzutheilen habe. Oder solltest du es vielleicht schon wissen, daß sich ein zärtliches Herzensverständniß zwischen meiner kleinen Musarion und deinem wundervollen Freunde Kleombrotus angesponnen hat, wovon wir beide (ich weiß nicht recht warum) während der ganzen acht Tage, die er, vor eurer Reise, in meinem Hause zu Aegina mit uns lebte, nichts gewahr wurden. Wie hätt' es aber auch zugehen sollen? Sie hielten die Sache so geheim, daß die Hauptpersonen selbst, wenn es nur irgend möglich wäre, nichts davon gewahr worden wären. So lange sie einander alle Tage sehen und sprechen konnten so viel sie wollten, war die Sprache der Augen die einzige, wodurch ihre liebenden Seelen sich einander mittheilten. Gäbe es, um einen jungen Hercules, der lauter Geist ist, mit einer niedlichen kleinen Hebe, die lauter Seele ist, in Verbindung zu setzen, noch ein geistigeres Mittel als Blicke, so würden ihnen sogar Blicke noch zu materiell geschienen haben, um sich ihrer zu Unterhaltung dieser heiligen Flamme zu bedienen, die sich im Augenblick der ersten Annäherung, wie durch einen aus heiterm Himmel plötzlich herabfallenden Blitz, in ihren congenialischen Seelen entzündete. Dieß ersehe ich aus einem Briefe des erhabnen Kleombrotus an meine kleine Muse, worin er unter andern sagt: »O Musarion! [214] Warum können Seelen wie die unsrigen einander nicht unmittelbar berühren, unmittelbar umschlingen, durchdringen und in einzige zusammenfließen! Warum muß ich Armer ein so dürftiges, kaltes, kraftloses, kümmerliches Mittel, als Worte sind, zu Hülfe nehmen, um dir zu sagen, was keine menschliche Sprache, was die Sprache der Götter selbst nicht aussprechen kann, – wie ich dich liebe!« – Du fragst mich, Aristipp, wie ich zur Entdeckung dieses unsichtbaren und unaussprechlichen Liebeshandels gekommen sey? Wisse also, mein Freund, daß der arme Kleombrotus, wie er, nach seiner Abreise mit dir, die bisherigen einzigen Vermittler seines geheimen Verständnisses nicht länger gebrauchen konnte, sich endlich durch die höchste Noth gezwungen sah, zu dem gemeinen Hülfsmittel zu schreiten, dessen wir andern gewöhnlichen Menschenkinder uns in solchen Fällen zu bedienen pflegen. Kurz, die kleine Musarion erhielt nach und nach einige große Briefe von ihm, die du lesenswürdig finden würdest, wenn ich Zeit, oder (aufrichtig zu seyn) Dienstgeflissenheit genug gehabt hätte, sie für dich abzuschreiben. Zufälligerweise fand ich diesen Morgen, da das Mädchen eben anderswo beschäftiget war, ihr Schmuckkästchen, worin sie diesen Schatz verwahrte, unverschlossen; und so erfuhr ich denn mehr als die gute Seele glaubt daß ich wisse; denn ich schlich mich unbemerkt wieder fort, und bin entschlossen, mir nicht das Geringste von der gemachten Entdeckung gegen sie merken zu lassen. Wenn du es mit dem begeisterten Kleombrotus eben so halten wirst, so können wir uns von dem Fortgang und der Entknotigung dieses sublimen Liebeshandels noch manche Kurzweil versprechen.

32. An Lais
[215] 32.
An Lais.

Ich werde mich künftig wohl hüten den Kunstrichter zu machen, wenn ich mit dir von dem Werk eines großen Meisters spreche. Ganz gewiß hast du die Idee des Parrhasius auf den ersten Blick richtig gefaßt, und ich begreife jetzt selbst nicht, wie ich dem Ansehen eines vorgeblichen Kenners, an dessen Seite ich den sogenannten Demos Athenäôn sah, mehr glauben konnte als dem Zeugniß meiner eignen Augen, die mir eben dasselbe sagten was du. So kann uns die löbliche Tugend der Bescheidenheit – oder die Untugend des Mißtrauens in uns selbst zuweilen irre führen!

Kleombrotus hat sein Geheimniß besser in seinem Busen verwahrt als Musarion seine Briefe in ihrem Schmuckköstchen. Ich merkte zwar, daß seine Phantasie während unsrer ganzen Reise sehr hoch hinaufgeschraubt war; aber geschraubt war sie auch vorher gewesen, und was etwa das Mehr austragen mochte, setzte ich, den Regeln der Wahrscheinlichkeit gemäß, auf deine Rechnung. Denn wie konnt' ich mir einbilden, daß ein solcher Schwärmer die schöne Lais ungestraft hätte sehen können? Daß nur ein Schwärmer wie er es könne, fiel mir nicht ein – und ist doch so wahr! Desto besser für ihn daß er es konnte! Bei dir würde er schwerlich so wohl gefahren seyn als bei der kleinen Musarion, und sie schickt sich freilich besser dazu, seiner phantastischen Art zu lieben (die er dem jungen Plato, einem noch größern Schwärmer als er selbst, abgelernt [216] hat) zum Zunder zu dienen als du. Da es ihm nun einmal angethan ist daß er sich nur in Seelen verlieben kann, so hätte ihm nichts Glücklicheres begegnen können, als so von ungefähr auf das sanfte Seelchen eines so ganz aus Lilienglanz und Rosenduft zusammengehauchten und von Amors zärtlichstem Seufzer beseelten Mädchens zu stoßen; und ich freue mich für sie und uns, daß du geneigt bist, sie unter dem Schleier ihrer vermeinten Unsichtbarkeit ihr Wesen so lange forttreiben zu lassen, bis etwa Natur oder Zufall dem empfindsamen Kinderspiel ein Ende macht.

Meine Bekanntschaft oder Freundschaft, wenn du willst, mit dem verführerischen Hippias steht noch in vollem Wachsthum. Wir sehen uns beinahe täglich, und scheinen einander immer mehr Geschmack abzugewinnen. Es fehlt zwar viel, daß seine Philosophie auch die meinige sey. Sie geht nicht weiter als auf Lebensklugheit; dein Freund Aristipp hingegen (rümpfe deine schöne Nase nicht gar zu spöttisch, Laiska!) hat es dem Sohne des Sophroniskus zu danken, daß er sich kein geringeres Ziel als Lebensweisheit vorgesteckt hat. Zwar ist nicht zu läugnen, daß Hippias mit seiner Aufgabe bereits im Reinen ist, während ich noch ungewiß bin, ob ich jemals mit Auflösung der meinigen zu Stande kommen werde: aber dafür wirst du mir zugeben, daß die seinige auch bei weitem nicht so schwer und verwickelt ist. Uebrigens, den einzigen Punkt, worin wir nie zusammentreffen werden, ausgenommen, haben wir eine unendliche Menge Berührungspunkte, und ich finde wirklich alles in ihm beisammen, was man sich an einem angenehmen, beinahe zu allem brauchbaren Gesellschafter wünschen[217] kann. Bis jetzt ist mir noch niemand vorgekommen, der vielseitiger und mannichfaltiger, freier von Vorurtheilen, behender in richtiger Auffassung fremder Gedanken und Meinungen, und weniger schwerfällig in Behauptung seiner eignen wäre als Hippias. Ueberdieß besitzt er eine unendliche Menge von Kenntnissen und Geschicklichkeiten aller Art, und ich bin noch nie in seiner Gesellschaft gewesen, ohne irgend etwas Wissenswürdiges oder Brauchbares von ihm gehört oder gelernt zu haben. Aber freilich interessirt mich auch beinahe alles in der Welt, und es gibt schwerlich ein so brodloses Künstchen, das ich nicht zu lernen versucht würde, wenn es irgends ohne großen Zeitaufwand und gleichsam im Vorbeigeben zu lernen ist.

Sage indessen meiner edeln Base Anaximandra, sie würde mir großes Unrecht thun, wenn sie glaubte, Sokrates werde nun gerade so viel bei mir verlieren als Hippias gewinne. Meiner Sinnesart nach kann dieß nie der Fall seyn; und wenn sich auch meine anfangs vielleicht allzuhohe Meinung von dem Athenischen Weisen um etwas herabgestimmt haben sollte, so hat wenigstens der Sophist von Elea nicht die geringste Schuld daran. Da ich einmal auf diesen Punkt gekommen bin, liebe Laiska, so will ich mich so aufrichtig gegen dich erklären, als ob ich, als bloßer Zeuge dessen, was ich von der Sache weiß, vor deinem Richterstuhl stände. Ich werde nie aufhören den Sokrates zu ehren und mit Dankbarkeit zu erkennen, daß ich in seinem Umgang besser geworden bin. Auch kann ich dir, wenn du es begehrst, ziemlich genau sagen, worin, wodurch und wiefern ich mich durch ihn gebessert finde. [218] Wenigstens glaube ich, daß ich ohne ihn nie zu dem Ideal der sittlichen Form meiner Natur gekommen wäre, dessen Ausbildung und Darstellung im Leben immer mein angelegenstes Geschäft seyn wird. Freilich würde mir Hippias sagen, diese Form wäre auch ohne Hülfe des Sokrates in mir entwickelt worden, so gut als die Kinder, denen seine Mutter zur Geburt verhalf, vermuthlich auch ohne sie in die Welt gekommen wären. Das könnte vielleicht seyn, es kann aber auch nicht seyn; ich streite nicht gern über Dinge die sich nicht aufs Reine bringen lassen: genug, ich hasse eine Vorstellungsart, die mir ein so humanes und angenehmes Gefühl, als die Dankbarkeit ist, raubt, wiewohl Sokrates selbst, durch den edeln Eigensinn, alles was er zu geben hat unentgeltlich zu geben, es mir unmöglich macht, sie ihm beweisen zu können. Aber auch ohne Rücksicht auf das, was ich ihm in diesen vier Jahren schuldig geworden bin, habe ich ihn in so langer Zeit hinlänglich kennen gelernt, um mit Ueberzeugung zu sagen, ich kenne keinen weisern und bessern Mann als ihn; und wenn ich noch dreimal so lange mit ihm lebte, was könnt' ich mehr sagen? Wozu also sollt' ich noch immerfort wie sein Schatten hinter oder neben ihm her gleiten? Warum nicht auch andere merkwürdige Menschen aufsuchen, oder wenn sie mir von ungefähr begegnen, mich eine Zeit lang zu ihnen halten, um zu sehen, ob ich nicht auch durch diese besser werden kann? Denn, – da ich nun einmal im Bekennen bin, warum sollt' ich nicht auch dieß gestehen, da es die bloße reine Wahrheit ist? – Sokrates ist für mich ein Buch, das ich schon lange auswendig weiß, eine Musik, die ich tausendmal gehört, eine Bildsäule, die ich [219] tausendmal von allen Seiten betrachtet habe. Seit vier Jahren höre und sehe ich alle Tage ungefähr eben dasselbe bei ihm; und wiewohl ich ihn damit nicht getadelt haben will, so mag doch, dächte ich, ein für so vielerlei Schönes und Gutes empfänglicher, und (mit deiner Erlaubniß) »das Vergnügen, wo nicht mehr als einem emporstrebenden Jüngling geziemt,« doch gewiß nicht weniger, liebender junger Mann zu entschuldigen seyn, wenn er es endlich müde wird, Tag vor Tag zu hören, an jedem Abend sich mit der Erinnerung, nichts anders den ganzen Tag über gehört zu haben, niederzulegen, und am folgenden Morgen mit der Gewißheit aufzustehen, daß er auch heute nichts anders hören werde, als »daß ein braver Mann seinem Vaterlande, seinen Freunden und seinem Hauswesen nützlich seyn, den Feinden hingegen allen möglichen Schaden zufügen, und um dieses und jenes besser zu können, immer mäßig, nüchtern und enthaltsam seyn, die Wollust fliehen, Hunger und Durst, Frost und Hitze leicht ertragen, keine Arbeit scheuen, keinen Schmerz achten, und aller Aphrodisischen Anfechtungen 110, damit sie sich ja nicht etwa auf einen einzigen liebreizenden Gegenstand werfen möchten, durch den ersten besten Ableiter aufs schleunigste loszuwerden suchen müsse.« – Diese (unter uns gesagt) aus einem etwas groben Faden gewebte Moral, deren Theorie man in einer Stunde weg hat, und bei welcher alles bloß auf einen derben Vorsatz und lange Uebung ankommt, mag zum Hausgebrauch eines Attischen Bürgers, zumal wenn er von zwei oder drei Obolen des Tags leben muß, eben so zureichend seyn, als sie unstreitig nach Zeit und Ort und Erforderniß der vorhabenden Sache, auch [220] jedem andern Biedermann zuträglich ist: aber ein ehrlicher Weltbürger, der sich darauf einrichten will, überall zu Hause zu seyn, und, seinem eigenthümlichen Charakter unbeschadet, in alle Lagen zu passen, und mit allen Menschen zu leben, langt damit nicht aus, und muß noch ein ziemliches Theil mehr wissen und können, um seine Rolle gut zu spielen, und, wofern er es auch andern Leuten, ohne seine Schuld, nicht immer recht machen kann, wenigstens so selten als möglich sich selbst sagen zu müssen: das hättest du besser, klüger oder schicklicher machen können. Ueberdieß sehe ich nicht, warum ein Mann, dem seine Umstände erlauben, über das Unentbehrliche in Nahrung, Kleidung, Wohnung und andern zum menschlichen Leben gehörigen Dingen, hinauszugehen, gerade nur seine Philosophie auf die bloße Nothdurft einschränken müßte. Das Menschengeschlecht ist zu ewigem Fortschreiten, der einzelne Mensch zu möglichster Ausbildung seiner selbst, in der Welt. Dieß sagt mir mein Dämonion, und ich glaube ihm wenigstens eben so sicher folgen zu können, als Sokrates dem seinigen.

Uebrigens steht, meines Bedünkens, dem Meister selbst manches wohl an, und verdient sogar alle Achtung, was an seinen Nachahmern nicht die nämliche Grazie hat; zumal wenn sie der Sache nie zu viel thun zu können glauben, und noch sokratischer seyn wollen als Sokrates selbst. Unter allen treibt es keiner weiter als Antisthenes; denn gegen ihn ist Sokrates ein Stutzer. Seitdem ich mir die Freiheit nahm in meine gewohnte Lebensweise zurückzutreten, schien er (vermuthlich um mich durch den Abstich desto ärger zu beschämen) von der [221] Sokratischen Schlichtheit bis zum schmutzigen Costume der königlichen Bettler in den Tragödien des Euripides 111 herabsteigen zu wollen. Dieß machte ihn eben nicht zum angenehmsten Nachbar; indessen wußte ich mir mit einem sehr einfachen Mittel zu helfen, und verbannte mich aus seiner Atmosphäre so weit ich konnte. Nun ward er, kraft der Vorrechte die ihm unsre ehmalige Vertraulichkeit gab, zudringlich, und weil die Gelegenheiten uns öffentlich zu sehen immer seltner wurden, suchte er mich sogar in meinem Hause auf, um mich mit dem ziemlich grobkörnigen Attischen, oder vielmehr Piräischen Salze 112 seiner Sarkasmen tüchtig durchzureiben. Da dieß nicht anschlagen wollte, und er immer nur lachende Antworten von mir erhielt, kehrte er zuletzt die rauche Seite heraus, und machte mir ernsthafte und bittere Vorwürfe, als ob ich der Sokratischen Gesellschaft durch meine Lebensweise und Sybaritischen Sitten (wie er zu sagen beliebte) Schande machte. Einsmals kam er dazu, da ich eben für ein rothes Rebhuhn funfzig Drachmen bezahlt hatte, d.i. ungefähr so viel als er selbst in einem halben Jahre zu verzehren hat, und in der That etwas viel für ein Rebhuhn. – Schämst du dich nicht, schnarchte er mich in Gegenwart vieler Leute mit dem Ton und der Miene eines ergrimmten Pädotriben an, du, der für einen Freund des Sokrates angesehen seyn will, eine so große Summe für einen wenig Augenblicke dauernden Kitzel deines Gaumens auszugeben? Ich merkte leicht daß er mich reizen wollte, um dem Volke, das in solchen Fällen immer Partei gegen den Fremden nimmt, eine Scene auf meine Kosten zu geben. Würdest du, sagte ich mit größter Gelassenheit, das[222] Rebhuhn nicht selbst gekauft haben, wenn es nur einen Obolus kostete? Das ist ganz ein anders, versetzte er. »Keineswegs, Anthisthenes; mir sind funfzig Drachmen nicht mehr als dir ein Obolus.« – Die Zuhörer lachten; ich ging davon, und seitdem sahen wir uns nicht wieder.

Ich erzähle dir diese kleine Anekdote, schöne Lais, um dir einen deiner angenehmen Athenischen Tischfreunde wieder ins Gedächtniß zu rufen, und damit du dich nicht zu sehr verwunderst, wenn du etwa hören solltest, Aristipp von Cyrene und Sokrates seyen auf immer mit einander zerfallen, weil besagter Aristipp seinem Lehrer funfzig Drachmen, um welche dieser ihn angesprochen, rund abgeschlagen, und doch zu gleicher Zeit fünfhundert um ein rothes Rebhuhn ausgegeben habe.

Hippias gedenkt in kurzem eine Reise nach Syrakus zu unternehmen, und macht mir den Antrag ihn dahin zu begleiten. Außerdem, daß ich eben nicht weiß was mich in Athen zurückhalten sollte, habe ich große Lust das Land zu sehen, wo meine Freundin Lais geboren wurde, und, was mir noch angelegner ist, bei dieser Gelegenheit vielleicht sie selbst in Korinth wiederzusehen. Der Antrag wird also vermuthlich angenommen werden.

33. Lais an Aristipp
[223] 33.
Lais an Aristipp.

Wiewohl ich nie so übel von meinem Freund Aristipp denken werde, um zu besorgen, daß er sich jemals ungerecht und undankbar gegen einen Sokrates zu zeigen fähig sey, so dünkt es mich doch hohe Zeit, daß du, mit oder ohne Hippias, je eher je lieber – nach Syrakus reisest. Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube wirklich in deinem letzten Briefe hier und da Spuren von dem Einfluß, den dein neuer Freund auf deine Vorstellungsart gewinnt, wahrzunehmen.

Die Anekdote hat mir den kleinen Triumph, den meine Reize zu Athen über die Runzeln des finstern Antisthenes erhielten, nicht ohne gerechten Stolz wieder ins Gedächtniß gebracht. Uebrigens, wie wenig Amönität der gute Mann auch in den Ton seines Tadels gelegt hat, kann ich ihm doch in der Hauptsache nicht ganz Unrecht geben; und ich möchte dir wohl selbst rathen, wofern funfzig Drachmen der gewöhnliche Preis der rothen Rebhühner zu Athen sind, deinen Tisch nicht allzu oft mit einem so theuern Leckerbissen besetzen zu lassen. Denn, wenn dein übriger Aufwand mit diesem einzelnen Artikel in gehörigem Verhältniß stehen sollte, so möchten wohl die Einkünfte einer Persischen Satrapie nicht zureichen, deine Wirthschaft im Gange zu erhalten.

Da ich schwerlich hoffen darf, dich in der nächsten Rosenzeit zu Aegina zu sehen, so ist es desto freundlicher von dir wenn du mich im Vorbeigehen durch einen Besuch in Korinth [224] entschädigest. Ich denke nicht, daß Hippias zu viel dabei seyn wird, wiewohl ich dir für die Folgen der Erneuerung einer fünf Jahre unterbrochnen Bekanntschaft mit einem so liebenswürdigen Manne, wie du ihn beschreibst, nicht stehen will. Ueberlege also wohl, wie viel du etwa zu wagen gesonnen bist; und vergiß auch nicht mit in den Anschlag zu bringen, daß meine eigenen Reizungen (wie mich glaubwürdige Personen versichern) noch immer in täglichem Zunehmen sind. Wir Schönen haben, wie du weißt, zuweilen gar wunderliche Launen.

34. Aristipp an Lais
34.
Aristipp an Lais.

Die gute Gesellschaft, die man gewöhnlich bei Hippias findet, hat sich seit kurzem um eine sehr interessante Person vermehrt. Sie nennt sich Timandra 113, und war die Gesellschafterin und Geliebte des schönen Alcibiades, in der letzten Zeit des herumirrenden Lebens dieses berüchtigten Abenteurers. Da ich so glücklich bin, eine Dame zu kennen, neben welcher jede andere erröthen würde, wenn man sie schön nennen wollte, so sage ich bloß, daß diese Timandra eine der liebenswürdigsten Personen ist, die ich noch gesehen habe; und was sie in meinen Augen auch achtungswürdig macht, ist die Anhänglichkeit und Treue, mit welcher sie jenem im Guten und im Bösen unübertrefflichen Manne, auch im Unglück und bis [225] in seinen Tod zugethan blieb. Die unaffectirte Wärme, womit sie noch jetzt von ihm spricht, scheint die Aufrichtigkeit der Trauer zu bestätigen, worin sie etliche Jahre nach seinem Tode in einsamer Verborgenheit zugebracht haben soll. Nun hat sie sich mit dem, was sie aus den Trümmern der unermeßlichen Reichthümer ihres unglücklichen Freundes retten konnte, nach Athen begeben, wo sie sehr eingezogen lebt, und nur mit vieler Mühe vermocht werden kann, zuweilen in einer ausgesuchten kleinen Gesellschaft die Tafel des Hippias zu zieren; der (wenn ich dir's nicht schon gesagt habe) in seinen Talenten und in seiner Gewandtheit Mittel gefunden hat, sich zu einem der reichsten Sophisten in der ganzen Hellas zu machen, so wie er, mit deiner Erlaubniß, einer der ersten Virtuosen in der Kunst gut zu essen ist. Er hat der schönen Timandra Anträge gethan, die in ihrer Lage kaum zu verwerfen wären, wenn Hippias auch weniger von allem dem besäße, was sie über den Verlust eines Alcibiades trösten kann. Noch scheint sie unentschlossen; doch zweifle ich nicht, daß sie sich überreden lassen wird, uns auf der Reise nach Syrakus Gesellschaft zu leisten. Du siehst also, liebe Laiska, falls du etwa einen kleinen Anschlag auf meinen Reisegefährten gemacht haben solltest, daß du eine Rivalin zu bekämpfen haben wirst, die sich dermalen, wo nicht seines Herzens (und rathe warum?) doch gewiß seines Geschmacks und seiner Phantasie gänzlich bemächtigt zu haben scheint.

Kleombrotus dauert mich. Er hat, als er hörte daß wir nach Korinth gehen würden, alles versucht, um von der Gesellschaft zu seyn: aber Hippias der mit einer natürlichen Antipathie [226] gegen alle Arten der Schwärmerei und Schwärmer geboren ist, konnte nicht bewogen werden, seine Einwilligung dazu zu geben. Die Noth des armen Jungen stieg endlich so hoch, daß ich, wenn wir allein waren, sein Geheimniß schon mehr als Einmal, unter dem heftigsten Grimmen und Würgen, sich schon ganz nah an seine Lippen hinauf arbeiten sah; aber immer hatte er doch Stärke genug es mit Gewalt wieder hinunterzudrücken. Da ich ihm nun geholfen wissen möchte, so sann ich lange auf Mittel und Wege, bis mir endlich einfiel, ihn mit meinem edeln Freund Eurybates bekannt zu machen. Eurybates ist ein leidenschaftlicher Liebhaber der Dichter und der Kunst ihre Werke gut zu lesen; und Kleombrotus, außerdem daß er selbst Dithyramben von der ersten Stärke macht, declamirt so vortrefflich, daß er es beinahe mit dem großen Rhapsodisten Ion 114 aufnehmen könnte. Diese Talente haben ihn bereits in so hohe Gunst bei Eurybates gesetzt, daß ich gewiß bin, er wird ihn künftigen Frühling mit nach Aegina nehmen, und die beiden liebenden Seelchen werden sich dort unter deinem Schutze, wieder – nach Herzenslust anschauen, durchdringen, und in Eine hermaphroditische Seele zusammenfließen können. Kleombrotus ist von seinem neuen Freunde ganz bezaubert. – Ich bedaure nur, sagte ich diesen Morgen mit der arglosesten Miene zu ihm, daß ihr euch so bald wieder werdet trennen müssen; denn Eurybates wird den Frühling in Aegina zubringen. – Was thut das? versetzte Kleombrotus; warum sollt' ich ihn nicht nach Aegina begleiten können? – Das ist wahr, erwiederte ich, wenn dich deine Anhänglichkeit an Sokrates und Plato nicht zurückhält. – Du siehst,[227] Laiska, ich wollte mir nur eine kleine Kurzweil mit dem verschwiegenen Liebhaber machen; aber meine letzten Worte verdarben alles. Sie fielen ihm so stark auf die Brust, daß er plötzlich den Kopf hängen ließ, und mit einem tiefen Seufzer traurig fortschneckte. Ich bin gewiß, es wird ihm harte Kämpfe kosten bis ihn die Leidenschaft überzeugt haben wird, daß, in der Nothwendigkeit zwischen beiden zu wählen, Musarion doch den Vorzug haben müsse.

Hippias hat endlich über die Bedenklichkeiten der schönen Wittwe des Alcibiades gesiegt, und unsre Abreise ist auf einen der nächsten Tage angesetzt. Wenn uns der Gott der Winde nicht zuwider ist, hoffe ich noch vor dem Eintritt des nächsten Vollmonds, zur Feier unsrer ersten Zusammenkunft in Korinth, den Grazien mit dir zu opfern.

35. An Ebendieselbe
35.
An Ebendieselbe.

Ist es wahr, meine Laiska, daß ich dich gesehen, drei Göttertage mit dir gelebt, unsern ewigen, am Altar der Freundschaft zu Aegina beschwornen Bund erneuert, und den Sokratischen Grazien und dem Götter und Menschen Herrscher Amor in deinem eigenen Tempel zu Korinth geopfert habe? Wie die Stunden in einem schönen Traum, einem einzigen langen untheilbaren Augenblick ähnlich, schwanden sie vorüber, diese Wonnetage; aber noch immer meinem innersten Sinne [228] gegenwärtig, auch in der geistigen Gestalt der bloßen Erinnerung, löschen sie alles aus, was sich mir als gegenwärtig darstellen will: alles Wirkliche scheint mir Traum; ich sehe nur dich, höre nur den Sirenenton deiner süßen Rede, sauge den allmächtigen Geist der Liebe aus deinen Lippen, und fühle deinen göttlichen Busen auf meinem Herzen wallen. Schon bin ich drei volle Tage (sagen die Leute) in Syrakus, in der größten, prächtigsten, schönsten Stadt des ganzen Erdbodens: und wenn du mich fragtest, wo der weltberühmte Tempel der Tyche stehe, und ob er auf Dorischen oder Ionischen Säulen ruhe, so wüßt' ich dir nicht zu antworten. Lais, Lais! Was hast du aus mir gemacht? aus mir, der sich auf die Kälte seines Kopfs so viel zu gute that? O du, mächtiger als Circe und Medea, gib mir meine Sinne wieder! Löse den Zauber, den du auf mich geworfen hast! Was wolltest du mit einem Wahnsinnigen anfangen? – Wunderbar, daß ich deine Gegenwart mit ihrer ganzen Allgewalt ertragen konnte, und entfernt von dir der bloßen Erinnerung unterliege! Beinahe möcht' ich mit dir hadern, daß du so unendlich liebenswürdig bist. – Ich rede im Fieber, Liebe, nicht wahr? – Es ist hohe Zeit daß ich aufhöre.

36. Lais an Aristipp
36.
Lais an Aristipp.

Welcher ungnädigen Nymphe bist du zur Unzeit in den Weg gekommen, Aristipp? Wüßte ich nicht, wie wenig das [229] war, das dich in so wunderbare Seelenzuckungen zu setzen scheint, und daß ein Löffel voll Wein, sey es auch vom besten Cyprier, niemanden berauschen kann, du hättest mich beinahe glauben gemacht, es sey dein Ernst. Aber vermuthlich wolltest du nur einen kleinen Versuch machen, wie weit du es in der Manier des jungen Kleombrotus bringen könntest. Ich würde dich beklagen, wenn du wirklich so wenig ertragen könntest als du vorgibst. Gut indessen, daß du mich gewarnt hast. Ich werde mir's gesagt seyn lassen, und mich wohl hüten, dich glücklicher zu machen als dir zuträglich ist. Wenn ein Tröpfchen Nektar in einem Becher voll Wasser dir schon so stark zu Kopfe steigt, was für Unheil würde eine ganze Trinkschale unvermischten Göttertranks in deinem Gehirn anrichten?

Ernstlich zu reden, lieber Aristipp, muß ich fast vermuthen, daß du mich über die kleinen Untreuen, wozu dich die schöne Timandra, vielleicht ohne Absicht und Wissen, verleitet, sicher machen willst. Wenn das deine Meinung wäre, mein Freund, so hättest du das unrechte Mittel ergriffen. Bleibe, wenn ich dir rathen darf, in deinem gewöhnlichen Ton, und verlass' dich wegen des Uebrigen auf mich. Ich weiß wie viel man euch zu gut halten muß, und bei mir bist du vor den zwei häßlichsten Weiblichkeiten, der Eifersucht und der Rachlust, sicher. Ich werde immer ehrlich und aufrichtig mit dir verfahren, aber ich erwarte auch das Nämliche von dir.

Syrakus, sagt man, hat die schönsten Weiber in ganz Griechenland. Findest du es wirklich so? Sage mir gelegentlich ein Wort hierüber, und melde mir zugleich, wie meine [230] neue Freundin mit ihrem sophistischen Liebhaber, oder wie man es nennen muß, haushält? Etwas Kunst wird sie nöthig haben, wenn sie so viel Gewalt über ihn behalten will, als schlechterdings nöthig ist, wenn ein Mann sich glücklich durch uns fühlen soll. Doch sie ist in einer guten Schule gewesen, und die ehemalige Geliebte des Alcibiades kann des Raths einer Anfängerin nicht bedürfen. Wenn ich sie recht gesehen habe, so ist viel feiner Sinn, um nicht Schlauheit zu sagen, unter der naiven Einfalt versteckt, die ihr eine so eigene Anmuth gibt, und desto sichrer wirkt, weil sie mit Geist und Güte des Herzens verbunden ist. Sie ist wirklich ein liebenswürdiges Weib, und ich erlaube dir, ihr so gut zu seyn als dein Freund Hippias es gerne sehen mag.

37. Aristipp an Lais
37.
Aristipp an Lais.

Ich glaube wirklich, daß ich dir jüngst in einer Art von Fieber geschrieben habe, Laiska. Was ich schrieb mögen die Götter wissen! Ich weiß nichts weiter davon, als daß in den ersten acht Tagen nach der Abfahrt von Korinth die Erinnerung an dich mein ganzes Wesen dermaßen ausfüllte, daß keine andere Vorstellung Platz neben ihr finden konnte. Wenn du glaubst, daß ein solcher Zustand ziemlich nah an Wahnsinn gränze, so bin ich völlig deiner Meinung; oder vielmehr, um entschiedener Wahnsinn zu werden, hätte er vielleicht nur [231] noch acht Tage dauern müssen. Indessen war's doch schon ein gutes Zeichen, daß mir nicht so ganz wohl bei der Sache war als wenn ich Kleombrotus gewesen wäre. Ich stand schon im Begriff mit einem Arzt davon zu sprechen, als wir, zu gutem Glücke, von Hermokrates, einem der angesehensten Männer der Stadt, zu einem großen Gastmahl eingeladen wurden. Die Gesellschaft war auserlesen, die Bewirthung (um alles mit Einem Worte zu sagen) Sicilianisch; und wie die Fröhlichkeit nach und nach rauschender ward, gingen auch die großen Becher immer fleißiger herum. Ich schonte den herrlichen Syrakuser unsers reichen Wirthes nicht, und siehe da! am folgenden Morgen, als ich meinen kleinen Rausch ausgeschlafen hatte, stand ich so heiter, unbefangen und lichtstrahlend vom Lager auf, als Helios 115 aus den Armen der Thalassa. 116

Du siehest, liebe Laiska, daß man an dem Gehirn eines ächten Sokratikers nicht so leicht verzagen darf. Indessen sind wir, wie gesagt, über das Gefährliche der Nympholepsie 117, über die du, Grausame, mich noch gar bespotten konntest, gänzlich einverstanden; nur gegen die Folge, die du daraus ziehest, hab' ich eine starke Einwendung. Der Satz, worauf du deinen Schluß gründest, mag in vielen Fällen gelten; aber auf die Liebe läßt er sich nicht anwenden. Mit dieser Leidenschaft ist es (übrigens ohne Vergleichung) wie mit gewissen Krankheiten, wo eine kleine Gabe eben derselben Arzney das Uebel vermehrt, eine starke hingegen die trefflichste Wirkung thut. Auf diese Gefahr wag' es also immerhin mit mir, schöne Hebe! Vergiß daß ich nur ein Sterblicher bin, reiche [232] mir die Nektarschale so voll wie einem Olympier, und du wirst Wunder sehen!

Timandra, die dich – liebt wäre vielleicht zu viel gesagt, mehr als von irgend einem schönen Weibe gefordert werden kann – aber, die dich neidlos bewundert, ist auf dein Andenken und deine Theilnehmung stolz. Sie scheint sich in ihrer neuen Lage wohl zu gefallen, und mein Egoist lebt in einer sehr vergnüglichen Ehe mit ihr. Er kann sich keine bessere Hausfrau wünschen, sie keinen Mann bei dem sie es in allen Stücken besser hätte; so daß ich nicht sehe, warum ihre Verbindung nicht bis auf den letzten Faden halten sollte. Timandra hat alles, bis zum Ueberfluß, was seine Sinnlichkeit befriedigen kann; dabei ist sie sanft, munter, und immer frohen Sinnes, ohne Laune, Eigensinn und Eifersucht; steht seinem Hauswesen mit Treue und Klugheit vor, kommt allen seinen Wünschen entgegen, versteht seine leisesten Winke, ist ihm nie beschwerlich, und erlaubt ihm stillschweigend, so viele kleine Seitensprünge zu machen als er Lust und Gelegenheit hat. Wie geneigt Hippias seyn mag, ihr gleiche Freiheit nachzusehen, weiß ich nicht, und werde ihm schwerlich jemals Ursache geben sich darüber zu erklären. Indessen erkenne ich mit gebührendem Danke, daß du meiner Phantasie einen freiern Spielraum verstattest als sie selbst verlangt; ich gedenke einen so bescheidenen Gebrauch von deiner Großmuth zu machen, daß Sokrates selbst nicht mehr von seinen Jüngern fordern zu dürfen glaubt.

So viel ich bis jetzt zu sehen Gelegenheit hatte, scheint die öffentliche Meinung der Schönheit der Syrakuserinnen [233] nicht zu viel zu schmeicheln. Vor wenig Tagen gab mir eines ihrer vornehmsten Feste Gelegenheit, mich mit meinen eigenen Augen davon zu überzeugen. Der lange Zug von jungen Mädchen (den Töchtern der angesehensten und begütertsten Bürger), die in zierlich gefalteten, bis zu den schönen Knöcheln herabfließenden weißen Gewändern, Blumenkränze um das halb aufgewundne, halb auf die Schulter fallende volllockichte Haar, und den leicht umflorten Busen mit reich gestickten Bändern umgürtet, Paar und Paar mit leichtem Schritt und edelm Anstand dem Dianentempel zuwallten, alle in der ersten Entknospung der Jugend und Schönheit, keine die nicht einem Skopas zum Modell einer Grazie hätte dienen können – ich gestehe dir, Laiska, es war ein entzückender Anblick! Und als sie sich nun im feierlich-ernsten Tanz, Hand in Hand, gleich einem lebendigen Blumenkranz um den Opferaltar herum wanden, in den reinsten Silbertönen einen Pindarischen Hymnus aus ihren Nachtigallkehlen anstimmend, – wahrlich ein vorbeischwebender Gott hätte sich (wie der Dichter sagt) bei diesem Schauspiel verweilt; und nie dünkte mich einen solchen Triumph der weiblichen Schönheit und Anmuth gesehen zu haben. Das Auge irrte geblendet und alles Auswählens vergessend um den weit ausgedehnten Kreis dieser Zauberschwestern umher, unvermögend auf Einer zu verweilen, weil schon im nächsten Augenblick eine vielleicht noch schönere ihre Stelle eingenommen hatte, um sie im folgenden gleich wieder an eine eben so reizende abzutreten. Du selbst, du Einzige, hättest auf einmal mitten unter ihnen erscheinen müssen, um den Zauber zu vernichten, und hunderttausend [234] Augen, die mit diesem lieblichen Reihen von mehr als hundert Grazien zugleich herumgedreht wurden, plötzlich an dich allein zu fesseln.

38. An Learchus zu Korinth
38.
An Learchus zu Korinth.

Der gute Genius deines gastfreundlichen Hauses, edler Heraklide, hat mich glücklich zu Korinths schönster Tochter, der Beherrscherin der reichsten Insel der Welt, herübergeführt. Du kennst Athen und Syrakus 118, und dir darf ich also wohl gestehen, was ich auf dem großen Marktplatz zu Athen kaum zu denken wagen dürfte: daß Syrakus die stolze Minervenstadt an Größe, Bauart, Volksmenge und Mitteln die Prachtliebe und Ueppigkeit ihrer Bürger zu befriedigen, weit hinter sich zurückläßt. Von den Einwohnern urtheilen zu können, bin ich noch zu kurze Zeit hier; aber weniger wäre schon genug, um zu sehen, daß sie den Athenern auch an Lebhaftigkeit, Feuer, Wankelmuth, Leichtsinn, und raschen Sprüngen von einem Aeußersten zum andern, den Vorzug streitig machen könnten. Es begreift sich, daß ein solches Volk (wie mir ein schon lange unter ihnen wohnender Tarentiner sagte) weder mit noch ohne Freiheit leben kann. Seit der Zeit, da sie von deinem Stammgenossen Archias zum zweitenmale gegründet wurde (also seit mehr als dreihundert Jahren) macht ein rastloses Hin- und Herschaukeln von Oligarchie zu Demokratie, [235] und von Demokratie zur Herrschaft eines Einzigen, den summarischen Inhalt ihrer Geschichte aus; und wiewohl so viele Versuche sie belehrt haben sollten, daß sie sich bei der oligarchischen Regierung nie so übel als bei der demokratischen und bei der monarchischen (selbst eines Hieron und Dionysius) immer besser als bei der oligarchischen befanden; so ist doch der unglückliche Hang zur Demokratie ein so tief eingewurzeltes Uebel bei diesem Volke, daß alles, was sie seit der Vertreibung der Geloniden von innerlichen Unruhen und Umwälzungen erlitten haben, sie nicht von der Begierde heilen kann, bei dem geringsten Anschein eines glücklichen Erfolgs das heilsame Joch wieder abzuschütteln, welches ihnen Dionysius mit eben so viel Gewandtheit als Stärke auf den Nacken gelegt hat. Es sind nun zehn Jahre verflossen, seitdem dieser sogenannte Tyrann sich der Alleinherrschaft in Syrakus bemächtigt hat. Daß er dieß nicht konnte, ohne einen großen Theil der mächtigsten und reichsten Familien, die ihm hartnäckig und wüthend widerstanden, zu unterdrücken, war Natur der Sache: aber niemand zweifelt, daß ihm selbst nichts erwünschter wäre, als wenn ihm die Syrakusaner erlauben wollten, das Andenken der ersten Jahre seiner eigenmächtigen Regierung auszulöschen, und die Fortsetzung derselben für sie und für ganz Sicilien so glücklich und wohlthätig zu machen, als es einst die Regierung des noch jetzt gepriesenen Gelon war. Niemand würde mehr dabei gewinnen als sie selbst. Denn es ist leicht vorherzusehen, daß ohne ein gemeinschaftliches Oberhaupt, welches alle Städte Siciliens dazu vermögen kann, ihre Stärke gegen den gemeinschaftlichen Feind, die Carthager, zu vereinigen, [236] unfehlbar eine nach der andern dem schrecklichen Schicksal von Agrigent 119 unterliegen werde; und gewiß würde es schwer seyn, im ganzen Sicilien einen Mann zu finden, der in allen Eigenschaften und Talenten, die zu einem im Krieg und im Frieden großen Fürsten erfordert werden, sich mit Dionysius messen könnte. Aber der Syrakusaner ist eitel und stolz; er will sich (wie der Athener) von niemand befehlen lassen, dem er nicht selbst die Erlaubniß dazu gegeben hat, der ihm nicht über alles Rechenschaft ablegen muß, und den er nicht wieder absetzen und vernichten kann sobald es ihm beliebt. Der Gedanke von einem ihrer Mitbürger eigenmächtig beherrscht zu werden, macht sie blind und gefühllos gegen alle Vortheile, die dem Ganzen durch die Regierung des Dionysius zuwachsen könnten, wenn er nicht von Zeit zu Zeit durch die Versuche der ehmaligen Demagogen, sein Joch wieder abzuschütteln, verhindert würde, seinen eignen Weg ruhig fortzugehen; und da jene eben so wenig Lust zu haben scheinen ihre Versuche aufzugeben, als er die Regierung niederzulegen, so ist wahrscheinlich genug, daß sie Mittel finden werden, aus einem vortrefflichen Fürsten, den das Schicksal den Sicilianern geben wollte, durch ihre eigene Thorheit einen argwöhnischen, strengen und vielleicht grausamen Tyrannen zu machen.

Ich hörte vor kurzem in einer Gesellschaft angesehener Personen dem Dionysius (über welchen man hier sehr frei urtheilt) ein großes Verbrechen daraus machen, daß er sich nicht gescheuet hätte öffentlich zu sagen: »die Souveränetät gewähre ihm nie einen so vollen Genuß, als wenn er was er [237] wolle sogleich ausführen könne.« 120 So, meinten sie, könne nur ein Tyrann sprechen, dem nichts heilig sey, und der sich an kein Gesetz gebunden halte. Mir schien diese Rede einer mildern Deutung nicht nur fähig zu seyn, sondern sie sogar zu fordern. Der Wunsch alles was man will ausführen zu können, sagte ich, setzt so wenig einen bösen Willen voraus, daß er vielmehr Guten und Bösen, Thoren und Verständigen gemein ist; und vielleicht ist das größte Leiden guter Menschen, daß sie nur selten können was sie wollen. Mich dünkt aber, fuhr ich fort, Dionysius habe bei diesem Worte noch besonders einen der wesentlichsten Vorzüge der Monarchie vor der Volkssouveränetät vor Augen gehabt. Die Schleunigkeit der Ausführung dessen, was als nothwendig beschlossen wurde, ist in allen Fällen nützlich. Oft hangt die Erhaltung des ganzen Staats, oder doch die Verhütung eines großen Schadens davon ab, daß eine genommene Maßregel pünktlich und auf der Stelle vollzogen werde. Dieß ist nur da zu bewerkstelligen, wo der Wille des Regenten in keinem andern Willen Hindernisse findet, sondern im Gegentheil jedermann sich beeifert, die Ausführung dessen, was der oberste Befehlshaber will, befördern zu helfen. In Republiken ist dieß selten der Fall; denn nichts ist unerhörter, als daß ein Freistaat nicht in Parteien getheilt sey, die einander mit dem unverdrossensten Eifer entgegen wirken. Besonders ist in der Demokratie der Wille des Souveräns nicht nur an sich launisch und veränderlich, sondern er wird noch durch die vielerlei Sinne der vielen Köpfe, die ihn bearbeiten, so stark hin und her gerüttelt, so oft aufgehalten, unschlüssig gemacht und in Widerspruch mit [238] sich selbst gesetzt, daß meistens die Zeit der Ausführung schon vorüber ist, bevor man in der Volksversammlung zu einem Beschluß kommen konnte. Ist dieser endlich gefaßt, so gehen nun die Hindernisse der Vollziehung an. Keiner der Demagogen, die einander die Regierung des sich selbst zu regieren unvermögenden Souveräns streitig machen, gönnt einem andern als sich selbst die Ehre und die Belohnungen einer gelungenen Unternehmung. Jeder, der entweder einer andern Meinung war, oder bei dem Beschlossenen seine Rechnung nicht findet, bietet alle seine Kräfte auf, die Ausführung zu hintertreiben, oder mißlingen zu machen; von allen Seiten nichts als Schwierigkeiten, Fußangeln und Fallgruben; nirgends eine sichre Rechnung auf den guten Willen, den Gehorsam, den Eifer und die Wachsamkeit der Untergeordneten, wovon doch am Ende alles abhängt. Dafür geht es denn auch in den Republiken, zumal in denen, wo das Volk zugleich sein eigner Souverän und Unterthan ist, gewöhnlich und wenige seltne Fälle ausgenommen, so zu – wie der allgemeine Augenschein zeigt. Von jeher blieb einem Volke, um fürs erste immer selbst recht zu wissen was es wolle, und es dann wirklich ausgeführt zu sehen, kein anderes Mittel, als seine höchste Gewalt einem Einzigen zu übertragen, und ihm eben dadurch unbeschränkte Vollmacht zu geben, alles zu thun was er zu Vollziehung des allgemeinen Willens, oder (was eben dasselbe ist) zu Erzielung der Sicherheit und Wohlfahrt des Staats, für nothwendig und dienlich erkennen würde. Ich konnte leicht merken, daß ich mich der Gesellschaft durch diese Rede nicht sonderlich empfohlen hatte. Da es aber den meisten [239] bekannt war, daß ich ein Ausländer sey, der sich nur kurze Zeit zu Syrakus aufzuhalten gedenke und bei dem sogenannten Tyrannen nichts zu suchen habe, ließ ich mich durch das Vorurtheil, das einige vielleicht gegen mich fassen mochten, nicht abschrecken, meine Meinung über die Gegen stände, die der Verfolg des Gesprächs herbeiführte, so freimüthig zu sagen, als es sich in einer Gesellschaft ziemte, die aus lauter erklärten Freunden der Freiheit zu bestehen schien. Einer von den lebhaftesten hatte sich den Ausdruck entwischen lassen: man müßte zum Sklaven geboren seyn, um die Herrschaft eines Einzigen, der sich mit Gewalt eingedrungen, geduldig zu ertragen. – Aber wie, sagte ich, wenn ihr selbst ihm die Herrschaft, um eurer eigenen Sicherheit und Ruhe willen, von freien Stücken auftrüget? Es wäre wenigstens so viel damit gewonnen, daß ihr nicht nöthig hättet, einen Fürsten, unter dessen Regierung der Staat augenscheinlich immer blühender, mächtiger und reicher wird, mit dem verhaßten Namen eines Tyrannen zu belegen. – Wie? versetzte jener hitzig; der müßte ein dreifacher Sklave seyn, der sich freiwillig einen Herrn geben wollte! – Ich sehe wohl, erwiederte ich mit großer Gelassenheit, warum du dich so eifrig gegen meinen Vorschlag erklärst. Aber es gibt Mittel gegen alles. Man könnte ihn ja durch eine Grundverfassung, einen von ihm unabhängigen Senat, oder (wie die Spartaner) durch Aufseher einschränken, und sich dadurch gegen jeden Mißbrauch der höchsten Gewalt sicher stellen? – Ein Volk, sagte mein feuervoller Gegner, das nicht im Stande ist ohne einen Herrn zu leben, wird eben so wenig vermögend seyn, seiner Macht [240] Gränzen zu setzen, oder sie in denjenigen zurückzuhalten, die er sich vielleicht anfangs aus Politik gefallen zu lassen scheinen wird. – Und was wird das Schlimmste seyn, das daraus erfolgen möchte? fragte ich, vielleicht mit einer etwas Attischen Miene, die ich mir (wie ich besorge) unter den Cekropiden unvermerkt angewöhnt habe. – Welche Frage! rief mein Gegenkämpfer halb entrüstet; ist denn irgend etwas Böses und Schändliches, irgend eine ungerechte, gottlose, ungeheure That, die ein Mensch, der alles kann was er will, nicht zu begehen fähig wäre? – »Fähig wäre? das geb' ich zu; aber daß er ein so unsinniger Thor seyn wird, alles Böse wirklich zu thun, dessen er fähig ist, Böses ohne alle Noth oder Herausforderung, bloß um das Vergnügen zu haben Böses zu thun; daran zweifle ich sehr. Einen Wahnsinnigen, ein reißendes Thier, oder einen unter Verbrechen und Schandthaten grau gewordenen Bösewicht, wollen wir freilich nicht zum Hirten des Volks bestellen.« Bei einem Menschen, der alles kann (versetzte jener etwas kälter, weil er sich im Vortheil zu sehen glaubte) bedarf es nur einer einzigen Leidenschaft, die ihn überwältigt, um ihn, wenn er vorher auch ein Mensch wie andere war, zu allem was du sagtest, zu einem Wahnsinnigen, zu einem Tiger, zu einem Bösewicht der vor keinem Verbrechen erschrickt, zu machen. – Ich bin in die Enge getrieben, erwiederte ich; du hättest die großen Vorzüge der Demokratie vor der Alleinherrschaft in kein stärkeres Licht setzen können. Um vor allen Gefahren dieser Art sicher zu seyn, gibt es also wohl kein besseres Mittel, als daß ein Volk sich selbst regiere? Niemand ist dazu geschickter, und nichts [241] war wohl von jeher unerhörter, als daß eine souveräne Volksversammlung etwas Unbesonnenes oder Ungerechtes beschlossen, oder die Macht, alles zu können was sie will, zu Befriedigung irgend einer häßlichen Leidenschaft mißbraucht, und sich treuloser, räuberischer und grausamer Handlungen schuldig gemacht hätte. – Ein allgemeines Gelächter schien meinen Gegner in eine unangenehme Lage zu setzen, und ich sah daß es hohe Zeit sey, einen ernsthaftern Ton anzustimmen. Verzeih, sagte ich zu ihm, wenn ich zur Unzeit gescherzt habe. Ich wollte weiter nichts damit sagen, als daß unumschränkte Gewalt immer mit Gefahr des Mißbrauchs verbunden ist, sie mag nun in den Händen eines Einzigen, oder eines Senats, oder eines ganzen Volkes seyn. Alles kommt am Ende auf den Verstand und die sittliche Beschaffenheit des Regierers, vieles auf Zeit und Umstände, Stimmung, Laune und Einfluß des Augenblicks an. Einschränkungen helfen wenig oder nichts. Eine höchste Gewalt muß in jedem Staate seyn, und die höchste Gewalt läßt sich nicht einschränken; denn dieß könnte doch nur durch eine noch höhere geschehen, und in diesem Fall wäre diese, nicht jene, die höchste. Die Möglichkeit ihres Mißbrauchs bleibt also ein unvermeidliches Uebel, weil sie ihren Grund in einem unheilbaren Gebrechen der Menschheit hat. Aber es ist immer zu vermuthen, daß ein einzelner Regent die Macht alles zu thun was er will, weniger, seltner und leidlicher mißbrauchen werde, als ein so vielköpfiges Ungeheuer von mehrern Tausenden, an Verstand, Erziehung, Einsicht, Erfahrenheit, Vermögen u.s.w. so sehr ungleichen und von den verschiedensten Triebfedern in Bewegung gesetzten Menschen [242] ist; und wenn auch beide keinen edlern Zweck und Antrieb haben als Eigennutz und Selbstbefriedigung, so ist doch ungleich wahrscheinlicher, daß der Einzige die Nothwendigkeit einsehe, daß er seine Macht, um sie ruhig und mit Ruhm zu genießen, zur Wohlfahrt des Staats anwenden müsse, als daß ein ganzes Volk nicht beinahe immer gegen sein wahres Interesse handle, so oft das Privatinteresse der Personen, denen es sich gern oder ungern anvertrauen muß, mit dem seinigen in Widerspruch steht.

Mein Gegner gewann wieder Muth. Du missest nicht mit einerlei Maß, sagte er: du nimmst einen Tyrannen an, der immer nach Grundsätzen handelt, sich nie seinen Launen oder Leidenschaften überläßt, immer sein wahres Interesse kennt und vor den Augen hat, mit Einem Worte, der die Weisheit und Klugheit selbst ist. Das Volk in der Demokratie hingegen ist, nach deiner Voraussetzung, ein blindes, vernunftloses und unbändiges Ungeheuer, das nicht weiß was ihm gut ist, das immer mit dem Maulkorb vor der Schnauze an der Kette gehen muß und immer das Unglück hat, von Thoren oder Schelmen geführt zu werden. Sey, wenn ich bitten darf, nur so billig gegen die Demokratie, als du großmüthig gegen die Tyrannie und das Königthum bist. Wenn ich dir die Möglichkeit eines Alleinherrschers zugebe, der das höchste Gesetz der allgemeinen Wohlfahrt nie aus den Augen setzt, sich seiner Allgewalt immer mit Klugheit und Mäßigung bedient, und seine höchste Selbstbefriedigung im Wohlstande seiner Unterthanen findet, wenn ich dir die Möglichkeit zugebe, daß ein solcher Phönix nicht platterdings ein [243] bloßes Hirngespinnst sey: so wirst du mir auch die Möglichkeit einer Republik, worin ein freies, edeldenkendes und zu jeder sittlichen und bürgerlichen Tugend erzogenes Volk sich von den Weisesten und Besten aus seinem Mittel nach guten Gesetzen freiwillig regieren läßt, zugeben, und zugleich bekennen müssen, daß eine solche Republik jeder andern Staatsverfassung unendlich vorzuziehen ist.

Alle anwesenden Syrakusaner klatschten, nickten oder lächelten ihrem edeln Mitbürger Beifall zu, und schienen zu erwarten, daß ich billig oder wenigstens urban genug seyn würde mich überwunden zu geben. Aber so ganz leicht wollt' ich ihnen den vermeinten Sieg doch auch nicht machen. Ich sehe nur ein Einziges hierbei zu bedenken, sagte ich, und hielt ein. Und was wäre das, wenn man fragen darf? sagte mein Antagonist. – Nichts, versetzte ich, als daß ein so verständiges und tugendhaftes Volk, wie es mein edler Gegner voraussetzt, ganz und gar keiner Regierung bedürfte. Laßt uns so ehrlich seyn, einander zu gestehen, daß die Unentbehrlichkeit aller bürgerlichen Verfassungen und Regierungen keinen andern Grund hat, als die Schwäche und Verkehrtheit des armen Menschengeschlechts. Sie sind ein nothwendiges Uebel, das einem ungleich größern abhilft oder vorbeugt, und bloß dadurch zum Gut wird. Indessen, da die Regierer nicht weniger Menschen sind als die Regierungsbedürftigen, so wäre wohl nichts billiger, als daß wir unsre Forderungen nicht allzu hoch spannten, und niemand dafür büßen ließen, daß er eben so wenig vollkommen ist als wir. Warum wollten wir uns das Gute, das wir haben, dadurch [244] verkümmern, daß es uns nicht gut genug ist? Jede Regierungsart hat ihre eigenen Vorzüge und Gebrechen; wiegt man sie gehörig gegen einander, so gleichen sich, wechselsweise, diese durch jene und jene durch diese aus, und was übrig bleibt, ist so unendlich wenig, daß es die Mühe nicht verlohnt, darum zu hadern. Die Mehrheit der Stimmen erklärte sich für meinen Vorschlag zur Güte, und alle schienen sich zuletzt in der Meinung zu vereinigen: daß ein Volk, das sich bei der politischen Freiheit nie recht wohl befunden, durch den Verlust derselben wenig verloren habe, und bei einem klugen und tapfern Alleinherrscher wahrscheinlich noch gewinnen würde, wenn es weise genug seyn könnte, das Bestreben des Regenten, sich seines, wiewohl gesetzwidrigerweise, errungenen Platzes würdig zu beweisen, durch Zutrauen und guten Willen aufzumuntern, anstatt ihn durch Mißtrauen, Unzufriedenheit und heimliche Anschläge gegen seine Person zu tyrannischen Maßregeln zu zwingen, die ihm, als zu seiner Sicherheit nothwendig, endlich zur Gewohnheit werden, und das Verderben des Fürsten und des Volks zugleich zur Folge haben könnten.

Ich bin etwas ausführlich in Erzählung dieser politischen Conversation gewesen, edler Learchus, weil ich dein Verlangen, die gegenwärtige Stimmung der Syrakusaner zu kennen, besser dadurch zu befriedigen hoffe, als durch allgemeine Bemerkungen, die bei einem so kurzen Aufenthalt ohnehin wenig Zuverlässigkeit haben könnten. Unsre Gesellschaft bestand größtentheils aus Männern der ersten aristokratischen Familien zu Syrakus, und ich glaube daß man von ihnen, mit [245] ziemlicher Sicherheit nicht zu irren, auf die übrigen schließen könne. Es war sehr natürlich, daß sie, so oft des Tyrannen erwähnt oder auf ihn angespielt wurde, eine gewisse Gleichgültigkeit und Zurückhaltung affectirten, die einen ganz unkundigen Fremden ungewiß lassen konnte, ob sie seine Freunde oder Feinde wären; mir aber, der von ihren Angelegenheiten hinlänglich unterrichtet ist, war es leicht ihre wahre Gesinnung durch die übel passende Larve durchscheinen zu sehen. Nie werden sie zu dem Tyrannen, nie der Tyrann zu ihnen Vertrauen fassen; beide Theile haben einander zu viel Leides gethan, als daß jemals eine aufrichtige Aussöhnung möglich wäre; auch wissen beide sehr wohl, wessen sie sich zu einander zu versehen haben, und nehmen ihre Maßregeln darnach. Aber stärker als alles dieß fiel mir eine andere Bemerkung auf, die ich an diesem Abend zu machen Gelegenheit hatte. Unter allen diesen eifrigen Republikanern und Patrioten, solltest du es denken, lieber Learchus? war nicht Einer, der sich auch nur den Schein zu geben gesucht hätte, als ob ihm das wahre Interesse Siciliens, oder auch nur seiner eigenen Vaterstadt und des Syrakusischen Volkes am Herzen liege. Ein Blinder hätte sehen müssen, daß weder dieses noch jenes bei ihren Gesinnungen gegen den Tyrannen in die mindeste Betrachtung kam. Sie hatten eine gewichtigere und ihnen näher liegende Ursache ihn zu hassen; und ich halte mich überzeugt, keiner von ihnen würde das geringste Bedenken tragen, sich selbst noch heute auf den Thron des Dionysius zu setzen, wenn er es möglich zu machen wüßte. – Und doch muß ich hintennach über mich selbst lachen, daß mir so [246] etwas auffallen konnte. Verstand sich's nicht von selbst? Was für einen Grund hatte ich, etwas anders zu erwarten?

Mein Reisegefährte Hippias wurde bald nach unsrer Ankunft von seinem Freunde Philistus bei Hofe aufgeführt, und gefällt dem Tyrannen so wohl, daß er ihm fast immer zur Seite seyn muß. Dionysius sieht sehr gut, was ihm ein Mann wie Hippias seyn könnte, und scheint große Lust zu haben ihn mit goldenen Ketten an sich zu fesseln: aber Hippias hat zu wenig Ehrgeiz und liebt seine Ruhe und Unabhängigkeit zu sehr, als daß er sich nur einen Augenblick versucht fühlen sollte, sie um die unzuverlässige Gunst eines Fürsten zu vertauschen, mit welchem er den öffentlichen Haß und die Gefahren eines immer schwankenden Thrones theilen müßte. Dionysius hat sich auch nach mir erkundigt, und ich soll ihm an einem der nächsten Tage vorgestellt werden.

39. An Ebendenselben
39.
An Ebendenselben.

Seit kurzem gibt uns Dionysius ein Schauspiel zu Syrakus, dessen gleichen vielleicht noch nie in der Welt gesehen worden ist. Alles was in den fünf Städten, woraus diese ungeheure Stadt besteht, Hände und Füße hat, ist in Bewegung; alle Häuser, Straßen und Märkte wimmeln von geschäftig hin und her eilenden Menschen; auf allen Schiffswerften, auf allen großen Plätzen in und außerhalb der [247] Stadt, arbeiten Zimmerleute und Schmiede zu Tausenden; die Ufer ringsumher sind mit Schiffbauholz und Mastbäumen bedeckt, wovon täglich große Schiffsladungen vom Aetna und aus den Apenninischen Gebirgen anlangen, und Myriaden von Zeug- und Waffenschmieden und andern Handarbeitern machen den ganzen Tag ein Getöse, wovon einem Tauben die Ohren gellen möchten. Mit Einem Worte, Dionysius hat gerade zur gelegensten Zeit den glücklichen Gedanken gefaßt, Sicilien von den Ueberfällen der Carthager auf immer zu befreien, und macht zu diesem Ende Zurüstungen und Anstalten, welche hinlänglich scheinen könnten, wenn er den ganzen Erdboden zu erobern gesonnen wäre. Aber was noch mehr ist, er hat Mittel gefunden, die Syrakusaner für seinen Plan einzunehmen und in eine so fanatische Begeisterung zu setzen, daß jedermann sich in die Wette beeifert, seine Absichten zu befördern, seine Befehle zu vollziehen und seinen Beifall zu verdienen. Außer seinen Syrakusiern und andern Sicilianern hat er aus Italien und Griechenland die erfindsamsten Köpfe und die geschicktesten Mechaniker und Kunstarbeiter zusammengebracht. Er selbst ist die Seele, die alle Verrichtungen dieser ungeheuern Masse von Menschen leitet und belebt. Für alles was gearbeitet wird, besonders für allerlei neue Kriegsmaschinen, die eine erstaunliche Wirkung thun sollen, und eine Art von Galeeren mit fünf Reihen Ruder, von seiner eigenen Erfindung (sagt man) hat er Modelle verfertigen lassen, nach welchen alles in der möglichsten Vollkommenheit gearbeitet wird; und ansehnliche Preise sind für diejenigen ausgesetzt, [248] die in jedem Fache die beste Arbeit liefern. Dionysius selbst ist überall persönlich zugegen, sieht und beurtheilt mit der Schärfe und Billigkeit einer ächten Sachkenntniß was gethan wird, spricht freundlich mit den Arbeitern, muntert ihren Fleiß durch Lob und kleine Belohnungen auf, zieht sogar jeden, der sich in seinem Fache besonders hervorthut, an seine Tafel, kurz, bezaubert alle diese Menschen durch eine Leutseligkeit und Popularität, die ihm alle Herzen – auf wie lange möcht' ich nicht sagen – aber gewiß so lang' als er ihrer und sie seiner bedürfen, gewinnen muß. Seine bittersten Feinde, die Aristokraten, sehen sich genöthigt mit dem Strom des allgemeinen Enthusiasmus fortzutreiben, ihren Ingrimm hinter lächelnde Hofgesichter zu verstecken, und durch den thätigen Antheil, den sie an seinen Anstalten nehmen, ihren – Patriotism zu erproben.

Einem Staatsmann von deiner Einsicht, edler Learchus, habe ich durch diese bloße kunstlose Angabe dessen was ich hier täglich sehe, einen tiefern Blick in den Charakter des merkwürdigen Mannes eröffnet, der jetzt an der Spitze der Sicilier steht und die Aufmerksamkeit aller Griechen erregt, als ich durch die mühsamste Aufzählung eines jeden einzelnen Zugs vielleicht bewirkt hätte. Dionysius versichert sich nicht allein durch alle diese Vorbereitungen des Sieges über den mächtigen Feind, den er zu bekämpfen haben wird; er versichert sich zugleich der Zuneigung des Volks, das ihn, anstatt wie andre Herrscher sich dem Müßiggang und den Wollüsten zu überlassen, mit großen Planen zum allgemeinen Glück Siciliens beschäftigt sieht; er benimmt dadurch seinen Feinden den Muth [249] etwas gegen ihn zu unternehmen, und legt einen so festen Grund zu einer lange dauernden Regierung, daß ich eine große Wette eingehen wollte, er wird, wo nicht immer eben so ruhig, doch gewiß eben so sicher auf seinem usurpierten Throne sitzen, als ob er kraft eines längst verjährten Erbrechts zum König geboren wäre.

Du kannst dir nun selbst vorstellen, Learchus, – du der den Geist des Volks, der sich allenthalben gleich ist, kennt – wie stolz die große Mehrheit der Syrakusaner in diesem Augenblick auf ihren Fürsten seyn muß; wie geschmeichelt sie sich durch den Antheil fühlen, den er sie, mit der schlauesten Popularität, an seiner Größe nehmen läßt; und wie gewaltig sie der Anblick aller der Wunder verblendet, die sie täglich vor ihren Augen entstehen sehen, und die er freilich ohne alle Hexerei bloß dadurch bewirkt, daß er, mittelst kluger Anwendung der Kräfte und Schätze einer mächtigen Republik so viele Köpfe, Arme und Hände zu einem einzigen großen Zweck in zusammenstimmende Thätigkeit zu setzen weiß. Kurz, Dionysius hat das wahre Mittel gefunden, die Syrakusaner (eine Zeit lang wenigstens) vergessen zu machen, daß er einst ihr Mitbürger war; er erscheint vor ihren Augen im vollen Glanz des Homerischen Agamemnons, den Göttern gleich und der Herrschaft würdig, die dem Tapfersten, Klügsten und Thätigsten, so lange der Enthusiasm, den er einhaucht, währt, zu allen Zeiten so willig eingeräumt worden ist.

Ich habe, seitdem ich ihm vom Philistus und Hippias vorgestellt wurde, öfters Gelegenheit gehabt ihn reden zu hören und handeln zu sehen, und werde täglich mehr in der [250] Meinung bestärkt, daß jedes an die Monarchie gewöhnte Volk sich unter einem Fürsten wie er glücklich achten würde. Schon sein Aeußerliches kündigt einen Mann an, der besser zum Regieren als zum Gehorchen taugt. Er ist groß und stark gebaut; seine Gesichtsbildung edel, männlich, und wofern mich mein physiognomischer Sinn nicht betrügt, mehr Klugheit und Gewalt über sich selbst, als Unerschrockenheit und Selbstvertrauen bezeichnend; seine Augen klein aber feurig; sein Blick scharf, umherspähend und beinahe laurend; seine Miene, sobald er will, einnehmend, aber, so wie er sich vergißt, kalt, finster, abschreckend, und wenn er zum Zorn gereizt wird, fürchterlich. Daß er überhaupt eher das Ansehen eines Demagogen als eines Königs hat, scheint ihm in seiner Lage vielmehr vortheilhaft als nachtheilig, und ist eine eben so natürliche Folge des Standes worin er geboren und der Bestimmung, für welche er erzogen wurde und sich selbst ausbildete, als daß er unendlich mehr Kenntnisse besitzt, und alles was er weiß viel gründlicher weiß, als bei Personen gewöhnlich ist, die das durch den Zufall der Geburt sind, was er durch sich selbst geworden ist. Aus eben diesem Grunde kann ihm, däucht mich, zu keinem besondern Verdienst angerechnet werden, daß er, der selbst ein Gelehrter und ein Mann von Talenten ist, Wissenschaft und Kunst liebt, Gelehrte und Künstler ehrt, und sich besser in ihrem Umgang gefällt als unter Leuten, die sich durch ihren Stammbaum oder ihre glänzenden Glücksumstände über die Nothwendigkeit eines persönlichen Werths erhaben glauben. Hingegen scheint es mir auch unbillig, ihm (wie viele thun) einen Vorwurf [251] daraus zu machen, daß er in seinen Erhohlungsstunden – Verse macht, und vielleicht bessere als von königlichen Versen gefordert werden kann. Bis jetzt wenigstens scheint er seinen Umgang mit der tragischen Muse, in die er stark verliebt seyn soll, noch sehr geheim zu halten; und in der That fordert die große Tragödie, die er selbst zu spielen vorhat, seine ganze Thätigkeit in einem so hohen Grade, daß ihm weder Zeit noch Lust übrig bleiben kann, sich in einen Wettlauf mit Sophokles und Euripides einzulassen.

Ueber seinen Charakter urtheilen zu wollen, würde von mir in zweifacher Rücksicht verwegen seyn; nur dieß wage ich zu behaupten, daß er von Natur nichts weniger als so gefühllos und grausam ist, wie ihn seine Gegner schildern. Um ihn zu dem kühnen Entschluß zu bringen, dessen guten Erfolg er viel weniger dem Glück als seiner Klugheit und Geschicklichkeit zu danken hat, brauchte es nur zwei Blicke, einen auf Syrakus und Sicilien überhaupt, und einen in sich selbst. Jenen war nur durch Vereinigung unter Einen unbeschränkten Herrscher zu helfen, und das Talent, dieser Herrscher zu seyn, fühlte er in sich. Als der Entschluß einmal gefaßt und das Spiel angefangen war, mußte er nun alles darauf setzen. Alles gewinnen oder alles verlieren! ein Drittes gab es jetzt nicht mehr für ihn. Natürlich war das erste sein Zweck, und wer den Zweck will, will die Mittel. In seiner Vorstellungsart konnten die Kämpfe mit den Aristokraten und Demagogen, wenn sie auch noch weit mehr Köpfe und Proscriptionen gekostet hätten als sie wirklich kosteten, kein Grund seyn, der reizenden Basileia nicht nachzustreben. Aber daraus schließen [252] zu wollen, er müsse nothwendig grausam, blutdürstig und der unmenschlichsten Gräuel fähig seyn, wäre ein eben so falscher als unbilliger Schluß. Was er that, war nicht mehr als wozu er theils durch den wüthenden Widerstand der Gegenpartei gezwungen, theils durch ihre mehr als barbarische Mißhandlung seiner Gemahlin 121 auf eine Art gereizt wurde, die den sanftesten aller Menschen zum Wütherich gemacht hätte. Auch ist gewiß, daß seine Feinde das, was wirklich geschah, sehr übertrieben haben; und ich zweifle sehr, ob unter denen, die er auf seinem Wege zum Thron, weil sie sich selbst unter die Räder seines Wagens warfen, zertreten mußte, oder den racheschreienden Manen einer geliebten Gattin opferte, nur ein einziger war, dessen Tod ein Verlust für den Staat gewesen ist.

Wie dem aber auch seyn möchte, daß er, seitdem man ihn ruhiger regieren läßt, seinen höchsten Stolz darein setzt, zum Glück Siciliens zu regieren, beweisen alle seine Handlungen, und (wie ich neulich dem Syrakusaner sagte) wofern er in der Folge mehr in Hierons als in Gelons Fußstapfen treten sollte, so wird niemand Schuld daran seyn als die Syrakusaner selbst. Dieß, edler Learch, ist dermalen alles, was ich dir vom Dionysius zu sagen weiß, und ich setze nur hinzu, daß Hippias über dieß alles mit mir gleicher Meinung ist.

Ob die Griechen des festen Landes Ursache haben, über die immer wachsende Macht dieses Fürsten eifersüchtig zu seyn, zumal wenn es ihm (was vielleicht bei seiner Unternehmung gegen Carthago seine Hauptabsicht ist) gelingen sollte sich von [253] ganz Sicilien Meister zu machen – überlasse ich deiner tiefer sehenden Staatsklugheit. Mir (wenn ich im Vorbeigehen meine unbedeutende Meinung sagen darf) scheint Korinth bei seinen ehrgeizigen Planen am wenigsten gefährdet zu seyn, aber wohl im Gegentheil sich, durch eine gelegenheitliche Verbindung mit ihm, eine kräftige Stütze gegen die Uebermacht und die Anmaßungen der Athener und Spartaner verschaffen zu können. Uebrigens bedarf es bei dir wohl keiner Versicherung, daß ich nicht den geringsten Vortheil dabei suche noch finde, wenn ich den Syrakusischen Tyrannen aus der düstern, verzerrenden und grausenhaften Beleuchtung, in welche sein Charakter mit absichtlich bösem Willen von seinen Feinden gesetzt wird, in das reine, nichts verbergende noch verfälschende Sonnenlicht gestellt habe. Er bedarf meiner so wenig als ich seiner, und da ich im Begriff bin Sicilien wieder zu verlassen, was könnte mich bewegen, mich des Vorrechts eines Ausländers, unparteiisch zu seyn, von freien Stücken zu begeben? Die neuesten Nachrichten, die mir aus Cyrene zugekommen sind, melden mir, daß Ariston den übel bedachten Versuch, den Dionysius nachzuahmen ohne ein Dionysius zu seyn, bereits mit seinem Leben bezahlt hat. Noch ist die öffentliche Ruhe und Ordnung nicht wieder hergestellt; aber beide Parteien scheinen geneigt, sich auf billige Bedingungen zu vergleichen, und ich verspreche den angefangenen Unterhandlungen einen guten Erfolg, da mein Bruder Aristagoras und mein Freund Demokles an der Spitze der Parteien stehen. Was mich zur Rückkehr nöthigt, ist daher nicht sowohl die Hoffnung, meinem Vaterlande bei dieser Gelegenheit [254] vielleicht einige Dienste thun zu können, als die Nachricht, daß mein Vater (ein alter Freund des deinigen) seinem Ziele nahe zu seyn glaubt, und mich im Leben noch zu sehen verlangt. Ich beurlaube mich also hiermit von Griechenland und von dir, edler und gastfreundlicher Learch. Mein nächster Brief wird dir aus Cyrene zukommen; indessen gehabe dich wohl!

40. Aristagoras an Aristipp
40.
Aristagoras an Aristipp.

Hoffentlich hat der weise Sokrates deine weltbürgerliche Philosophie von ihrem hohen Fluge der Erde wieder nahe genug gebracht, daß dir die Schicksale deines Vaterlandes nicht ganz gleichgültig seyn werden. Es ist freilich nur ein Ameisenhaufen, wenn du willst; aber uns Ameisen ist unsere Erdscholle eine Welt. Ich berichte dir also, lieber Aristipp, daß Ariston, dem du dich durch deinen kleinen Brief schlecht empfohlen hattest, deine Weissagung bald genug erfüllt, und mich und meine Mitarbeiter von dem undankbaren Frohndienst, seine Thorheiten, wo nicht immer zu vergüten, wenigstens zu verschleiern und den Uebermuth seiner Günstlinge in Schranken zu halten, befreit hat. Selten ist ein Mensch von den zufälligen Umständen mehr begünstigt worden als Ariston; und wie wenig er auch des Diadems würdig war, hätte er nur so viel Thätigkeit und Gewalt über seine [255] Leidenschaften besessen, als nöthig war, die schwärmerische Zuneigung der untern Volksclassen eine Zeit lang zu rechtfertigen, so säß' er jetzt ruhig auf dem Fürstenstuhl der Battiaden; seine Feinde hätten den Muth verloren; der Bürgerkrieg wäre in der Geburt erstickt worden, und die üppigen, Ruhe und Vergnügen über alles liebenden Cyrener, durch seine Popularität, Prachtliebe und Freigebigkeit bestochen, hätten sich unvermerkt gewöhnt, seine Indolenz und Verdienstlosigkeit für Tugenden eines milden friedliebenden Fürsten anzusehen. Aber sein böser Dämon gewann gleich in den ersten Wochen seiner Regierung die Oberhand. Anstatt die Verwirrung und Schwäche seiner Feinde zu benutzen, und die Flüchtigen ohne Verzug bis in ihren letzten Schlupfwinkel zu verfolgen, überließ er sich seinen dir wohlbekannten Neigungen, ordnete Feste an, affectirte von dem Bürgerkriege als einer geendigten Sache zu reden, und theilte die eingezogenen Güter der Proscribirten unter seine Parasiten aus. Die Vorstellungen seiner getreuesten Räthe wurden nicht gehört, und alles was ihm die Leute riethen denen er folgte, war zu seinem Verderben. Dennoch hätte alles noch leidlich ablaufen mögen, wenn er uns nur erlaubt hätte, gegen die (sogenannten) Rebellen, die sich in einen haltbaren Posten an den Gränzen der Cesammonen geworfen hatten, auszurücken, bevor sie Zeit gewannen, die übrigen Flüchtlinge, Mißvergnügte und Verbannte, an sich zu ziehen und unvermerkt zu einem Heer anzuwachsen. Aber Ariston wollte die Ehre, seine Truppen in eigner Person anzuführen, keinem andern abtreten, und glaubte sogar seine Sache sehr politisch anzustellen, wenn [256] er seinen Feinden Zeit ließe, sich alle in einen Haufen zusammen zu drängen, damit er der Rebellion mit Einem Schlag ein Ende machen könnte. Und so mußte das Einzige, was allenfalls an ihm zu rühmen war, seine persönliche Tapferkeit, durch die Unklugheit, womit er sie handhabte, die Ursache seines Verderbens werden. Die republikanische Partei hatte durch sein Zögern Luft bekommen, und durch die rastlose Thätigkeit ihrer Anführer Mittel gefunden, etliche Tausend Messenier, die, von den Spartanern aus Naupaktos und Kephalonia vertrieben, sich an die Cyrenische Küste geflüchtet hatten, unter dem Versprechen, ihnen die Ländereien der Königlichen und das Bürgerrecht von Cyrene zu schenken, an sich zu ziehen, und durch diese Verstärkung zu einem furchtbaren Heer anzuschwellen. Denn die Messenier wurden von jeher unter die tapfersten und streitbarsten Völker Griechenlands gezählt, und was konnte man nicht von solchen Kriegern in einer Lage erwarten, worin sie außer einem elenden Leben nichts zu verlieren, hingegen wenn sie siegten, ein neues Vaterland, reiche Vergütung alles Verlornen, und die völligste Sicherheit vor ihrem ewigen Todfeinde, den Spartanern, zu gewinnen hatten? Die Republicaner fühlten sich nun stark genug, etwas zu unternehmen, wozu der Mangel an Lebensmitteln sie ohnehin bald gezwungen haben würde; sie verließen ihre Verschanzungen, unterwarfen sich das platte Land umher, und gingen muthig auf Cyrene los. Jetzt erwachte Ariston plötzlich aus seiner bisherigen Unthätigkeit. Aber der Fanatism des Volkes für ihn hatte sich abgekühlt, und es kostete Mühe, bis er mit Hülfe seiner Getulischen Leibwache [257] so viele bewaffnete Bürger und Landleute zusammenbrachte, daß er dem Feinde, den er noch immer verachtete, die Spitze bieten zu können wähnte. Es kam einige Meilen von der Stadt zu einem entscheidenden Treffen; beide Theile fanden einen stärkern Widerstand als sie erwartet hatten, und fochten mit desto größerer Erbitterung; es war vielleicht der blutigste Tag, den Cyrene je gesehen hatte. Eine Menge angesehener Bürger, eine große Anzahl der vornehmsten Befehlshaber, und alle Messenier die als Verzweifelte fechtend weder Quartier gaben noch annahmen, auf der feindlichen Seite – und ein großer Theil Volks auf der unsrigen, blieben auf dem Platze; Ariston selbst stürzte mitten unter seinen für ihn kämpfenden und um ihn her fallenden Getulischen Löwen, tödtlich verwundet zu Boden, und wurde am folgenden Tage unter einem Haufen Erschlagener hervorgezogen. Das Gemetzel währte so lange, bis die Nacht den Ueberrest beider Heere zum Rückzug zwang. Brauchte es nun etwas weiters als auf beiden Seiten wieder zur Besinnung zu kommen, um aufs lebendigste zu fühlen, daß Friede und Mäßigung der einzige Weg sey, alles Unheil, das Zwietracht und ungezügelte Leidenschaften über unser blutendes Vaterland zusammengehäuft hatten, so viel möglich wieder gut zu machen? Friede, Aussöhnung, Verzeihung, war jetzt das allgemeinste und dringendste Bedürfniß. Demokles, der beliebteste unter den übrig gebliebnen Anführern der demokratischen Partei, und ich, von Seiten derer die es mit Ariston gehalten hatten, wurden also bevollmächtiget, in Unterhandlung zu treten, und das Resultat war: daß beide Parteien einander ewiges Vergessen [258] alles Vergangenen zuschwören, die Verbannten zurückberufen, die eingezognen Güter zurückgegeben, und von jeder Seite fünf Männer ernannt werden sollten, um den gesammten freien Einwohnern von Cyrene eine Regierungsform vorzuschlagen, durch welche die Republik zugleich vor allen künftigen Fehden zwischen den alten Familien und dem Volke, und vor der Gefahr, wieder in die Gewalt eines Einzigen zu gerathen, sicher gestellt würde. Diese neue Regierungsform liegt noch auf dem Amboß; alles Uebrige ist bereits vollzogen. Da die Wahl der Zehnmänner auf lauter redliche und staatskundige Bürger gefallen ist, und unser Volk zum voraus geneigt scheint, sich jeder neuen Ordnung der Dinge zu fügen, so ist nicht zu zweifeln, daß Cyrene in kurzer Zeit von den Wunden wieder geheilt seyn wird, die ihr der thörichte Ehrgeiz einiger ausschweifenden und übelberathenen Schwindelköpfe ge schlagen hat. Es gibt Fälle, wo eine starke Verblutung einem Staate, so wie gewissen menschlichen Körpern, heilsam ist, und bei vorsichtiger Behandlung den Grund zu einer bessern Gesundheit legen kann.

Möchte ich nicht genöthigt seyn, mein Bruder, dir diese tröstliche Nachricht durch eine andere zu verbittern, die uns beide unmittelbar betrifft. Unser guter alter Vater verspricht sich selbst die Freude nicht, die bessern Zeiten, die uns bevorstehen, zu erleben. Er verlangt sehr, dich noch zu sehen, und vielleicht würde die Erfüllung dieses Wunsches zu Verlängerung seiner Tage beitragen. Ich bitte dich also, deine Hierherkunft, so sehr du immer kannst, zu beschleunigen. [259] Mögen die Gelübde, die wir alle um Begünstigung deiner Reise thun, dem Ohr einer freundlichen Gottheit begegnen!

41. Aristipp an Lais
41.
Aristipp an Lais.

Du ahndest wohl nicht, schöne Lais, daß drei in deinem Hause gelebte Tage mich dem höchsten Ziele der Philosophie näher gebracht haben als vier Jahre in der Sokratischen Schule. Wenn es wahr ist (und das ist es gewiß!) daß die Tugend der Selbstbezwingung die Wurzel aller übrigen ist, wie viel habe ich nicht dem Angedenken jenes flüchtigen Wonnetraums zu danken! Glaube mir, diese ganze Zeit, da ich wieder von dir getrennt bin – ich erröthe dir zu gestehen, wie viel Jahre sie mir schon währt – war ein einziger unaufhörlicher Kampf meines Willens mich von dir zu entfernen, mit dem unwiderstehlichsten Drang zu dir zurück zu fliegen. Bis hierher habe ich obgesiegt; und fortkämpfen werd' ich ihn – diesen peinlichern Kampf als die schwersten, wodurch man die Olympischen und Isthmischen Kronen erringt – und meinen Muth mit der Hoffnung stärken, daß du (wie bald oder wie spät mögen die Götter wissen!) den Sieger mit dem süßesten Kusse, den deine Nektarlippen je geküßt haben, belohnen werdest. – Lache nicht über eine so seltsame Tugendübung! Du würdest dich, wenn du ihrer spotten könntest, an dir selbst, an mir und an der [260] Tugend gleich stark versündigen. Wirklich und in ganzem Ernst, ich zweifle sehr ob jemals eine größere That als die meinige gethan worden ist, und es gibt Augenblicke, wo ich mit dem stolzesten Selbstgefühl auf alle zwölf Arbeiten des Thebanischen Hercules herabsehe. Denke ja nicht, Liebe, daß eine solche Selbstpeinigung nichts Verdienstliches habe, weil sie keinem Menschen in der Welt zu etwas nütze, und am Ende nichts als grillenhafter Eigensinn sey. Eben darin liegt das Verdienstliche, daß ich – bloß um mich selbst, auf künftige Fälle, die vielleicht nie kommen werden, in Bezwingung meiner Begierden zu üben – den stärksten Reizungen widerstehe, die vielleicht jemals einem Sterblichen zugesetzt haben. Bin ich tapfer genug in diesem Kampfe immer Sieger zu bleiben, welche Gefahr wird mir in meinem ganzen Leben furchtbar seyn? bei welchen Sirenenfelsen werd' ich nicht mit unverstopften Ohren vorbei segeln können? Wahrlich, Laiska, ich hätte jetzt schon Ursache mich für keinen kleinen Helden auszugeben, wenn ich nicht zu ehrlich wäre, dich und mich selbst belügen zu wollen. Aber ich kann und will dir nicht verhalten, daß es Stunden gibt, wo ich den Sieg nicht mir selbst zu verdanken habe; Stunden, wo meine mit jedem Augenblick abnehmende Kraft dem mächtigen Iynx, der mich zu dir zieht, nur noch matten Widerstand thut, kurz, wo ich im Begriff bin nach dem Hafen zu rennen, die erste beste Jacht zu miethen und mit vollen Segeln nach Korinth zurück zu eilen; – was vielleicht in einem dieser unglücklichen Augenblicke bereits geschehen wäre, wenn nicht die gerechte Furcht, daß du mich, wenn ich so unerwartet vor dir erschiene, als [261] einen Feigherzigen, der ohne Schild aus der Schlacht zurückkommt, auf der Stelle wieder zurückschicken würdest, mehr über mich vermöchte als der erhabene Beweggrund, mir selbst zu beweisen, daß ich – wollen kann was ich will. Denn darauf läuft doch am Ende die ganze Herrlichkeit hinaus.

Die neuesten Nachrichten, die ich aus Cyrene erhalte, sind nicht sehr geschickt, mir das Herbe meiner Tugendübungen zu versüßen. Ariston ist (wie leicht vorherzusehen war) wieder gestürzt; die öffentlichen Angelegenheiten, in welche unsre Familie, edle Anaximandra, ziemlich verwickelt ist, sind noch immer in Verwirrung, und was mir näher andringt als das alles, mein alter Vater, der gütigste und gefälligste Vater, den ich mir jemals wünschen konnte, scheint am Ziel seiner Tage zu seyn. Dieser Umstand nöthigt mich meinen Reiseplan zu ändern; anstatt die Städte der südlichen Küste von Italien zu besuchen, kehre ich morgen mit einem für Hadrumetum betrachteten Schiffe nach Libyen zurück. Sollte ich, wie ich fast besorgen muß, meinen Vater nicht mehr unter den Lebenden antreffen, so sehe ich nicht was mich in Cyrene aufhalten könnte. Denn meine eignen Angelegenheiten werden mit meinem Bruder, der ein eben so edelmüthiger als kluger Geschäftsmann ist, bald abgethan seyn, und von der Pflicht, mich in die öffentlichen zu mischen, dispensirt mich glücklicherweise meine Jugend. In diesem Falle würde ich vielleicht bald genug zurückkommen können, um dich noch zu Aegina anzutreffen. Indessen lebe wohl, meine Freundin, und erinnere dich meiner, so oft du den Grazien und deinem Genius, der auch der meinige ist, opferst.

42. Aristipp an Learchus zu Korinth
[262] 42.
Aristipp an Learchus zu Korinth.

Ein heftiger und anhaltender Sturm, der uns mehrere Tage im Hafen von Skandeia zurückhielt, hat mich um die beste Frucht meiner Reise gebracht. Ich bin zwar glücklich in Cyrene angelangt, aber den ehrwürdigen Aritades, den ich noch zu sehen hoffte – sah ich nicht mehr. Ich weiß, edler Learch, auch du wirst dem Andenken eines Freundes deines Hauses, den du vor dreißig Jahren bei deinem Vater gesehen zu haben dich vielleicht noch erinnerst, eine fromme Thräne schenken. Er war ein guter Mann im edelsten Sinne dieser Benennung. Hätte Cyrene unter zehntausend Bürgern nur hundert seines gleichen gehabt, so würden die armen Leute jetzt nicht so viel Noth und Mühe haben, all das Unheil wieder gut zu machen, das die Verkehrtheit einiger wenigen, und die Thorheit der Menge im Laufe des verfloss'nen Jahres über sie gebracht hat. Das große Interesse der öffentlich Angelegenheiten verschlingt in diesem Zeitpunkt jedes Privatgefühl. Vornehmlich beschäftigt die künftige Staatsverfassung alle Köpfe und Zungen; man hört in allen Gesellschaften und auf allen Versammlungsplätzen nichts anders; jedermann hat entweder einen Vorschlag zu thun, oder stellt Vermuthungen über die neue Republik an, die in kurzem aus der Werkstatt der Zehnmänner hervorgehen soll, und bekrittelt sie in voraus, falls sie so oder so ausgefallen seyn sollte. Daß ich ein bloßer Zuschauer bei allen diesen Bewegungen bin, [263] wird dich nicht befremden, da mich weder meine Erfahrenheit noch unsre Gesetze, die keinem Bürger vor seinem dreißigsten Jahre eine active Stimme gestatten, zu öffentlicher Theilnehmung an Geschäften dieser Art berufen, und vor unzeitiger Einmischung meine ganze Art zu denken mich bewahrt. Ich überlasse alles meinem Bruder Aristagoras und meinem Freunde Demokles (die das Vertrauen ihrer Mitbürger in einem vorzüglichen Grade besitzen) um so ruhiger, da sie durch gleiche Mäßigung und Klugheit, bei gleich redlichen Absichten, völlig dazu geeigenschaftet scheinen, uns, wo nicht die beste Verfassung, die sich denken läßt, wenigstens die beste, die unter den gegenwärtigen Umständen möglich ist, zu geben.

43. An Ebendenselben
43.
An Ebendenselben.

Das neue Palladion unsrer Stadt ist nun fertig, und (wie die Cyrener ein rasches und ungeduldiges Völkchen sind) von der allgemeinen Volksversammlung mit großem Jubel angenommen und eingeführt worden. Dir die innere Organisation unsrer mit Griechenland in keiner Verbindung stehenden Republik bis in ihren kleinsten Aesten und Zweigen darzulegen, möchte dir und mir zu langweilig seyn: ich begnüge mich also, dir nur das Wesentlichste, und auch dieß nur mit den äußersten Linien, vorzuzeichnen.

Die höchste Staatsgewalt ist in einer ziemlich zweckmäßigen [264] Proportion (wie mich däucht) zwischen dem Senat, welcher ausschließlich aus den ältesten und begütertsten Familien genommen wird, und dem Volk, oder vielmehr dem aus dem Mittel desselben erwählten großen Rath, der das Volk vorstellt, vertheilt. Der Senat besteht aus hundert Personen, die ihren Platz in demselben lebenslänglich behalten. Der Vorsitzer, Epistates genannt, ist das Haupt der ganzen Republik; er hat das große Siegel in seiner Verwahrung, und da er für die Ausführung der Beschlüsse des Senats verantwortlich ist, so ist jeder Bürger von Cyrene ohne Ausnahme seinen Befehlen und Aufträgen schleunigen und unverweigerlichen Gehorsam schuldig. Er besitzt aber diese beinahe königliche Gewalt nur dreißig Tage lang, und kann erst in fünf Jahren wieder dazu erwählt werden. Die Senatoren, die nicht unter fünfunddreißig Jahre alt seyn dürfen, sind in drei Classen abgetheilt. Die erste besteht aus zwölf Demarchen oder Polizeimeistern (welche künftig bloß aus den monatlich abgehenden Epistaten genommen werden sollen), deren jeder in einem der zwölf Quartiere, in welche die Stadt abgetheilt ist, für die Erhaltung guter Zucht und Ordnung und öffentlicher sowohl als häuslicher Sicherheit zu sorgen hat. Sie sind zugleich Schiedsrichter in allen unter den Bürgern verfallenden Streitigkeiten, und berechtigt, wenn kein Vergleich statt findet, in erster Instanz abzuurtheilen. Auch kommen sie zweimal in der Woche zusammen, um sich über alles was zur allgemeinen Stadtpolizei gehört, es betreffe nun Abstellung von Mißbräuchen oder Vorschläge zu Verbesserungen, zu berathen. Sie erstatten dem Senat [265] alle Monate Bericht über den Zustand der Stadt und legen ihm ihre Vorschläge zur Entscheidung vor. Die zweite Classe des Senats besteht aus den vierundzwanzig Personen, unter welche die hauptsächlichsten Aemter der Republik vertheilt sind, dem Kanzler und Schatzmeister, und den sämmtlichen Oberaufsehern der öffentlichen Gebäude, Tempel, Gymnasien, Bäder, Brunnen u.s.w., ferner der Feste und religiösen Feierlichkeiten, des Kriegsstaats und Seewesens, der Zeughäuser, der öffentlichen Fruchtböden, des Ackerbaues, der Bergwerke u.s.w. Diese erscheinen gewöhnlich nur alsdann im Senat, wenn sie Vorträge zu thun, Verhaltungsbefehle einzuholen, oder Rechenschaft abzulegen haben. Alle übrigen Senatoren machen das Collegium aus, dem die Verwaltung der bürgerlichen und peinlichen Gerechtigkeit anvertraut ist, und welches wieder in verschiedene Abtheilungen zerfällt. Die Epistaten und Demarchen dienen dem Gemeinwesen umsonst; die zweite und dritte Classe sind auf einen anständigen Gehalt gesetzt. Der Staat besoldet seine Diener aus dem Schatz; die Richter hingegen erhalten ihren Ehrensold aus einer öffentlich verwalteten Casse, in welche alle Geldbußen und die vom Gesetz bestimmten Gerichtsgebühren fließen, welche die unterliegende Partei bezahlen muß, und wovon allein die ärmste Bürgerclasse ausgenommen ist; denn für diese hat unsre Justiz keinen Beutel, aber dafür einen derben Knittel, um die Leute von leichtfertigen Händeln abzuschrecken.

Der Senat versammelt sich gewöhnlich sechsmal in jedem Monat, und außerdem so oft es der Epistat nöthig findet. Er vereinigt unter den verfassungsmäßigen Einschränkungen [266] alle Gewalten in sich. Alle seine Verordnungen haben, insofern sie den schon vorhandenen Gesetzen nicht widerstreiten, Gesetzeskraft; aber diejenigen, die den ganzen Staat betreffen, nur bis zur nächsten Sitzung des großen Rathes, der aus hundert und zweiundneunzig Plebejern besteht, wozu jedes Quartier sechzehn von den Bürgern desselben erwählte Mitglieder hergibt. Dieser muß alle Monate, am ersten Tage nach dem Neumond, von dem Epistaten zusammenberufen werden, um den Verordnungen des Senats, welche die Kraft eines gemeingültigen Gesetzes erhalten sollen, die Bestätigung zu geben oder zu versagen. Diese Bestätigung ist nicht länger als auf fünf Jahre kräftig; nach Verfluß derselben wird das Gesetz einer Revision ausgestellt, durch welche es entweder verworfen oder auf dreißig Jahre festgesetzt wird. Ueber Krieg und Frieden kann nur der große Rath entscheiden. Neue Auflagen können nur mit seiner Bewilligung stattfinden, auch muß ihm von jedem abgehenden Epistaten Bericht über den Zustand der Republik und alle Jahre von dem Schatzamt Rechnung über die Verwaltung der öffentlichen Einkünfte abgelegt werden.

Auf diese Weise glaubten unsre Nomotheten 122 zugleich sowohl für die Freiheit und Sicherheit, die der Staat seinen Bürgern zu garantiren schuldig ist, als für die Erhaltung der bürgerlichen Ordnung, hinlänglich gesorgt zu haben. Aber sie fanden noch eine Gewalt nöthig, um der großen Macht, die dem aristokratischen Senat anvertraut ist, das Gegengewicht zu halten, und dem demokratischen großen Rath jeden Mißbrauch seiner hemmenden Gewalt unmöglich zu machen.

[267] Zu diesem Ende verordneten sie noch ein Collegium von sechs Eparchen, welche, von allen andern unabhängig, zur einen Hälfte vom großen Rath aus den Eupatriden, und zur andern vom Senat aus dem Volk erwählt werden, und keine andere Verrichtung haben, als die Bewahrer der Gesetze und der Verfassung zu seyn, und zu verhindern, daß weder der Senat und die aus dessen Mittel bestellten Magistratspersonen ihre Gewalt über die Schranken der Gesetze ausdehnen, noch der große Rath dem kleinen seine Beistimmung aus unstatthaften Ursachen versagen könne. In beiderlei Fällen haben sie den Räthen und übrigen Staatsbeamten Vorstellungen zu thun, und sind, wofern diese nicht gehört würden, berechtigt, eine von den Prytanen ergangene Verordnung zu suspendiren oder eine vom großen Rath versagte Sanction durch die ihrige zu ersetzen. Die ihnen verliehene Macht geht so weit, daß sie eine jede Magistratsperson und überhaupt jeden Bürger, der etwas gegen die Republik oder ihre Verfassung unternehmen wollte, in Verhaft zu nehmen, und einem besondern Gerichte, das aus den zwölf Demarchen, zwölf durchs Loos erwählten Prytanen, und fünfundzwanzig Plebejern, unter dem Vorsitz des ältesten Eparchen, zusammengesetzt ist, zur Untersuchung und Bestrafung zu übergeben berechtigt sind. Diese Staatsaufseher bleiben nur ein Jahr im Amte, haben den Vorsitz über alle andern obrigkeitlichen Personen, unmittelbar nach dem Epistaten, und werden vom Volk als eben so viele für seine Rechte und für die öffentliche Wohlfahrt wachende Schutzgeister angesehen; sind aber nach ihrem Austritt einer so strengen Verantwortlichkeit unterworfen, [268] daß auf jede Versäumniß ihrer Pflicht die Strafe einer zehnjährigen Landesverweisung steht.

Ich füge diesem kurzen Abriß unsrer neuen Verfassung nur noch dieses hinzu, daß, weil die Cyrenische Priesterschaft sich bei der letzten Revolution durch eine besonders eifrige Vorliebe für die Tyrannie hervorgethan, die Einrichtung getroffen worden ist, daß die jedesmaligen Demarchen zugleich die Oberpriester in ihrem Quartier, und der Epistat als das Oberhaupt des Staats zugleich der Hohepriester desselben ist.

Wie gefällt dir nun unsre Republik in dieser neuen Gestalt, edler Learch? Sie ist mit obrigkeitlichen Personen nicht so überladen wie Athen, und hat, wenn ich ihr nicht zu viel schmeichle, so ziemlich die Miene, ihre zwanzig Jahre so gut wie irgend eine andre auszudauern. Oder meinst du nicht? – Ernsthaft zu reden, es wäre unartig von mir, wenn ich unsern Prometheen die Freude, eine so zierlich gearbeitete Constitution zu Stande gebracht zu haben, und meinen Mitbürgern ihr Vergnügen an derselben durch Mittheilung meiner Gedanken verkümmern wollte. Aber bei dir darf ich die Weissagung wohl ingeheim hinterlegen, daß unsre Staatsmaschine, wie richtig sie auch einige Jahre spielen mag, noch ehe dreißig Jahre in die Welt gekommen sind, wieder ins Stocken gerathen und den Söhnen ihrer Verfertiger wenigstens eben so viel zu schaffen machen werde, als die vorige den Vätern. Alle bürgerliche Gesellschaften haben den unheilbaren Radicalfehler, daß sie, weil sie sich nicht selbst regieren können, von Menschen regiert werden müssen, die – es größtentheils eben so wenig können. Man kann unsre Regierer [269] nicht oft genug daran erinnern, daß bürgerliche Gesetze nur ein sehr unvollkommnes und unzulängliches Surrogat für den Mangel guter Sitten, und jede Regierung, ihre Form sey noch so künstlich ausgesonnen, nur eine schwache Stellvertreterin der Vernunft ist, die in jedem Menschen regieren sollte. Was hieraus unmittelbar folgt, ist, denke ich: man könne nicht ernstlich genug daran arbeiten, die Menschen vernünftig und sittig zu machen. Aber, wie die Machthaber hiervon zu überzeugen, oder vielmehr dahin zu bringen wären, die Wege, die zu diesem Ziele führen, ernstlich einzuschlagen? – dieß ist noch immer das große unaufgelöste Problem! Wie kann man ihnen zumuthen, daß sie mit Ernst und Eifer daran arbeiten sollen, sich selbst überflüssig zu machen?

44. Lais an Aristipp
44.
Lais an Aristipp.

Die ungewöhnliche Schönheit dieses Frühjahres hat mich schon in den ersten Tagen der Blüthenzeit nach Aegina gelockt; oder vielmehr die kleine Musarion ließ mir keine Ruhe, sobald sie die erste Schwalbe zwitschern hörte. Du solltest nur um der Nachtigallen willen eher nach Aegina gehen, sagte sie alle Morgen und Abende; gewiß sie singen nirgend so schön als in unserm Lustwäldchen zu Aegina.

Du mußt wissen, Aristipp, daß Musarion meinem alten [270] Patron, vor ungefähr sechzehn Jahren, von einer schönen Thracischen Sklavin geboren, und auf seinem Gute zu Aegina bis an seinen Tod erzogen wurde. Er selbst entdeckte mir dieß kurz vor seinem Ende, indem er das Schicksal des jungen Mädchens gänzlich in meine Hände stellte. Du zweifelst nicht daß ich ihr sogleich die Freiheit gab; und da ich nicht alt genug bin ihre Mutter vorzustellen, gehe ich mit ihr, wie du gesehen hast, wie mit einer jüngern Schwester um.

Die Sehnsucht des guten Kindes nach Aegina ward nach und nach so lebhaft, daß ich ihrem Andringen nicht länger widerstehen konnte. Wir sind also wieder hier in deinem Lieblingssitz, und unsre Nachtigallen greifen sich so gewaltig an, daß man sie bis in Athen hören muß; denn sie haben bereits den begeisterten Kleombrotus im Gefolge seines edeln Freundes zu uns herüber gesungen. Eurybates hat (wie dir bekannt ist) auch eine Nachtigall, oder vielmehr eine Sirene, zu Aegina, deren Zaubergesang ihm so gefährlich zu werden droht, daß ich mich ziemlich versucht fühle, den armen Menschen aus purem Mitleiden dem Verderben zu entreißen, das sie ihm zubereitet. In ganzem Ernst, Freund Aristipp! Eurybates dauert mich, und wer weiß wie weit ich die Großmuth zu treiben fähig wäre, wenn ich nicht – rathe selbst wen? – in wenig Wochen zu Aegina erwartete, dessen gute Meinung von mir ich nicht gern verscherzen möchte, und der eine so heroische Aufopferung meiner selbst – bloß um einen Abkömmling des Kodrus im Besitz seines schönen Landguts zu erhalten – vielleicht nicht verdienstlich genug finden dürfte, sie für ein würdiges Gegenstück der peinlichen Tugendübungen anzusehen, die [271] er sich selbst ganzer drei Monate lang zu Syrakus auferlegt haben soll.

Ohne Scherz, lieber Aristipp, auch deine Freundin, sich schmeichelnd daß sie immer noch die einzige ist, sehnt sich dich bald wieder zu sehen; und wenn sie dir gleich eine Treue, die ihr nichts kostet, nicht hoch anzurechnen gedenkt, so gesteht sie doch, daß sie dir's schwerlich verzeihen könnte, wenn du deine philosophischen Kampfübungen auf ihre Rechnung länger fortsetzen, und anstatt zu den Nachtigallen in Aegina zurückzueilen, etwa noch eine kleine Reise zu den unbescholtnen Aethiopiern 123 machen wolltest. Ich habe dir eine Neuigkeit mitzutheilen, die nicht sehr geschickt ist, deine Meinung von den Athenern zu verbessern. Sokrates, unter allen beschuhten und unbeschuhten Achaiern unstreitig der beste, soll (wie die Rede geht) von drei redseligen Buben, dem Gerber und Volksredner Anytus, dem Rhetor Lykon, und einem gewissen Dichterling, wenn ich nicht irre Melitus genannt, angeklagt worden seyn, »daß er neue Götter in Athen einführen wolle, und die jungen Leute verderbe!« Jedermann findet diese Anklage 124 gar zu ungereimt, und ich habe noch niemand gesehen, der ernsthaft davon hätte sprechen können, oder im geringsten für unsern alten Freund in Sorgen stände, wiewohl der Kläger auf keine geringere als die Todesstrafe anträgt. Ungeachtet ich die Sache eben so ansehe, so gestehe ich doch, ich traue den Athenern nur halb, und verlasse mich mehr auf die Anzahl und den Eifer seiner Freunde, als auf die Güte seiner Sache und die Gerechtigkeit der Heliasten oder Areopagiten. 125 Hoffentlich wird der Sturm schon glücklich vorüber seyn, ehe du dich von Cyrene [272] losmachen kannst. Denn so eben versichert mich einer meiner Athenischen Bekannten, der die Stadt erst diesen Morgen verlassen hat, der berühmte Lysias 126 arbeite an einer ganz vortrefflichen Schutzrede für unsern ehrwürdigen Freund, und die allgemeine Stimmung sey dem Beklagten so günstig, daß es ihm nur ein gutes Wort an seine Richter kosten werde, um lauter weiße Steine zu erhalten. In der That sind seine Ankläger so gar schlechte Menschen, und die Klagpunkte passen so übel auf Sokrates, daß Aristophanes selbst, wie ich höre, sich darüber ärgert, daß solche verächtliche Sykophanten aus seinem schon vier und zwanzigjährigen Spaß Ernst machen wollen, und sich schlechterdings weigert, an ihrer Verschwörung Theil zu nehmen. Du kannst also, denke ich, deines alten Chirons 127 wegen außer aller Sorge seyn.

45. An Lais
45.
An Lais.

Deine Briefe müssen einen sehr betriebsamen Genius haben, schöne Lais; denn der Schiffer, der mir so eben den letzten überbringt, versichert mir, daß er die Reise von Aegina nach Cyrene, die er seit vielen Jahren zwei bis dreimal jährlich mache, in seinem Leben nie in so kurzer Zeit und mit so günstigen Winden gemacht habe, als dießmal.

Deine Neuigkeit hat mich befremdet, aber nicht im geringsten beunruhigt. Eine so boshafte Anklage, von so namenlosen [273] Menschen wie diese, kann einem Sokrates nicht gefährlich seyn, oder die Kechenäer müßten von aller Scham und Vernunft gänzlich verlassen werden. Ich kenne von den Anklägern nur einen persönlich, den Lederhändler Anytus, einen würdigen Nachfolger des berüchtigten Kleons 128, nur daß er sich gegen diesen ungefähr verhält wie ein Schafsfell zu einer Hirschhaut; ob er sich's gleich ein paar hundert tüchtige Bocksfelle kosten ließ, um es in der edeln Kunst, dem übelhörenden halbkindischen alten Demos 129 im Pnyx 130 die Ohren voll zu schreien, so weit zu bringen, daß er sich unter den dermaligen Volksrednern so gut als ein Anderer hören lassen darf. Lykon ist ein verdorbner Schulhalter in der Rhetorik, und ich entsinne mich nicht, den Namen des Dichterlings Melitus je gehört zu haben. Was für Leute, um gegen einen Mann wie Sokrates aufzustehen! und wie fände nur ein Schatten von Wahrscheinlichkeit statt, daß die Athener den biedersten und tugendhaftesten aller ihrer Mitbürger, einen Mann dessen Name im ganzen Griechenland in Ehren gehalten wird, die Profession eines freiwilligen unbezahlten Volks- und Jugend-Lehrers dreißig Jahre lang ungestört hätten treiben lassen, um ihn erst in seinem siebzigsten deßwegen zur Rede zu stellen, und solcher albernen Beschuldigungen wegen aus der Stadt zu verweisen, oder gar zum Tode zu verurtheilen? Wie du sagst, wir haben nichts für ihn zu fürchten; die ganze Komödie wird sich, so gut als ehemals die Wolken des Aristophanes, auf eine ehrenvolle Art für ihn und auf eine so schmähliche für die drei Sykophanten endigen, daß sie uns hinter drein Stoff genug zum Lachen geben soll.

[274] Wir haben, meines Wissens, keine Nachtigallen in Cyrene. Ich werde mich also, sobald ich hier loskommen kann, auf den Weg machen, um die deinigen noch singen zu hören bevor ihre Zeit vorüber ist. An Sirenen fehlt es auch bei uns nicht; aber ich kenne keine schlimmere als die schlaue Lysandra, von welcher du den armen Eurybates zu erlösen gesonnen scheinst. In der That wär' es eine verdienstliche That, und, um eine der schönsten Historien daraus zu machen, brauchte es nichts, als daß der edle Kodride 131 großmüthig genug wäre, keinen Ersatz von dir zu fordern, oder, wie der gute Kleombrot, sich am geistigen Ambrosia deines bloßen Anschauens genügen ließe; wiewohl zu befürchten ist, daß so materielle Wesen, wie die Athenischen und Korinthischen Eupatriden, es bei einer so leichten erotischen Diät schwerlich lange aushalten möchten.

Du wirst von Learch vernommen haben, daß ich nicht so glücklich war, den Aritades noch am Leben anzutreffen. Ich habe einen sehr gütigen Vater, Cyrene einen ihrer besten Bürger an ihm verloren. Seine Jugend fiel in eine Zeit, wo die Lebensart bei uns viel einfacher, die Sitten reiner, die Verhältnisse unter Verwandten, Nachbarn und Mitbürgern enger und herzlicher waren als heutzutage. Aritades blieb dem Genius seiner bessern Zeit getreu, ohne von der jetzigen Generation zu verlangen, daß sie vorsetzlich wieder so weit zurückschreite, als sie in allem unvermerkt vorwärts gerückt ist. Wahrscheinlich hat der traurige Ausgang unsrer letzten Revolution den Faden seines Lebens früher abgerissen als die Natur es wollte. Das Vordringen des republikanischen Kriegsheers in den letzten Tagen Aristons nöthigte ihn, sich in die Stadt[275] zu flüchten und seine Güter der Verheerung Preis zu geben. Natürlicherweise treffen die Folgen dieses Unfalls auch mich. Ich werde nicht reich genug zurückkommen, um meine gewohnte Lebensart in die Länge fortsetzen zu können; und ich sehe eine Zeit voraus, wo ich mich vielleicht werde entschließen müssen, entweder bei der Philosophie des Sokrates zu hungern, oder meine von Hippias gelernten Künste wuchern zu lassen. – Doch, diese Zeit ist noch fern genug, und im nächsten Jahrzehnt wenigstens soll es mir nicht an Mitteln fehlen, den Lebensplan, den ich mir für diese Periode gemacht habe, vollständig und gemächlich auszuführen. Sey also von dieser Seite unbesorgt für mich, meine Liebe; ich werde in zehn Jahren so viel Vorrath für die Zukunft gesammelt und so große Fortschritte in der Kunst zu leben gemacht haben, daß ich mit beiden auszulangen hoffe, wenn ich auch so alt wie Tithon würde.

Mein Bruder ist zu tief in die Geschäfte seiner einzigen Liebschaft, unsrer aus dem politischen Medeenkessel 132 neuverjüngt herausgestiegenen Republik verwickelt, als daß ihm Muße zu seinen Privatangelegenheiten übrig bliebe. Aber Eros und Aphrodite verhüten, daß ich hier so lange ausharre, bis unsre Erbschaftssache bei Drachmen und Obolen ausgeglichen ist! Ich gedenke mich mit irgend einer mäßigen Summe abfinden zu lassen, um desto eher in Aegina anzukommen, wo ich meinen edlen Freund Eurybates (unter uns gesagt) lieber zu deinen schönen Füßen als in deinen Armen überraschen möchte.

46. Lais an Aristipp
[276] 46.
Lais an Aristipp.

Es ist vielleicht glücklich für dich, lieber Aristipp, daß du länger in Cyrene aufgehalten wirst als du hofftest; denn die Sachen in der Minervenstadt haben indeß eine Wendung genommen, die sich niemand einbilden konnte. O die Athener, die Athener! Wie verhaßt ist mir jetzt dieser Name! Ich verbiete allen, die um mich sind, ihn auszusprechen, und er soll in den nächsten fünf Jahren nicht über meine Lippen kommen. Kannst du glauben daß die Elenden unmenschlich genug seyn konnten? – die Hand versagt mir fortzufahren – O daß ich nicht Circe, nicht Medea, nicht der Erinnyen eine bin! – Und wenn ich dir erst sage, warum sie ihn verurtheilt haben, und wie wild es dabei zugegangen ist! – Sokrates hielt es (mit Recht) seiner unwürdig, sich auf die boshaft alberne Anklage in eine Vertheidigung in gewöhnlicher Form einzulassen, gab auch nicht zu, daß einer von seinen Freunden für ihn aufträte. In der That (nach dem, was man mir davon erzählt hat, zu urtheilen), ist nie etwas Jämmerlicheres gehört worden, als die Beweise, womit der Schwätzer Melitus seine Anklage gut zu machen suchte. Sokrates hörte ihm lachend zu, und fand, sie bedürften keiner Widerlegung, da er sich auf die eigene Ueberzeugung der Richter berufen könne. »Mein ganzes Leben,« sagte er, »ist die vollständigste Antwort auf die Beschuldigungen meiner Ankläger.« – Die ehrsamen Heliasten fanden sich durch [277] die Kürze dieser Apologie beleidigt. Welcher Trotz, sagten sie unter einander, welcher Uebermuth! das ist nicht zu dulden, das muß bestraft werden, wenn er auch sonst nichts verbrochen hat. Sie schritten zum Urtheil, und der Beklagte wurde mit 281 Steinen von 500 für schuldig erklärt. Weil es indessen doch ihre Meinung war, ihn, wenn er um Milderung der Strafe bäte, mit einer Geldbuße davon kommen zu lassen, so fragte man ihn, was er für eine Strafe verdient zu haben glaube? »Lebenslänglich im Prytaneum unterhalten zu werden, 133« war seine Antwort. Dieß brachte die Richter dermaßen auf, daß sie unter großem Lärm zu einer nochmaligen Stimmgebung schritten, wo sich dann ergab, daß er mit 360 Steinen zum Tode verurtheilt war. Dabei blieb es, und er wurde sofort in das öffentliche Gefängniß abgeführt. Der Tag seines Todes ist, einer alten Gewohnheit zufolge, auf die Wiederkunft des heiligen Schiffes ausgesetzt, welches alle Jahre mit den Abgeordneten der Republik zum Andenken der berühmtesten Heldenthat des Theseus nach Delos 134 geschickt wird. Seine Freunde haben indeß die Freiheit ihn täglich zu besuchen, und er unterhält sich mit ihnen, auf seine gewohnte Art, so unbefangen und heiter, als ob das was ihm bevorsteht nur eine kleine Reise nach Aegina wäre.

Alle diese Umstände habe ich von sehr guter Hand, und auch diesen, daß sein vertrautester alter Freund Kriton (der sehr reich seyn soll) alles Mögliche angewandt habe, ihn zu bewegen, daß er sich von ihm befreien und außer Landes in Sicherheit bringen lassen möchte. Aber Sokrates sey unerschütterlich auf seinem Vorsatz beharret sich dem Urtheil seiner [278] gesetzmäßigen Richter nicht zu entziehen. »Ich bleibe,« habe er gesagt, »um den Gesetzen meines Vaterlandes, denen ich Gehorsam schuldig bin, genug zu thun; so sterbe ich schuldlos, wie ich gelebt habe; durch die Flucht würde ich den Tod verdienen, den ich jetzt unschuldig leide.«

Ich muß aufhören, Aristipp – bleibe immerhin wo du bist; wenn du auch herüber fliegen könntest, was würd' es helfen? Ich danke den Göttern, daß sie dir den Schmerz, ein Zeuge seines Todes zu seyn, erspart haben. – Und doch – wenn's möglich ist, so komm'! komm' je eher je lieber! Du kannst zwar deinem alten Freunde nichts helfen; aber ich bedarf deiner. Du allein kannst die schwarzen Wolken zerstreuen, die mein Gemüth verdüstern und zusammendrücken.

47. Eurybates an Aristipp
47.
Eurybates an Aristipp.

Lais hat dich vorbereitet, Freund Aristipp; aber dir das Aergste zu melden, versagt ihr der Muth. Sokrates – ist nicht mehr!

Ein unglücklicher Augenblick, eine Art von Mißverständniß, unzeitiger Stolz von Seiten der Richter, und wenn ich's sagen darf – ein wenig Eigensinn auf Seiten des noch stolzer zu seyn freilich nur zu wohl berechtigten Sokrates, ist Schuld an einer Uebereilung, welche die Athener sich selbst nie verzeihen werden. Du weißt wie sie sind. Es ist nun einmal [279] von jeher Sitte bei uns gewesen, daß ein Beklagter, wär' er noch so unschuldig, mehr die Humanität seiner Richter als ihre Gerechtigkeit auf seine Seite zu bringen suchen muß. Man versichert mich heilig, das Gericht sey in keiner ihm ungünstigen Stimmung gewesen. Aber seine ihm zur andern Natur gewordene Ironie, eine Kaltblütigkeit, die ihm für Trotz ausgelegt wurde, die tumultuarische Art, wie es bei der ganzen Verhandlung zuging, und woran zum Theil die Hitze und der unbesonnene Eifer seiner jungen Freunde selbst Schuld war, das alles stimmte die Richter um; und so konnten sie es nicht ertragen, daß er, anstatt (wie gewöhnlich) um Milderung der Strafe anzusuchen, mit einer Miene – die man freilich, seitdem Athen steht, noch nie im Gesicht eines auf den Tod Angeklagten gesehen hat – sagte: die Strafe, die er verdient habe, sey ein lebenslänglicher Freitisch im Prytaneion.

Das Geschehene ist nun nicht mehr zu ändern. – Der Name Sokrates wird mit ewigem Ruhm auf die Nachwelt kommen; alle seine kleinen Menschlichkeiten werden vergessen seyn, und nur die Sage, daß er der weiseste aller Menschen gewesen, wird von einem Jahrhundert dem andern übergeben werden: uns Athener hingegen wird ewig die Schande drücken, einen solchen Mitbürger verkannt zu haben. Wohl dem, der nicht unter seinen Richtern saß!

Die dreißig Tage, die er nach seiner Verurtheilung im Gefängniß zubrachte, sollen die schönsten seines ganzen Lebens gewesen seyn. Weinend sprechen seine Freunde mit Entzücken davon. Er weigerte sich aus den edelsten Beweggründen, sich aus dem Gefängniß entführen und in Sicherheit bringen zu [280] lassen, wozu Kriton alles schon veranstaltet hatte. Wenige Stunden vor seinem Tode unterhielt er sich mit seinen Freunden über die Unsterblichkeit der Seele, und tröstete sich durch die Zuversicht, womit er ihnen von seiner Hoffnung in ein besseres Leben hinüber zu gehen, als von einer gewissen Sache, sprach. Der junge Plato will, wie ich höre, alle diese Gespräche – vermuthlich in seiner eignen Manier, wovon er bereits Proben gegeben hat, mit welchen Sokrates nicht sonderlich zufrieden seyn soll – aufschreiben und bekannt machen. Ich wünsche daß er so wenig von dem seinigen hinzuthun möge, als einem jungen Manne von seinem seltnen Genie nur immer zuzumuthen ist; aber er hat eine zu warme Einbildungskraft und zu viel Neigung zur dialektischen Spinneweberey, um den schlichten Sokrates unverschönert, und, wenn ich so sagen darf, in seiner ganzen Silenenhaftigkeit, darzustellen, die wir alle an ihm gekannt haben, und die mit seiner Weisheit so sonderbar zusammengewachsen war.

Der arme Kleombrot ist untröstbar. Schon vorher mußte ich alles anwenden was ich über ihn vermag, ihn abzuhalten, daß er nicht nach Athen zurückstürmte, um (wie er sagte) seinen geliebten Meister entweder zu retten, oder mit ihm zu sterben. Das erste stand nicht in seiner Macht; hingegen hätt' er sich leicht schlimme Händel zuziehen können, da unser Volk (wie dir bekannt ist) nicht leiden kann, daß Ausländer sich in unsre Sachen mischen. Nun kriecht er aus einem Winkel in den andern, und macht sich selbst Vorwürfe, daß er seinen Lehrer zu einer solchen Zeit verlassen habe; als ob jemand sich so etwas hätte träumen lassen können, da wir [281] nach Aegina gingen. Kurz, er ist in einem erbärmlichen Zustande. Die kleine Musarion, die ihn zerstreuen sollte, sitzt den ganzen Tag Hand in Hand neben ihm und hilft ihm weinen. Lais selbst ist noch zu sehr erschüttert als daß sie andere trösten könnte. Alle unsre Hoffnung, ihn wieder zurechtzubringen, beruht also auf dir, lieber Aristipp. Deine sämmtlichen Freunde in Aegina sehen dir mit Sehnsucht entgegen.

48. An Eurybates
48.
An Eurybates. 135

Das sind nun eure so hochgepries'nen Freistaaten, Eurybates! So geht es in euern Demokratien zu! Bei allen Göttern der Rache! eine solche Abscheulichkeit war nur in einer Ochlokratie wie die eurige möglich! Ihr schimpft auf das, was ihr Tyrannie nennt? Wahrlich unter dem Tyrannen Dionysius hätte Sokrates so lange leben mögen als Nestor; alle Gerber, Rhetoren und Versemacher von ganz Sicilien sollten ihm kein Haar gekrümmt haben! – Im Grunde dauern mich deine Athener. Was können sie dafür, daß die Regiersucht solcher ehrgeizigen Aristokraten und Demagogen wie Klisthenes und Perikles ihnen in ihre schwindlichten Köpfe gesetzt hat, ein Wurstmacher, Kleiderwalker oder Lampenhändler verstehe sich so gut aufs Regieren und Urtheil sprechen, als einer der dazu erzogen worden ist? Der Tag, da Athen von der edeln und weislich abgewogenen Solonischen Aristodemokratie zu [282] einer reinen Ochlokratie herabgewürdigt wurde, war der unseligste von allen, die ihr seit Cekrops und Theseus mit schwarzer Kreide bezeichnet habt. Alles Elend, das in den letzten dreißig Jahren über eure Stadt gekommen ist, alles Unheil das ihr über Griechenland gebracht habt, alle die Schandmale, die ihr, durch so viele Handlungen des gefühllosesten Undanks gegen eure verdienstvollesten Bürger, eurem Namen auf ewig eingebrannt habt, schreiben sich von diesem Tage her. – Wie? Die dreißig Tyrannen selbst, denen euch Lysander preisgab, die gewaltthätigsten und verruchtesten aller Menschen, wagten es nicht sich an Sokrates zu vergreifen, als er ihnen mit spottender Verachtung die derbsten Wahrheiten ins Gesicht sagte: und eure Heliasten, Leute, die für drei Obolen des Tags, je nachdem sie einem wohl oder übel wollen, Recht oder Unrecht sprechen, verurtheilen ihn zum Tode, weil er sie nicht um eine gnädige Strafe bitten will; verurtheilen ihn bloß, um ihm zu zeigen daß sein Leben von ihrer Willkür abhange? Die Elenden! – Aber noch einmal, nicht sie, sondern die Urheber einer Verfassung, welche die Macht über Leben und Tod in die Hände solcher Wichte legt, sind verwünschenswerth.

Doch wozu dieser Eifer? Und was berechtigt mich, meine Galle über dich, der an diesem Gräuel unschuldig ist, auszugießen? Verzeih', Eurybates! Ich fühle daß es mich noch viel Arbeit an mir selbst kosten wird, bis ich es so weit gebracht habe, alles an den Menschen natürlich zu finden, was sie zu thun fähig sind, und mich mit einer solchen Natur zu vertragen. Ich schmeichelte mir sonst es schon ziemlich weit [283] in diesem eben so schweren als unentbehrlichen Theile der Lebenskunst gebracht zu haben; – zu früh, wie ich sehe: aber freilich auf ein solches Ungeheuer der schandbarsten Narrheit und Verkehrtheit, wie dieser justizmäßige Sokratesmord, war ich nicht gefaßt.

In drei Tagen schiffe ich mich nach Aegina ein, und gedenke von dort aus eine Reise nach den vornehmsten Städten Ioniens zu unternehmen, und mich in jeder so lange aufzuhalten, als ich etwas zu sehen, zu hören und zu lernen finde, das in meinen Plan taugt. Athen wieder zu sehen, bin ich noch unfähig; der Anblick eines Heliasten würde mich wahnsinnig machen.

Lebe wohl, Eurybates, und stelle, wenn du kannst, die Zeiten wieder her, da die Minervenstadt noch von lebenslänglichen Archonten regiert wurde. Eure Triobolenzünftler 136 haben mich mit der Aristokratie auf immer ausgesöhnt. Es ist zwar, im Durchschnitt genommen, nicht viel Gutes von euch zu rühmen, ihr andern Eupatriden: aber das bleibt doch wahr, daß der Schlechteste von euch nicht fähig gewesen wäre, weder Ankläger eines Sokrates zu seyn, noch ihm Schierlingssaft zu trinken zu geben.

49. An Lais
[284] 49.
An Lais.

Um uns die gezwungene Unterwerfung unter das eiserne Gesetz der Nothwendigkeit erträglicher zu machen, gibt es wohl kein besseres Mittel, liebe Laiska, als uns des großen Vorrechts zu bedienen, womit die Natur den Menschen vor allen andern lebenden Wesen begabt hat, »daß es in seiner Macht steht, bloß durch eine willkührliche Anwendung seiner Denkkraft, wo nicht allen, doch gewiß dem größten Theil der Uebel, die ihm zustoßen, den Stachel zu benehmen, indem er sie aus dem düstern Licht, worin sie ihm erscheinen, in ein freundlicheres versetzt, und sie so lange auf alle möglichen Seiten wendet, bis er eine findet, die ihm einen tröstlichen Anblick gewährt.« An diese sollten wir uns dann, wenn wir weise wären, festhalten, ohne spitzfindig nachzugrübeln, wie viel davon etwa bloß Täuschung seyn möchte. Warum wollten wir die Schale mit Nepenthes 137, die uns eine mitleidige Gottheit reicht, ausschlagen, um uns vorsetzlich dem Gram einer einseitigen Vorstellung zu überlassen, der, wie der Geyer des Prometheus an unserm Leben nagt, ohne daß irgend etwas Gutes für uns oder Andere daraus entspringen kann? Was wir selbst, was alle bessern Menschen, was die Welt überhaupt durch den Tod unsers unersetzlichen Freundes verloren hat, kann uns durch unsern Unmuth nicht wiedergegeben werden. Reißen wir uns mit unsern Gedanken von allen eigennützigen Gefühlen los, und erwägen dafür, was er selbst, [285] der Geliebte, dessen Verlust wir beklagen, verloren oder gewonnen haben mag! – War es nicht eher ein Gut als ein Uebel für ihn, die Zeit der immer fühlbarer werdenden Abnahme, die Zeit nicht zu erleben, wo der Mensch in seinen eigenen und andrer Augen nur noch als eine zusehends in Trümmer zerfallende Ruine dessen, was er war, erscheint? »Er hätte, sagen wir, noch lange, vielleicht noch zehn Jahre leidlich leben können.« – O ja, und dann vielleicht noch andere zehn Jahre unter allen Entbehrungen und Beschwerden des höchsten Greisenalters, wie eine allmählich sterbende Pflanze, hingeschmachtet! der Welt unnütz, sich selbst und seinen Freunden lästig, ein trauriger Gegenstand ihrer in bloßes Mitleiden verwandelten Liebe! Ihm war ein besseres Loos beschieden. Denn wahrlich, im Genuß aller seiner Kräfte und einer vollständigen Gesundheit der Seele und des Leibes, siebzig Jahre zurückzulegen, und dann ohne Krankheit und Schmerzen so schnell und leicht aus der Welt zu kommen, wie er, ist ein Glück das unter tausend Menschen kaum Einem zu Theil wird. – »Er starb schuldlos von ungerechten Richtern verurtheilt,« – aber ruhig, heiter, freudig, im Bewußtseyn eines ganzen wohl geführten, untadelhaften, gemeinnützlichen Lebens! geliebt, geehrt, beweint und betrauert von allen guten Menschen! Er lebt fort im Herzen seiner Freunde, wird ewig leben im Andenken der spätesten Nachwelt, die seinen Namen zur gewöhnlichen Bezeichnung der Idee eines weisen und tugendhaften Mannes machen wird. Seine denkwürdigsten Reden, seine Lehre, sein bürgerliches und häusliches Leben, werden, von seinen Freunden in Schriften dargestellt, noch [286] Jahrtausende lang, vielleicht unter Völkern, deren Benennung uns jetzt noch unbekannt ist, Gutes wirken. Gibt es ein glorreicheres Loos für einen Sterblichgebornen, als, mit allen diesen Vorzügen gekrönt, von der Tafel der Natur aufzustehen und schlafen zu gehen – entweder zur Ruhe eines ewigen Schlafs, oder (wie er selbst glaubte) um, mit den Geistern aller Edeln und Guten, die vor ihm waren, vereinigt, ein neues Leben in der unsichtbaren Welt zu beginnen? Trauren wir also nicht um Sokrates! Er hat nichts verloren, nichts das ihm nicht reichlich ersetzt wird, nichts, wofür ihm nicht schon die letzte Stunde, da sich Vergangenheit und Zukunft in seinem Bewußtseyn in Ein großes, klares, lebendiges Gefühl zusammendrängte, überschwänglichen Ersatz gegeben hätte. – »Aber was wir selbst an ihm verloren haben?« – ist, im Grunde, wenig, meine Freunde! denn von allem, was wir bereits von ihm besitzen, können wir nichts verlieren als durch unsre eigene Schuld; und in der Folge hätte er doch nur wenig mehr für uns seyn können. Gesetzt aber auch wir hätten viel verloren, so sey uns dieß ein neuer Antrieb, einander desto sorgfältiger und eifriger alles zu seyn, was in unserm Vermögen ist!

Ich gestehe, daß es mir jetzt äußerst peinlich wäre, nach Athen zurückzukehren, wo mich alles noch zu frisch an ihn erinnern würde; aber in einigen Jahren werden diese Erinnerungen vielmehr angenehm als schmerzhaft seyn. Was die Athener betrifft, die sind, im Durchschnitt, ein so verächtliches Gesindel, daß sie nicht einmal unsers Hasses werth sind, geschweige daß die liebenswürdigste aller Erdentöchter um ihrentwillen [287] zur Medea oder Tisiphone 138 werden sollte. An weniger gefühllosen Menschen würden Scham und Reue bereits eine strenge Rache genommen haben. Aber ich besorge sehr, die Athener sind weder der Scham noch der Reue fähig. Desto schlimmer für sie! Sie werden ihrer verdienten Strafe nicht entrinnen; und schwerlich würdest du, wenn dir auch alle Fackeln und Schlangenpeitschen der Erinnyen zu Dienste ständen, grausam genug seyn, ihnen die Hälfte der Plagen anzuthun, die sie selbst durch die natürlichen Folgen ihrer unheilbaren Verkehrtheit über sich aufhäufen werden.


Meine Geschäfte in Cyrene werden in zehn Tagen beendiget seyn, und dann fliege ich mit dem ersten günstigen Winde deiner Zauberinsel zu. Ich bringe dir, auf meine Gefahr, meinen Freund Kleonidas mit; einen jungen Mann, der es werth ist dich zu sehen, und dir bekannt zu werden, und der so sehr mein anderes Ich ist, daß du schwerlich mehr für ihn thun könntest als ich ihm gönnen würde. Er ist mit allen Anlagen zur bildenden Kunst geboren, gab sich aber in seinen frühern Jugendjahren ganz den Musenkünsten hin. Er würde mich schon vor fünf Jahren nach Griechenland begleitet haben, wenn ihn nicht eine schwärmerische Leidenschaft für die Tochter des damals sich bei uns aufhaltenden Malers Pausias zurückgehalten hätte, die an Schönheit und – Dumpfheit eine andere Theodota ist. Um seine Geliebte so nahe und so oft als möglich zu sehen, bestellte er bei dem Vater ein Gemälde [288] nach dem andern, und brachte, unter dem Vorwande den Künstler arbeiten zu sehen, einen großen Theil des Tages in seinem Hause zu. Die Folge davon war, daß seine Phantasie für die Tochter nach und nach erkaltete, hingegen eine leidenschaftliche Liebe für die Kunst des Vaters in ihm erwachte, für welche er, wie sich in kurzem zeigte, eine entschiedene Anlage hat. Da er reich genug ist bloß zu seinem und seiner Freunde Vergnügen zu arbeiten, wird er die Malerei, wiewohl sie seitdem seine hauptsächlichste Beschäftigung war, schwerlich jemals als Profession treiben. Nichtsdestoweniger verspreche ich mir von ihm, daß er mit der vorzüglichen Geistesbildung und dem Dichtertalent, die ihm dabei zu Statten kommen, ungleich mehr leisten wird, als man gewöhnlich von einem bloßen Liebhaber erwartet. Kurz, ich habe mir in den Kopf gesetzt, es fehle ihm, um noch weiter als sein Lehrer selbst zu kommen, weiter nichts, als die schöne Lais zu sehen, und von ihr aufgemuntert zu werden. Ich habe also nicht von ihm abgelassen, bis ich ihn schon in voraus so verliebt in dich gemacht habe, daß er vor Ungeduld brennt, sich mit seinen eignen Künstleraugen zu überzeugen, ob du noch schöner und reizender bist, als die Idee, die er sich von dir gemacht, und in einem Bilde der Hebe, die dem neu vergötterten Herakles die erste Nektarschale reicht, in der That meisterhaft ausgeführt hat. Wir wollen sehen!

50. An Hippias
[289] 50.
An Hippias.

Ich bin wieder in Aegina, mein lieber Hippias – in einem der anmuthigsten Winkel der Erde, in der auserlesensten Gesellschaft, von allem umgeben, was feinern Sinnen schmeicheln, die Phantasie bezaubern, und die edelsten Bedürfnisse gebildeter Menschen befriedigen kann; um alles mit Einem Worte zu sagen, ich bin bei Lais. – Aber Athen liegt uns zu nah'! – Sokrates, den Giftbecher am Munde, mit ten unter seinen die Hände ringenden, in Thränen zerfließenden, oder den Ausbruch des bittersten Schmerzes aus Liebe zu ihm gewaltsam zurückhaltenden Freunden, stellt sich noch immer und überall zwischen uns und alles, was uns zur Freude einladen will. Unsrer schönen Freundin, der die Bilder der Tage und Stunden, die sie noch vor kurzem in seiner Gesellschaft zubrachte, wieder so lebendig vor den Augen schweben, daß ihr die Vergangenheit beinahe zur Gegenwart wird, ist es eben so zu Muthe wie mir – Wie wohlthätig, o Hippias, würde uns jetzt deine Gesellschaft seyn! – Aber so bleibt uns weiter kein anderes Mittel übrig, als uns von der verhaßten Scene so weit als möglich zu entfernen. Neue Ansichten, neue Men schen, neue Verbindungen, kurz eine neue Welt um uns her ist nöthig, unsrer dem Gefühl und der Erinnerung noch zu schwach entgegen wirkenden Vernunft zu Hülfe zu kommen; auch werden bereits Anstalten gemacht in zehn Tagen nach Milet abzureisen, wo Lais sich einige Zeit aufzuhalten [290] gedenkt, während ich eine Wanderung durch andere merkwürdige Städte von Ionien, Karien, Lydien und Phrygien unternehmen werde.

Findest du nicht auch, Hippias, daß man der Philosophie zu viel Ehre erweist, wenn man ihr die Macht zuschreibt, dem Gefühle der Einbildungskraft, und den Leidenschaften immer unumschränkt zu gebieten? Wahrscheinlich wird ihr vieles gut geschrieben, das auf Rechnung des Temperaments, einer natürlichen Apathie oder Schwäche des sympathetischen Gefühls und andrer solcher Ursachen zu setzen war. Nichts ist leichter als mit solchen Vortheilen (wenn sie ja diesen Namen verdienen) sich die Miene eines Weisen zu geben, und auf andere, die mit einem weichern Herzen, wärmerem Blute, zärtern Nerven und mehr Anlage zu Freundschaft und Liebe geboren sind, als auf schwache Seelen herabzusehen. Aber alles was die Weisheit von Menschen meiner Art in dergleichen Fällen fordern kann, ist, denke ich, daß wir uns nicht vorsetzlich selbst peinigen, und aus vermeinter Pflicht, oder, weil man etwas Schönes und Großes darein setzt, alles hartnäckig von uns weisen, wodurch das gestörte Gleichgewicht in unserm Innern wieder hergestellt, und das Gemüth für die Freude wieder empfänglich gemacht werden könnte. In diesem traurigen Falle befindet sich mein junger Freund, Kleombrot von Ambracien, den du, wenn du dich dessen noch erinnerst, mehr als einmal bei mir gesehen hast; einer von den jüngsten und eifrigsten Anhängern des Sokrates. Weder ich, noch Eurybates, dessen Gesellschafter und Hausgenosse er seit einiger Zeit ist, noch Lais, die ihn wohl leiden mag, noch die holde[291] Musarion selbst, mit deren Seele er schon Jahr und Tag in einem sonderbaren Liebesverständniß steht, vermögen etwas über die tiefe Schwermuth, die sich seiner seit dem unseligen Ereigniß zu Athen bemächtigt hat. Er wirft sich selbst vor, daß er seinen Meister verlassen habe, und nicht wenigstens auf die erste Nachricht von der Verschwörung seiner Feinde gegen ihn sogleich nach Athen zurückgeflogen sey. Der Gedanke tödte ihn, sagt er, daß er fähig gewesen sey sich sorglos einer wollüstigen Unthätigkeit zu überlassen, indessen der Anblick und die Gesellschaft seiner getreuen, bis in den Tod bei ihm ausharrenden Freunde das Einzige gewesen, was dem besten aller Menschen zur Erleichterung seines grausamen Schicksals übrig geblieben sey. Kurz, der arme Mensch kann sich selbst nicht verzeihen, daß Sokrates – ohne ihn sterben konnte; als ob seine Gegenwart etwas anders hätte helfen können, als seine ohnehin überspannte Einbildung bis zum gänzlichen Wahnsinn hinauf zu treiben. Er besteht nun darauf, nach Ambracien zurückzugehen, und da wir ihn nicht mit Gewalt zurückhalten können – noch wollen, wird er uns an einem der nächsten Tage verlassen. Mich dünkt selbst, es ist das Beste was er thun kann, und wir andern werden uns sehr dadurch erleichtert finden; denn ein Mensch, der, aller Vernunft zum Trotz, in der Traurigkeit als in seinem Elemente leben und weben will, paßt nicht wohl in eine Gesellschaft, die sich's zur Pflicht macht, dieser schlimmsten aller Krankheiten der Seele, so viel nur immer möglich, alle Nahrung zu entziehen.

In dieser Rücksicht kommt mir sehr zu Statten, daß ich [292] meinen geliebtesten Jugendfreund Kleonidas aus Cyrene mitgebracht habe, der einer von den Glücklichgebornen ist, die sich nur zeigen dürfen um überall geliebt zu werden. Hier stehen ihm bereits alle Herzen offen, und es ist mein Glück, daß Lais in seinen Augen zu sehr Göttin ist, als daß es einem Sterblichen geziemen könnte, Ansprüche an sie zu machen. Wie lange dieses religiöse Gefühl dauern wird, muß die Zeit lehren; genug daß Lais sich an der Abgötterei, die er mit ihr treibt, genügen läßt, und es ihm nicht übel zu nehmen scheint, wenn seine Augen auf den weniger blendenden, aber ein Herz, das nichts von ihnen besorgt, unvermerkt überschleichenden Reizen der kleinen Musarion mit einer besondern Anmuthung verweilen. Du würdest dich wundern, Hippias, zu was für einer zierlichen Nymphengestalt das Mädchen in der kurzen Zeit, seitdem du sie zu Korinth sahest, sich ausgebildet hat. Wenn ich nicht sehr irre, so ist sie der weinerlichen Rolle ziemlich überdrüssig, die sie, ihrem geistigen Liebhaber zu Gefallen, seit einigen Wochen spielen mußte; und ich wollte nicht dafür stehen, daß sie nicht in aller Unschuld, und ohne selbst zu wissen was in ihrem kleinen Herzen vorgeht, zwischen dem schönen, immer heitern, immer zur Freude gestimmten Schwärmer Kleonidas, und dem düstern, traurigen, gleich einem Schatten einherschleichenden, seufzenden und klagenden Schwärmer Kleombrotus, Vergleichungen anstellt, die nicht zum Nachtheil des erstern ausfallen; zumal da der letztere so tief in seinen Gram versunken ist, daß er von dem allen nichts gewahr zu werden scheint.

Kleonidas ist aus Gunst der Natur und der Musen zugleich [293] Dichter und Maler, beides mit einem nicht gemeinen Talent, wiewohl ohne Anspruch auf eine Stelle unter den Meistern dieser Künste. Was ich ihm zu Cyrene von der schönen Lais sagte, brachte ihn auf den Einfall, seine Idee, wie diese Dame nach meiner Beschreibung aussehen müßte, in einem Bilde der Hebe, mit einer einzigen Farbe in der Manier des Zeuxis gemalt, darzustellen. Du vermuthest leicht, daß dieß Nachbild einer bloßen Idee, neben unsre Schönheitsgöttin selbst gestellt, der Divinationskraft des Malers keine sonderliche Ehre machte; auch konnt' ich ihn, sobald er die letztere selbst gesehen hatte, nur mit Gewalt abhalten, sein Bild ins Feuer zu werfen: aber, was uns alle in Erstaunen setzte, war, daß die kleine Musarion – der Hebe meines Freundes so ähnlich sah, als ob sie ihm dazu gesessen hätte. Natürlich veranlaßte dieß mancherlei Scherze, wobei die beiden betroffenen Personen die Miene hatten, als ob sie nicht übel Lust hätten Ernst daraus zu machen. Immer ist dieses Spiel des Zufalls, das einer sympathetischen Ahnung so ähnlich sieht, sonderbar genug. Verzeihe, Hippias, daß ich dich so lange bei einem Unbekannten aufhalte, der dich wenig interessiren kann. Aber ich hoffe, du wirst ihn persönlich kennen lernen, und es mir dann eher danken als übel nehmen, daß ich euch schon in voraus in Bekanntschaft mit einander gesetzt habe. Weniger gleichgültig wird dir auf alle Fälle seyn, zu hören, daß unser edler Freund Eurybates glücklich aus den Klauen seiner Lamia 139 herausgerissen worden ist; wenigstens noch zeitig genug, um nicht ganz von ihr aufgezehrt zu werden. Wirklich waren wir, Lais und ich, in sehr ernstlichen [294] Berathschlagungen begriffen, wie wir dabei zu Werke gehen wollten, ohne daß sie sich zu mehr, als sie Willens ist, verbindlich zu machen scheinen möchte: als ein abermaliger Zufall, oder vielmehr Eros, der wirklich ein ganz besonderes Spiel mit uns Aegineten treibt, uns auf einmal aller weitern Mühe überhob, die Sache zu einem glücklichen Ende zu bringen. Du erinnerst dich ohne Zweifel noch der schönen Droso, einer von den drei Grazien unsrer Freundin, – wie wir ihre drei gewöhnlichen Aufwärterinnen zu nennen pflegen, seitdem sie von mir zu dieser Würde erhoben wurden. An einem dieser letzten Abende führte uns Lais an das Ufer einer stillen kleinen Bucht, die an einen Theil ihrer Gärten anspült, um uns das Vergnügen des Fischens mit der Angel zu verschaffen. Eurybates war auch dabei. Zufälliger Weise hatte sich die schöne Droso mit ihrer Angelruthe auf einer unsichern Stelle zu weit hinaus gewagt; der Fuß glitschte ihr aus, sie verlor das Gleichgewicht, und fiel ins Wasser. Eurybates, der es zuerst gewahr wurde, und, wie die meisten Athener, ein guter Schwimmer ist, springt ihr augenblicklich nach, er faßt sie beim ersten Auftauchen mit beiden Armen, und bringt sie glücklich ans Land. Der Schrecken des Falls und die Schamröthe, in nassem Gewande 140 von dem tapfern Eurybates auf das dichtbegraste Ufer gelegt worden zu seyn, war, nebst den Scherzen, welche das arme Mädchen von ihren Gespielen beim Umkleiden auszuhalten hatte, das Schlimmste, was dieser Zufall nach sich zog. Das Beste davon ward ihrem edeln Retter zu Theil; denn seit diesem Augenblick machte sich die holde Droso zur Beherrscherin seines Herzens, und von Lysandra war so [295] wenig mehr die Rede, als ob sie nie in der Welt gewesen sey. Kleombrot ist in dieser Nacht verschwunden. Der Tag unserer Abreise nach Milet rückt heran. Ich begleite Lais, Kleonidas begleitet mich. Eurybates hat glücklicherweise Geschäfte zu Milet. Daß Musarion und die drei Grazien von der Partie sind, versteht sich.

Mache mir die Freude, lieber Hippias, recht bald Nachricht von dir und dem schönen Syrakus zu erhalten, und von euerm Tyrannen, den ich ohne Bedenken zum Selbstherrscher aller eurer Demokratien und Oligarchien krönen würde, wenn König Jupiter, dessen Statthalter (nach Homer) die bescepterten Herren auf Erden sind, mir seine Machtvollkommenheit nur auf eine halbe Stunde überlassen wollte.

51. Hippias an Aristipp
51.
Hippias an Aristipp.

Man ist es an den Athenern zu sehr gewohnt, daß sie ihren größten und verdientesten Männern am übelsten mitspielen, als daß die gerichtliche Mordung des alten Sokrates sonderliches Aufsehen in Griechenland gemacht haben sollte. Hätte sich Anaxagoras und noch vor kurzem Diagoras der Melier, der ein eben so wackerer Mann und ein noch besserer Kopf als der Sohn eines Sophroniskus war, nicht bei Zeiten aus dem Staube gemacht, so würde dieser die Ehre nicht erhalten [296] haben, der erste zu seyn, den sie (sagt man) aus der Welt schafften weil er zu weise für sie war.

Unter uns, Aristipp, ich glaube man sagt den Athenern und der Weisheit mehr Böses nach als sie verdienen. Der gute Sokrates 141 hätte mit aller seiner Weisheit, die am Ende den Athenern weder warm noch kalt gab, ihrentwegen noch lange leben können, wenn er durch seine Ironie, und den Faunischen Muthwillen, alle Leute die sich mit ihm einließen zu necken und in die Enge zu treiben, und durch das ewige Einmischen in fremde Angelegenheiten und alles besser Wissen als andere, sich nicht schon seit langer Zeit verhaßt, und durch seinen anscheinenden Müßiggang und seine armselige Lebensart noch oben drein verächtlich gemacht hätte. Nach Solons Gesetzen soll jeder Bürger der dritten Classe entweder irgend eine nützliche und ehrliche Profession treiben, oder der Republik unmittelbare Dienste thun. Sokrates that, ihrer Meinung nach, weder dieses noch jenes: denn daß er tagtäglich an allen öffentlichen Orten zu sehen und zu hören war, und von einer Bude und Werkstatt zur andern ging, um die Leute mit seinen Fragen und Subtilitäten (wie sie es nannten) zu beunruhigen, wurde ihm natürlicher Weise von dem gemeinen Mann, und selbst von den meisten aus den höhern Classen, für keine Beschäftigung und zu keinem Verdienst angerechnet, wie gut er selbst es auch damit meinen mochte.

Wenn wir niemand Unrecht thun wollen, Aristipp, müssen wir billig seyn. Um die Schuld der Athener in diesem fatalen Handel richtig abwägen zu können, müßten wir untersucht haben, ob sie in ihrer Lage und vermöge ihrer gewohnten [297] Vorstellungsart anders von ihm denken konnten; und wer dieß untersuchen wollte, müßte sich völlig an ihren Platz stellen können.

Hier in Syrakus hört man die verschiedensten Urtheile über diese Tragödie, die, so lange sie die Neuigkeit des Tages war, auch das Einzige war wovon überall gesprochen wurde. Die meisten hatten viel an dem Benehmen des Helden auszusetzen, besonders wurde der spottende und trotzende Ton womit er sich gegen seine Richter vertheidigte oder vielmehr nicht vertheidigen wollte, fast allgemein getadelt. Doch fanden sich auch einige, denen dieser Ton der einzige schien, der sich für ihn schickte, wiewohl er leicht voraussehen konnte, was er ihm kosten werde. Aber in Einem Punkt stimmt ganz Syrakus überein, darin nämlich, daß er unrecht gethan habe, den Beistand zur Flucht, den ihm sein Freund Kriton anbot und beinahe aufdrang, so eigensinnig auszuschlagen. Wenn er auch (sagt man) auf sich selbst und seine Freunde und Weib und Kinder keine Rücksicht nehmen wollte, so war es Pflicht eines guten Bürgers, den Athenern die Nachreue über ein ungerechtes Urtheil und den Tadel aller übrigen Griechen zu ersparen. Vornehmlich wurde der Grund seiner Weigerung ganz unhaltbar gefunden. »Ich bin, sagte er, den Gesetzen der Republik Gehorsam schuldig; meine gesetzmäßigen Richter haben mich nach dem Gesetz zum Tode verurtheilt; also bin ich schuldig das Urtheil an mir vollziehen zu lassen.« – Gleichwohl (wenden die anders Denkenden ein) war er selbst überzeugt, daß er unschuldig verurtheilt worden sey. Hatte dieß seine Richtigkeit, so war er nicht nach dem Gesetz verurtheilt; [298] denn das Gesetz verdammt keinen Unschuldigen. – »Aber, sagte Sokrates, ich bin nicht zum Richter über meine Richter gesetzt; ich kann mich also ihrem Urtheil deßwegen, weil es ungerecht ist, nicht entziehen; denn dadurch würde ich mich eigenmächtig zu ihrem Richter setzen.« – Ich habe diesen Einwurf in seinem Namen öfters geltend gemacht, und es ist mir von niemand eine Antwort geworden, die ihn wirklich entkräftet hätte; auch gestehe ich, daß ich ihn, in der bürgerlichen Ordnung der Dinge, für unwiderleglich halte. Woher kam es also, daß jedermann, wenn er nicht weiter konnte, sich auf sein innerstes Gefühl berief, welches sich diesem Argument unabtreiblich entgegen stemme? Wie kann die Vernunft mit unserm innern Gefühl dessen was recht ist in Widerspruch stehen? – Höre, wie ich mir dieses Problem auflöse, und sage mir deine Meinung davon. Das Gefühl, worauf sich meine Antisokratiker beriefen, ist nichts anders als eine dunkle Vorstellung des Widerspruchs, der zwischen dem nothwendigen Gesetz der Natur und den verabredeten Gesetzen der bürgerlichen Gesellschaft vorwaltet. Die Natur hat uns die Selbsterhaltung zur ersten aller Pflichten gemacht. Alle andern stehen unter dieser, und müssen ihr im Fall eines Zusammenstoßes weichen; denn um irgend eine Pflicht erfüllen zu können, muß ich da seyn. Da also dieses Naturgesetz allen bürgerlichen vorgeht, so konnte Sokrates den Satz, daß er sich keines Richteramtes über seine Richter anmaßen dürfe, nicht gegen die Pflicht der Selbsterhaltung geltend machen. Du wirst mir vielleicht einwenden: »wenn dieser Schluß gelte, so sey auch ein rechtmäßig Verurtheilter befugt, sich der verdienten [299] Strafe zu entziehen, wenn er könne« – und ich habe keine andere Antwort hierauf als – Ja!

Auch Dionysius scheint, trotz seinem Tyrannenthum, der Meinung zu seyn, daß Sokrates sich hätte retten sollen, da er es mit Sicherheit konnte. Als neulich in seiner Gegenwart von dieser Geschichte gesprochen wurde, sagte er: ich bedaure den alten Mann; er sollte willkommen gewesen seyn, wenn er sich zu mir hätte flüchten wollen; weder seine Philosophie noch sein Dämonion sollte ihm die mindeste Anfechtung in Sicilien zugezogen haben. – Doch genug von einer Sache, die nun nicht mehr zu ändern ist.

Wenn euch Kleombrotus lieb ist, so verliert ihn ja nicht aus den Augen. Einem Schwärmer von dieser Stärke oder Schwäche (wie man's nehmen will) ist nicht über die Gasse zu trauen. Sein vertrauter Umgang mit dem jungen Plato hat ihm unwiederbringlichen Schaden gethan. Es ist mit schwachen Köpfen, die sich an solche meteorische Menschen hängen, wie mit Leuten von mittelmäßigem Vermögen, die in vertrauter Gesellschaft mit reichen Prassern leben und es ihnen gleich thun wollen; sie gehen bei Zeiten zu Grunde, wiewohl sie keinen größern Aufwand ma chen als den diese sehr wohl aushalten können. Plato ist ein weit größerer Schwärmer als Kleombrot; aber er ist ihm auch eben so sehr an Geisteskraft überlegen. Plato wird von seiner Schwärmerei, wie ein guter Reiter von seinem Pferd, immer Meister bleiben, oder doch nur selten und ohne Schaden abgeworfen werden; mit dem armen Phaëthon Kleombrot gehen die Sonnenpferde durch, und ich besorge es wird kein gutes Ende mit ihm nehmen. [300] Ich habe nicht gern mit solchen Menschen zu schaffen; dieß war die Ursache, warum ich mich deinem Gedanken, ihn mit uns nach Syrakus zu nehmen, so ernstlich widersetzte.

Kleonidas könnte mir auch bloß als dein Freund nicht gleichgültig seyn; um so mehr danke ich dir für seine Bekanntschaft, da ich mir viel Vergnügen von ihr verspreche. Der Zufall, daß seine aus der bloßen Phantasie gemalte Hebe der jungen Musarion so ähnlich sah, ist in der That (vorausgesetzt die Aehnlichkeit sey wirklich so groß als du sagst) ein artiger – Zufall, und weiter nichts. Denkst du dir etwas bei den Worten ... sympathetische Ahnung? Ich kann mir nichts dabei denken. Ich weiß von keiner andern Sympathie, als von Uebereinstimmung der Gemüther aus Aehnlichkeit der Gefühle und Neigungen. Was hat aber diese mit Ahnungen zu thun? Wie käme der Mensch zu Ahnungen? Welches unsrer Organe sollte das Vehikel derselben seyn? Wenn ich Ahnungen zu geben müßte, so sehe ich nicht, warum ich nicht aus gleichem Grunde alles Wunderbare und Unglaubliche für möglich halten müßte, was unsre Mythologen aus Aegyptischen, Arabischen und Syrischen Sagen und Volksmährchen in unsre Götter- und Heldengeschichte übergetragen haben. Alle diese Phantasmen gehören ins Gebiet der Dichter, und können unter ihren Händen zur Unterhaltung des großen Haufens, und, mit Geist und Geschmack behandelt, sogar zum Vergnügen der Verständigen dienen; aber in die Reihe der Ursachen, woraus die wirklichen Dinge erklärbar sind, sollen sie sich nicht stellen.

Dionysius, nach welchem du dich erkundigest, ist noch [301] immer mit den gewaltigen Zurüstungen beschäftiget, deren Anfang du gesehen hast. Syrakus sieht wie ein einziger ungeheurer Werkplatz aus, wo sich alle wiederaufgestandenen Kureten, Cyklopen, Chalyben und Telchinen 142 der Vorwelt das Wort gegeben hätten, mit allen Künstlern und Werkmeistern der jetzigen Zeit zusammen zu kommen, um alles Metall im Schooß der Erde und alles Holz auf ihren Bergrücken zu einer Unternehmung, wie die Welt noch keine gesehen hat, zu verarbeiten. Man muß gestehen, daß Dionysius alle mögliche Maßregeln nimmt um seiner Sache gewiß zu seyn, und daß die Kunst, große Dinge mit kleinen Mitteln zu thun, keinen Reiz für seinen Ehrgeiz zu haben scheint. Es ist nun kein Geheimniß mehr, daß alle diese Kriegszurüstungen den Carthagern gelten, und die Feindseligkeiten sind im Begriff auszubrechen.

Je näher ich die Syrakusaner kennen lerne, je mehr überzeuge ich mich, daß die Athener (mit Erlaubniß der schönen Lais zu sagen) ein gutartiges, lenksames und verständiges Volk in Vergleichung mit ihnen sind. Es ist leicht vorher zu sehen, daß die Harmonie, die seit einiger Zeit zwischen ihnen und dem Dionysius zu bestehen scheint, von keiner langen Dauer seyn wird. Die Eupatriden von Syrakus können und werden sich nie mit ihm aussöhnen, und lauern Tag und Nacht, mit einer Unruhe und Ungeduld die er nur zu sehr gewahr wird, auf Gelegenheit, ihn entweder, wenn es mit Vortheil geschehen kann, offenbar anzugreifen, oder in eine der Schlingen zu locken, die sie ihm überall zu legen beflissen sind. Ich möchte wohl wissen, wie es möglich wäre, daß ihn [302] dieß nicht mißtrauisch, argwöhnisch, feindselig und streng gegen Leute machen sollte, von deren versteckten Dolchen er allenthalben umringt ist. Man hört die bittersten Klagen, daß keine zwei oder drei Bürger aus den höhern Classen mit einander sprechen können, ohne sich von Aufpassern und Angebern belauscht zu sehen: als ob dieß eine andere Ursache hätte, als weil Dionysius sicher darauf rechnen kann, daß nicht leicht zwei oder drei Personen dieser Art beisammen stehen, ohne eine Verschwörung gegen ihn zu verabreden. Sie zwingen ihn zu tyrannischen Maßregeln, und schreien dann über seine Gewaltthätigkeit und Grausamkeit. Wäre er nicht immer von etlichen Freunden, die einerlei Interesse mit ihm verbindet, und von einer ausländischen Leibwache, auf die er sich gänzlich verlassen kann, umgeben, so möchte er der weiseste und beste aller Fürsten seyn, er wäre seines Lebens keinen Augenblick sicher. Wahrlich es gehört ein Mann wie er dazu, ein Mann, dessen Charakter ein so sonderbares Gemisch von Feuer und Kälte, von strenger Vernunft und launenhaftem Witz, von Geschmeidigkeit und Unbiegsamkeit, Humanität und Grausamkeit ist, um sich unter solchen Umständen nur acht Tage auf dem Throne zu erhalten. Was das Volk im engern Sinn des Wortes betrifft, dieß hängt zwar, dem Ansehen nach, ziemlich stark an ihm; aber es gibt nichts Veränderlichers, in der ganzen Natur als die Sinnesart des Syrakusaners, und Dionysius weiß recht gut, daß er sich auf seine Popularität bei den untern Classen eben so wenig verlassen kann, als er auf die Dankbarkeit eines Aristokraten zählen darf, dessen Zuneigung er durch die ausgezeichnetsten [303] Gunstbezeugungen zu gewinnen gesucht hat. Die arbeitsamen Classen hängen jetzt an ihm, weil er ihnen viel zu verdienen gibt, und weil die großen Zurüstungen, woran sie für ihn arbeiten, große, wiewohl dunkle und unbestimmte Erwartungen in ihnen erregen, auf deren Ausgang sie gespannt sind; aber ich stehe ihm nicht dafür, daß sie sich nicht, wenn der Krieg ausgebrochen seyn wird, beim ersten widrigen Zufall von irgend einem stürmischen Demagogen durch eine einzige mit emphatischen Phrasen und gigantischen Figuren ausgestopfte Rede plötzlich umwenden, und dahin bringen lassen, die Waffen, an welchen sie jetzt arbeiten, anstatt gegen Carthago, gegen Dionysius zu gebrauchen. Auch versieht er sich keines Bessern zu ihnen, wiewohl er ihnen äußerlich das unbefangenste Vertrauen zeigt.

In Ermangelung anderer Vorwürfe – und in der That sehe ich nicht, was an seiner Regierung mit Grund auszusetzen wäre – bemühen sich seine Feinde, ihn dem Volk als einen Menschen ohne Religion und ohne Sitten verhaßt zu machen. Es gibt zwar schwerlich ein unmoralischeres, verderbteres, leichtfertigeres und ruchloseres Volk auf diesem Erdenrund als die Syrakusaner, alle Laster, wegen deren ehemals Sybaris, Krotona und Tarent 143 berüchtigt waren, gehen unter ihnen ziemlich öffentlich im Schwang; Athen und Korinth haben dermalen nichts vor ihnen in diesem Punkte voraus: aber dafür sind sie eifrige Götzendiener, und halten scharf über gewisse gesetzliche Formen. Weder das eine noch das andere ist bei Dionysius der Fall; er denkt sehr frei, und erlaubt sich zu handeln wie er denkt. Bekanntermaßen nahm [304] er sich, als die Syrakusaner in ihrem ersten Aufstand gegen ihn seine erste Gemahlin ermordet hatten, auf Einen Tag zwei andere (eine aus Lokri und die andere aus Syrakus) die mit ihm und unter sich selbst in dem besten Einverständnisse leben. Ich will die Freiheit, die er sich dadurch gegen die in Griechenland eingeführte Sitte herausnahm, keineswegs und am allerwenigsten aus politischen Gründen rechtfertigen; aber die Natur entsetzt sich doch nicht vor einer solchen That! Wenn die Bigamie gegen die Griechische Sitte ist, so ist hingegen die Vielweiberei in den Morgenländern allgemein; und am Ende, wenn er mit seinen zwei Frauen und sie mit ihm zufrieden sind (wie das wirklich der Fall ist), wem kann es nicht gleichgültig seyn, ob er nur Eine Gemahlin und ein halb Duzend Kebsweiber, oder zwei Gemahlinnen 144 und kein Kebsweib hat? Aber du solltest hören, was diese tugendhaften Syrakusaner, die, ohne alles Bedenken, ehebrecherischer Weise so viele Frauen haben als sie bestreiten können, für ein Aufhebens über diese Unthat des Tyrannen machen, und was ihre ehemaligen Volksredner, aus dieser Veranlassung, der Tyrannie für Lobreden halten! Doch das alles ist nichts gegen eine andere Abscheulichkeit, die das tyrannische Ungeheuer begangen hat. Höre an und erstaune, daß die menschliche Natur eines solchen Gräuels fähig ist! Du erinnerst dich vermuthlich noch der großen Bildsäule des Aesculaps mit dem langen dicklockigen massivgoldnen Barte, die in seinem Tempel zu Syrakus steht. Stelle dir vor, daß der Unmensch – der jetzt freilich zu seinen großen Ausgaben viel Geld nöthig hat – sich gottesvergessenerweise erfrechte, dem marmornen Aesculap 145 [305] seinen goldnen Bart – abscheren zu lassen, und den Frevel noch gar durch einen Scherz (der freilich in einer Aristophanischen Komödie den Athenern großen Spaß gemacht hätte) rechtfertigen zu wollen. Es sey gegen alle Zucht und Ordnung, sagte er lachend, daß der Sohn einen so großen Bart führe, da sein Vater Apollo gar keinen habe. Mit einem ähnlichen Vorwand ließ er Jupitern 146 neulich seinen, ich weiß nicht wie viele Talente schweren goldnen Mantel abnehmen. Was soll, sprach er, Jupitern ein goldner Mantel? Im Sommer ist er zu schwer, und im Winter zu kalt; Jupiter gibt mir seinen unbequemen Talar, den ich besser brauchen kann, und ich gebe ihm dafür einen hübschen wollenen, der für Sommer und Winter taugt; so ist beiden geholfen. Du kannst dir kaum vorstellen, Aristipp, welchen Schaden Dionysius sich durch diesen witzigen Tempelraub bei den gottseligen Syrakusanern gethan hat, und was er sich nun alles nachsagen lassen muß, weil man einen Menschen, der so gottlose Dinge sagen und thun konnte, aller möglichen Abscheulichkeiten fähig hält.

Dionysius lacht dazu, und geht seinen Weg. Als ich ihm einsmals meine Verwunderung darüber zeigte, wie er noch Lust haben könne, ein Volk zu beherrschen, das nicht werth sey einen guten König zu haben, antwortete er mir: »Ich weiß nicht ob es irgendwo in der Welt ein Volk gibt, das einen guten König werth ist. Jedermann treibt was er am besten zu verstehen glaubt; und das erste, worauf er zu sehen hat, ist kein Pfuscher in seiner Kunst zu seyn. Hätte ich vor zwölf Jahren gewußt was ich jetzt weiß, so möchte ich vielleicht in der Dunkelheit geblieben seyn. Jetzt [306] habe ich keine Wahl mehr, und da ich nun einmal den König spielen muß, so hätte ich Unrecht wenn ich ihn nicht gern spielte, und mir eine Art von Spaß aus dem närrischen Wettkampf machte, worin ich mit den Syrakusiern befangen bin. Denn wirklich ringen wir aus allen Kräften miteinander, ich, ob ich sie durch eine vernünftige Regierung zwingen könne gerecht gegen mich zu werden; sie, ob sie mich durch Undankbarkeit und unartiges Betragen dahin bringen können, ihre Vorwürfe und Verleumdungen zu verdienen. Aber es soll ihnen nicht gelingen. Ich werde sie immer regieren wie sie es nöthig haben: mit dem Hirtenstabe, wenn sie fromme Schafe sind, mit der Peitsche, wenn sie die Affen mit mir spielen wollen. Wer den Syrakusiern an meinem Platz Gutes thun will, muß es ihnen aufdringen, und auf ihren Undank rechnen. Ich mache mir nichts aus ihrem Haß, wenig aus ihrer Liebe, bin gegen alles Böse, was sie mir thun können, auf meiner Hut, und gedenke bei dieser Methode ruhig auf meinem Bette zu sterben, ungeachtet sie gegen mich complotiren werden, so lang' ich lebe.«

Da alle Anscheinungen vermuthen lassen, daß Sicilien der Schauplatz eines langwierigen Krieges werden dürfte, weil Carthago gewiß alle ihre Kräfte zusammennehmen wird, sich in einer für sie so wichtigen Insel zu erhalten; so ist es Zeit, daß ich zur Ausführung meines Vorhabens, mein übriges Leben in einer der lebhaftesten Städte des Griechischen Asiens zuzubringen, Anstalt mache. Es würde schon eher geschehen seyn, wenn ich mich nicht hätte bewegen lassen, einigen jungen Leuten aus den ersten Häusern dieser Stadt in [307] der Kunst zu reden Unterricht zu geben, und ihren Uebungen eine Zeit lang vorzustehen. Du wirst dich vielleicht wundern, daß ich mich, in dem Verhältniß, worin ich mit dem argwöhnischen Dionysius stehe, zu einem so verdächtigen Geschäft habe entschließen können. Er scheint aber wenig von den Rednern, die ich bilden werde, zu besorgen. »Das hätte ich dir nicht zugetraut, Freund Hippias, sagte er dieser Tage lachend zu mir, daß du meine Feinde eine so gefährliche Art von Waffen gegen mich gebrauchen lehren würdest.« – Sie sollen sie für dich gebrauchen, König Dionysius, nicht gegen dich. – »Darauf möcht' ich mich nicht verlassen, erwiederte er, aber so lange Zungen keine Dolche sind, hat es nichts zu sagen. Ich bin selbst ein Liebhaber deiner Kunst, und du wirst mir erlauben euern Uebungen zuweilen beizuwohnen.« – Wirklich kam er zwei- oder dreimal unversehens dazu, und setzte neulich, wie zum Scherz, einen Preis für die beste Lobrede auf den berüchtigten Tyrannen Busiris 147. »Ich habe starke Vermuthungen, sagte er lächelnd, daß dieser Busiris, dem die Mythologen einen so bösen Namen gemacht haben, ein ganz guter Schlag von Fürsten gewesen ist.« – Meine jungen Eupatriden strengten sich nun in die Wette an, wer den Busiris am spitzfündigsten rechtfertigen und lobpreisen könne, und der Preis wurde vom Dionysius selbst dem, der es – am schlechtesten gemacht hatte, zuerkannt. – Das schwör' ich dir zu, Aristipp, wenn ich Syrakus verlasse, wird der Tyrann der Einzige seyn, von dem ich mich ungern trenne.

Du siehst daß wir in der guten Meinung von Dionysius nahe zusammentreffen; und daß ich kein Bedenken tragen [308] würde ihn, wenn es auf meine Stimme ankäme, zum Beherrscher des ganzen Siciliens zu machen. Wenn du ihn aber zum Autokrator aller Demokratien und Oligarchien in Griechenland zu erheben gedenkst, so möcht' ich dich wohl bitten, nur einen einzigen Freistaat von hinlänglicher Größe, um sich in der Unabhängigkeit erhalten zu können, übrig zu lassen, wär' es auch nur, damit wir und unsersgleichen nicht nöthig hätten unter den Garamanten 148 oder Massageten Schutz zu suchen, wenn es unserm irdischen Jupiter etwa einfiele, den Tyrannen etwas derber mit uns zu spielen als unsrer persönlichen Freiheit zuträglich seyn möchte. Ich stehe dir nicht dafür, daß nicht auch einem Dionysius so etwas – Tyrannisches begegnen könnte.

52. An Hippias
52.
An Hippias.

Die Urtheile der Syrakusaner über die heroische Art, wie Sokrates die letzte Probe, worauf seine Tugend gesetzt wurde, bestanden hat, sind des Charakters, den du ihnen gibst, vollkommen würdig, edler Hippias. Es ist wirklich lustig, wenn solche Sybariten einen Mann wie Sokrates seine Pflichen lehren wollen. – »Es war seine Pflicht (sagen diese Virtuosen), Pflicht gegen Weib, Kinder und Freunde, sich selbst zu erhalten, und vornehmlich Pflicht gegen sein Vaterland, den Athenern die Nachreue über ein ungerechtes Urtheil zu ersparen. [309] Denn, da er unschuldig war, so konnte ihn das Gesetz nicht verdammen; seine Verurtheilung war also eine schreiende Ungerechtigkeit.« – Aber woher wußten denn die Richter daß er unschuldig war? Die Klage schien bewiesen zu seyn, und er weigerte sich den Gegenbeweis zu führen. Die Richter mußten, den Gesetzen zufolge, nicht nach dem, was sie glaubten oder nicht glaubten, sondern nach dem, was vor Gericht bewiesen und verhandelt worden war, sprechen. Sokrates hatte also Recht zu sagen: er sey durch die Gesetze von Athen gerichtet worden, und müsse sich, als ein guter Bürger, dem Urtheil unterwerfen. – »Aber, sagen jene, er war sich doch seiner Unschuld bewußt.« – Unstreitig; die Frage ist nur: berechtigte ihn dieses Selbstbewußtseyn, das Urtheil seiner Richter zu cassiren, oder (was auf das Nämliche hinausläuft) sich demselben durch die Flucht zu entziehen? Konnt' er das, ohne sich zum Richter über seine Richter aufzuwerfen? Welcher Staat in der Welt möchte bestehen können, wenn die Bürger berechtigt wären, die Urtheile ihrer Obrigkeit zu controlliren, und wenn jeder Ausspruch, den das Gesetz aus dem Munde seiner Wortführer über sie und ihre Handlungen, Ansprüche, oder Streitigkeiten unter einander, gethan hätte, einer eigenmächtigen Revision der interessirten Parteien unterworfen wäre? Der Bürger eines Staats begibt sich eben dadurch, daß er sich den Gesetzen desselben und der gesetzmäßig angeordneten Obrigkeit unterwirft, alles Rechts, sich gegen ihre Entscheidungen aufzulehnen, oder die Vollziehung derselben zu verhindern. – »Aber (wendet man ein) warum empört sich gegen diesen unläugbaren Ausspruch der Vernunft [310] ein gebieterisches Gefühl in uns, welches wir nicht zum Schweigen bringen können?« – Mich dünkt, Hippias, du hast hierauf die wahre Antwort gefunden. Dieß Gefühl hängt an einer andern Ordnung der Dinge; es ist weder mehr noch weniger als der mächtige Erhaltungstrieb, den die Natur in alle lebenden Wesen gelegt hat. Nur darin kann ich dir nicht beistimmen, wenn du diesen Trieb zum höchsten Naturgesetz und den Gehorsam gegen dieses Gesetz zu einer Pflicht machst, welcher alle andern weichen müssen; denn, nach meinem Begriff, vernichtest du dadurch sogar die bloße Möglichkeit dessen was ich mit Sokrates Tugend nenne. Ich werde zur Selbsterhaltung von der Natur aufgefordert, und bin berechtigt, meiner Erhaltung alle andern Pflichten, im Fall des Zusammenstoßes, nachzusetzen; aber ich bin nicht dazu verbunden. Ich bin ein freies Wesen; will ich mich meines Rechtes begeben und mich selbst für andere aufopfern, so ist keine Macht in der ganzen Natur berechtigt mich daran zu hindern. Beruht nicht die wesentlichste Pflicht des Bürgers, sein Leben für die Vertheidigung seines Vaterlandes zu wagen und hinzugeben, lediglich auf diesem Rechte? Ueberhaupt kenne ich keine Tugend, die nicht in freiwilliger Aufopferung besteht, und von der Größe des Opfers ihren höhern oder niedern Werth erhält. Tugend ist, nach meinem Begriff, moralisches Heldenthum; niemand ist verbunden ein Held zu seyn. Ich verdenke es daher einem Schuldigen nicht, wenn er sein nach dem Gesetz verwirktes Leben durch die Flucht rettet: aber ich ehre und bewundere den Schuldlosverurtheilten, der lieber sich selbst aufopfern, als seinen Mitbürgern ein [311] Beispiel des Ungehorsams gegen die Gesetze geben will. Eine so edelmüthige Gesinnung mag (wenn man will) an jedem andern als etwas Verdienstliches angesehen werden: an Sokrates war sie nicht mehr, als was alle, die ihn kannten, von ihm zu erwarten befugt waren. Hatte er nicht bei jeder Gelegenheit zu erkennen gegeben, daß er die Rechte des Menschen den Pflichten des Bürgers unterordne? Hatte er nicht das Hauptgeschäft seines Lebens daraus gemacht, seiner Republik gute Bürger zu erziehen, und sich selbst als ein Vorbild aller Bürgertugenden darzustellen? War es nicht eine auszeichnende Eigenschaft seiner Sittenlehre, daß er sogar die guten Angewöhnungen, zu welchen uns die Pflicht gegen uns selbst auffordert, vorzüglich deßwegen zu empfehlen pflegte, weil sie uns geschickter machten, unsre Bürgerpflichten zu erfüllen? Wie wäre es einem solchen Manne angestanden, ein solches Leben, bloß um dessen Dauer zu fristen, so nah' am Ziele noch durch eine Handlung zu entehren, wodurch er seine eigenen Grundsätze so gröblich verläugnet haben würde? Die standhafte Weigerung, seine Bande von Kriton zerreißen zu lassen, setzte seinem ganzen Leben die Krone auf: da hingegen, wenn er dem Triebe der Selbsterhaltung und den Bitten seines Freundes nachgab, diese einzige Schwachheit seine eigene Ueberzeugung von der Wahrheit seiner Lehre verdächtig gemacht, und die gute Wirkung seines bisherigen Beispiels entkräftet, ja bei vielen gänzlich vernichtet, ihn selbst aber auf ewig in den großen Haufen der alltäglichen Menschen herabgestoßen hätte, die keinen höhern Beweggrund kennen als ihren persönlichen Vortheil, und immer bereit [312] sind, diesem das Beste des ganzen Menschengeschlechts aufzuopfern.

Uebrigens wollen wir nicht vergessen, daß Sokrates auch von seinem Dämonion (wie er dem Kriton gesagt haben soll) von der Flucht aus dem Gefängniß abgehalten wurde, und also voraus versichert war, daß die Sache übel ablaufen würde. Ich denke, wir werden den Helden überhaupt kein Unrecht thun, wenn wir voraussetzen, daß sie alle, so viel ihrer je gewesen sind, immer mehr oder minder ein wenig geschwärmt haben. Sokrates glaubte in ganzem Ernst an eine göttliche Stimme, die sich von Zeit zu Zeit in seinem Innern hören lasse; und für einen so einfachen schlichten Mann wäre dieß Einzige schon mehr als hinreichend gewesen, ihm so viel Stärke zu geben, als er nöthig hatte, in einem Alter von mehr als siebzig Jahren dem Tode mit Muth entgegenzugehen. Und so viel von Sokrates ehrwürdigen Andenkens.

Daß unsre Freundin Lais in Milet Aufsehen macht, brauche ich dir kaum zu sagen; das versteht sich von selbst, wiewohl wenig Städte in der Welt seyn mögen, die sich schönerer Weiber rühmen können, als diese prächtigste, reichste und wollüstigste Handelsstadt von Ionien. Da sie sich öfters und allenthalben wo für sie selbst etwas Merkwürdiges zu sehen ist, wenigstens durch das dünne Silbergewölk eines Koischen Schleiers 149, sehen läßt, und hier ungefähr auf den nämlichen Fuß lebt wie zu Korinth, so fehlt es ihr unter den Ersten und Reichsten dieser üppigen Metropolis nicht an Anbetern, die sich in die Wette bestreben, einen günstigen Blick der Göttin auf sich und ihre angebotenen Opfergaben zu ziehen. [313] Aber noch bleibt sie ihrem ersten Plan getreu, schreckt zwar niemand ab, muntert aber auch niemand auf, nimmt nur kleine unbedeutende Geschenke an, und macht einen Aufwand, als ob die Quelle, woraus sie schöpft, nie versiegen könne. Dieß alles erhöht die Achtung nicht wenig, die man schon der bloßen Schönheit, selbst in einem unscheinbaren Aufzuge, zu erweisen geneigt ist; sogar die Hetären betrachten sie mit einer Art von Ehrfurcht, und würden sich geschmeichelt finden, wenn sie eine so vollkommne Person an der Spitze ihres Ordens erblickten. Man fragt einander, wer sie sey, und es gehen zwanzig verschiedene Mährchen, immer eines wunderbarer als das andere, über ihren wahren Namen und Stand, und ihre geheime Geschichte herum. Ich würde, wenn ich ihr Vertrauen auch weniger besäße, leicht errathen, wohin dieß alles zielt; und ich bin gänzlich der Meinung, daß es der einzige Weg ist, ihren Wohlstand auf eine Art, die ihrer nicht ganz unwürdig ist, sicher zu stellen. Das Nähere hierüber zu seiner Zeit.

Mein Kleonidas gefällt allgemein, und strahlt von Freude und Wonne, da er hier, mit lauter schönen Gegenständen umgeben, sich in seinem wahren Elemente fühlt, und wie er sagt, erst jetzt recht zu leben anfängt. Er findet in Milet alles beisammen, was den feurigsten Liebhaber der Künste die das Leben verschönern befriedigen kann: die herrlichsten Werke der edeln und zierlichen Ionischen Baukunst, eine zahllose Menge Bildsäulen von den besten Meistern, und reiche Gemäldesammlungen aus allen Schulen, vornehmlich von den berühmtesten Malern unserer Zeit, Polygnot, Zeuxis, Parrhasius, [314] Timanthes, Pausias, Euxenidas, Apollodor, und andern. Er bringt einen großen Theil seiner Zeit damit zu, alle diese Kunstwerke zu studiren, und, indem er einem jeden das worin er vorzüglich ist, abzulernen sucht, zu einer eigenthümlichen Manier zu gelangen, die ihn von allen unterscheide, und ihm von niemand so leicht nachgemacht werden könne. Wie es ihm gelingen werde, wird die Zeit lehren. Noch ist er wenig mit sich selbst zufrieden, und schilt uns Idioten, wenn wir etwas schön finden, das er gemacht, oder vielmehr angefangen hat; denn noch kann er nicht von sich erhalten, etwas fertig zu machen. Vornehmlich preiset er sich glücklich, daß er durch die Bekanntschaft mit Lais von seinen vermeinten Idealen, oder Phantasmen (wie er sie nennt) zur Natur selbst zurückgeführt worden sey. Wenn ich, sagt er, es einmal dahin gebracht haben werde, irgend einen bestimmten Zug ihrer Augenbrauen richtig zu zeichnen, und nur eines ihrer Ohrläppchen so zu malen wie ich es sehe, will ich mich für keinen kleinen Künstler halten.

Kleombrot ist in seinem Ambracien angelangt, und ich gebe die Hoffnung noch nicht auf, daß ihn die vaterländische Luft vielleicht allmählich wieder zurecht bringen könnte. Wenigstens halte ich es für ein gutes Zeichen, daß er die Trennung von der Gesellschaft, die er verlassen hat, zu fühlen, und, ohne es sich selbst zu gestehen, ganz heimlich sich zu uns zurückzuwünschen scheint. Sollte diese Disposition zunehmen und bis zur Sehnsucht steigen, so ist beschlossen, ihn zu uns einzuladen; und ich zweifle kaum, daß die zärtliche Musarion sich keine große Gewalt anthun müßte, ihm den ersten Platz [315] in ihrem Herzen wieder einzuräumen, wenn er mit einem aufgeheiterten Gesicht zu ihr zurückkehrte.

Ich bin im Begriff, eine Reise durch alle Städte von Ionien und Karien zu machen, und gedenke mich zu Ephesus lange genug zu verweilen, um dich da zu erwarten. Was wolltest du länger in dem unruhigen Syrakus? Wie schön auch Himmel und Erde in Sicilien sind, mit dem warmen Glanze dieses Himmels der mich umfließt, mit der üppigen Pracht dieser Erde, mit der herzerweiternden Milde der wollüstigen Blumenluft, die ich hier athme, kurz mit dem Leben in diesem Götterlande, ist nichts anders zu vergleichen.

53. Kleombrotus an Aristipp
53.
Kleombrotus an Aristipp.

Lass' ab von mir, guter Aristipp! Alle deine Mühe, mir das Bild des gewaltsam sterbenden Sokrates und das Gefühl meiner Undankbarkeit gegen ihn erträglich zu machen, ist vergeblich. Niemals, niemals werd' ich mir verzeihen können, daß ich die heiligste der Pflichten einer phantastischen Leidenschaft und selbstsüchtigen Weichlichkeit aufzuopfern fähig war! Und daß ich es nicht könne – daß die Zeit, die alle andern Seelenschmerzen heilt, nur für die meinigen keinen Balsam habe, dafür hat Plato gesorgt.

Dieser Tage wird mir ein Buch von Athen zugeschickt, Phädon betitelt, worin Plato diesen Eleaten seinem Freunde [316] Echekrates erzählen läßt, wie Sokrates am Tage seines Todes sich noch mit den Seinigen unterhalten und überhaupt bis zum letzten Augenblick sich benommen habe. Dem Buche war ein kleines Stück Papier beigefügt, worauf nichts als das einzige furchtbare Wort Lies! mit großen Buchstaben geschrieben stand. – Unmöglich könnt' ich dir beschreiben, wie mir beim ersten Anblick dieser Rollen zu Muthe war. Es währte eine gute Weile, bis ich nur die Buchstaben zu unterscheiden vermochte; mehr als Einmal ergriff ich das Buch mit zitternder Hand, und mußt' es immer wieder bei Seite legen. Aber, wie ich endlich die Augen wieder gebrauchen konnte, und bis zu der Stelle gekommen war, wo Phädon alle Athener, die sich an diesem traurig feierlichen Tage um ihren dem Tode geweihten Freund und Vater versammelt hatten, aufzählt, und Echekrates fragt: waren auch Auswärtige dabei? und Phädon den Simmias, Cebes und Phädondes von Theben, und den Euklides und Terpsion von Megara nennt, und dann auf die Frage: wie? waren denn Aristipp und Kleombrot nicht auch da? die Antwort gibt: nein, es hieß sie wären zu Aegina – fiel mir das Buch aus der Hand, mir ward finster vor den Augen und ich sank zu Boden.

Von diesem Augenblick an sind mir die schrecklichen Worte: »es hieß sie wären in Aegina,« nicht aus den Gedanken gekommen; sie erklingen immer in meinen Ohren, und stehen allenthalben mit kolossischen Buchstaben geschrieben, wo ich hin sehe. Aber von diesem Augenblick an stand es auch fest und unerschütterlich in meiner Seele, was mir noch allein übrig sey. – Beneidenswürdiger Aristipp! Dir that das [317] verleumderische Gerücht Unrecht; dich hatte die Pflicht nach Cyrene abgerufen! Aber ich Unglückseliger, ich war zu Aegina! – In wenigen Stunden konnt' ich zu Athen seyn – wußte alles was vorgefallen war – hatte vierzig Tage um zur Besinnung zu kom men, und ließ mich, bald durch falsche Scham, bald durch die unmännliche Furcht, ich würde den Anblick des geliebten Sterbenden nicht ertragen können, bald durch die thörichte Hoffnung daß seine Freunde Mittel finden würden ihn zu befreien, zurückhalten, die schönste, dringendste, heiligste der Pflichten zu erfüllen! – Nein, Aristipp! muthe mir nicht zu, daß ich mit dieser Furienschlange im Busen, mit diesem in meinem Innern wühlenden Bewußtseyn, länger leben soll! Daß ich leben soll, um in jedem Auge, das mich anblickt, die Worte zu lesen: er war in Aegina! – O Sokrates! wenn noch ein Mittel ist deinen zürnenden Schatten zu versöhnen, so ist es dieß allein! Wenn noch ein Mittel ist, meine Seele von diesem schwarzen Flecken zu reinigen, so ist es dieß allein! Und wär' es (wie du sagtest) allen andern Menschen unrecht, eigenmächtig aus dem Leben zu gehen, ich bin ausgenommen! Mir ist es Pflicht, dich im Hades, im Elysium, im unsichtbaren Reiche der Geister, überall wo du auch seyn magst, aufzusuchen, und so lange zu deinen Füßen zu liegen bis du mir vergeben hast! – Wähne nicht ich schwärme, Aristipp! Meine Sinnen sind in diesem Augenblick reiner, meine Seele freier als jemals – die Stunde ist da – ich höre den dumpfen Ruf der Unterirdischen – was säum' ich länger? Lebe wohl, Aristipp! – Lais! – Musarion! – Lebet wohl! Vergeßt mich! ich bin nicht würdig in euern Herzen fortzuleben. 150

54. An Lais
[318] 54.
An Lais.

Der arme Kleombrot – gute Laiska! – doch, du hast eine starke Seele, meine Freundin, ich schone dich nicht. Hier ist sein Abschiedsbrief, und hier das Buch, das ihm den letzten Stoß gegeben hat – den Stoß, der ihn von einem Felsen des Ambracischen Ufers in die Wellen stürzte. Der arme Jüngling! Er war eines bessern Schicksals werth, und verdiente diesen kaltblütigen hämischen Dolchstoß von der Hand eines ehmaligen Freundes nicht! – Ich gestehe dir, Lais, ich bin aufgebracht über diesen stolzen Abkömmling Poseidons. 151 »Es hieß sie wären in Aegina.« – Und wo war denn er? – Plato war krank, sagt' er. – Sonderbar genug! Er mußte also sehr krank, schlechterdings unvermögend seyn, sich von seinem Lager zu erheben, oder er hätte kommen sollen, und wenn er sich auch, gegen das Verbot seines Arztes, in einer Sänfte nach dem Kerker hätte tragen lassen müssen. Oder war er etwa nur krank, um desto mehr Freiheit zu haben, den sterbenden Weisen sagen zu lassen was ihm beliebte? Wirklich kann man sich eines solchen Argwohnes kaum erwehren, wenn man sieht, wie er den ehrlichen Sokrates noch in seinen letzten Stunden seine Freunde in den verschlungensten Irrgängen der subtilsten Dialektik herumtreiben läßt, und welche Mühe der gute alte Mann sich geben muß, die simpelsten Dinge in unauflösliche Knoten zusammenzudrehen, bloß damit der scharfsinnige Sohn des Ariston 152 sich den Spaß machen könne, [319] sie entweder wieder aus einander zu wickeln oder zu zerschneiden, und seine Stärke in der eristischen Vexierkunst 153 vor den Athenern, den großen Liebhabern von Hahnen- und Sophistenkämpfen, auszulegen. – Ich merke, liebe Laiska, daß ich zu verstimmt bin, um dich, wenn ich so fortführe, nicht sehr übel zu unterhalten: also lebe wohl, du Einzige, und vergiß der Abwesenden nicht.

55. Lais an Aristipp
55.
Lais an Aristipp.

Nein, unglücklicher, aber guter und bei aller deiner Schwäche edelmüthiger Kleombrot, du sollst nicht vergessen werden! Und wenn noch etwas von dir übrig ist, dem es wohl thut wenn deine Freunde sich deiner oft mit Liebe und Wehmuth erinnern, so nimm diesen Trost mit dir hinüber in das bessere Leben, das dich dein Sokrates hoffen ließ!

Wer hätte sich diesen Ausgang einbilden können, lieber Aristipp? – Und doch dringt sich mir zuweilen der Gedanke auf, wir hätten es sollen. Aber wer selbst wenig Anlage zu irgend einer Art von Schwärmerei hat, kann sich nie lebendig genug in einen solchen Kopf hineindenken, und läßt sich nicht träumen, was für Unheil er in einem mit lauter Zunder und Brennstoff angefüllten Gemüth anrichten kann.

Meine größte Sorge ist jetzt, die zarte Musarion stufenweise zu der fatalen Nachricht vorzubereiten. Erst wenn sie [320] sich nach und nach an den Gedanken, daß er nicht mehr ist, gewöhnt hat, darf sie die Art seines Todes erfahren. Ich traue dir zu, du werdest gern hören, daß Kleonidas mir einen guten Theil dessen, was ich durch deine Neigung zum Landstreichen entbehre, zu ersetzen sucht; und dafür wirst du so artig seyn, auch ihm und mir zuzutrauen, daß er nicht unglücklich in dieser Bemühung seyn könne. Begeistert von dem Antheil, den wir alle an dem Schicksal deines unglücklichen Freundes nehmen, und von Platons Schilderung der Todesstunde des Sokrates, hat er mir die Ideen zu zwei großen Gemälden mitgetheilt, womit er beiden ein Denkmal zu stiften gesonnen ist. Zum ersten hat er bereits eine leichtgefärbte Zeichnung entworfen, die mir seinen Gedanken glücklich zu symbolisiren scheint. Die Scene ist ein weit in die See hervorragender kahler Felsen, an einem wilden klippenvollen Strande, den reizenden Ufern einer entfernten, aus dem warmen rosigen Duft eines stillen Sommerabends, wie unter einem durchsichtigen Schleier, hervorscheinenden Landschaft gegen über. Kleombrot, von der Reue in Gestalt einer Erinnys mit Schlangengeißeln verfolgt, stürzt sich von der Spitze des Felsens herab: aber ein freundlicher Genius, mit mächtigen Flügeln über der schäumenden Brandung schwebend, ist bereit, den Fallenden in seine gegen ihn ausgebreiteten Arme aufzufassen, um ihn an das entgegen liegende Ufer der Insel der Seligen zu tragen, wo Sokrates, zwischen Pythagoras und Solon, von verschiedenen andern Weisen und Heroen der Vorzeit umgeben, aus einem lieblichen Hain ihm entgegen zu kommen scheint. Unter das Bild soll mit goldnen Buchstaben [321] geschrieben werden: er war in Aegina und ist nun bei Sokrates.

Um den Tod des Sokrates so wahr als nur immer möglich darzustellen, wird er nächstens eine Reise nach Theben, Athen und Megara unternehmen, und sich mit den vorzüglichsten Freunden des Weisen, mit Kriton, Kritobul, Apollodor, Aeschines, Antisthenes, Cebes und Euklides bekannt machen, um Zeichnungen nach dem Leben von ihnen zu nehmen, damit er sie in dem großen Gemälde desto richtiger bezeichnen, gruppiren und in Handlung setzen könne. Um den lieben Plato auch hier nicht leer ausgehen zu lassen, soll einer aus der Gruppe, die am entferntesten von der Hauptperson ist, seinen Nachbar mit dem Ausdruck der Verwunderung fragen: wo bleibt Plato? und der andere wird mit Achselzucken antworten: es heißt er sey unpäßlich. 154 Du siehest, Aristipp, wem Kleonidas durch dieses Parergon 155 einen kleinen Liebesdienst zu erweisen hofft? – Der Einfall verdiente wenigstens einen Kuß, hör' ich dich sagen. Auch bekam er ihn, in deinem Namen, auf der Stelle. Aber – wie es zuging weiß ich selbst nicht recht – es mußten wohl ein paar Nektartropfen zu viel darein gekommen seyn; denn – wir wurden beide ein wenig davon berauscht. – Lass' dir sagen, Freund Aristipp, – es ist ein gefährlicher Mensch, dein Kleonidas; du hättest ihn wohl können zu Hause lassen!

Mein Unstern fügte es, als ich zu Athen war, daß Plato die ganze Zeit über abwesend seyn mußte; denn nun sehe ich erst, wie schmeichelhaft mir seine Eroberung gewesen wäre. Sein Buch hat mir eine große Meinung von der Feinheit [322] seines Geistes und von seinem Dichtergenie gegeben. Wahr ist's, man müßte den Sokrates gar nicht gekannt haben, wenn man nicht sehen sollte, daß Plato sich große Freiheiten mit ihm herausnimmt; und ich wollte selbst meinen besten Halsschmuck dran setzen, er habe bei aller seiner Redseligkeit nicht den dritten Theil von allem dem gesagt, was ihn der junge Schwätzer grübeln und subtilisiren läßt. Indessen ist doch nicht weniger wahr, daß er die Eigenheiten seines Meisters mit vieler Gewandtheit nachzuahmen weiß; und wiewohl er sie überhaupt (was den Nachahmern gewöhnlich zu begegnen pflegt) merklich übertreibt, so ist doch an vielen Stellen das Originale und Auszeichnende im Ton und in der Manier des Alten gar nicht zu verkennen. Aber was mir von diesem Schriftsteller, und dem, was er uns seyn könnte wenn er wollte, den größten Begriff gibt, ist die Darstellung der letzten Stunde seines Helden, von dem Augenblick an, wo er sagt: es werde nun Zeit für ihn seyn, ins Bad zu gehen. Mich dünkt wir haben nichts so Schönes in unsrer Sprache als diese Erzählung, die so ganz schlicht und anspruchlos aussieht, und in der doch, wenn ich nicht sehr irre, so viel wahre epische und psychagogische 156 Kunst ist. Ich habe dieses Stück schon zum drittenmal gelesen, und jedesmal mit dem reinen Vergnügen und der völligen Befriedigung, die nur das hohe Schöne der Seele gewähren kann.

So viel Rühmens von dem Werk eines Menschen den du nicht liebst, und das freiwillige Geständniß – einer Untreue, in einem und ebendemselben Briefe, ist deiner Philosophie beinahe zu viel auf einmal zugemuthet, lieber Aristipp.

[323] Das möcht' es wirklich seyn, wenn du nicht wärest, was du bist; so einzig in deiner Art, wie deine Freundin Lais in der ihrigen. Was sollte sie dir nicht vertrauen dürfen?

56. An Lais
56.
An Lais.

Ja wohl, schöne Lais, darfst du mir alles vertrauen! Du, der die Grazien einen Freibrief gegeben haben, nichts zu sagen noch zu thun was Aristipp nicht gut fände. Zudem ist Kleonidas mein anderes Ich; was du ihm thust, ist mir gethan; und wär' es nicht unter deiner Würde, die edeln Dienste meines Freundes nicht auf eine edle Art zu belohnen?

Wird er seine Reise bald antreten? Mich verlangt sehr, seinen Tod des Sokrates vollendet zu sehen. Sobald ich höre daß er es ist, ergreife ich diesen Vorwand, um eine Lebende wieder zu sehen, die mir Amor selbst, wenn er ein Maler wäre, nicht zu Danke malen könnte, und – fliege nach Milet zurück.

Hippias meldet mir, daß er vor dem Ende dieses Monats zu Athen eintreffen werde, um von da nach Samos abzugehen, wo er seinen künftigen Wohnsitz aufzuschlagen beschlossen hat. Denke nur, der unbeständige Mensch hat die schöne Timandra einem seiner Freunde in Syrakus abgetreten! Ich weiß, schreibt er mir, nichts an ihr auszusetzen, als daß sie zu gut[324] für mich ist. Wahrscheinlich hat er irgend einen geheimen Beweggrund, warum er frank und frei zu Samos anlangen will. – Ich habe ihm eine Abschrift des Phädon zugeschickt, und ihn in deinem Namen ersucht, uns über den spekulativen Theil desselben seine Meinung zu sagen.

Inzwischen unterschreibe ich, ohne daß es mir die mindeste Gefälligkeit kostet, alles, was du Rühmliches von diesem sonderbaren prosaischen Gedichte gesagt hast. Denn eine Art von Gedicht ist es am Ende doch, und zum Dichter wäre Plato geboren gewesen, wenn ihn nicht sein böser Genius neben seinem natürlichen Hang zum Fabuliren und Allegorisiren, noch mit einem unwiderstehlichen Trieb sich selbst und andre in dialektische Spinneweben zu verfangen gestraft hätte. Da ihm die schlichte populäre Philosophie des Sokrates kein Genüge that, vertiefte er sich schon früh in den Grübeleien der Eleatischen und Pythagorischen Schule, die sich damit abgeben, das Innerste der Natur und den ersten Grund der Dinge, das Unendliche, den Ursprung der Welt, das Wesen der Materie und des Geistes, kurz, alles ergründen zu wollen, was nicht zu ergründen ist. Unbefriedigt schwärmte er nun von einem Systeme zum andern, baute bald auf diese, bald auf jene Hypothese, riß dann, wenn er wieder einige Zeit um Sokrates gewesen war, wieder ein was er gebaut hatte, und würde vermuthlich zuletzt unter lauter Ruinen gelebt und nie etwas Haltbares zu Stande gebracht haben, wenn ihn die Muse, die ihm als sein guter Dämon zugegeben ist, nicht immer antriebe, aus den Bruchstücken, die in seiner Phantasie über und durcheinander liegen, bald [325] diesen, bald jenen luftigen und schimmernden Zauberpalast zusammenzusetzen. Jetzt ist er noch so voll von diesen Materialien, daß ihm die Wahl weh zu thun scheint, und er uns lieber alles auf einmal geben möchte. In der That hat er in seinem Phädon so vielerlei für Person, Ort und Zeit Schickliches und Unschickliches zusammengedrängt, daß ich in diesem einzigen Dialog die Embryonen von zwanzig andern sehe, die er vermuthlich nach und nach auszubrüten gedenkt. Doch das möchte er immerhin, und viel Glücks dazu! Denn warum sollte er nicht Bücher schreiben, da er das Talent, seinen Gedanken jede beliebige Gestalt zu geben, und eine Fülle Attischer Redseligkeit in seiner Gewalt hat, und, sobald er nur will, den Verstand, die Einbildungskraft und das Gemüth seiner Leser zugleich in Bewegung zu setzen und zu unterhalten weiß? – Aber wenn er fortfahren wollte dem guten Sokrates die Hauptrolle in seinen philosophischen Dramen aufzudringen, und gerade dem Manne, der die Philosophie vom Himmel oder vielmehr aus dem windigen Reiche der »regenbeladnen Jungfrauen« des Aristophanes, wieder auf die Erde herabholte und in das häusliche und bürgerliche Leben der Menschen einführte, kurz sich ausschließlich mit einer Lebensweisheit beschäftigte, die für jedermann verständlich und brauchbar war, wenn Plato fortfahren wollte, seine Liebhaberey, abgezogene Begriffe bis zu einem unbrauchbaren Grad von Feinheit auszuspinnen, und die Leute mit Zweifelsknoten, die er selbst nicht aufzulösen weiß, zu beunruhigen, gerade diesem Manne vor die Thür zu legen; dieß, ich bekenn' es, würd' ich ihm nicht wohl verzeihen können. Freilich muß es [326] jedem erlaubt seyn, das Wahre, zu welchem so vielerlei Wege führen, auf demjenigen zu suchen, den er für den nächsten oder anmuthigsten hält; nur stelle jeder sich selbst vor, und nehme sich nicht heraus, das Gesicht eines andern zu einer Larve vor sein eigenes zu machen.

Daß Plato sich nicht zugleich mit dir in Athen befand, meine Freundin, hat deinen sieggewohnten Reizen vielleicht eine kleine Demüthigung erspart, wenigstens hättest du dich in einen Hylas 157 oder Hyacinth 158 verkleiden müssen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. – Doch ich will ihm keinen Vorwurf aus den Versen 159 machen, worin er (damals selbst noch wenig mehr als ein Knabe) seine Leidenschaft für die schönen Knaben Aster, Alexis, Agathon u.a. (vielleicht nur um die Mode mitzumachen) eine sehr feurige Sprache reden ließ; denn es ist allerdings zu glauben, daß Sokrates, zu welchem er sich seit seinem zwanzigsten Jahre ziemlich fleißig hielt, ihm diese kleine Attische Unart abgewöhnt haben werde.

Ich gedachte mich nicht länger zu Ephesus zu verweilen, als nöthig war, eine alte Gastfreundschaft zwischen meiner Familie und einem hiesigen angesehenen Hause zu erneuern, und den weltberühmten Tempel der Ephesischen Göttin zu besehen. Zufälligerweise erfahre ich von dem alten Maler Evenor, daß sein ehmaliger Schüler Parrhasius (ein geborner Ephesier) täglich erwartet werde. Der alte Mann legte einen besondern Nachdruck auf das Wort Lehrling, und schien sich nicht wenig darauf zu Gute zu thun, daß er einen Schüler habe bilden können, der seinen Meister weit hinter sich zurückgelassen. Parrhasius langte den folgenden Tag an, und seine [327] Bekanntschaft hat so viel Anziehendes für mich, daß ich schon eine ganze Dekade länger hier bin, als anfangs meine Absicht war. Vielleicht wirst du das Vergnügen haben, ihn in Milet zu sehen. Ich wünsche es um Kleonidas willen, der, wofern wir dem stolzen Parrhasius verbergen daß er sein Nebenbuhler in der Kunst ist, vielleicht Gelegenheit fände, ihm das eine oder andere von seinen Geheimnissen, die Färbung zu behandeln, abzuhaschen. Denn es ist unglaublich, was der Mann mit seinen vier Farben für Wunder thut.

Du bist mir, aller Wahrscheinlichkeit nach, große Entschädigung schuldig, meine schöne Freundin, und ich will dich vorher gewarnt haben, nicht zu sehr zu erschrecken, wenn ich in irgend einer schönen mondhellen Nacht, da du mich am wenigsten erwartet hättest, auf einmal wie aus dem Monde gefallen, vor dir stehe, und mir – einen Abdruck des Kusses ausbitte, womit du den schönen Kleonidas unter die Götter versetzt hast. Denn dieß ist, nach dem Ton seines letzten Briefes zu schließen, der Fall mit ihm, wiewohl er so bescheiden ist, mir aus der Ursache seiner Apotheose ein Geheimniß zu machen.

57. An Kleonidas
57.
An Kleonidas.

Ein glücklicher Zufall hat mich zu Ephesus mit dem größten Maler unsrer Zeit in Bekanntschaft gesetzt. Du erräthst sogleich [328] daß ich den Parrhasius meine, von welchem die zwei kleinen Stücke 160 in dem Landhause unsrer Freundin zu Aegina dich so sehr bezauberten, und von dessen Demos du mich mit einer Bewunderung, die an mir etwas Ungewöhnliches ist, sprechen hörtest. In der That gibt es dermalen noch schwerlich etwas Vollendeteres in eurer Kunst, und ich wollte du entschlössest dich, bevor du an die Ausführung der beiden Denkmäler gehst, zu einer Reise nach Mitylene, bloß dieses Gemäldes wegen, an welchem ein Auge wie das deinige so viel zu sehen und zu studiren finden würde.

Parrhasius ist ein feiner, stattlicher Mann, der, neben andern mit seiner Kunst in Bezug stehenden Kenntnissen, sich vorzüglich auf die Menschenkunde mit Ernst gelegt zu haben scheint. Von dem Künstlerstolz, den man ihm Schuld gibt, mag er wohl nicht ganz frei seyn; und warum sollte er auch nicht fühlen dürfen was er ist, und wie nahe die Malerkunst, die vor ihm noch in der Wiege lag, der Hora ihrer schönsten Blüthe durch ihn gebracht worden? Er spricht gern von dem, was er in dieser Rücksicht geleistet habe, und da ihn dieß nothwendig auf den Zustand führt, worin er seine Kunst gefunden, so ist natürlich, daß er an den Werken der alten Meister, ohne darum ungerecht gegen sie zu seyn, mehr zu tadeln als zu loben hat. Ob er aber eben so gerecht gegen seine jetzt blühenden Nebenbuhler, einen Zeuxis, Timanthes, Pausias u.a. sey, ließe sich fast bezweifeln; wenigstens hält er zurück, wenn die Rede von ihnen ist, und gibt, wenn dieses oder jenes von ihren Werken gerühmt wird, seine Beistimmung gewöhnlich nur mit den Achseln oder [329] Augenbraunen. Man sagte mir, es sey eine von seinen Eigenheiten, daß er beim Arbeiten, weder einen andern Maler, noch jemand, der im Ruf eines Kenners der Kunst stehe, zusehen lasse. Gegen bloße Liebhaber hingegen ist er desto gefälliger, und ich habe unter diesem Titel das Vergnügen gehabt, ihn an einem großen Gemälde arbeiten zu sehen, das die Entscheidung des Streits um die Waffen Achills zwischen Ajax und Ulysses vorstellt, und in kurzem zu Samos um den Preis mitwerben soll. Nur wenn er die letzte Hand an ein Werk legt, schließt er sich vor jedermann ein; vermuthlich weil er ein Geheimniß besitzt, um seinen Gemälden den schönen Ton und das Lebenathmende und Beseelte zu geben, das so sehr daran bewundert wird. Ich sprach ihm von seinem Demos, wie einem bloßen Liebhaber zukommt, mit Entzücken, und erhielt dadurch das Recht, ihm in gebührender Einfalt und Demuth die Frage vorzulegen: ob es wirklich seine Meinung gewesen sey, den Charakter des Athenischen Volks in diesem Stücke darzustellen? Er antwortete mir lachend: vermuthlich ist es dir von dem Besitzer unter dieser Benennung gezeigt worden? Da ich es bejahte, fuhr er fort: »ich will dir offenherzig sagen was an der Sache ist. Es war wirklich mein erster Gedanke daß es ein allegorisches Gemälde werden sollte; aber die Schwierigkeit war, wie ich es anstellen wollte, die Widersprüche im Charakter des Athenischen Volkes so zu personificiren, daß gescheidte Leute ohne Wahrsagergeist errathen könnten was ich wolle. In zwei Stücken, deren jedes nur eine Seite dieses Charakters gezeigt hätte, möchte dieß allenfalls angegangen seyn, wiewohl [330] die Sache noch immer große Schwierigkeiten hatte; aber auf Einer Tafel fand ich es platterdings unmöglich. Nach langem Hin- und Hersinnen, fiel mir ein, anstatt meine Absicht durch allegorische Personen erreichen zu wollen, würde ich besser zum Ziel kommen, wenn ich eine wieder aus einander gehende Volksversammlung schilderte, und zwar so, daß man aus den verschiedenen Gruppen errathen könnte, was unmittelbar vorher verhandelt und beschlossen worden, und was dieser und jener für eine Rolle dabei gespielt habe. Ich gestehe, daß ich diesen Gedanken für eine Eingebung meines guten Genius hielt, und daher mit mehr als gewöhnlicher Begeisterung ausführte. Ich hatte nun Gelegenheit, alle die verschiedenen Züge, woraus der Charakter der Athener zusammengesetzt ist, auf die natürlichste Art in Handlung und Contrast zu setzen. Mein Stück, wiewohl es im Grunde nichts mehr ist als was der Augenschein ausweist, wurde dennoch für den nachdenkenden Beschauer, der den Geist eines Gemäldes zu erhaschen weiß, wirklich das, wozu ich es anfangs machen wollte, eine Charakteristik der Athener, und da der Name Demos Athenäôn beides gleich schicklich bezeichnen konnte, so verkaufte ich es dem Liebhaber zu Mitylene unter diesem Titel, mit welchem es mich hoffentlich eine Weile überleben wird.« – Gewiß so lange, sagte ich, als die Erde mit einer allgemeinen Verbrennung oder Ersäufung verschont bleibt, wofern die Besitzer nur Sorge tragen, es vor dem nachtheiligen Einfluß der Luft und der Sonne zu bewahren. – Meine Farben halten bis auf einen gewissen Grad beides aus, versetzte Parrhasius. [331] – Du mußt deren wirklich ganz eigene und andere unbekannte haben, sagte ich, da du solche Wunder damit thun kannst. – Gleichwohl siehst du nur vier auf meiner Palette, war seine Antwort; – und nun hatte ich keine Lust weiter zu fragen. Parrhasius zeigte mir unter verschiedenen zum Verkauf fertigen Stücken zwei zusammengehörende, die ich, ihres sonderbaren Effects wegen, für unsre Freundin gekauft habe. Beide Tafeln stellen ebendenselben schwerbewaffneten Kriegsmann vor; auf der einen ist er in vollem Lauf begriffen, auf der andern legt er seine Rüstung ab, um auszuruhen; in beiden herrscht ein so hoher Grad von Wahrheit und Leben, daß man ihn auf jener schwitzen zu sehen, und auf dieser keuchen zu hören glaubt. Er war so zufrieden mit mir, als ich diese, eben nicht schwer zu machende Bemerkung machte, daß er mich noch eine ziemliche Anzahl kleiner, auf elfenbeinerne Täfelchen gemalter Stücke sehen ließ, die an täuschender Lebendigkeit und Grazie der Ausführung, so wie an Leichtfertigkeit des Inhalts 161 alles weit übertreffen, was ich je in dieser Art gesehen habe. Lass' dir genug seyn, Kleonidas, daß eine in Götterwonne hinsterbende Leda das züchtigste Stück von der ganzen Sammlung war. Da er mich etwas verlegen sah – (du weißt, ich liebe die Entweihungen der heiligen Mysterien Amors und Aphroditens nicht) – sagte er mir ganz unbefangen: diese Scherze meines Pinsels sind eigentlich nur für mich selbst gemacht, und dienen mir zur Erholung nach ernsthaftern Arbeiten. Ich würde keines davon um irgend einen Preis verkaufen; nur diese Leda ist derjenigen bestimmt (wofern sich eine solche finden [332] sollte) die schöner ist als sie, und statt des göttlichen Schwans – mit mir vorlieb nehmen will. Du siehst, Freund Kleonidas, daß Parrhasius nicht nur ein großer Maler, sondern auch ein großer Schalk ist, und die schwache Seite der Leden kennt. Wenn es nur auf die erste seiner Bedingungen ankäme, so wäre die seinige schon verspielt. Ich möchte wohl wissen was Lais zu diesem tollen Einfall sagt?

Parrhasius ist reich, und lebt auf einen ziemlich Asiatischen Fuß. Ich sah verschiedne schöne Sklaven und Sklavinnen in seinem Hause, und eine der letztern schien mir seiner Leda sehr ähnlich zu sehen. Und so viel von deinem berühmten Kunstverwandten.

Ich brauche dir nicht zu sagen, wie ungeduldig ich nach der Ausführung deiner zwei herrlichen Ideen bin. Für die kleine Rache, die du für mich an dem spitznasigen Plato genommen hast, hat dir Lais, wie ich höre, schon in ihrem und meinem Namen gedankt. Strenger wird ihn hoffentlich sein eigenes Gefühl bestrafen, wenn er hören wird, daß er mit drei hämischen Worten einen Jüngling, der wahrlich der Sokratischen Bildung Ehre gemacht haben würde, zur Verzweiflung getrieben hat.

58. Lais an Aristipp
[333] 58.
Lais an Aristipp.

Läugne nur nicht, Aristipp, daß du eifersüchtiger bist, als du mir und vielleicht dir selbst gern gestehen möchtest. Wenn es so ist, so hast du Unrecht, mein Freund. Ein Kuß ist am Ende doch nichts mehr als ein Kuß, und wenn in einer kleinen Berauschung auch ein halbes Duzend daraus geworden wären, so sollte, dächt' ich, um eines so guten Einfalls willen wie der, wofür Kleonidas sie bekam, eine solche Kleinigkeit einem Freunde wohl zu gönnen seyn. Oder könntest du auch nur im Traume den Argwohn hegen, ich sey leichtsinnig genug, meine Musarion um einen Liebhaber wie Kleonidas bringen zu wollen? Ich werde dir, mit deiner Erlaubniß, keine weitere Erläuterung über diese Sache geben; genug wenn ich dir sage, daß zwischen ihnen beiden eine Art von Freundschaft (wie sie es nennen) erklärt ist, die ich, ohne mich deutlich heraus zu lassen, auf alle Weise begünstige, und, wenn sie noch einige kleine Proben ausgehalten hat, zu beiderseitiger Zufriedenheit in einen ehelichen Liebesknoten zusammen zu stricken gesonnen bin. Musarion ist eines Mannes wie Kleonidas werth, und Kleonidas könnte in allen drei Welttheilen schwerlich ein Mädchen finden, das in jeder Beziehung, es sey als Freundin und Lebensgefährtin, oder als Mutter seiner Kinder, oder als Gespielin seiner fröhlichen Stunden, oder als Modell für seine Lieblingskunst, sich besser für ihn schickte, als meine Musarion, die zu einer seltnen [334] Schönheit und Anmuth, und einem Gemüth, das die Keime aller weiblichen Tugenden in sich trägt, gerade so viel Verstand und Witz zum Antheil bekommen hat, als ein Weib im Kreise des häuslichen Lebens nöthig haben kann. Ich glaube mich der Pflicht, die mir ihr edler Vater auferlegt hat, nicht besser als durch eine solche Verbindung entledigen zu können, und ich freue mich voraus, daß mein Plan deinen Beifall haben wird.

Eurybates ist seit kurzem nach Athen zurückgekehrt, und wir werden die Lücke, die ein so angenehmer Gesellschafter in unserm Cirkel läßt, nicht so leicht ersetzt bekommen. Er hat mir mit einem schönen Medischen Eunuchen, der ein trefflicher Sänger und Citherspieler ist, ein Geschenk gemacht. Was konnt' ich da weniger thun, als ihm die Charis Droso zum Gegengeschenk aufzudringen? – Oder zweifelst du etwa, daß ich großmüthig genug zu einem solchen Opfer war? – Gleichwohl that ich's nicht. Ich begnügte mich, ihr die Freiheit zu schenken, und überließ es ihr selbst, mit ihrer Person nach eignem Belieben zu schalten. Eurybates verliert nichts dabei. Sie begleitet ihn nach dem schönen Athen, und wenn sie die Sokratischen Lehren, die ich ihr mitgegeben habe, befolgen will, so wird sie wahrscheinlich Ursache haben, mit ihrem Loose zufrieden zu seyn. – Ich pfusche der Ehestifterin Here ziemlich stark ins Handwerk, wie du siehst; es ist eine wahre Liebhaberei bei mir, und muß wohl an einer Person, die so ungeneigt ist sich selbst binden zu lassen, seltsam genug scheinen. Erkläre dir's wie du [335] kannst; ich mag mir den Kopf nicht zerbrechen, die Ursache davon zu ergründen.

Du schreibst mir, du habest den Hippias in meinem Namen ersucht, uns seine Gedanken über die letzten Reden des Sokrates im Phädon mitzutheilen. Wozu das? was kümmert mich's, wie Hippias über diese Dinge denkt? wenn ich jemands Gedanken darüber wissen möchte, so sind es die deinigen; wenigstens so lange ich keinen andern kenne, mit dem ich, in allem was Interesse für mich hat, lieber sympathisiren möchte als mit dir.

59. Kleonidas an Aristipp
59.
Kleonidas an Aristipp.

Fast besorge ich, Freund Aristipp, irgend eine gefällige Epheserin habe das Bild unsrer edeln Freundin in deinem Kopf ein wenig abgebleicht. Du möchtest wissen, schreibst du mir, was sie zu dem Preise, den Parrhasius auf seine Leda setzt, sagen würde? – Das will ich dir nicht verhalten, mein Lieber. »Parrhasius,« sagte sie, »mag nur in Zeiten, wofern es nicht schon geschehen ist, für eine hübsche Anzahl Copien sorgen; denn an Leden, die seinen Preis nicht zu hoch finden werden, kann es ihm so leicht nicht fehlen; und er wird wahrscheinlich, wenn ihm die Lust ankommt den Schwan zu spielen, jede lebende schöner finden als seine gemalte.« – [336] Dieß ist alles was sie sagte, und ich dächte das hättest du errathen können.

Ich bin im Begriff nach Theben und Athen abzugehen, und hoffe meine Leute in wenig Tagen beisammen zu haben. Denn ich brauche nichts als Umrisse und hier und da einen charakteristischen Strich; das übrige soll sich wohl in meinem Gedächtniß erhalten. Meinen Rückweg werde ich über Samos nehmen, wo bei einer öffentlichen Gemäldeausstellung Parrhasius und Timanthes mit einigen andern um den Preis streiten werden, den eine Gesellschaft von Kunstliebhabern auf die beste malerische Darstellung des Streits um die Waffen Achills im Lager der Griechen vor Troja ausgesetzt hat. Doch, das hast du ja schon vom Parrhasius gehört. Die Reise nach Mitylene hat mir ein glücklicher Zufall erspart. Der Besitzer des berühmten Demos Athenäôn ist vor einiger Zeit gestorben; seine gesammelten Kunstwerke werden von seinen Erben verkauft, und jenes kostbare Stück hat Hegesander, ein Günstling des Plutus zu Milet, um fünfhundert Dariken an sich gebracht. Ohne Zweifel wird es, um die Zeit da du nach Milet zurück kommst, in seiner Galerie zu sehen seyn. Parrhasius hat viel geleistet; aber die Kunst ist unendlich. Keiner kann alles, keiner erreicht das Ziel, und selbst in dem, worin einer alle seine Vorgänger übertroffen hat, kann und wird er von irgend einem Nachfolger übertroffen werden. Zeuxis wird wegen der Richtigkeit seiner Umrisse und des Täuschenden seiner Färbung bewundert: Parrhasius glaubt, es ihm in beidem zuvorzuthun, und hat vielleicht Recht; aber daß er die höchste Stufe in beidem schon erstiegen habe, glaube ich [337] wenigstens nicht, wenn ich auch nicht sagen könnte, worin, geschweige wie er übertroffen werden könne. Die Fortschritte, welche die Malerkunst in den letzten dreißig Jahren gemacht hat, sind zum Erstaunen; lass' uns noch dreißig oder vierzig Jahre leben, und wir werden vielleicht aus den Schulen derer, die jetzt den Vorsitz haben, eines Parrhasius, Timanthes, Zeuxis, Pausias, Künstler hervorgehen sehen, die diese eben so weit hinter sich zurücklassen 162, als sie ihren Lehrmeistern vorgesprungen sind. Da ich des Timanthes erwähnt habe, darf ich nicht vergessen, daß er sich diesen ganzen Monat über zu Milet aufgehalten hat, um das Gemälde zu vollenden, womit er zu Samos um den Preis streiten will. Ich habe mich, wie du denken kannst, um seine Freundschaft beworben; Lais begegnet ihm mit ausgezeichneter Achtung, und er fehlt nie bei den Symposien, die sie den vorzüglichsten Männern, Einheimischen und Fremden, welche sich hier aufhalten, häufig zu geben pflegt. Zur Erkenntlichkeit hat er sie mit einem kleinen Gemälde beschenkt, worauf Hebe der Götterkönigin eine Schale mit Nektar reicht, und in dieser die schöne Lais, in jener die liebliche Musarion unverkennbar ist, wiewohl ihm keine von beiden gesessen hat. Ehe ich dieses Stück sah, hatte ich keinen Begriff davon, daß man gemalten Augen so viel Geist, gemalten Lippen und Wangen eine so herzgewinnende Beredsamkeit geben, und aus dem Ganzen einer nachgeahmten Gestalt einen so täuschenden Widerschein des unsichtbaren Innern hervorleuchten lassen könne. Ich müßte mich sehr irren, oder hier ist mehr als Parrhasius. – Timanthes würde sich auch ohne sein Talent in jeder guten Gesellschaft [338] als ein vorzüglicher Mensch ausnehmen; so wie unter seinen Kunstverwandten wenige seyn mögen, die mit so viel Ursache zum Stolz eine so edle Art von Bescheidenheit besitzen wie er.

Aus unsrer Vaterstadt, lieber Aristipp, habe ich kürzlich so gute Nachrichten erhalten, daß die immer näher rückende Aussicht an meine Zurückkunft mich erfreuen würde, müßt' ich mich nicht von so manchen liebenswürdigen Personen trennen, die ich in Griechenland zurücklassen werde, mit der Gewißheit sie nirgends wieder zu finden, als vielleicht da, wo der arme Kleombrot zu frühzeitig hingegangen ist.

60. Hippias an Aristipp
60.
Hippias an Aristipp.

Kaum kann ich glauben, daß die schöne und – allzuweise Lais im Ernst zu wissen verlange, was ich von dem Phädon des jungen Platon halte. Wenn sie ihn (was ich doch voraussetzen muß) gelesen hat, so kann sie sich selbst am besten sagen, ob sie durch die vorgeblichen Beweise der Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit der Seele, die er seinem Meister in den Mund legt, überzeugt ist oder nicht. Ich für meine Person erinnere mich nicht, in meinem ganzen Leben etwas Frostigeres und weniger Befriedigendes über diesen Gegenstand gehört oder gelesen zu haben. Wahrlich es steht schlecht mit der Hoffnung derer, die sich ewig zu leben wünschen, und weil das Recept zu Medeens Kräuterbad verloren [339] gegangen ist, und die Quelle der Jugend erst noch entdeckt werden soll, kein andres Mittel, ihres Wunsches theilhaft zu werden, sehen, als nach dem Tode in einer unsichtbaren Welt ein neues Leben zu beginnen – es steht (sage ich) schlecht um ihre Hoffnung, wenn sie auf keinem festern Grunde ruht, als auf der Behauptung: »es müsse auf den Tod ein neues Leben folgen, weil das Erwachen aus dem Schlaf entstehe, und beides eine nothwendige Folge davon sey, daß jedes Ding, dem etwas entgegen gesetzt ist, aus diesem Entgegengesetzten entspringe.« Was wird die Nachwelt (wofern dieses Platonische Machwerk seinen Schöpfer überleben sollte) von Sokrates und von denen, die ihn für einen Weisen hielten, denken müssen, wenn sie liest, daß er ein paar Stunden vor seinem Tode seine besten Freunde, lauter gesetzte und zum Theil schon bejahrte Leute, mit so läppischen Fragstücken, wie man sie etwa an ein Kind von drei Jahren thun könnte, unterhalten habe; und sollte sie wohl glaublich finden, daß so verständige junge Männer, wie Cebes und Simmias, sich diese kindische Art von Belehrung hätten wohlgefallen lassen? Oder was denkst du daß man zu einem Dialog, im Geschmack der kleinen Probe, die ich mir (wundershalben) abzuschreiben die Mühe geben will, sagen werde?

Sokrates (zu Cebes). Was meinst du, Cebes, ist irgend etwas dem Leben so entgegengesetzt als das Schlafen dem Erwachen?

Cebes. Allerdings.

Sokrates. Was denn?

Cebes. Gestorben seyn.

[340] Sokrates. Entstehen nicht beide aus einander entgegen gesetzten Dingen, und muß es nicht mit ihren respectiven Entstehungen (γενεσεις) eben dieselbe Bewandtniß haben?

Cebes. Wie könnt' es anders?

Sokrates. Ich will dir nur das eine Paar der so eben genannten Dinge sagen, so wohl sie selbst als ihre Entstehungen; und du sagst mir dann das andere. Ich setze also, schlafen und wachen, und nun sag' ich: aus dem Wachen entsteht das Schlafen, und umgekehrt aus dem Schlafen das Wachen, und ihre Entstehungen sind, vom einen das Einschlummern, vom andern das Aufwachen. Hab' ich es deutlich genug gesagt oder nicht?

Cebes. Sehr deutlich.

Sokrates. Nun sage du mir auch, wie es sich mit dem Leben und dem Gestorbenseyn verhält. Sagst du nicht, daß Leben das Gegentheil sey von Gestorbenseyn?

Cebes. Allerdings.

Sokrates. Und daß sie aus einander entspringen?

Cebes. Ja.

Sokrates. Was wird also aus dem Lebenden?

Cebes. Das Gestorbene.

Sokrates. Und aus dem Gestorbenen?

Cebes. Nothwendig muß man bekennen, das Lebende.

Sokrates. Diesem nach, mein lieber Cebes, entstehen die Lebenden aus den Gestorbenen?

Cebes. So scheint es.

Sokrates. Unsre Seelen sind also im Hades?

Cebes. Man sollt' es denken.

[341] Sokrates. Und, was ihre beiderseitigen Entstehungen betrifft, liegt nicht die eine klar am Tage? Denn Sterben ist doch etwas Augenscheinliches; oder nicht?

Cebes. Ganz gewiß.

Sokrates. Wie wollen wir nun weiter verfahren? Wollen wir das, was aus dem Gestorbenseyn entsteht, nicht ebenfalls für etwas Entgegengesetztes halten? Sollte die Natur nur hier allein hinken? Oder müssen wir eine dem Sterben entgegengesetzte Entstehung annehmen?

Cebes. Das müssen wir allerdings.

Sokrates. Was für eine also?

Cebes. Das Wiederaufleben.

Sokrates. Wenn nun ein Wiederaufleben stattfindet, wäre da nicht das Wiederaufleben eine Entstehung des Lebenden aus dem Gestorbenen?

Cebes. Unstreitig.

Sokrates. Wir sind also genöthigt als etwas Ausgemachtes einzuräumen, daß die Lebenden eben sowohl aus den Gestorbenen entspringen, als die Gestorbenen aus den Lebenden; und wenn dieß ist, so haben wir einen hinreichenden Grund anzunehmen, daß die Seelen der Verstorbenen irgendwo seyn müssen, von wannen sie wieder geboren werden können?

Cebes. Aus dem Eingestandenen folgt dieß nothwendig, u.s.w.

Nun frage ich dich, Aristipp, ob das unauslöschliche Lachen der seligen Götter im ersten Buch der Ilias hinlänglich wäre, eine solche Manier zu philosophiren nach Würden zu belachen? [342] Und in was für ein unendliches und unermeßliches Wiehern müßten erst die besagten Götter (die über ihren neuen, dienstfertig von einem zum andern herum hinkenden Mundschenken so entsetzlich lachen konnten) ausbersten, wenn sie ein Paar gravitätische Leute unter den Wolken, über Dinge wovon sie nichts verstehen noch wissen können, im höchsten Ernst so possirlich irre reden hörten? Gleichwohl läßt Plato den guten alten Sokrates, seinen ganzen Sterbetag über, in diesem Geschmack dialogiren, und der ganze Discurs dreht sich immer um diesen feinen Beweis herum. Und welch ein Beweis! Aus einer Induction, die am Ende auf ein bloßes Spiel mit Worten hinaus läuft, und auf dem grundlosen Vorgeben beruht: wenn zwei einander entgegengesetzte Dinge auf einander folgen, so entstehen sie aus einander! Diesem Grundsatz zufolge könnt' er uns eben so bündig beweisen, ein Hungriger müsse nothwendig satt werden, wenn er gleich nichts zu essen hat, oder die alte Hekube müsse wieder jung und eine zweite Helena werden; denn Hunger und Sättigung, Alter und Jugend, Runzeln und Schönheit sind einan der entgegengesetzt und folgen auf einander, müssen also eben so nothwendig aus einander entspringen, als das Wachen aus dem Schlafen und das Leben aus dem Tode. Der Beweis müßte sich gut ausnehmen, wenn er, nach dem obigen Muster, in kurzen Fragen und Antworten, mit möglichster Langweiligkeit geführt würde! – Und dennoch hat der sinnreiche junge Mensch in seiner subtilen Einbildungskraft Mittel gefunden uns etwas noch Lächerlicheres zum Besten zu geben. Wenn er beweisen könnte, meint er, daß unsre Seelen vor diesem Leben schon irgendwo [343] da gewesen wären, so hätte er damit so gut als bewiesen, daß sie auch nach demselben irgendwo seyn könnten. Und wie führt er diesen Beweis? Alle Menschen, sagt er, bringen eine Art von Begriffen mit auf die Welt, die sie weder durch ihre eigenen Sinne noch durch fremden Unterricht erlangen. Wer daran zweifelt, lege nur dem ersten besten Kinde von drei oder vier Jahren Fragen vor, zu deren Beantwortung nichts als gemeiner Menschenverstand erfordert wird, und das Kind, wenn es recht gefragt, das heißt, wenn ihm die Antwort auf die Zunge gelegt wird, wird auch allemal die rechte Antwort geben. Man zeige ihm z.B. zwei Stücke Holz von ungleicher Größe, und frage: sind diese Stücke Holz gleich groß? so wird es ohne Anstand mit Nein antworten. Wie könnt' es aber das, wenn es nicht schon einen Begriff von der absoluten Größe und Gleichheit hätte, den ihm doch gewiß weder seine Amme noch sein Pädagog beigebracht haben? Woher also könnte das Kind den Begriff vom Großen und Gleichen an sich, das weder Holz noch Stein noch irgend etwas anderes in die Sinne Fallendes ist, sondern bloß, als das für sich bestehende Große und Gleiche, mit dem Verstande angeschaut werden kann, woher könnt' es diesen Begriff haben, wenn es ihn nicht schon vor seiner Geburt, also in einem vorhergehenden Leben, bekommen hätte? Und wie hätte es ihn auch in diesem erhalten können, wenn es nicht in einer Welt gelebt hätte, wo Groß und Gleich, Rund und Eckicht, Warm und Kalt, kurz alle durch die Sprache bezeichneten abstracten und allgemeinen Begriffe, wie sie Namen haben mögen, als selbstständige, wiewohl unkörperliche und übersinnliche [344] Wesen, eine uns Sterblichen unbegreifliche Art von Existenz haben, oder vielmehr die einzigen wahrhaft und ewig existierenden Dinge (τα οντως οντα) sind? In dieser unsichtbaren Welt lebten einst unsre Seelen, mitten unter diesen, nur dem reinen Verstand anschaubaren Dingen, das wahre Geister- und Götterleben; und vermuthlich wird uns Plato (der in diesem Lande Nirgendswo ganz zu Hause zu seyn scheint) künftig noch offenbaren, wie es zugegangen. daß unsre besagten Seelen aus einem so herrlichen Zustande in den schlammichten Pfuhl der Materie herabgeworfen, und in thierische Körper, als in eine Art von dunkeln unterirdischen Kerkern (wie er sagt) eingesperrt worden, wo sie durch die fünf Sinne, als eben so viele Spalten in der Mauer, die Schatten jener wirklichen Wesen erblicken, und bei diesen wesenlosen Erscheinungen sich jener, wiewohl nur dunkel, wieder erinnern. Genug vor der Hand, daß es so und nicht anders ist, und daß, nach Platons positiver Versicherung, nichts thörichter und erbärmlicher seyn kann, als der unglückliche Wahn, worin wir andern gemeinen Menschen befangen sind, als ob die Erde, worauf wir herum kriechen, die wahre Erde, und das Scheinleben in dieser Sinnenwelt, zu Korinth, Aegina oder Milet, wo wir uns (unter den gehörigen Bedingungen) sehr wohl zu befinden glauben, das wahre Leben sey. Nichts weniger! Im Gegentheil, es ist ein so elender Zustand, daß der ärmste Sklave in den Bergwerken von Laurium, wenn er wie Plato philosophiren könnte, unendlich glücklicher wäre, als mein Freund Aristipp an einem mit allem, was Land und Meer Köstliches hat, besetzten Tische, der schönen Lais gegenüber, in der auserlesensten, [345] fröhlichsten Gesellschaft und unter den angenehmsten Unterhaltungen. Kurz, so lange unsre Seelen, an den Leib gefesselt, in den finstern Höhlen und Grüften dieser unterirdischen Erde schmachten, und bis sie durch den Tod – der aber freilich nur dem Platonisirenden Philosophen ein freundlicher Genius ist – wieder ins wahre Leben geboren, und zum Anschauen und unmittelbaren Umgang mit den sämmtlichen Neun- und Zeit- auch Vor-und Verbindungswörtern an sich emporgestiegen seyn werden, ist (außer dem philosophischen Tod, wodurch der Platonische Weise sich bereits in dem gegenwärtigen Scheinleben eine freilich noch etwas ärmliche Art von Existenz verschaffen kann) an kein wahres Leben, geschweige an etwas, das den Namen Glückseligkeit verdiente, zu gedenken.

Frage doch die schöne Lais in meinem Namen, wie sie sich in der Gesellschaft dieser Platonischen Stammwesen, zwischen der selbstständigen Langweile und dem absoluten Hojahnen, gefallen würde, und sie wird mir hoffentlich zu gut halten, daß ich mich über solche Hirngespenster nicht ernsthafter erkläre. In der That kann ich es mir selbst kaum verzeihen, daß ich mich so lange dabei aufgehalten, zumal da ich mich dadurch so verstimmt habe, daß ich dir nichts weiter zu schreiben weiß, als daß ich vor wenigen Tagen zu Samos angekommen bin, und durch die gute Besorgung meines Freundes Zenodor sogleich eine bequeme Wohnung bezogen habe, worin ich dich je eher je lieber zu bewirthen hoffe.

61. Aristipp an Lais
[346] 61.
Aristipp an Lais.

Wenn der Brief des Hippias, von welchem ich dir hier eine Abschrift überreiche, Stoff zu angenehmer Unterhaltung in einer deiner musurgischen 163 Abendgesellschaften geben könnte, so würde ich mich wegen der kleinen Ungebühr, wodurch ich ihn erschlichen habe, hinlänglich entschuldiget halten. Du wirst finden, daß er ein wenig unbarmherzig mit dem armen Plato umgeht, und das neu ausgestellte hermaphroditische Mittelding von Dialektik und Poesie von einer zu schiefen Seite betrachtet, um ihm völlige Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Indessen scheint doch Plato selbst (zu seiner Ehre gesagt!) keine große Meinung von der Stärke seiner Beweise für das künftige Leben unsrer Seelen im Hades und in der überirdischen Erde zu hegen; auch geht auf dem langweilig fortschneckenden Wege des Fragens und Antwortens so viel Kraft verloren; die wackern Thebanischen Jünglinge, Cebes und Simmias, die dadurch entbunden werden sollen, fühlen sich durch die Operation so abgemattet und die so mühsam zur Welt gebrachte Frucht selbst scheint so viel dabei gelitten zu haben, – daß es mich nicht wundert, wenn die sämmtlichen Interessenten kein sonderliches Vertrauen in ihre Dauerhaftigkeit zu setzen scheinen, und sich des Zweifels, ob es auch richtig mit der Niederkunft zugegangen, nicht recht erwehren können. Wie sollten sie auch, da Sokrates selbst sich am Ende, wie es nun Ernst werden soll, mit bloßen Vermuthungen [347] und Hoffnungen behilft, und die reine Auflösung des Problems von der Erfahrung, die er zu machen im Begriff ist, erwartet?

Es bedarf keines tiefen Nachdenkens, um zu sehen, daß über den Zustand der Seele nach dem Tode nicht eher etwas entschieden werden kann, bis erst eine befriedigende Antwort auf folgende Fragen gefunden ist: was ist unsre Seele? – Wo und was war sie, bevor sie mit diesem Leibe verbunden wurde, ohne dessen Vermittlung sie, dermalen, weder empfinden, noch denken, noch wirken kann? Ist diese Unentbehrlichkeit ihres Organs eine bloße Bedingung unsers gegenwärtigen Lebens? Oder kann sie auch ohne dasselbe, als ein für sich bestehendes Wesen, fortfahren zu denken und zu wirken? Und, wofern dieß nicht möglich wäre, kennen wir irgend ein Gesetz oder eine Veranstaltung in der Natur, vermöge deren sie wieder mit einem andern, ihrem Bedürfniß angemessenen Leibe versehen werden könnte und müßte?

Es fehlt viel, daß der Platonische Sokrates auch nur Eine dieser Fragen so beantwortet hätte, daß die Unmöglichkeit des Gegentheils augenscheinlich wäre. Gesetzt aber auch sie könnten so beantwortet werden, so wäre uns doch nur die Möglichkeit der Sache begreiflich gemacht, und es käme noch immer darauf an: ob alles Mögliche auch erfolgen müsse? oder, ob nicht die Erfahrung der einzige Weg sey, worauf wir gewiß werden können, daß unsre Seele den Verlust ihres Organs wirklich überleben werde?

Bei dieser Bewandtniß der Sache ist klar, daß, so lange die Menschen nicht Mittel finden, den dichten Vorhang, der [348] noch immer vor die Mysterien der Natur gezogen ist, aufzuziehen, nichts völlig Gewisses über das Fortdauern der Seele und ihren Zustand nach diesem Leben festgesetzt werden könne. Hoffnungen, Vermuthungen, Hypothesen, sind alles, womit derjenige sich behelfen muß, der sich in den Gedanken nicht beruhigen kann: alles unter der Sonne hat einen Anfang und ein Ende; nichts besteht immer unter seiner gegenwärtigen Gestalt; alle Naturwesen, die wir kennen, haben einen gewissen Punkt der Reife, nach dessen Erreichung sie wieder abnehmen, und endlich, indem sie in ihre ersten Bestandtheile wieder aufgelöset werden, aufhören zu seyn was sie waren. Sollte nicht auch der Mensch sich dieses allgemein scheinende Naturgesetz, wofern es wirklich allgemein wäre, gefallen lassen? Warum nicht, wie ein gesättigter Gast von der Tafel der Natur aufstehen und sich schlafen legen? – »Um nie wieder zu erwachen?« – Warum nicht, wenn wir dazu geboren sind? – Oder fühlst du auch, Laiska, daß etwas in dir ist, das sich gegen diesen Gedanken auflehnt? Eine Art von dunkelm aber innigem Gefühl, daß dein wahres eigentliches Ich eben darum immer fortdauern wird, weil es ihm unmöglich ist, sein eigenes Nichtseyn zu denken; weil wir ohne Unsinn zu reden nicht einmal vom Nichtseyn reden können? Sollte die Behauptung, »daß das Selbstständige in uns, welches unter allen Veränderungen, denen es unterworfen seyn mag, immer sich selbst gleich bleibt, unvergänglich sey,« noch einen andern Beweis bedürfen, als diesen: daß es uns eben so unmöglich ist Etwas als Nichts, wie Nichts als Etwas zu denken; und daß sich weder eine Ursache, wie, noch ein Zweck warum es [349] zu seyn aufhören sollte, ersinnen läßt? Sollte dieß nicht die ganz einfache natürliche Ursache seyn, warum uns der Gedanke an den Tod so selten und wenig beunruhigt? Wenn er sich uns auch darstellt, so wirkt er wenig mehr auf uns, als wenn uns jemand in größtem Ernst versicherte, wir seyen nicht da, wiewohl wir selbst uns unsers Daseyns aufs lebendigste bewußt wären.

Ich rede, wie du siehst, von Menschen unsers gleichen; denn daß es mit denen, die unter der Gewalt einer ungezügelten Einbildungskraft stehen und sich vor den Schreckbildern des Tartarus und Pyriphlegeton grauen lassen, gleiche Bewandtniß habe, will ich keineswegs behaupten. Indessen begehre ich eben so wenig zu läugnen, daß unsre Ruhe bei dem Gedanken des Todes, insofern sie sich auf die gefühlte Unmöglichkeit des Nichtsseyns gründet, nicht vielleicht eine bloße Täuschung sey, die aus dem üppigen Gefühl einer vollströmenden Lebenskraft entspringen, und uns dereinst, wenn die Quelle zu versiegen beginnt, wieder verlassen könnte.

Es wäre also nicht überflüssig, wenn wir der Natur noch andere Fingerzeige ablauerten, die uns auf Betrachtungen hin wiesen, wodurch wir der Unzulänglichkeit jenes ahnenden Gefühls zu Hülfe kommen könnten. Sollte Plato nicht am Ende doch Recht haben, wenn er behauptet: unsre Seele bedürfe des Leibes nicht schlechterdings zu ihren eigenthümlichen Verrichtungen; er sey ihr darin mehr hinderlich als behülflich, und sie würde ohne ihn nur desto besser denken und wirken können? – Daß er (wie es seine Art ist) die Sache [350] übertreibt, und Folgen daraus zieht, vermöge deren er den Körper als ein Gefängniß der Seele betrachtet, dadurch wollen wir uns nicht irre machen lassen. Wir gönnen ihm diese Vorstellungsart sehr gern, und er wird uns dafür erlauben, unsern Körper (dermalen wenigstens) für ein ganz bequemes, mit allem Nöthigen und vielem Nützlichen und Angenehmen wohl versehenes Wohnhaus unsrer Seele anzusehen. Die Frage sey also jetzt nur: kann unsre Seele, unter gewissen Umständen, der Organe ihres Körpers zu ihren eigenthümlichen Verrichtungen entbehren, oder nicht? – Was wir schlafend in Träumen erfahren, wird uns vielleicht einiges Licht hierüber geben können. Es ist wohl kein Zweifel, daß wir im Traum ohne Zuthun unsrer Augen und Ohren sehen und hören, ohne Hülfe der Füße gehen, ohne die Sprachwerkzeuge wirklich zu gebrauchen reden, kurz, daß die Seele zu wachen glaubt und sich in voller Aktivität befindet, während ihr Körper in tiefer Ruhe abgespannt und unbeweglich da liegt, und die Organe der Sinnlichkeit und die äußerlichen Gliedmaßen überhaupt, so viel wir wenigstens wissen, nicht das Geringste zu den Verrichtungen derselben beitragen. Aber hüten wir uns, einen zu raschen Schluß aus dieser Erfahrung zu machen. Auch im Traume bleibt die Seele an ihren Körper gebunden; sie wähnt mit seinen Augen zu sehen, mit seinen Ohren zu hören, und sich aller seiner Gliedmaßen, mit und ohne ihre Willkür, zu bedienen; kurz, ihr Körper (wiewohl er keinen Antheil an dem, was in ihrem Innern vorgeht, zu nehmen scheint) bleibt auch im Traume ihr unzertrennlicher Gefährte, der beständige Typus ihrer Vorstellungen,[351] und das unmittelbare Werkzeug ihrer unfreiwilligen Empfänglichkeit sowohl, als ihrer willkürlichen Selbstbewegungen.

Indessen ist bemerkenswerth, daß sie in diesem sonderbaren Zustande zwar immer mit ihrem Körper vereinigt ist, aber viel weniger von ihm eingeschränkt wird als im Wachen. Wir versetzen uns mit der Leichtigkeit einer Flaumfeder in einem Augenblick an die entferntesten Orte, wir fliegen ohne Flügel durch die Luft, gehen unbenetzt und unversengt durch Wasser und Feuer u.s.w., auch sind die Beispiele nicht selten, daß unsre geistigen Kräfte im Träumen viel höher gespannt sind als im Wachen, und daß wir Dinge vermögen, wozu wir wachend entweder gar keine oder eine nur geringe Anlage besitzen.

Seltner, aber doch zuweilen, ist es als ob wir zu einer höhern Art von Existenz gelangt wären; wir sehen schärfer, hören feiner, fühlen zärter, als im Zustande des Wachens; die Gegenstände unsrer Liebe zeigen sich uns wie durch ein reineres Medium, und die Gefühle und Gesinnungen, die sie in uns erzeugen, sind von aller gröbern Sinnlichkeit dermaßen geläutert, daß wir darüber erstaunen müßten, wenn sie uns in diesem erhöhten Zustande nicht ganz natürlich vorkämen. Ich selbst, Laiska, habe dich im Traume (was unglaublich ist) noch schöner gesehen als du mir wachend erscheinst; ich wußte daß du es warst, und doch sah ich die himmlische Göttin der Schönheit und Liebe selbst in dir, und es gibt keine Worte, das was ich fühlte zart und rein genug auszudrücken.

Sollte sich nun aus allem diesem nicht mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit schließen lassen: unsre Seele – die im [352] Träumen ohne wirkliche Hülfe der äußern Sinne sieht und hört, und desto schönere Erscheinungen hat, desto leichter, fröhlicher und unbeschränkter ihre eigenen Kräfte spielen läßt, je größer die Unthätigkeit des Körpers ist – sie werde, durch die gänzliche Befreiung von den Einschränkungen desselben sich selbst nur desto stärker fühlen, ihre mannichfaltigen Kräfte nur desto freier und freudiger entwickeln, und, mit Einem Wort, anstatt aufzuhören zu seyn, erst recht zu leben anfangen? Man sollt' es meinen; und doch wäre dieser Schluß noch zu rasch. Unser Freund Hippias könnte uns einwenden, »der Körper sey im Zustande des Träumens so unthätig nicht als es scheine; blieben gleich die äußern Organe dabei aus dem Spiele, so seyen ohne Zweifel die innern desto geschäftiger; die allgemeine Erfahrung, daß zu schönen, anmuthigen und mit einer Art von poetischer Wahrheit zusammengesetzten Träumen ein gesunder Schlaf nothwendig sey, ein Fieberkranker hingegen von lauter wilden, düstern, wahnsinnigen und schreckhaften Träumen geängstigt werde, diese Erfahrung allein beweise schon hinlänglich, daß der Körper zu unsern Träumen mehr beitrage, als wir angenommen hätten, und wir seyen also noch keineswegs berechtigt, von der Selbstthätigkeit unsrer Seele im Träumen auf die Fortdauer derselben nach der gänzlichen Trennung vom Leibe zu schließen.« – Was hätten wir wohl hierauf zu antworten?

So leicht, denke ich, wollen wir uns die Waffen nicht aus den Händen ringen lassen. Der letzte Einwurf wenigstens wird uns wenig zu schaffen machen, denn er ist vielmehr für als wider uns. Gerade der Umstand, daß ein gesunder, d.i. [353] ein ruhiger Schlaf, ein sehr gemäßigter Lauf des Blutes und eine allgemeine Erschlaffung der Nerven, nothwendige Bedingungen derjenigen Art von Träumen sind, auf welche wir unsere Vermuthungen gestützt haben, gerade dieser Umstand beweiset, daß die Seele im Träumen der Mitwirkung des Körpers wenig oder gar nicht bedarf; und daraus, daß unordentliche Bewegungen und stürmische Erschütterungen des animalischen Systems das Gehirn mit wilden und gräßlichen Phantomen anfüllen, folget keineswegs, daß auch zu den schönen und anmuthigen, ja zuweilen sogar sinnreichen und sublimen Träumen, die uns im Zustande eines ruhigen Schlummers erscheinen, eine besondere Mitwirkung des Körpers nöthig sey. Nicht so leicht dürfte hingegen der Behauptung – »daß bei aller Ruhe der äußern Organe die innern – des Gehirns vermuthlich – desto geschäftiger im Träumen seyn könnten,« – mit Grund zu widersprechen seyn, da es uns noch viel zu sehr an Beobachtungen und genauer Kenntniß der feinsten Theile unsers Körpers mangelt. Aber führt uns nicht dieser Einwurf selbst auf den Gedanken: daß das innerste und unmittelbarste Organ unsrer Seele (eben dasselbe, das bei den Träumen, wovon die Rede ist, mitwirken soll) aus einem unendlich feinern Stoff als der gröbere Körper, der ihm gleichsam nur zum Tribonion 164 dient, gebildet, und von einer so vollkommenen und unzerstörbaren Natur seyn könnte, daß die Seele immer damit bekleidet bliebe, und nach der Trennung von ihrem sichtbaren Körper, vermittelst desselben sowohl ihr eigenes Geschäft fortsetzte, als in einer Art von Zusammenhang mit der äußern Welt verbliebe, oder vielmehr sich zwar in [354] eine neue Welt versetzt fände, aber auch sogleich in derselben zu Hause wäre, und indem sie ihren neuen Zustand an den vorigen anzuknüpfen wüßte, im Grunde doch ihre vorige Art zu seyn, nur auf eine ihrer Natur gemäßere Weise fortsetzte?

Der Einwurf, »daß sich das wirkliche Daseyn eines solchen unsichtbaren Seelenorgans nicht beweisen lasse,« braucht uns nichts zu kümmern; denn, da es bloß darauf ankommt, uns irgend ein mögliches Mittel, wie die Seele nach dem Tode fortdauern könne, zu denken, so ist es schon genug, daß uns die Unmöglichkeit desselben nicht bewiesen werden kann: ob es sich wirklich so verhalte, kann die einzige Offenbarerin dessen was wirklich ist, die Erfahrung, allein bewähren.

Indessen bedürfen wir auch dieser Hypothese nicht, um zu begreifen, wie unsre Persönlichkeit, oder das, was unser eigentliches Ich ausmacht, und was man gewöhnlich unter dem Wort Seele versteht, nach der Trennung vom Körper fortdauern könne. Wenn wir sehen, so ist es ja nicht das Auge, wenn wir hören, nicht das Ohr, was sich der Vorstellung bewußt ist, die durch das Sehen und Hören in uns veranlaßt wird; die Seele ist es welche sieht und hört, so wie sie allein es ist, was, aus jenen Darstellungen der Sinne, Begriffe und Gedanken erzeugt, sie vergleicht und unterscheidet, trennt und zusammensetzt u.s.f. Die Art und Weise, wie unsre Seele mit ihrem Körper zusammenhängt, ist eines der unerforschlichen Geheimnisse der Natur; ich weiß nichts davon: aber daß dieses Ich, das sich selbst fühlt, sich selbst betrachtet, sich selbst bewegt, sich vieles Vergangenen [355] erinnert, viel Künftiges vorhersieht, und, indem es beides mit dem Gegenwärtigen verbindet, der Baumeister einer eigenen Welt in sich selbst wird; dieses Ich, dessen wesentlichste Bedürfnisse Wahrheit, Ordnung, Schönheit und Vollkommenheit sind, das nur durch den Genuß derselben befriedigt wird, und immer beschäftigt ist, sie in sich selbst und außer sich hervorzubringen, – daß dieses Ich ein von meinem Körper ganz verschiedenes Etwas ist, dieß weiß ich so gewiß, als ich mir selbst bewußt bin. Warum also sollte aus meiner dermaligen Einschränkung durch einen organischen Körper nothwendig folgen, daß er mir zu meinem Daseyn, oder, was eben so viel ist, zum Gebrauch meiner Kräfte und Fähigkeiten, in und außer mir, schlechterdings unentbehrlich sey? Ist diese Folgerung nicht von eben derselben Art, wie der Irrthum jenes Fußgängers, der den ersten Thessalischen Reiter, den er zu Gesichte bekam, für einen Centauren ansah, weil er sich nicht vorstellen konnte, daß der Reiter, sobald es ihm beliebe, absteigen und auf seinen eigenen Füßen gehen könne?

Und nun, liebe Laiska, dünkt dich nicht auch, wenn wir alle diese Betrachtungen mit der vorhin erwähnten Unmöglichkeit, uns selbst als nicht existirend zu denken, zusammennehmen, es entstehe daraus ein hinlänglicher Grund für uns, den Tod, den der Pöbel sich als das schrecklichste aller schrecklichen Dinge vorstellt, für den Uebergang zu einer höhern Art von Daseyn zu halten, und, ohne ihn zu wünschen oder zu beschleunigen, ihm, wenn er von selbst kommt, eben so ruhig ins Gesicht zu sehen, als Sokrates?

[356] Was denkst du dazu, meine Freundin? – Was mich betrifft, ich denke in diesem Augenblicke, daß ich vermuthlich der erste Mensch in der Welt bin, der sich einfallen ließ, eine Frau wie du – mit Todesbetrachtungen zu unterhalten, und, was noch sonderbarer ist, der gewiß seyn kann, die Grazien, Scherze und Freuden, die dich immer und überall umgeben, nicht dadurch verscheucht zu haben.

62. Lais an Aristipp
62.
Lais an Aristipp.

Ich bin eine zu große Liebhaberin vom Leben, mein lieber Aristipp, als daß ich mich nicht sehr gern überreden lassen sollte, daß ich immer leben werde. Ich rechne es dem spitzfindigen Plato (der so viel dabei gewänne, wenn er es weniger wäre) zu keinem geringen Verdienst an, daß er dir durch seinen Phädon Anlaß gegeben, mich über diesen Punkt (der am Ende doch Alten und Jungen, Schönen und Häßlichen gleich angelegen seyn muß) mit mir selbst ins Reine zu bringen. Indessen mag es wohl ganz gut für uns seyn, daß alles Gewicht der Gründe, die uns den Tod in einem so fröhlichen Lichte zeigen, dennoch keine völlige Gewißheit hervorbringt; so daß ein Sokrates selbst nicht mehr dadurch gewinnt, als es zuletzt, mit einer gewissen zwischen Hoffnung und Gleichgültigkeit leise hin- und herschwebenden Ruhe, darauf ankommen zu lassen, was an der Sache seyn werde. Wären wir [357] völlig gewiß, daß uns der Tod zu einer so großen Verbesserung unsrer Existenz befördern werde, wie ihr andern Philosophen uns so sinnreich vorzuspiegeln wißt, wer wollte in den nackten Felsen von Seriphos 165 grau werden, wenn er nur seinen Kahn vom Ufer abzuschneiden brauchte, um in das zauberische Land der Hesperiden 166 oder in Platons überirdische Erde hinüber zu fahren? Denn was dieser seinen Sokrates über unsre vorgebliche Soldatenpflicht – »unsern Posten nicht eher zu verlassen bis wir abgelöst werden« – sagen läßt, überzeugt mich nicht; und ich sehe nicht ein, was meine Freiheit über mich selbst zu gebieten beschränken sollte, sobald meine dermalige Existenz nicht anders als unter unerträglichen Bedingungen verlängert werden kann.

Es ist sehr artig von dir, Lieber, daß du es in meine Wahl stellst, ob ich mit oder ohne Körper fortzuleben hoffen will. Als ich deinen Brief erhielt, saß ich eben einem großen Spiegel gegenüber, und (ich gestehe dir meine Thorheit) ich konnte mich nicht entschließen, bei meiner künftigen Reise in die Geisterwelt, nicht wenigstens die Gestalt, die mir entgegen sah, mitzunehmen, wenn ich auch allenfalls großmüthig genug seyn könnte, dem palpabeln 167 Theil meines dermaligen Doppelwesens zu entsagen. Ob ich selbst ein zu materielles Wesen bin, oder woran es sonst liegen mag, genug ich kann mich mit der Vorstellung einer so ganz ausgezogenen splitternackten Seele nicht befreunden; ein wenig Draperie muß um mich herfließen; darauf habe ich, wie du weißt, nun einmal meinen Kopf gesetzt. Der subtile Leib, den du meiner Seele zugestehst, würde mir also seiner Leichtigkeit und Gewandtheit [358] wegen nicht übel behagen; aber die Unsichtbarkeit, die du ihm (ich weiß nicht warum) beizulegen beliebst, steht mir nicht an, und ich muß dich bitten, ihn mit so viel Lichtstoff zu durchweben, daß er wenigstens aus einem halbdurchsichtigen Rosenwölkchen gebildet zu seyn scheine, und von meinen guten Freunden in der andern Welt ohne Anstrengung ihrer Augen gesehen werden könne. Die sublime Gestalt, worin ich dir im Traume zu erscheinen pflege, gibt mir gute Hoffnung, daß es gerade dieselbe seyn könnte, in welcher ich mich ihnen zu zeigen wünsche. Indessen wittre ich doch einige Schwierigkeiten, und ich möchte wohl wissen, wie du es z.B. mit der Geschlechtsverschiedenheit zu halten gedenkst? Ich gebe zu, daß ich bei der Umgestaltung in einen Adonis oder Nireus von Seiten der Schönheit mehr gewänne als verlöre; aber man ist doch immer lieber was man ist, und wenn der ätherische Leib, den du den Leuten in der andern Welt allenfalls noch lassen willst, nichts, was vermuthlich keinen Gebrauch mehr in derselben haben wird, behalten soll, so muß eine Gestalt heraus kommen, gegen welche ich meine jetzige nicht vertauschen möchte. Wie viel fällt bloß deßwegen weg, weil wir (denke ich) nicht mehr essen und trinken, oder wenigstens, um uns von Nektar und Ambrosia zu nähren, keine so animalischen Verdauungs- und Absonderungswerkzeuge nöthig haben werden, wie dermalen? Und was wollten wir mit Armen und Beinen machen, da vermuthlich alle die Bedürfnisse und Verrichtungen, wozu sie in diesem Leben nöthig sind, dort aufhören werden? Kurz, ich sehe nicht, was von unsrer jetzigen Organisation übrig bleiben könnte, als der [359] Kopf, an welchen etwa noch ein paar Flügel gesetzt werden könnten, die ihm zugleich zur Bewegung und zur Einhüllung dienen würden. Wirklich gefällt mir diese Idee immer besser je mehr ich ihr nachdenke, und mir ist ich würde mich an eine so leichte geistige Existenz in Gesellschaft guter und schöner Köpfe sehr bald gewöhnen können. – »Aber ein bloßer Kopf, meint die kleine Musarion, wäre doch ihre Sache nicht; sie kann sich keine Glückseligkeit ohne Liebe denken, und eine Liebe, die bloß im Kopfe sitzt, scheint ihr etwas so Kaltes und Langweiliges, daß sie lieber ganz darauf Verzicht thun wollte.« – Du kannst leicht denken, Aristipp, daß ich mich der Köpfe mit gehörigem Eifer annahm, und behauptete: was ihnen allenfalls an Feuer und Innigkeit abginge, würde reichlich dadurch ersetzt, daß sie die Liebe desto feiner zu behandeln, ihr mehr Reiz der Mannigfaltigkeit zu geben, und sie dadurch viel besser zu unterhalten und vor langer Weile und Sättigung zu verwahren wüßten, als wenn sich die Hypochondrien 168 mit ins Spiel mischten. Wir stritten uns lange darüber, und kamen zuletzt doch darin überein, daß unsre dermalige Art zu seyn vor der Hand wohl die beste seyn möchte. Dabei, lieber Aristipp, wollen wir's denn auch einstweilen bewenden lassen, und der guten Mutter Natur zutrauen, sie würde uns weder das Verlangen noch die Kraft ins Unendliche fort zu leben gegeben haben, wenn es nicht ihr Ernst wäre, daß mit der Zeit noch etwas Besser's aus uns werden sollte. Wie sie das anstellen will, ist ihre Sache; genug daß sie unser vollständigstes Zutrauen verdient, und (wie Plato weislich sagt) in allem andern so verständig zu Werke [360] geht, daß wir nicht zu besorgen haben, sie werde in diesem Punkte allein sich selbst ungleich seyn und nicht wissen, was sie mit uns anfangen wolle.

63. Aristipp an Lais
63.
Aristipp an Lais.

Es ist sehr natürlich, daß die Besitzerin eines Körpers, der den größten Künstlern das unerreichbare Ideal der Schönheit darstellt, sich nie von ihm zu trennen wünschet, und also wenigstens seine Gestalt, wäre sie auch nur aus Wolkenstoff gewebt, ins andere Leben mit hinüber nehmen möchte. Denn die Feinheit des Stoffes würde der Schönheit so wenig nachtheilig seyn, daß sie vielmehr dadurch erhöht werden müßte. Dessen ungeachtet, schöne Lais, scheint dein Widerwille gegen das, was du eine splitternackte Seele nennst, mehr von einer irrigen Vorstellung als von der Sache selbst herzurühren. Warum sollte es, was die Schönheit betrifft, mit der Seele nicht eben dieselbe Bewandtniß haben wie mit dem Leibe? So wie, nach der sehr wahrscheinlichen Behauptung unsers Freundes Skopas, ein untadelig schöner Leib durch jede Bedeckung in den Augen der Anschauer nur verlieren kann, und sich erst alsdann in seiner ganzen Glorie zeigt, wenn er ohne alle Hülle gesehen wird: so mag auch vermuthlich eine schöne Seele nur dann, wenn sie nach gänzlicher Entkleidung vom Stoff in ihrer eigenthümlichen Gestalt erscheint, durch unmittelbares[361] Anschauen des reinen Ebenmaßes aller ihrer Verhältnisse, und der Harmonie und Einheit, die in allen Theilen und Ausschmückungen ihres Innern herrschet, dem anschauenden Geist einen ungleich höhern Genuß der Vollkommenheit gewähren, als die Einwindelung in einen Körper zulassen kann, der, wenn er auch aus Licht und Aether gewebt wäre, doch nie so durchsichtig seyn könnte, daß er einem wahren Seelenliebhaber nicht noch viel zu wünschen übrig lassen sollte.

Doch, ich will auf dieser Idee um so weniger bestehen, da der plötzliche Uebergang aus unsrer gegenwärtigen Art zu seyn in die rein geistige ein Sprung wäre, dergleichen die Natur nicht zu machen pflegt. Ich halte mich also an deine Flügelköpfe, Laiska! eine so glückliche Vermuthung, daß ich beinahe schwören wollte, du müßtest es wirklich errathen haben. Freilich wird bei dieser Art von Seelenbekleidung niemand mehr gewinnen als du; aber dieß ist auch nur billig, da niemand mehr dabei aufopfert als du. Gewiß kann kein verständiger Schätzer des Werths der Dinge das letztere höher würdigen als ich; aber gleichwohl muß ich gestehen, ich habe mich in die Idee einer Welt von lauter Flügelköpfen bereits so stark verliebt, daß ich, wenn es nur auf mich ankäme, keinen Augenblick zögern wollte, dich und mich und alle die wir lieben auf der Stelle in eine solche Welt zu versetzen. Sollte die holde Musarion darauf bestehen, daß sie sich an dem bloßen Kopfe des schönen Kleonidas nicht begnügen könne, so könnten wir ihr zu Gefallen etwa noch so viel Leib hinzuthun, daß die Bewohner unsrer künftigen Welt die Gestalt geflügelter [362] Brustbilder bekämen; aber mit recht gutem Willen würde ich mich nie dazu bequemen. Denn es fällt auf den ersten Anblick in die Augen, daß die Idee der Flügelköpfe durch diesen üppigen Zuwachs an Masse die Hälfte von ihrer Schönheit verliert. Und warum? Bloß weil die gute Musarion sich die Mühe noch nicht genommen hat, ihr Vorurtheil gegen den Kopf in etwas genauere Untersuchung zu ziehen. Ich getraue mir zu behaupten, daß die Liebe, die ihren Sitz im Kopfe hat, nicht nur von edlerer und zärterer Natur, sondern auch schmeichelhafter sowohl für den Geliebten als den Liebenden ist, als die andere. Denn sie gründet sich, anstatt auf eine blinde und dem Verstande zuvoreilende Neigung, auf reines Anschauen der Vollkommenheiten des Geliebten. Sie ist weniger feurig und lodernd; aber ihre Flamme brennt desto heller, gleicher und anhaltender, verzehrt sich nicht selbst, und vermischt sich nicht mit so manchen andern Leidenschaften, welche über und unter dem Zwerchfelle nisten, und so leicht die Harmonie der Liebenden unterbrechen. Wollten wir die Nachgiebigkeit so weit treiben, unsre Köpfe in Büsten zu verwandeln, so möchten wir eben so mehr noch den ganzen übrigen Rumpf hinzuthun, und die reine Seelenliebe, die nur zwischen Köpfen stattfindet, durch Einmischung der Geschlechtsverschiedenheit vollends zu dieser vulgaren Leidenschaft herabwürdigen, die den armen Sterblichen so viel Noth und Plackerei macht, und von welcher auf immer befreit zu seyn, gewiß keiner der geringsten Vorzüge des Lebens in der Welt der Geister ist.

Ueberhaupt bitte ich nicht zu vergessen, daß wir (wie [363] Platons Sokrates sehr schön darthut) durch unsre Versetzung in diese letztere keine Befriedigung verlieren, die uns nicht durch viel höhere, unsrer geistigen Natur gemäßere Genüsse reichlich und überflüssig ersetzt werden; und daß Musarion, sobald sie selbst nichts als Kopf seyn wird, den Mangel des übrigen an sich selbst und ihrem Liebhaber eben so wenig spüren wird, als man in einer Welt, deren Bewohner nur vier Sinne hätten, einen fünften vermissen würde. Mit Einem Worte, Laiska, lassen wir es bei deiner Hypothese, welche, meines Erachtens, so sinnreich und philosophisch ist, daß Anaxagoras 169 der Geist und der sublime Weise von Samos 170 selbst Freude daran gehabt hätten, wofern die schöne Aspasia oder die edle Theano 171 so glücklich gewesen wären, dir mit Erfindung derselben zuvorzukommen. Ich wenigstens finde sie so tröstlich, daß ich die Entfernung von dir künftig ungleich besser ertragen werde als bisher, weil ich sie als eine Vorübung betrachte, wodurch wir beide in Zeiten angewöhnt werden, einander – leider! nichts als Kopf zu seyn.

Ich schreibe dir dieß auf einem reizenden Landgute im Panionion 172, wohin mich einer meiner Bekannten zu Ephesus eingeladen hat, und wo ich mir so wohl gefalle, daß meine Reise zu Hippias vermuthlich noch einige Zeit verschoben bleiben wird.

Wenn ich dir nur ein wenig lieb bin, beste Laiska, so erinnere dich, daß du mir schon mehr als einmal dein Bild versprochen hast. Ich bitte bloß um deinen Kopf – wohl zu merken, kein Brustbild! Ja, ich würde schon mit einem deiner Augen zufrieden seyn, wenn ein Maler in der Welt wäre, [364] der den Blick hinein oder vielmehr herausmalen könnte, womit du mir zu Aegina in der seligsten Stunde meines Lebens ewige Freundschaft angelobtest.

64. Kleonidas an Aristipp
64.
Kleonidas an Aristipp.

Ich bin mit meinem Geschäfte eher zu Stande gekommen als ich hoffen durfte. Beinahe alle Freunde des göttlichen Sokrates, die seine gerichtliche Ermordung und die Furcht vor den Verfolgungen seiner Feinde von Athen verscheucht hatte, haben sich nach und nach wieder zusammengefunden, und man begegnet ihnen mit so vieler Achtung, als ob man das an ihrem Meister begangene Unrecht dadurch zu vergüten suchte. Es gibt wohl sehr wenige Athener, die das Geschehene, wenn es möglich wäre, nicht ungeschehen zu machen geneigt wären: aber, was man mir schon zu Theben von der allgemeinen Trauer des Volks und von der Rache, die es an den Anklägern des verdienstvollen Greises genommen haben sollte, für gewiß erzählte, ist ohne allen Grund. Die Athener sind zu leichtsinnig und ruchlos, um einer tiefen, anhaltenden Reue über irgend eine ihrer Unthaten fähig zu seyn. 173

Mein Tod des Sokrates, der nun beinahe fertig ist, erhält durch eine Menge kleiner Umstände, die mir meistens von dem wackern alten Kriton an die Hand gegeben wurden, und vornehmlich durch die richtige, beim ersten Anblick kenntliche [365] Bezeichnung aller dabei gegenwärtigen Personen, einen Grad von historischer Wahrheit, der diesem Gemälde ein ganz eigenes Interesse gibt; so daß es (wie ich aus mehr als Einem Beispiel weiß) von niemand, der den Sokrates und seine Freunde öfters gesehen hat, ohne Rührung betrachtet werden kann. Der Maßstab von anderthalb Spannen, den ich für die proportionelle Größe der Figuren angenommen habe, trägt, wie ich glaube, zu der guten Wirkung des Ganzen vieles bei, theils weil es so bequemer mit einem Blick umfaßt wird, theils weil sich bei dieser Größe alles deutlich bezeichnen und ausdrücken läßt, ohne daß die künstliche Darstellung der Natur gar zu gleich sieht und sich selbst dadurch Schaden thut. In Lebensgröße würde ein solches Gemälde, wenn es gut gemacht wäre, kaum auszuhalten seyn.

Das Fest der Juno zu Samos und der Wettstreit der Künstler ist nun vorbei, und du hast vielleicht schon gehört, daß Timanthes mit seinem Ajas und Skopas mit seiner Aphrodite (die du zu Aegina entstehen sahst) beinahe mit allen Stimmen den Preis erhalten hat. Parrhasius, der einzige der meinem Freunde den Sieg streitig machen konnte, ist sehr übel mit dem Urtheil zufrieden von hier abgegangen. Es verdrieße ihn, sagte er, nur für seinen armen Helden 174, daß er nun zum zweitenmal gegen einen Unwürdigen habe verlieren müssen. Man muß beide Stücke selbst gesehen haben, um zu errathen, was die Richter bewogen haben könne dem Timanthes den Vorzug zu geben. In der That sind beide Gemälde vortrefflich, an beiden ist sehr viel zu loben, wenig oder nichts mit Recht zu tadeln. Beide sind mit großer [366] Kunst zusammengesetzt, groß gedacht und mit vielem Fleiß ausgeführt; auch haben beide Künstler eben denselben Augenblick der Handlung erwählt, nämlich den, da Odysseus unmittelbar nach dem Ausspruch der versammelten Achaier sich der Waffen des Achill bemächtiget. Ich gestehe, daß ich lange zwischen diesen beiden Meisterwerken ungewiß hin und her schwebte, bis ich mich endlich durch eben dasselbe Gefühl, das die Richter bewogen zu haben scheint, auf Timanthes Seite ziehen ließ. Sein zauberischer Pinsel besticht nämlich das Auge gleich beim ersten Anblick durch die Wärme und Harmonie seiner Färbung, und thut durch einen gewissen heroischen Geist, der das Ganze durchweht, und den schönen Ton, der alle Figuren und Gruppen zusammenbindet, eine stärkere oder wenigstens schnellere Wirkung als das Werk seines Antagonisten. Der letztere hat durch die äußerst sorgfältige Ausführung der einzelnen Figuren, und weil beinahe jede sich unsers Auges besonders zu bemächtigen strebt, über das Ganze eine gewisse Kälte verbreitet, die von dem Feuer des Timanthischen Stücks zu stark absticht, um nicht in den Augen der meisten Anschauer gegen dieses zu verlieren; wiewohl der Kenner immer wieder zu Betrachtung der einzelnen Theile in dem Werke des Parrhasius zurückkehrt, und immer mehr zu bewundern findet, je schärfer er untersucht. Merkwürdig ist die verschiedene Art, wie beide Künstler die zwei Hauptpersonen behandelt haben. Parrhasius läßt seinen Odysseus sich der ihm zugesprochnen Waffen mit einem beinahe höhnisch triumphirenden Blick auf seinen Mitbewerber bemächtigen, während Ajas in seinen von Odysseus abgewandten und über Agamemnon, Menelaus und [367] das Griechische Heer hinblitzenden Augen, so wie in seiner ganzen Miene und Gebärdung, Zorn und Verachtung ausdrückt, und den Griechen ihren Undank ohne alle Zurückhaltung vorzuwerfen scheint. Timanthes Ajas hingegen steht stumm und in sich selbst zusammengedrängt, mit dem ganzen furchtbaren Ausdruck einer verbiss'nen Wuth, die dem Ausbruch nah' ist, aber noch durch einen schmerzlichen innerlichen Kampf zurückgehalten wird, indeß sein Odysseus, über sein Glück erröthend, beinahe zu zweifeln scheint, ob er den Sieg wirklich erhalten habe. Die Samier, sagt man, sind ein sehr sinnreiches Volk und große Liebhaber der Homerischen Gesänge; jedermann bemerkte gegen seinen Nachbar, daß Timanth auf die Anrede des Odysseus an die zürnende Seele des Ajas, im fünften Gesang der Odyssee, angespielt habe; und diese Bemerkung that vielleicht mehr als alles andere, um den Sieg auf seine Seite zu entscheiden. Uebrigens muß ich von ihm anrühmen, daß er beim Empfang des Preises wie sein Ulysses erröthete, und, vielleicht aufrichtiger als der Homerische, durch den über einen so großen und ältern Meister erhaltenen Vorzug mehr gedemüthigt als aufgebläht zu seyn schien.

Timanth hat die Gewohnheit, alle seine vorzüglichen Werke für sich selbst zu copiren, und nicht selten ist das Nachbild noch vollkommner als das Original. Gegenwärtig ist er im Begriff die Copie eines großen Gemäldes zu vollenden, welches ein reicher Kunstliebhaber zu Argos bei ihm bestellt hat, und womit er in kurzem selbst dahin abzugehen gedenkt. Es stellt die Aufopferung der Iphigenia in Aulis vor, und ist [368] eines seiner schönsten Bilder. Iphigenia, eine ächte Gestalt aus der Heroenzeit, von hoher tadelloser Schönheit und in der ersten Blume der Jugend, steht am Altar, mit schwärmerischer Entschlossenheit bereit, sich für das Heil und den Ruhm ihres Vaterlandes zu opfern; ihre Stellung, ihr großes, zur Göttin aufgehobenes Auge, ihr ganzes Wesen scheint zu sagen, hier bin ich! und kein Zug verräth die auch nur leiseste Schwäche, wodurch das Wohlgefallen der Göttin an dem reinen jungfräulichen Opfer vermindert worden wäre. Um sie her stehen die Häupter der Achäer, Menelaus, Diomedes, Achilles, Odysseus u.s.w., und hinter ihnen in einem weiten Kreise das ganze Griechische Heer. Alle, selbst den Priester Kalchas nicht ausgenommen, zeigen sich in verschiedenen Graden, nach ihrem Charakter oder Verhältniß gegen das Haus Agamemnons, gerührt und theilnehmend; nur Agamemnon, der Vater selbst, steht zwar gegen den Altar gekehrt, aber das Gesicht mit einem Zipfel seines langen faltenreichen Talars bedeckt. Ich war eben bei Timanth in seiner Werkstatt, als ein junger Athener mit einem Paar andern Fremden kam, und sich die Erlaubniß ausbat, dieses Gemälde zu besehen, dessen Schönheit ihm sehr angerühmt worden sey. Alle drei ließen es an bewundernden Ausrufungen nicht fehlen; doch bemerkte Einer, mit einer bedeutenden Kennermiene, gegen seine Gefährten: ob ihnen nicht auch eine gewisse Kälte im Ausdruck des Schmerzes, den die umstehenden Helden zeigten, besonders beim Menelaus, der doch der Oheim der Prinzessin sey, zu herrschen scheine? Aber der Athener konnte nicht Worte genug finden, den sinnreichen Gedanken des Künstlers zu bewundern, [369] daß er, nachdem er alles was die Kunst vermöge, im Ausdruck der verschiednen Grade einer anständigen Betrübniß an den Umstehenden erschöpft habe, den Vater selbst verhüllt, und es dadurch der Einbildungskraft der Anschauer überlassen habe, das, was der Pinsel nicht vermocht, selbst zu ersetzen und gleichsam auszumalen. Ein andrer behauptete: diese Verhüllung sey gerade der möglichst stärkste Ausdruck des gränzenlosen väterlichen Jammers, und müsse eine weit größere Wirkung thun, als der höchste Schmerz, den das unverhüllte Gesicht Agamemnons hätte ausdrücken können. Timanth, nachdem er dem Streit dieser weisen Kunstkenner eine Zeitlang lächelnd zugehört hatte, sagte endlich: die Herren sind sehr gütig, mir so viel von ihrem eigenen Scharfsinne zu leihen; denn ich muß gestehen, daß ich bei der Verhüllung Agamemnons, so wie bei der Behandlung des ganzen Stücks, keinen andern Gedanken hatte, als die bekannte Scene in der Iphigenia des Euripides, gerade so, wie der Dichter sie schildert, und wie ich sie mehrmal auf der Schaubühne gesehen, darzustellen. Steckt in der Verhüllung irgend ein besonderes Verdienst, so gebührt alles Lob dem Dichter; ich zweifle aber sehr, daß sein Agamemnon einen andern Grund, warum er seinen Kopf einhüllt, hatte, als weil er sich selbst nicht so viel Stärke zutraute, daß er beim Anblick des tödtlichen Stoßes in die Brust seines Kindes Gewalt genug über sich behalten würde, um die Heiligkeit des Opfers nicht durch irgend einen ungebührlichen Ausbruch des Vatergefühls zu entweihen. Denn nach den Begriffen und Sitten jener Zeiten mußten solche Opfer, um von den Göttern mit Wohlgefallen aufgenommen [370] zu werden, freiwillig, ja mit fröhlichem Herzen dargebracht werden. Auch den übrigen Anwesenden war jeder stärkere Ausdruck von Schmerz und Betrübniß untersagt; das Schlachtopfer wurde mit Blumen bekränzt unter jubelnden Lobgesängen zum Altar geführt, und sogar nach Vollendung der Ceremonie war es weder Verwandten noch Freunden erlaubt, den Tod der geliebten Aufgeopferten durch irgend eine sonst gebräuchliche Handlung oder Sitte zu betrauern. Weit entfernt also daß ein Maler, der eine solche Geschichte bearbeitet, seine Kunst im Ausdruck der verschiedenen Grade des Schmerzes und der Traurigkeit erschöpfen dürfte, besteht seine größte Geschicklichkeit bloß darin, daß er die Umstehenden nicht mehr Theilnahme und Rührung zeigen lasse, als nöthig ist, daß sie nicht als Unmenschen oder ganz gefühllose Klötze dastehen. An die sinnreiche Idee, die Einbildungskraft der Anschauer ergänzen zu lassen, was der Pinsel des Malers oder die Kunst des Schauspielers nicht vermochte, hat Euripides vermuthlich so wenig gedacht als ich. Es dürfte doch wohl eine unerläßliche Pflicht des Künstlers seyn, der Einbildungskraft so viel nur immer möglich ist vorzuarbeiten; auch erfordert es eben keine außerordentliche Kunst, den höchsten Grad irgend einer Leidenschaft oder irgend eines Leidens mit Pinselstrichen auszudrücken. Aber gerade dieser höchste Grad ist dem Maler, wie dem Bildner, durch ein unverbrüchliches Gesetz der Kunst untersagt, weil er eine Verunstaltung der Gesichtszüge bewirkt, die das edelste Angesicht in ein widerliches Zerrbild verwandeln würde. – Der Athener stutzte einen Augenblick über diese authentische Erklärung aus dem Munde des Meisters [371] selbst, der doch wohl am besten wissen mußte was er hatte machen wollen; doch erholte er sich sogleich wieder, und versicherte uns mit einem großen Strom von Worten: er sey gewiß, daß er den wahren Sinn der Verhüllung errathen habe. »Das Genie (setzte er mit vieler Urbanität hinzu) wirkt oft als bloßer Naturtrieb, und selbst der größte Künstler, wenn er etwas unverbesserlich Gutes gemacht hat, ist sich nicht allemal der Ursache bewußt, warum es so und nicht anders seyn mußte.« – Als wir wieder allein waren, lachten wir beide herzlich über dieses kleine Abenteuer, und Timanth, dem dergleichen Kenner häufiger vorgekommen sind als mir, versicherte mich: es sey sehr möglich, daß das schiefe Urtheil dieses Menschen die öffentliche Meinung von seiner Iphigenia auf immer bestimme, und ihm, lange, nachdem die Zeit das Gemälde selbst zerstört haben werde, noch Lobsprüche zuziehe, die er sich schämen müßte verdient zu haben. 175

Der Umgang mit diesem liebenswürdigen Künstler ist mir so angenehm, und zugleich so belehrend und zuträglich in Rücksicht auf meine Liebhaberei, daß ich mich nicht entschließen kann, Samos eher zu verlassen, als bis er selbst abgehen wird. Er hat mir verschiedene wichtige Winke zum Vortheil meines sterbenden Sokrates gegeben, und ich hoffe ihr sollt es gewahr werden, daß mir ein solcher Meister zur Seite dabei gestanden hat.

Beinahe hätte ich vergessen, dir zu sagen, lieber Aristipp, daß ich mich bei Kriton und Cebes im Vertrauen erkundigte, ob man sich auf die Aechtheit der Gespräche, welche Plato dem Sokrates im Phädon zuschreibt, verlassen könne. Beide versicherten [372] mich, es wäre zwar die Rede von der geistigen Natur der Seele und von ihrem Zustande nach dem Tode gewesen; aber Plato hätte so viel von dem Seinigen eingemengt, und die Zusätze so künstlich mit dem, was Sokrates wirklich gesagt habe, zu verweben gewußt, daß es ihnen selbst, wofern sie eine Scheidung vornehmen müßten, schwer seyn würde jedem das seinige zu geben. Ebendasselbe sagte mir der wackere alte Kriton auch von dem Dialog, welchem Plato seinen Namen überschrieben hat, und worin, unter anderm, die schöne Rede der personificirten Gesetze, und überhaupt die dialektische Form der Fragen und Antworten, ganz auf Platons Rechnung komme. Uebrigens haben diese beiden Dialogen viel Aufsehen in Athen gemacht, und wegen der klugen Schonung, womit die Athener darin behandelt werden, und des schönen Lichts, in welchem der sittliche Charakter des Sokrates darin erscheint, nicht wenig zu der günstigen Stimmung beigetragen, welche dermalen über ihn und seine Anhänger zu Athen die herrschende ist.

Du würdest mir keine kleine Freude machen, Aristipp, wenn du deine beschlossene Reise nach Samos so beschleunigen wolltest, daß du Timanthen noch anträfest; wozu die Gelegenheit vielleicht nie wieder kommt. Auch Hippias erwartet dich mit Ungeduld.

65. Aristipp an Lais
[373] 65.
Aristipp an Lais.

Es bedarf wohl keiner Betheurung, schöne Lais, daß wenn ich meiner Neigung Gehör gäbe, Kleonidas nicht ohne mich nach Milet zurückreisen sollte; auch schmeichle ich mir, nach dieser neuen Probe von Selbstüberwindung für einen tapfern Mann bei dir zu gelten. Ich würde nicht wenig stolz darauf seyn, wenn ich mir verbergen könnte, daß das Vergnügen, in meinen eigenen Augen einen desto größern Werth zu haben, auch mit in Rechnung gebracht werden muß, und daß bei allen meinen Aufopferungen am Ende doch niemand gewinnt als ich selbst. Wird nicht die Freude des Wiedersehens um so überschwänglicher seyn, je länger sie aufgespart wird?

Ich habe hier unvermuthet Gelegenheit gefunden, mich in einigen Wissenschaften zu üben, die mit in meinen Plan gehören, und einem Manne, der nach der möglichsten Ausbildung trachtet, nicht nur zur Zierde gereichen, sondern der Seele selbst einen höhern Schwung und eine ganz andere Ansicht der Natur und des großen Ganzen, in welches wir eingefugt sind, geben, als diejenige an welche wir durch ununterbrochnes Herumtreiben in dem engen Kreise des alltäglichen Lebens unvermerkt gewöhnt werden. Ich liebe, wie du weißt, die Vielseitigkeit; ich kann zu gleicher Zeit die verschiedensten Dinge treiben, und mich mit den ungleichartigsten Menschen so gut vertragen, daß jeder mich für seinesgleichen, oder wenigstens [374] für ein Subject von ganz guter Hoffnung gelten läßt. Hippias, bei welchem ich gewöhnlich den Abend zubringe, würde nicht begreifen, wie ich so viele Zeit mit Pythagoräischen Phantasten verderben könne, wenn er nicht glaubte, es geschehe bloß um sie auszuholen und mich am Ende desto lustiger über sie zu machen: diejenigen hingegen, die er Phantasten nennt, wissen sich meinen Umgang mit Hippias nicht anders zu erklären, als durch die Voraussetzung, daß ich hinter alle seine Sophistenkünste und Blendwerke zu kommen suche, um ihn und seinesgleichen zu seiner Zeit mit desto besserm Erfolge bekämpfen zu können. Das Wahre ist indessen, daß ich von den Pythagoräern rechnen und messen lerne, und bei Hippias mich dem Vergnügen einer freien genialischen Unterhaltung überlasse, die, ungeachtet ihrer anscheinenden Frivolität, für einen, der alles an seinen rechten Ort zu stellen weiß, immer lehrreich und nützlich ist.

Du wirst finden, liebe Lais, daß Kleonidas durch seine zeitherigen kleinen Reisen unter den Griechen viel gewonnen hat. Mit seinen herrlichen Anlagen bedurft' es nur einiger äußern Veranlassungen, um sich zusehends zu entwickeln und auf einmal als ein vollendeter Mensch dazustehen. Ich rechne darauf, daß er dich meine Abwesenheit so wenig bemerken lassen wird, daß ich vielmehr bei jeder andern, als bei dir, Gefahr liefe gänzlich vergessen zu werden.

66. Lais an Aristipp
[375] 66.
Lais an Aristipp.

Kleonidas ist ohne dich zurückgekommen, Aristipp, und der Gedanke, daß es Leute zu Milet gebe, die sich dadurch in ihrer Erwartung getäuscht finden könnten, scheint nur sehr leicht über deinen heroischen Busen hingeschlüpft zu seyn. Du bist, sagt Kleonidas, bis über die Ohren in Pythagorischen Zahlen versunken, studirst die Verhältnisse der Saitenschwingungen auf dem Monokord, und bringst mit einem Zögling des berühmten Philolaus 176 ganze Nächte zu, auf der Zinne eines alten Thurms die Bewegungen der Planeten zu beobachten. Das alles ist schön und bewundernswürdig; und doch, wie schnell auch deine Lieblingsneigung, alles und wo möglich noch ein wenig mehr als alles zu wissen, zu einer so mächtigen Leidenschaft angeschwollen seyn mag, eine kurze Unterbrechung würde deinen Eifer nur verdoppelt haben, und die Reise von Samos nach Milet ist, für einen so geübten Seefahrer wie du, etwas so Unbedeutendes, daß ich, um mir das Problem zu erklären, am Ende doch genöthiget bin, einen kleinen Sokratischen Iynx zu Hülfe zu nehmen der dich an den Samischen Boden fest zaubert. Hab' ich recht gerathen, so wirst du mir hoffentlich kein Geheimniß aus deinem Glücke machen, da du nicht zweifeln kannst, daß ich zu sehr deine Freundin bin, um nicht lebhaften Antheil daran zu nehmen.

67. Aristipp an Lais
[376] 67.
Aristipp an Lais.

Auf den kleinen Brief, den ich so eben von dir erhalte, schöne Lais, ist nur eine einzige Antwort möglich, und um sie dir selbst zu bringen, gehe ich stehendes Fußes nach der Rhede, miethe ein Boot und schwimme zu dir hinüber. – Mit aller meiner Eile habe ich doch nicht eher bei deiner Pforte anlanden können, als zu einer Stunde, wo ich Gefahr laufe dich in irgend einem schönen Traume zu stören. Ich habe einige Mühe gehabt deinen Pförtner zu erwecken, und noch größere, von ihm eingelassen zu werden. Nur durch tausend Schwüre, daß ich dir ohne allen Verzug Dinge von der größten Wichtigkeit zu hinterbringen hätte, erhielt ich endlich von dem ehrlichen Paphlagonier, daß er eine deiner Dienerinnen wecken wolle, die dir, wenn sie anders nicht noch ungefälliger als der Pförtner ist, dieses Zeichen meiner Gegenwart überreichen wird.

Antwort.

Dießmal, mein Lieber, hat dir deine Philosophie einen losen Streich gespielt; denn, unter allen möglichen Antworten auf mein letztes, bist du gerade auf die einzige gefallen, die du nicht hättest geben sollen. Oder woher konntest du wissen, mein voreiliger Herr, daß du mir nicht ungelegen kommest? [377] – Wie ist nun zu helfen? Das Beste wäre wohl, wenn ich dich auf der Stelle wieder zurückschickte; wenigstens ist es, was ich thun müßte, wenn ich den Eingebungen deines bösen Genius Gehör gäbe. Soll ich? Soll ich nicht? Es ist ein Unglück, daß ich gerade keine bessere Rathgeberin bei der Hand habe, als die schelmische Euphorion, die zu den Füßen meines Bettes liegt, und, ich weiß nicht warum, deine Partei mit solcher Wärme nimmt, daß ich eben so mehr dem Rath meines eignen Herzens folgen könnte, als dem ihrigen. – Du gehst also wieder, nicht wahr? Es wäre wirklich schön von dir, wenn es auch nur der Seltenheit wegen wäre. – Was will das unverschämte Mädchen? – Da guckt sie mir über die Achseln in meine Schreiberei, und wie sie sieht, daß ich dir deinen Rückpaß schreibe, zieht mir nicht das unartige Ding die Schreibtafel unter den Händen weg und läuft mit ihr davon? 177

68. Lais an Aristipp
68.
Lais an Aristipp.

Ich habe, seit einiger Zeit, einen Abend in jeder Dekade dazu bestimmt, eine Tischgesellschaft von Philosophen, Sophisten, oder Phrontisten 178 (wenn du ihnen lieber einen Aristophanischen Namen gibst) bei mir zu sehen. Doch muß ich dir sagen, daß diese Benennungen in meinem Wörterbuche nicht für gleichbedeutend gelten. Jede bezeichnet mir eine besondere Classe der [378] Hauptgattung, die man im gemeinen Leben mit dem allgemeinen Namen der Sophisten zu belegen gewohnt ist. Es gibt eine Art heller Köpfe, welche die Ausbildung einer glücklichen Anlage hauptsächlich dem Leben in der wirklichen Welt und den mannichfaltigen Gelegenheiten und Aufforderungen zum Nachdenken, die ihnen darin aufgestoßen sind, zu danken haben. Sie zeichnen sich durch einen schärfern Blick in die menschlichen Angelegenheiten von den beiden andern Classen aus, welche gemeiniglich in der Welt um sie her so fremd und neu sind, als ob sie eben erst aus der berühmten Platonischen Höhle 179 hervorgekrochen wären. Jene sind meistens eben so vielseitig und geschmeidig als fein und an sich haltend; sie entscheiden selten, kleben nicht hartnäckig an ihren Meinungen, widersprechen mit Bescheidenheit, glauben wenig zu wissen, und unterrichten oft mit ihrer Unwissenheit besser, als die positiven Herren mit ihrer Allwisserei. Ich gestehe meine Vorliebe zu den Mitgliedern dieser Classe, die eben nicht sehr zahlreich ist, und die ich, wiewohl sie die Philosophie nicht als ein Geschäft treiben, Philosophen in der eigentlichen Bedeutung des Worts nenne. Sophisten heißen bei mir euere Philosophen von Profession, die dem Speculiren bloß um des Speculirens willen obliegen, und bei gesellschaftlichen Gesprächen, wie interessant auch der Gegenstand seyn mag, keinen andern Zweck haben als Recht zu behalten. Gehen diese dialektischen Herren in der Grübelei so weit, daß sie genöthigt sind, für Begriffe, die niemand hat als sie, neue Wörter zu erfinden, die niemand versteht als sie, so nenne ich sie Phrontisten. Ich habe nur einen einzigen dieses Schlags in meinen Cirkel aufgenommen, weil er seine [379] Spinnenweberei mit einer drolligen Art von Laune treibt, und wenn die Unterhaltung einen gar zu ernsthaften und schwerfälligen Gang nehmen will, immer zu seiner eigenen Verwunderung Mittel findet, die Gesellschaft durch die sublime Absurdität seiner Behauptungen wieder in den rechten Ton zu stimmen. Um dem gewöhnlichen Schicksal solcher Gesellschaften desto sicherer zu entgehen, werden außer Kleonidas und Musarion immer auch zwei oder drei schöne und geistvolle Milesierinnen aus Aspasiens Schule eingeladen, mit deren Hülfe es mir bisher noch so ziemlich gelungen ist, meine kampflustigen Symposiasten in den Schranken der Urbanität zu erhalten.

In unsrer letzten Sitzung lenkte einer unsrer Sophisten das Gespräch auf die Frage, was das höchste Gut des Menschen sey? – In allen Dingen immer nach dem Höchsten zwar nicht wirklich zu streben, aber wenigstens den Schnabel aufzusperren und darnach zu schnappen, ist, wie du weißt, eine angeborne Eigenheit der menschlichen Natur. Das Problem erregte also allgemeine Aufmerksamkeit, und verschaffte uns den ganzen Abend reichen Stoff zu mannichfaltiger Unterhaltung. Jede anwesende Person hatte ihr eigenes höchstes Gut, welches sie (vermöge eines andern unserer Naturtriebe) zum allgemeinen zu erheben suchte. Einer meinte, dieser Vorzug könne nur demjenigen Gute zuerkannt werden, das uns, auf der einen Seite, allen vermeidlichen Uebeln entgehen, und alle unvermeidlichen ertragen lehre; auf der andern uns in den Besitz des besten von allem Guten, dessen wir fähig sind, setze, und uns alles Uebrige entbehrlich mache; und dieß könne, seiner Meinung nach, nichts anders als die Weisheit seyn.

[380] Ein anderer behauptete, nur die Tugend vermöge das alles; und nachdem sie sich eine Weile darüber gestritten hatten, verglich sie einer meiner Philosophen, indem er klar machte, daß Weisheit und Tugend nur zwei verschiedene Ansichten und Benennungen einer und eben derselben Sache seyen; so daß endlich alle drei, zum Erstaunen der ganzen Gesellschaft, die ein solches Wunder noch nie gesehen hatte, friedlich übereinkamen, die Sokratische Sophrosyne, welche Weisheit und Tugend zugleich bezeichnet, für das höchste Gut zu erklären.

Sophrosyne, sagte ein vierter aus der Familie des Hippokrates, ist Gesundheit der Seele; ein großes und wesentliches Gut, aber ohne Gesundheit des Leibes doch nur die Hälfte des höchsten Gutes. Gesundheit von beiden ist die nothwendige Bedingung des Genusses alles andern Guten, so wie das Gegentheil derselben alle andern Uebel in sich begreift: das höchste aller Güter ist also Gesundheit.

Nachdem der Enkel des großen Hippokrates seinen Satz mit stattlichen Gründen ausgeführt hatte, nahm Kleonidas das Wort und bewies mit allem Feuer, womit ihn die Augen der gegen ihm über sitzenden Musarion reichlich versahen, und mit großem Beifall des weiblichen Theils der Gesellschaft: »das höchste Gut verdiene nur das genennt zu werden, dessen reinster Genuß uns den Göttern an Wonne gleich mache;« und nun berief er sich mit einem Ernst, der ein allgemeines Lachen erregte, auf das Gewissen aller Anwesenden, ob wir etwas anderes kennten, von welchem sich dieß mit so viel Wahrheit sagen lasse, als die Liebe?

[381] Wider beide erhob sich ein sechster, und bewies gegen den Arzt: »die Gesundheit könne schon darum nicht selbst das höchste Gut seyn, weil sie nur eine Bedingung des Genusses desselben sey;« gegen Kleonidas: »seine Behauptung könnte allenfalls nur von der glücklichen Liebe gelten;« und gegen beide: ein Gut, das nicht immer in unsrer Gewalt sey, könne nicht das höchste Gut des Menschen heißen. Indessen schien er ziemlich verlegen zu seyn, etwas Besseres aufzustellen, als der Hausmeister, der uns in den Speisesaal berief, einem meiner Philosophen Gelegenheit gab, mit einer scherzend ernsten Miene zu behaupten: wenn eine Gesellschaft von Repräsentanten des ganzen menschlichen Geschlechtes sich den ganzen Tag über diese Frage gestritten hätte, so würde eine wohlbesetzte Tafel sie endlich dahin vereinigen, daß alle – wenigstens gerade so thun würden, als ob sie die angenehmste Befriedigung der Eßlust für den höchsten Genuß hielten, den die Natur dem Menschen vergönne, so lange Zunge und Gaumen die empfindlichsten seiner Organe, und der Magen das große Rad bleibe, wodurch seine Existenz im Gang erhalten werde.

Ich muß der ganzen Gesellschaft die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie sich zwei Stunden lang, jedes in seiner Manier, beeiferte, der Hypothese des Philosophen Ehre zu machen. Mitunter wurde viel Schönes zum Preis der Kochkunst gesagt, und (nicht ohne Grund, dünkt mich) behauptet: »Daß sie eine der ersten Stellen unter den schönen Künsten verdiene, und einen der wesentlichsten Vorzüge des Menschen vor den übrigen Thieren ausmache«. Auch dem Erfinder des [382] Weins wurde mit vieler Andacht ein schallender Lobgesang angestimmt, und der Becher der Freude war kaum dreimal herumgegangen, als verschiedene von unsern Weisen ziemlich naiv merken ließen, daß es nur einiger Aufmunterung von Seiten der schönen Milesierinnen bedurft hätte, um die Verfechter der Weisheit und Tugend über die schmale Gränzlinie der Sokratischen Sophrosyne hinüberzulocken. Als aber zum Schluß des Gastmahls der große Sesamkuchen 180 aufgetragen wurde, bemächtigte sich der Phrontist (der unter dem Essen der stillste und geschäftigste von allen gewesen war) des Worts mit allgemeiner Einstimmung, und bewies uns, nachdem er seinen Kuchen einem hinter ihm lauernden kleinen Bedienten einzusacken gegeben hatte, 181 aus voller Selbstüberzeugung: »das höchste Gut bestehe in dem Entschluß, freiwillig aller Dinge außer uns zu entbehren, und den reinsten und vollständigsten Selbstgenuß im bloßen Daseyn zu finden.« Zur Erläuterung dieses paradoxen Satzes brachte der Mann anfangs einige kurzweilige Dinge vor; z.B. einen Beweis, daß die Menschen durch eine künstliche Verminderung der Ausdünstung und eine allmähliche Austrocknung des Magens zuverlässig so weit kommen könnten, bloß von Luft und Wasser zu leben; ingleichen daß das gesellschaftliche Leben und die Sprache als die zwei größten Hindernisse unsrer Vervollkommnung anzusehen seyen, und es also ohne eine gänzliche Absonderung der Menschen von einander nie möglich seyn werde, zu jener reinen Existenz an sich selbst, und in sich selbst, und durch sich selbst und für sich selbst zu gelangen, in welcher unser höchstes Gut bestehe. Dieser Unsinn schien eine Zeit lang die ganze Gesellschaft [383] zu belustigen: aber als unser Phrontist, um uns desto gründlicher zu überzeugen, sich von einer Abstraction zur andern empor arbeitete, und endlich so hoch über die Region des Menschenverstandes hinauf gekommen war, daß er uns Erklärungen von Worten, wobei nichts zu denken war, und Worte für Begriffe, die keinen Gegenstand hatten, geben wollte, wurde er durch einen allgemeinen Aufstand unterbrochen, und an das ewige Schweigen erinnert, das er sich durch seine Grundsätze selbst auferlegt habe. Alle übrigen vereinigten sich nun in dem Wunsche, daß Aristipp zugegen seyn möchte, um den Ausspruch zu thun, welche der vorgetragenen Auflösungen des Problems die wahre sey, oder, wofern er keine dafür halte, uns seine eigene mitzutheilen.

Ich versprach, dich von allem Vorgegangenen zu benachrichtigen, und da ich dich für zu bescheiden hielt das Amt eines Richters zu übernehmen, dich wenigstens zu bewegen, uns deine Meinung von der Sache zu sagen. Ich verspreche mir von deiner Gefälligkeit, Freund Aristipp, du werdest nicht wollen, daß ich vergebens drei lange Stunden mit dem Schreibstift in der Hand auf meinem Faulbettchen gesessen haben soll. – Ich darf nicht vergessen, daß wir uns ausbitten, die hiermit an dich gelangende Frage einer genauern Aufmerksamkeit zu würdigen, und uns deine Gedanken, ohne Sokratische Ironie, in ganzem Ernst mitzutheilen.

69. Aristipp an Lais
[384] 69.
Aristipp an Lais.

Du hast wohl gethan, schöne Lais, daß du mich ausdrücklich angewiesen hast, mich über das seltsame Problem, womit dich deine gelehrte Tischgesellschaft neulich unterhalten hat, ernsthaft vernehmen zu lassen; denn ich gestehe, daß die Frage: »was das höchste Gut des Menschen sey?« in meiner Vorstellungsart etwas Lächerliches hat, und daß mir nie eingefallen wäre, sie könnte von so weisen Männern, wie die bärtigen Genossen deiner sophistischen Symposien sind, in wirklichem Ernst aufgeworfen und beantwortet werden. Meine erste Frage bei jeder Aufgabe dieser oder ähnlicher Art, ist: wozu soll's? Bei dieser, dünkt mich, fällt es auf den ersten Blick in die Augen, daß es uns zu nichts helfen könnte, das Höchste zu kennen, da es uns doch, eben darum, weil es so hoch über uns schwebt, unerreichbar ist. In dieser Rücksicht möchte wohl der Aesopische Fuchs, der die Trauben, die ihm zu hoch hingen, für sauer erklärte, mehr praktische Weisheit gezeigt haben, als wir, wenn wir uns die Augen aus dem Kopfe gucken, um in einer so schwindlichten Höhe ein Gut zu entdecken, welches wir mit allen unsern Sprüngen doch nie erschnappen werden. Beim Genuß eines Guten kommt es nicht auf die Größe desselben, sondern auf unsre Empfänglichkeit an. Das erfreulichste aller Dinge, das Licht, ist für den Blinden nichts; an der festlichsten Tafel des großen Königs kann der gierigste Fresser nicht mehr zu sich nehmen als sein [385] Magen faßt; und einer Mücke kann es gleich viel seyn, ob sie aus einer Muschelschale oder aus dem Ocean trinkt. Du selbst, schöne Lais, hast, indem du mir das Problem vorlegst, mit einem einzigen Aristophanischen Worte verrathen, daß die Unart der Menschen, »die Schnäbel immer nach unerreichbaren Dingen aufzusperren,« dir selbst eben so lächerlich ist als mir. Indessen du willst daß ich ernsthaft von der Sache spreche, und ich gehorche um so williger, da vielleicht am Ende doch ein Resultat herauskommen dürfte, das die Mühe des Weges bezahlt, auf welchem wir es gefunden haben.

Vor allen Dingen also wollen wir uns erinnern, daß die Wörter gut und böse (wie alle andern, welche irgend eine Beschaffenheit oder Eigenschaft, die wir den Dingen zuschreiben, bezeichnen) immer von solchen Gegenständen gebraucht werden, welche nur in ihrer Beziehung auf uns, d.i. unserm Gefühl, unsrer Einbildung oder unserm Urtheil nach, gut oder böse sind. Alles was ist, mag an sich sehr gut seyn; aber das braucht uns nicht zu kümmern, denn es kann uns nichts helfen. Wir haben bloß zu fragen: ob ein Ding uns gut oder böse sey? das ist, ob es uns wohl oder übel bekommen werde. Der Krokodil ist in der Leiter der Naturwesen was er seyn soll, und also in seiner Art so gut als ein anderes Thier; aber für die Anwohner des Nils ist er ein sehr schlimmer Nachbar.

Die Frage, »was ist für den Menschen gut oder böse,« ist also immer eine mehr oder minder verwickelte Aufgabe, bei deren Auflösung das meiste auf Ort, Zeit und Umstände ankommt. Dasselbe Wasser, das in Fässern und Krügen dem [386] Seefahrer unentbehrlich ist, taugt nichts im Schiffraum; dasselbe Feuer, das auf dem Herde gut ist unsre Speisen zu kochen, würde in einer angefüllten Scheune großes Unglück anrichten; eben derselbe Trank ist dem Kranken Arznei, dem Gesunden Gift; oder in dieser Krankheit in kleiner Gabe heilsam, in einer andern, und in größerer Portion genommen, tödtlich. Ich zweifle sehr, oder ich behaupte vielmehr für gewiß, daß man mir im ganzen Umfang der Natur, selbst unter den nützlichsten und unentbehrlichsten Dingen kein einziges nennen könne, das auf andere Weise als unter gewissen Bedingungen und Einschränkungen gut für uns ist. Das Nämliche gilt von allen Beschaffenheiten, Natur- und Glücksgaben, die dem Menschen beiwohnen, wie von allen Lagen und Zuständen, worin er sich befindet. Vollkommene Gesundheit (ein so hohes Gut, daß ein König, wenn er von den natürlichen Strafen der Unmäßigkeit gefoltert wird, sie mit der Hälfte seines Reichs zurückzukaufen wünscht) ist für den, der sie mißbraucht, eines der größten Uebel. Schönheit, Witz, Talente, Reichthum, hohe Ehrenstellen, Macht, Scepter und Kronen, wie oft haben sie schon ihre Besitzer ins tiefste Elend und Verderben gestürzt? Ist doch sogar das Leben, die erste Bedingung alles Genusses, selbst nur bedingungsweise ein Gut, und wird täglich von vielen Tausenden entweder aus Pflicht oder zu Befriedigung dieser oder jener Leidenschaft in die Schanze geschlagen! Sogar Wahrheit, Gerechtigkeit, Weisheit und Tugend, wie schön und gut sie sich in der Idee dem Verstande darstellen, sind doch nicht unter allen Umständen und Beziehungen, für jeden Menschen in jeder Bedeutung des Worts, gut. [387] So ist, z.B. nicht gut die Wahrheit zur Unzeit oder auf eine ungeschickte Art zu sagen; so ist nicht jedem gut, alles Wahre zu wissen; so ist möglich, daß ein gerechter Richter mir Unrecht thut, indem er mich nach einem gerechten Gesetze verurtheilt; so ist das höchste Recht zuweilen Unrecht; so gibt es keine Tugend, die für den, der sie ausübt, nicht entweder durch irgend einen äußerlichen Umstand oder durch seine eigene Schuld zu einer Quelle von wirklichen Uebeln für ihn selbst und andere werden könnte; so kann was an dem einen Weisheit ist, an einem andern Thorheit seyn, u.s.w. Wenn nun alles, was die Menschen gut nennen, nur unter gewissen Umständen und Einschränkungen, also nur durch rechten und weisen Gebrauch wirklich gut für uns ist; wenn das Gute unter gewissen Bedingungen zum Uebel, und aus gleichem Grunde, das Böse zum Gut werden kann: wird nicht, aller Wahrscheinlichkeit nach, eben dasselbe von jedem höhern, und so endlich auch von dem höchsten Gute gelten? Klingt es aber nicht widersinnig, daß das höchste Gut, bei veränderten Personen und Umständen, das höchste Uebel seyn könnte?

Die bisherige Betrachtung scheint uns das glänzende Phantom, dem wir nachgehen, immer weiter aus den Augen gerückt zu haben. Lass' uns versuchen, ob wir ihm vielleicht auf einem andern Wege wieder näher kommen werden. Wir suchen das höchste Gut des Menschen. Die erste Frage müßte also seyn: was ist der Mensch? Die Natur stellt lauter einzelne Menschen auf, und es fehlt viel, daß diese nichts als gleichlautende Exemplarien eines und ebendesselben Originals seyn sollten. Der Mensch ist also entweder bloß ein collectives [388] Wort für die sämmtlichen einzelnen Menschen, vom ersten Paar, das aus dem Schooß der Erde oder des Wassers hervorging, bis zu den letzten, die das Unglück oder Glück haben werden, die nächste, unsrer Welt von den Pythagoräern geweissagte, Verbrennung zu erleben 182, – oder es bezeichnet einen idealischen Koloß, der aus dem, was alle Menschen gemein haben, gebildet ist, und wovon, nach Plato, der bloße Schatten durch die Ritzen unsers Kerkers in unsre Seele fällt, indeß das Urbild selbst in der intelligibeln Welt der Platonischen Ontoos Ontoon 183 wirklich vorhanden ist. Da ein bloßer Schatten, zumal der Schatten eines bloß intelligibeln Dinges, ein gar zu dünnes, leeres und flüchtiges Unding ist, um ein brauchbares Resultat zu geben, so werden wir uns wohl an den ersten Begriff halten müssen, der als eine Prosopopöie 184 des ganzen Menschengeschlechts betrachtet werden kann.

Um die Menschen, so wie sie als die regierende Familie im Thierreich wirklich und leibhaft auf dem Erdboden herumwandeln, so viel möglich mit Einem Blick zu übersehen, wollen wir uns, mit deiner Erlaubniß, Laiska, in Gedanken entweder mit dem Trygäus 185 des Aristophanes auf einen Balcon der Jupitersburg, oder auf die höchste Thurmspitze seiner Nephelokokkygia 186 stellen, und dann sehen – was zu sehen seyn wird. Das erste, denke ich, ist die erstaunliche Verschiedenheit dieser sonderbaren Thiere, die man unter dem collectiven Namen Mensch zu begreifen genöthigt ist, da sie, bei der auffallendsten Ungleichheit unter sich selbst, gleichwohl von allen andern Thierarten zu stark abstechen, um zu einer derselben gerechnet werden zu können. Wir sehen einige in kleiner [389] Anzahl, nackend oder nur sehr dürftig bekleidet und mit Bogen, Pfeilen und Spießen bewaffnet, in ungeheuren Wäldern umherschweifen, wo ihr beinahe einziges Geschäft ist, die wilden Thiere zu verfolgen die ihnen zur Speise und zur Kleidung dienen. Andere finden wir an den Ufern großer Seen beschäftigt, mit Angelruthen oder Netzen dem Wasser einen oft kärglichen Unterhalt abzuverdienen. Wieder andere bringen unter mildern Himmelsstrichen ihr Leben mit Viehzucht und Hütung ihrer Heerden hin; und noch andere, genöthigt die geringere Freigebigkeit der Natur durch strenge Arbeit zu ersetzen, sehen wir mit den ersten Anfängen des Ackerbaues, der Gärtnerei, der Baukunst und Schifffahrt beschäftigt. Alle diese verschiedenen Menschengeschlechter leben in einer Art von thierischer Freiheit, mehr oder weniger armselig, oft kümmerlich, aber wenn sie nur nothdürftig zu leben haben, mit ihrem Zustande zufrieden, weil sie keinen bessern kennen.

Was meinst du nun, daß diese Jäger, Fischer, Hirten und Pflanzer, die sich noch glücklich preisen, wenn sie mit mühseliger Anstrengung aller ihrer Kräfte sich des nothdürftigsten Unterhalts für einige Tage oder Monate versichern können, was meinst du, daß sie sich für eine Vorstellung von dem höchsten Gute machen? Frage sie, und du wirst hören, daß ihre üppigsten Wünsche nicht über eine glückliche Bärenjagd, einen starken Fischzug, die Verdopplung ihrer Heerden, und eine reichliche Ernte hinausgehen; und erschiene ihnen ein Gott, der es in ihre Wahl stellte, was sie von ihm erbitten wollten, weder ihre Einbildungskraft noch ihre Vernunft würde sie weiter führen, als zu der hohen Glückseligkeit ihr [390] Leben lang ohne Mühe, Gefahr und Arbeit – die Forderungen ihres Magens befriedigen zu können.

Diese Naturmenschen machen indeß, wiewohl sie vielleicht den größten Theil des Erdbodens einnehmen, den kleinsten des Menschengeschlechts aus. Der weit größere lebt in bürgerlicher Gesellschaft, wenige in Freistaaten, wo anfangs die Noth, in der Folge das Verlangen nach Wohlstand, Reichthum und Ansehen, unter dem belebenden Einfluß einer durch weise Gesetze zugleich begünstigten und eingeschränkten Freiheit, alle Arten von Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten, Leibes- und Geistes-Uebungen, Handarbeiten, Künste und Wissenschaften hervorgebracht, und zum Theil auf eine bewundernswürdige Höhe getrieben hat. Diese über ein großes Stück von Asien und Europa und die nördliche Küste von Libyen verbreiteten, mehr oder weniger ausgebildeten Menschen scheinen, beim ersten Ueberblick, sich zu jenen rohen Kindern der Natur wie die Götter zu den Menschen zu verhalten: forschen wir aber genauer nach, so werden wir uns bald überzeugen, daß unter einer Myriade policirter Menschen neuntausend sind, die sich über haupt viel weniger glücklich, ja oft viel unglücklicher fühlen oder wähnen, als jene nackten Waldmänner, Troglodyten 187 und Ichthyiophagen 188. Denn bei weitem die größere Zahl lebt in Armuth und Mangel an allen Bequemlichkeiten; genießt wenig oder nichts von den Früchten des anscheinenden Wohlstands und Reichthums des Staats; muß, um einer kleinen Anzahl üppiger Müßiggänger ein prachtvolles und wollüstiges Leben zu verschaffen, über Vermögen arbeiten, und sich oft schlechter nähren als die [391] Wilden, und, damit an ihrem Elend nichts fehle, geduldig zusehen, wie die Müßiggänger sich auf ihre Unkosten wohl seyn lassen. Nun frage ich dich abermal: was dünkt dich daß für die neunzighundert Theile der policirten Menschheit nach ihrer eigenen Schätzung, das höchste Gut seyn werde? Wir wollen sie selbst nicht fragen; denn sie sind nicht unverdorben genug, uns, wie ihre Brüder in den Wäldern des Atlas, Kaukasus und Imaus, die wahre Antwort zu geben. Aber rechne darauf, daß sie sich von keiner höhern Glückseligkeit träumen lassen, als täglich zu leben wie die Freier der Penelope, oder die Höflinge des Alcinous in der Odyssee, und, wie diese, aller Arbeit überhoben zu seyn. Grobe sinnliche Befriedigungen bei nie abnehmender Gesundheit und Stärke, und ein müßiges sorgenfreies Leben, dieß ist's was sie sich als das höchste Gut denken, und höher gehen weder ihre Wünsche, noch ihre dermalige Empfänglichkeit. Und warum nicht? da unter den übrigen schwerlich zehn vom Hundert sind, in deren Busen, wenn Prometheus nicht vergessen hätte ihn durchsichtig zu machen, wir nicht eben dieselben Wünsche, nur mehr oder weniger verfeinert und auf alle ihre Leidenschaften ausgedehnt, erblicken würden. Wenigstens läßt mich, was ich über diesen Punkt bisher wahrgenommen habe, nichts anders glauben. Sinnlichkeit ist nun einmal die Grundlage der menschlichen Natur; essen, trinken und schlafen, das erste Bedürfniß, das erste Geschäft und das erste Vergnügen des Kindes, so wie das letzte des Greises, bei welchem das Wohlbehagen an den Vergnügungen des Gaumens in eben dem Verhältniß zunimmt, wie das Vermögen [392] andre Triebe zu befriedigen abnimmt und aufhört. Stelle einen jeden Sophisten, der dieß nicht gestehen will, ohne daß er deine Absicht merken kann, auf die Probe, und du wirst schwerlich einen einzigen finden, der seine prahlerische Theorie nicht durch die That Lügen strafen wird.

Wie dann, Laiska? Dein scherzender Philosoph sollte also am Ende doch noch Recht behalten? – Ja, und Nein, sage ich; und wenn dieß widersinnig klingt, wer kann dafür, wenn der Mensch, seiner Centaurischen Natur nach, ein so widersinnisches Ding ist, daß mein Freund Plato sich und uns nicht besser zu helfen weiß, als durch den wohlmeinenden Rath, den thierischen Theil geradezu abzuwürgen, und den geistigen allein leben zu lassen. Meine Vorstellungsart erlaubt mir nicht, so streng mit der Hälfte meines Ichs zu verfahren; und da diese Doppelnatur nun einmal mein dermaliges Wesen ausmacht, so denke ich vielmehr alles Ernstes darauf, einen billigen Vertrag zwischen beiden Theilen zu Stande zu bringen, mit dem Vorbehalt, falls es mir damit nicht gelingen sollte, mich auf die Seite der Vernunft zu schlagen, und vermittelst ihrer Oberherrschaft über den animalischen Theil diese Sokratische Sophrosyne in mir hervorzubringen, die zwar nicht das höchste Gut, aber doch gewiß ein sehr großes und zum reinen Genuß aller andern unentbehrlich ist. Im Grunde sollte jener Vertrag so schwer nicht zu stiften seyn, da die Natur selbst in beiden Theilen schon Anstalt dazu gemacht, und dem geistigen eine sonderbare Anmuthung zu dem thierischen, diesem hingegen, trotz seiner angebornen Wildheit, eine eben so sonderbare Willigkeit sich von jenem zäumen und regieren zu lassen, [393] eingepflanzt hat. In der That kommt in dieser Rücksicht alles darauf an, daß das Thier, wenn es seine Schuldigkeit thun soll, fleißig zur Arbeit und zum Gehorsam angehalten, aber auch wohl behandelt, gut genährt und hinlänglich gewartet werde. Sobald es merkt, daß der regierende Theil es wohl mit ihm meint, ist es folgsam und geschmeidig; wird ihm aber übel begegnet, gleich fängt es an muckisch zu werden; beißt um sich, schlägt aus, spreizt, bäumt und wälzt sich, und läßt nicht nach, bis es den Reiter abgeworfen hat. Ist dieser überhaupt nicht stark und verständig genug den Zügel recht zu führen und sein Thier im Respect zu erhalten, was Wunder wenn es mit ihm durchgeht, und sich gerade so meisterlos aufführt, als ob es keinen Herrn über sich erkennte?

Um diese Allegorie nicht zu lange zu verfolgen, bemerke ich nur, daß das Daseyn der Vernunft und ihr Einfluß auf unsre sinnliche oder thierische Natur sich, wie bei den Kindern schon in der frühen Dämmerung des Lebens, so bei allen, selbst den rohesten Völkern schon in den ersten Anfängen der Cultur vornehmlich darin beweist, daß sie (wofern nicht besondere klimatische oder andere zufällige Ursachen im Wege stehen) sich selbst und ihren Zustand immer zu verschönern und zu verbessern suchen. So langsam es anfangs damit zugeht, so schnell nimmt der Trieb zum Schönern und Bessern zu, wenn einmal gewisse Perioden zurückgelegt sind, und die Vernunft selbst in ihrer Entwicklung einen gewissen Grad von Stärke erreicht hat. Daß wir aber demungeachtet im Ganzen noch so weit zurück sind, liegt wohl hauptsächlich an der Kürze unsers Lebens, welches in Verhältniß mit allen übrigen Bedingungen, [394] unter welchen wir es empfangen, in viel zu enge Gränzen eingeschlossen ist, als daß die Menschen (wenige Ausnahmen abgerechnet) große Fortschritte zur Verbesserung ihres eigenen innern und äußern Zustandes machen, oder etwas Beträchtliches zum allgemeinen Besten beitragen könnten: indessen zeigt sich doch von einer Generation zur andern ein gewisses, im Kleinen meist unmerkliches, aber im Großen ziemlich sichtbares Streben nach dem, was man füglich (wie ich glaube) den Zweck der Natur mit dem Menschen nennen kann. Und was könnte dieser anders seyn, als die immer steigende Vervollkommnung der ganzen Gattung, wozu jeder einzelne der einst da war, etwas (wie wenig es auch sey) beigetragen hat, und von welcher nun hinwieder jede neue Generation und jedes einzelne Glied derselben mehr oder weniger Vortheil zieht? Da nichts, was einmal da war oder geschah, ohne Folgen ist, also nichts ganz verloren geht; da jedes Jahrzehnt und Jahrhundert seine Versuche, Erfahrungen, Entdeckungen und Erfindungen den Nachkommenden zur Fortsetzung, Ausbildung, Verbesserung und Vermehrung überliefert, so kann dieß schlechterdings nicht anders seyn. Die Rückfälle, die man von Zeit zu Zeit wahrzunehmen wähnt, die alte Sage, »daß nichts unter der Sonne geschehe,« und die Abnahme der menschlichen Gattung, die man uns schon aus dem alten Homer erweisen zu können glaubt, sind nur anscheinend. Besondere Völker, einzelne Menschen können wohl in einigen Stücken schlechter als ihre Vorfahren werden; aber das Menschengeschlecht, als Eine fortdauernde Person betrachtet, der unsterbliche Anthropodämon 189 Mensch, nimmt [395] immer zu, und sieht keine Gränzen seiner Vervollkommnung. Denn nur dem einzelnen Menschen, nicht der Menschheit, sind Gränzen gesetzt.

Die Fortschritte, welche wir Griechen seit der Zeit da Europens Bewohner noch stammelnde Waldmenschen und Troglodyten waren, bis zu der Stufe, worauf wir dermalen stehen, gemacht haben, werden andre Menschen, vielleicht ganz andre Völker, nach uns in den nächsten Jahrtausenden fortsetzen, und unfehlbar wird eine Zeit kommen, wo die Menschen durch künstliche Mittel sehen werden, was uns unsichtbar ist; wo sie Schätze von Kenntnissen, wovon sich jetzt niemand träumen läßt, gesammelt, neue Mineralien, Pflanzen und Thiere, neue Eigenschaften der Körper, neue Heilkräfte, kurz, unendlich viel Neues im Himmel, auf Erden und im Ocean entdeckt, und vermittelst alles dessen nicht nur unsre Erfindungen viel höher getrieben, sondern eine Menge uns ganz unbekannter Künste und Kunstwerkzeuge erfunden haben werden, u.s.w.

Nun, meine Freundin, sind wir auf der Höhe, von welcher aus wir uns, dünkt mich, überzeugen können, daß die Aufgabe, die du mir zu lösen gegeben hast, unauflösbar ist. Es gibt kein andres höchstes Gut (wenn man es so nennen will) für den Menschen, als, »das zu seyn und zu werden, was er nach dem Zweck der Natur seyn soll und werden kann:« aber eben dieß ist der Punkt, den er nie erreichen wird, wiewohl er sich ihm ewig annähern soll. Wo über jeder Stufe noch eine höhere ist, gibt es kein Höchstes – als täuschungsweise; wie dem, der einen hohen Berg ersteigen will, diese oder jene Spitze die höchste scheint, bis er sie erklettert hat, [396] und nun erst sieht, daß neue Gipfel sich über ihm in die Wolken thürmen. Alles, was für einen Menschen in seinem dermaligen Leben (dem einzigen, das er kennt) gut ist, ist zur rechten Zeit, am rechten Ort, im rechten Maß, und recht gebraucht, für den Augenblick das Höchste; für den unsterblichen Menschen gibt es kein Höchstes als das Unendliche. Weiter, schöne Laiska, habe ich's bis jetzt nicht bringen können, und ich zweifle nicht, daß viel daran fehlt, daß meine Antwort deinen Sophisten und Phrontisten genug thun sollte. Was mich selbst betrifft, ich habe nie nach hohen Dingen, geschweige nach dem Höchsten, getrachtet; und dafür haben mir die Götter immer reichlich mehr gegeben, als ich zu begehren gewagt hätte. Von allen ihren Gaben die reichste ist, daß sie mich mit dir zu gleicher Zeit geboren werden ließen, mich mit dir zusammen brachten, und in der Stunde, da du mir deine Freundschaft schenktest, mich auf mein ganzes Leben zu einem der glücklichsten Sterblichen weihten. Müßt' ich nicht Adrasteien 190 zu erzürnen fürchten, wenn ich meine Wünsche noch höher zu treiben versuchen wollte?

[397][282]
Anmerkungen zum ersten Band
Anmerkungen zum ersten Band.

Wieland hat zur Charakteristik Aristipps ein doppeltes Motto aus Horaz gewählt, das erste aus einem Brief an Scäva (Epp. I. 17, 23.):


Gleich gut stand Aristippen, wie jegliche Farbe, das Glück an;
Höher hinauf gern strebt' er, und dem, was begegnete, fügsam.

Voß.


Das zweite aus einem Brief an Mäcenas (Epp. I. 1, 18.), welches Wieland selbst so übersetzte:

– Und statt mich selbst den Dingen
Zu unterwerfen, seh' ich wie ich's mache,
Sie unter mich zu kriegen.

Ein Auszug aus Wielands Anmerkungen (S. 59–50) dazu wird hier gewiß zweckmäßig als Einleitung dienen.

Die Philosophie, als die Kunst zu leben, heißt es, wurde bei den Griechen gleich andern schönen Künsten behandelt; sie hatte ihre Meister und Schulen wie die Bildnerei und Malerei. Sokrates machte zwar [282] selbst keine Secte – eben weil er Sokrates war: aber alle nach ihm entstandenen philosophischen Schulen und Secten wurden von irgend einem der Seinigen gestiftet oder veranlaßt. Plato, der berühmteste unter seinen Anhängern, stiftete die Akademie, Aristoteles, der größte Kopf unter Platons Schülern, das Lyceum. Aristipp machte sich zwar sein eigenes System, aber kann so wenig als Sokrates für das Haupt einer Schule gehalten werden, wiewohl man ihn dazu gemacht hat. A1 [282] Antisthenes wurde der Vater einer Secte, die mit dem wenig rühmlichen Namen der Hündischen (Cyniker) sich gleichwohl in einiges Ansehen zu setzen wußte, und unter den Philosophen das war, was die Franciscaner unter den Mönchen. Hundert Jahre nach Sokrates Tode wurden Zeno und Epikur, indem jener die Weltbürgerschaft des Antisthenes, dieser den Egoismus des Aristippos zu rectificiren suchte, die Stifter zweier neuen Schulen, welche in kurzem über alle übrigen hervorragten, aber in allen ihren Begriffen und Grundsätzen Antipoden waren – der Epikurischen und der Stoischen.

Von dem eigentlichen System des Aristippus wissen wir nur sehr wenig Zuverlässiges; denn seine Schriften sind verloren gegangen, und von den sogenannten Cyrenäern, seinen angeblichen Nachfolgern, läßt sich kein sicherer Schluß auf ihn selbst machen. In dem, was Diogenes Laërtius von ihm zusammengestoppelt hat, sind die Anekdoten und Bonsmots das Beste, wiewohl darunter einige von verdächtigem Schlage vorkommen. Aber, wenn wir auch nichts von ihm wüßten, als was uns Horaz sagt: so würde dieß, mit etlichen Zügen, die sich im Cicero, Plutarch und Athenäus finden, schon hinlänglich seyn, uns von der Denkart dieses Philosophen, der so wenig dazu gemacht war, gute Nachahmer zu haben, einen ziemlich reinen Begriff geben. Der Grund seiner ganzen Philosophie scheint folgendes Raisonnement gewesen zu seyn. Der Mensch weiß nichts gewisser als daß er ist, denn dieß fühlt er; und eben dieß Gefühl sagt ihm alle Augenblicke, was er ist, nämlich ein Wesen, dessen Existenz eine Kette von angenehmen oder unangenehmen Empfindungen ist, die ihm entweder von außenher kommen, oder die es sich selbst macht. Aus jenen erkennt er zwar, daß eine unendliche Menge von Dingen außer ihm sind; aber was diese Dinge für sich selbst sind, weiß er nicht; und da es ihn im Grunde nichts angeht, so soll er sich auch nichts darum kümmern. Aber was er gewiß weiß, weil er's fühlt, ist: daß ihm diese Dinge geradezu Lust oder Unlust machen, theils Gelegenheit geben, daß er sich selbst ihrentwegen plagt. Das letztere zu vermeiden, hängt sehr von seinem Willen oder doch von seiner Weisheit ab; denn seine Einbildungen und Leidenschaften sind in ihm selbst, und er kann also, wenn er will und es recht angreift, sehr wohl Meister über sie werden. Was die Dinge außer ihm betrifft, so mag er (wenn er kann) diejenigen vermeiden, die ihm Unlust machen, und diejenigen suchen, die ihm wohlthun. Kann er aber jene nicht vermeiden, ohne sich größrer Unlust auszusetzen, so duldet er, wenn er [283] weise ist, das kleinere Uebel um des größern Guten willen; und eben so unterläßt er lieber ein Vergnügen zu suchen, wenn er weiß, oder sehr wahrscheinlich vermuthen kann, daß es mit mehr Unlust verbunden sey als das Gute daran werth ist. Unvermeidliche Uebel erleichtert er sich durch Geduld; alles Angenehme aber genießt er, wenn es gleich mit einiger geringen Unlust verbunden ist; aber genießt es als etwas Entbehrliches, wie einer eine Rose pflückt, die an seinem Wege blüht; und da die meisten Dinge uns nicht durch das was sie sind, sondern durch das was wir ihnen geben, oder durch unsre Vorstellungsart, glücklich oder unglücklich machen, so gewöhnt sich ein weiser Mann, die Dinge außer ihm von der angenehmsten oder doch leidlichsten Seite anzusehen. Durch diese Art zu denken erhält er sich frei und unabhängig, während daß die ganze Welt sein ist. Er verschafft sich jedes Gut um den wohlfeilsten Preis, denn er gibt nichts Besseres darum hin; wird es ihm entzogen, so betrachtet er's als etwas, das nie sein war. Kurz, er kann alles genießen, alles entbehren, sich in alles schicken, und die Dinge außer ihm werden nie Herr über ihn, sondern er ist und bleibt Herr über sie.


Die Zeit der Blüthe Aristipps fällt um die 100ste Olympiade, 380 Jahre vor Christus. Mit der 94sten Olympiade, 404 J. vor Ch., beginnt diese Schilderung Wielands, 4 Jahre vor dem Tode des Sokrates, 25 Jahre nach dem Tode der Perikles. Aristipp wird einige 20 Jahre alt angenommen, und kann füglich nicht höher angenommen werden, da er noch über 60 Jahre nach des Sokrates Tode lebte.

1. Brief.

1 Cyrene, Kyrene (jetzt Kurin) die Vaterstadt der Philosophen Aristippos und Karneades, des Dichters Kallimachos und des Mathematikers Eratosthenes, lag in Afrika, auf der Westseite von Aegypten, an der Küste des Mittelländischen Meeres, in einer höchst fruchtbaren Gegend. Griechen von der Insel Thera, unter Anführung des Battos, hatten hier eine Colonie gestiftet, und Cyrene, wonach die [284] ganze Landschaft Eyrenaika genannt wurde, oder auch, weit späterhin noch vier Städte hier angelegt wurden, Pentapolis (Fünfstadt), erwuchs zu einem blühenden Handelsstaat. Battos war der erste König dieses Griechisch-Afrikanischen Staates, und seine acht Nachfolger, die Battiaden, regierten von 631–432 v. Chr. Im ersten Jahre der 87sten Olympiade, 431 v. Chr., endigte ihre Herrschaft, und Kyrene erhielt eine republicanisch-aristokratische Verfassung, bis Ariston Alleinherrscher wurde, der aber im Jahre 406 v. Chr. umkam. Diese Krisis fällt nun eben in diese Periode Aristipps.


2 Stadt auf der Insel Kreta.


3 Die berühmte Argo, worauf die Argonauten von Thessalien aus nach Kolchis (Mingrelien) schifften. Auf die vielen Wundersagen, die von dieser Schifffahrt erzählt werden, spielt Aristipp an.


4 Von den Musen Begeisterte, hier nicht ohne schalkhafte Anspielung auf die unten vorkommende Nympholepsie.


5 Oeffentliche Volks- oder National-Versammlung.


6 Oder Knossus – Stadt auf der Nordküste der Insel Kreta. Außer dem berühmen Labyrinth, woraus Ariadne den Theseus rettete, und von dessen Ueberresten Tournefort Nachricht gibt, war hier, dem Lactanz zufolge, auch Jupiters Grabmal zu sehen, wegen dessen aber Kallimachus die Kreter als arge Lügner schilt, indem ein ewig lebender Gott nicht begraben seyn könne.

2. Brief.

7 Die Staatsverfassung von Korinth war, seit der Alleinherrschaft Perianders, (des zweideutigsten unter den sieben Weisen) oligarchisch, d.i. die Regierung befand sich hauptsächlich in den Händen einer kleinen Anzahl alter und begüterter Geschlechter, deren Ursprung sich zum Theil in den heroischen Zeiten verlor, und die sich durch den Beinamen Eupatriden (Wohlgeborne) von den Plebejischen unterschieden. W.


8 Mina (Μνᾶ) eine fingirte Münze, welche 100 Drachmen enthielt und deren 60 ein Attisches Talent ausmachten. Man kann sie, ohne einen beträchtlichen Rechnungsfehler, für 22 Reichsthaler Conventionsgeld annehmen. W.


[285] 9 Eine Stadt in der Peloponnesischen Provinz Elis, an deren Stelle aber die Stadt Olympia soll erbaut worden seyn.


3. Brief.


10 Aktäon wurde, weil er die Minerva im Bade gesehen hatte, in einen Hirsch verwandelt, und von seinen eignen Hunden zerrissen.


11 Bäder.


12 Ixion ward in der Unterwelt auf ein Rad geflochten, wo ihm täglich ein Geyer die, stets wieder wachsende, Leber (den Sitz der Liebe nach der Griechen Meinung) aushackt.


13 Einer der größten Bildhauer, die aus der Schule des Phidias hervorgingen, ein Mitschüler und Rival des nicht weniger berühmten Agorakritos, der von seinem Meister so leidenschaftlich geliebt wurde, daß dieser, um ihm einen Namen zu machen, viele seiner eigenen Werke für Arbeiten seines Lieblings ausgegeben haben soll. (Denn dieß will Plinius ohne Zweifel mit den Worten sagen: ejusdem (Phidiae) discipulus fuit Agoracritus, ei aetate gratus: itaque e suis operibus pleraque nomini ejus donasse fertur). Für das schönste unter den Werken des Alkamenes, welche noch zu Plinius und Lucians Zeiten in Athen zu sehen waren, erklärt der letztere (unstreitig ein elegans spectator formarum) eine in den sogenannten Gärten außer den Mauern von Athen aufgestellte Venus, welche über eine andere, vom Agorakritus zu gleicher Zeit mit ihm in die Wette gearbeitete, den Preis erhielt, und von so hoher Schönheit war, daß die Sage ging, Phidias selbst habe ihr die letzte Vollendung gegeben. Diese Sage konnte aber wohl keinen andern Grund haben, als die Meinung: Alkamenes könnte ein so vollkommenes Kunstwerk nicht ohne Beistand seines Meisters zu Stande gebracht haben. Sie zeugt also bloß für das große Talent des Alkamenes, und die vorzügliche Schönheit seiner Venus; denn daß Phidias wirklich die letzte Hand an sie gelegt habe, ist schlechterdings unglaublich, wenn die Anekdote von seiner außerordentlichen Vorliebe zum Agorakritus wahr ist. In diesem Falle würde Phidias sich beeifert haben, der Arbeit seines Lieblings den Vorzug zu verschaffen, und also das, was er für Alkamenes gethan haben soll, vielmehr zum Vortheil des Agorakritus gethan haben. Eine von diesen beiden Sagen (deren auffallenden Widerspruch der Römische [286] Compilator nicht zu bemerken scheint) muß also nothwendig grundlos seyn; und so ist es um die meisten, wo nicht um alle die Sagen beschaffen, die unter den Griechen über ihre vorzüglichsten Personen beiderlei Geschlechts herumliefen. Das Schlimmste ist, daß beinahe alles vorgeblich Historische, was uns die alten Biographen, Anekdotensammler und Compilatoren, Diogenes von Laërte, Athenäus, Suidas u.s.w. von diesen Personen erzählen, aus solchen Sagen besteht, welche größtentheils aus der unreinen Quelle der alten Komödien- und Sillen-Schreiber geflossen zu seyn scheinen. W.


14 Freundin, bei uns – Freudenmädchen. Daß sie in der Handelsstadt Korinth, wo ein berühmter Tempel der Venus (Aphodite) war, unter dem besondern Schutze dieser Göttin standen, erinnert an die Sitte orientalischer Handelsplätze, wo es zum Tempeldienst gehörte, daß die Jungfrauen ihre Jungfräulichkeit einem – Fremden opferten, wofür die Einkünste in den Tempelschatz flossen.


15 Die Auftauchende, heißt Venus, weil sie aus dem Meer entsprang, und als neugeborne Göttin zum Entzücken des ganzen Olymps daraus emporstieg. Eins der schönsten Gemälde des Apelles war unter diesem Namen bekannt.


16 Epopten, hießen diejenigen, die nach gehöriger Vorbereitung zum Anschauen der großen Mysterien zugelassen worden. W.


17 Iris (Regenbogen) – Die Votin der Götter und insbesondere Dienerin der Götterkönigin – für Zofe überhaupt gebraucht. W.


18 Eine unter dem König Darius zuerst geprägte. Persische Goldmünze, ungefähr vier Thaler sechs oder acht Groschen unsers Geldes werth. W.

4. Brief.

19 S. Wielands erste Anmerkung zu Horazens sechstem Brief im ersten Buche.


20 Sieg – Durch die Siege bei Marathon und Salamin retteten die Griechen ihre Freiheit, die von Persiens Uebermacht bedroht war.


21 Nach denen die alle vier Jahre sich erneuernden Olympiaden als die gewöhnliche Zeitrechnung der Griechen angenommen wurden, sind nach Einigen von Jupiter selbst oder den Kureten gestiftet, und nach einer Unterbrechung [287] erst von Hercules, dann von Pelops, und zuletzt von Iphitus und Lykurgus, gegen 800 Jahre v. Chr. erneuert. Des Iphitus Verordnungen darüber waren auf einem Diskus eingegraben, den man im Junotempel zu Olympia aufbewahrte. Fünf Tage in unserm Monat Julius waren dazu bestimmt, die ersten zum Ringen und Faustkampf, der dritte zu den sogenannten Fünfkämpfen (Pentathloi), Ringen, Faustkampf, Laufen, Werfen der Wurfscheibe (Diskus) und des Wurfspießes, der vierte zum Wettlaufe zu Fuß und zu Roß, der fünfte zum Wagenrennen. Die Beschuldigungen, welche Aristipp hier vorbringt, sind allerdings durch manche Zeugnisse bestätigt, und doch war.


22 Man sehe Manso's Abhandlung über den Antheil, welchen die Griechen an den Olympischen Spielen nahmen, in der N. Bibl. der sch. Wiss. Bd. 47. Vergl. Böttigers Kunstmythologie S. 55. Abgerechnet alles, was sie als eine National-Versammlung wichtig machte, hatten sie auch im Geist ihrer Einrichtung viel Aehnliches mit den Turnieren, und verschafften einen Gottesfrieden, den man sogar symbolisch angedeutet hatte, denn beim Eintritt in den Tempel Jupiters erblickte man zur Rechten die Bildsäule des Iphitus, den die Ekechereia bekränzte, d.i. der Stillstand aller Feindseligkeiten zwischen allen Griechen, welcher während dieser Tage eintrat. Nichtsdestoweniger hätte man vieles zweckmäßiger einrichten können; dachte aber vielleicht daran, daß das Alte den Meisten heilig und das Gewohnte das Liebste ist; kurz, wie der Eleer, welchen Wieland nachher einführt.


23 Eryx – ein gewaltiger Sicilischer Faustkämpfer (pyktes) der heroischen Zeit, welcher zuletzt, von Hercules überwältigt, dem Berge Eryx in Sicilien, wo er begraben wurde, den Namen gab. W.


24 »Der schönste der Männer, die gegen Ilion zogen.« Il. II. 671. W.


25 Ein seiner Schönheit und Stärke wegen berühmter Athlet. W.


26 Cestus, hieß bei den Römern eine Art von Fechthandschuh aus dicken rindsledernen Riemen um den Arm und die Faust gewunden (auch wohl mit Blei gefüttert), womit die Faustkämpfer (Pikten) ihre Hände bewaffneten. Die Griechen nannten dieß χειρες ὡπλισμεναι, ohne einen besondern Namen für den Cestus zu haben. W.


27 Die Griechen nannten alle nicht Griechisch redenden Völker Barbaren, ohne auf ihre mehrere oder mindere [288] Cultur und Policirung dabei Rücksicht zu nehmen; wiewohl sie sich auch hierin großer Vorzüge über die übrigen Erdebewohner bewußt waren, und mit einer gewissen Verachtung auf alle Nicht-Griechen herabsahen. W.


28 Athleten, hießen mit einem gemeinsamen Namen alle Wettkämpfer, welche bei öffentlichen Spielen in den fünferlei Kampfübungen, die unter dem pentathlos begriffen waren, um den Preis stritten; in engerer Bedeutung des Wortes wurden vorzüglich die Pankratiasten, d.i. die Ringer und die Fechter mit dem Kampfhandschuh (cestus), Athleten genannt. W.


29 S. oben Athleten.


30 Die Pythischen, wurden alle 5 Jahre dem Apollon, – die zu Nemea, die Nemeischen, alle 2 Jahre dem Jupiter, – die zu Korinth, die Isthmischen, alle 2 Jahre dem Poseidon zu Ehren gefeiert.


31 S. die folgende Anmerkung.


32 Die Hellenen oder eigentlich sogenannten Griechen erkannten den Deukalion (einen Thessalischen Fürsten, der ungefähr 1500 Jahre vor der christlichen Zeitrechnung gelebt haben soll) oder, genauer zu reden, seinen Sohn Hellen (von welchem sie ihren allgemeinen Namen führten) für ihren gemeinsamen Stammvater. Hellens Söhne, Dorus und Aeolus, und Ion, sein Enkel, gaben ihren Namen den drei Hauptästen in welche die ältesten Hellenen sich theilten, und deren jeder in der Folge sich wieder in mancherlei Zweige verbreitete. Dorus bemächtigte sich (alten Sagen nach) der am Fuße des Parnassus liegenden kleinen Landschaft Doris; Aeolus und seine Nachkommen ließen sich in Elis, Arkadien und andern Gegenden der Halbinsel, die in der Folge den Namen Peloponnesus bekam, nieder; und nach Ion führten die Bewohner von Attika den Namen Ionier, der sich nach Verlauf mehrerer Jahrhunderte in den berühmtern der Athenäer (oder Athener) verlor. Diese drei Hellenischen Stämme gaben, als sie sich in der Folge auch an der westlichen Küste von Asien anbaueten, den Provinzen Aeolis, Ionia und Doris, so wie den drei Hauptdialekten der Griechischen Sprache, ihren Namen. Das Gewisseste von allem diesem ist, daß in den Zeiten, wo die Geschichte der Griechen aufhört ein verworrenes und undurchdringliches Gestrüppe von Mährchen [289] und widersprechenden Volks- und Stammsagen zu seyn, die ganze Hellas theils aus Dorischen theils aus Ionischen Völkern und Städten bestand; daß unter jenen Lacedämon, unter diesen Athen als die ersten an Macht und Ansehen, gewöhnlich diejenigen waren, an welche sich die übrigen, freiwillig oder gezwungen, anschlossen; und daß zwischen diesen beiden Hauptstämmen von jeher in Naturanlagen, Cultur, Mundart, Sitten und politischer Verfassung eine so auffallende Ungleichheit und eine so entschiedene Antipathie geherrscht hatte, daß sie höchst wahrscheinlicher Weise, ohne die wohlthätige Gegenwirkung der ihnen eigenen National-Institute, einander selbst lange vorher aufgerieben haben würden, ehe sie die hohe Stufe von Cultur erreicht hätten, wodurch sie, sogar nachdem sie selbst eine Nation zu seyn aufgehört haben, die Gesetzgeber, Lehrer und Bildner aller übrigen geworden sind. W.


33 Ehärephon war ein vertrauter Freund des Sokrates. Daß er das Orakel Apollons zu Delphi wegen des Sokrates Weisheit befragte, berichten Platon und Xenophon in ihren Vertheidigungsschriften des Sokrates. In dem gegebenen Orakel hätte wohl durch die Pythia – die das Orakel aussprechende Priesterin – Ehärephon selbst sprechen können; hat sie aber nur so negativ und vergleichungsweise gesprochen wie bei Platon und Xenophon, so war sie vollkommen sicher, niemals der Bestechlichkeit beschuldigt werden zu können. Und mir ist glaublicher, daß sie ihr Orakel eben so, wie jene sagen, und nicht wie es anderwärts angeführt wird, ausgesprochen habe.


34 Diesen Sohn von des Sokrates altem Freunde Kriton lernt man am besten aus Xenophons Gastmahl kennen.


35 Der in jüngeren Jahren des Sokrates Umgang gesucht hatte, wurde nachher ausschweifend, und hatte mit Alcibiades nur das gleiche Streben und die schlimmen Eigenschaften, nicht aber die guten gemein. Mit hoher Einbildung auf Abkunft, Reichthum und Macht verband er Habsucht und Grausamkeit, die er als einer der von dem Spartanischen Feldherrn Lysander aufgedrungenen Dreißig-Männer so sehr bewies, daß es zwischen ihm und Sokrates zum offenen Bruche kam.


36 Die Einwohner dieser, zu der Gruppe der Eykladen im Aegeischen Meere gehörigen, Insel hatten mit den Athenern gerechten Krieg. Als sie sich endlich ergeben [290] mußten, hieben die Athener fast alle junge Mannschaft nieder und verkauften Weiber und Kinder.Thuc. 5, 116.


37 Burg, Citadelle.

5. Brief.
38 Die Rennbahn, wo öffentliches Pferd- und Wagenrennen gehalten wurde. W.

39 Oeffentliche Plätze zu Leibesübungen, im Ringen, Werfen u.s.w.


40 Beschreibung – des Jupiter von Phidias – Mit dem, was Wieland hierüber sagt, hat der, welcher die genaueste Belehrung wünscht, zu vergleichen die beiden Schriften über den Tempel und die Bildsäule des Jupiters zu Olympia, von Völkel (Leipz. 1794) u. Siebenkees (Nürnb. 1795), dann aber vorzüglich Böttiger in den Andeutungen S. 93. fgg., und noch weit mehr in der Kunst-Mythologie S. 52. fgg. Wir werden noch einmal darauf zurückkommen bei Wielands Abhandlung über die Ideale der Alten.


41 Der Wolkensammelnde – Beiwort des Zeus bei Hommer.


42 Anspielung auf eine allgemein bekannte Stelle im ersten Buche der Ilias, und auf die Sage, daß diese Stelle durch eine plötzliche Begeisterung das Ideal erzeugt habe, nach welchem Phidias seinen Olympischen Jupiter gearbeitet habe.

6. Brief.

43 (Gähnaffen, Maulaufsperrer). – Voß übersetzt: Gaffener – Ein Spottname, welchen Aristophanes den Athenern gibt, um die sinn: und zwecklose Neugier, Leichtgläubigkeit und Unbesonnenheit, die zu den Hauptzügen ihres Volkscharakters gehörten, mit einem angemess'nen Worte (das von dem dummen Schnabelaufsperren der Gänse und der jungen Vögel, wenn sie von den Alten geätzt werden, hergenommen ist) zu bezeichnen. W.


44 Alles, was Aristipp in dieser und andern Stellen seiner Briefe von dem Aeußerlichen des Sokrates sagt, stimmt sowohl mit der Idee, die man [291] sich aus verschiedenen Stellen im Xenophon und Plato von ihm machen muß, als mit den schönsten Sokratesköpfen auf antiken Gemmen sehr genau überein; auch scheinen seine Bemerkungen über die Physiognomie und überhaupt über das Eigene und Charakteristische an der Außenseite desselben einen hinlänglichen Grund zu enthalten, warum er die bekannte, dem Cicero und Alexander von Aphrodisias so oft nachgebetete Anekdote von dem, was dem Sokrates mit dem Physiognomen Zopyrus begegnet seyn soll, wofern sie ihm auch bekannt war, keiner Erwähnung würdigt. Uebrigens pflegte Sokrates selbst über seine Silenenmäßige Gestalt zu scherzen, und es wäre lächerlich, ihn (wie einige gethan haben) der Schönheit seiner Seele zu Ehren, und dem Zeugniß seiner vertrautesten Freunde zu Trotz, zu einem Adonis machen zu wollen. Ich zweifle daher nicht, daß Epiktet, wenn er ihmσωμα ἐπιχαρι και ἡδυ zuschreibt (S. Arriani Diss. Ep. IV. 11.), nicht mehr damit habe sagen wollen, als was Aristipp hier nur ausführlicher und bestimmter (wie einem Augenzeugen zukommt) ausgedrückt zu haben scheint. W.


45 S. in einem der folgenden Bände Wielands Aufsatz über Athens Verfassung.


46 Drei Obolen, etwa drei Kreuzer, erhielt seit Perikles jeder Bürger, der an den Volksversammlungen Theil nahm.


47 Καλοκᾳγαϑοι – Was man damals zu Athen einen Kalokagathos nannte, war mit dem, was die Engländer a Gentleman, und die Franzosen un galanthomme nennen, ziemlich gleichbedeutend. Oefters bezeichnet es auch so viel als eine Person von vornehmer Geburt und Erziehung. In der moralischen Bedeutung, da es so viel als schöngut, oder gutedel heißt, scheint es vom Sokrates zuerst genommen worden zu seyn. W.


48 Ein Beiname der Athener, von Cekrops, dem ersten Stifter der Stadt Athen, welche anfangs nach ihm Cekropia genannt wurde. W.


49 Gastmahle. Die Sokratischen kennt man aus zwei Schriften Platons und Xenophons unter diesem Titel.

7. Brief.

50 Sophist, entspricht in seiner ersten Bedeutung dem, was wir einen Virtuosen nennen. Seitdem in des Sokrates frühesten [292] Lebensjahren zuerst Zenon aus Citium, ein Philosoph aus der Eleatischen Schule in Unter-Italien, nach Athen kam, um, für gute Zahlung, die Theile der Philosophie zu lehren, die hauptsächlich mit der Rednerkunst in Verbindung stehen (Dialektik), nannten er und seine Nachfolger sich Sophisten, welcher Name erst verrufen wurde durch der spätern prahlerisches Scheinwissen und unredliche Verdrehungskünste, die hauptsächlicg Sokrates und seine Schule aufzudecken beflissen waren. Sokrates setzte daher auch den Namen der Philosophie (Liebe der Weisheit) als einen bescheidneren dem der Sophistik entgegen. Bei Pythagoras, der sich des Namens der Philosophie zuerst bediente, hatte sie noch die Sokratische Bedeutung nicht.


51 Was Aristipp hier sagt, wird durch eine bekannte Stelle im Theätetus des Plato bestätigt.


52 Der gerechte und ungerechte Vortrag. Man sehe darüber Wieland im Attischen Museum Bd. 2 Hft. 3. S. 98 fgg., wo er den Scholiasten dahin erklärt, daß Aristophanes die beiden Kämpfer in besiederten Masken, die ihnen auch das äußere Ansehen von Streithähnen gaben, habe auftreten lassen.


53 Die ehrwürdigen Chariten (Holden), jedes Werk im Himmel ordnend.


54 Anaxagoras, kann als der letzte Philosoph aus der sogenannten Ionischen Schule betrachtet werden. Die zu ihr gehörigen Philosophen nannte man Physiker (Naturphilosophen) und ihre Philosophie auch die physische, weil sie hauptsächlich darauf ausging, Ursprung und Wesen der Natur zu erklären. Anaxagoras und der Sophist Zenon brachten zu gleicher Zeit, jener die Ionische, dieser die Italische Philosophie nach Athen, wo, besonders durch Sokrates und seine Schüler, aus beiden die neue Attische sich bildete. Wenn hier dem Anaxagoras vorgeworfen wird, daß er das Studium der Natur auf einem falschen Wege gesucht habe, so ist dieß nur zum Theil wahr, und Sokrates verdankte zuverlässig sowohl seinen physikotheologischen Beweis für die Weisheit und Güte Gottes, als auch seine teleologische Betrachtung der Natur dem Anaxagoras, der unter den Griechen zuerst die Einheit Gottes als einer von der Welt verschiedenen höchsten Intelligenz lehrte.


55 Volksleitung.

[293] 8. Brief.

56 Fortleitung, nennt man diejenige Lehr- oder Beweisart, welche von einem Einzelnen ausgeht und so viel Gleiches nach einander hinzubringt, daß daraus das ihnen gemeinsame Allgemeine gefolgert werden kann. – Neben der Induction bediente sich Sokrates aber auch der Analogie, zufolge welcher aus der Gleichheit in Mehrerem auf Gleichheit des Ganzen geschlossen wird.

Sehr treffend unterscheidet Wieland hier des Sokrates Lehrmethode von seiner Streitmethode, der Ironie, die man mit einander so sehr verwechselt hatte, daß wenig fehlte, man hätte allen Katecheten Ironie zugemuthet. Vielleicht hat man's gar gethan.

Nur in dem, was Wieland hier von der Sokratischen Seelen-Entbindungskunst (Mäeutik) sagt, scheint er mir nicht erschöpfend: es ist jedoch hier der Ort nicht, das Gesagte zu berichtigen. Darum genüge die Bemerkung, daß diese zusammenhängt mit seinem Glauben an Präexistenz der Seelen und mit dem Satze, daß unser Erlernen ein Wiedererinnern sey. Bei der Untersuchung wird man von dem Satze ausgehen müssen, daß sich auch eine Seele nur von dem entbinden läßt, was sie in sich wirklich von Natur hat. Die Mäeutik kann sich daher nur auf mathematische und philosophische Erkenntnisse, nicht aber auf empirische und historische Kenntnisse beziehen, woraus von selbst folgt, daß man mit Induction und Fragkunst (Erotematik) dabei nicht auskommt.


57 Dieses Gespräch zwischen Sokrates und Euthydemus ist von Wort zu Wort das nehmliche, welches im sechsten Abschnitt des vierten Buchs der Sokratischen Denkwürdigkeiten zu lesen ist. Aristipp sowohl als Xenophon erzählen es, als ob sie dabei zugegen gewesen, welches sehr wohl Statt haben konnte, da Xenophon sich nicht eher als im vierten Jahre der vierundneunzigsten Olympiade von Athen entfernte, um unter den Griechischen Hülfstruppen, welche der jüngere Cyrus zum Behuf seiner Unternehmung gegen den König seinen Bruder angeworben hatte, Dienste zu nehmen. Xenophon und Aristipp konnten sich also etliche Jahre lang öfters in Gesellschaft des Sokrates gesehen haben, wiewohl die große Verschiedenheit ihrer Sinnesart, und der Umstand, daß Xenophon damals schon ein Mann von funfzig Jahren war, und überhaupt einen ganz andern Weg im Leben ging als Aristipp, Ursache seyn mochte, daß beide einander immer fremd und gleichgültig geblieben; nur mit dem Unterschied, daß [294] dieser Mangel an Sympathie Aristippen nicht verhinderte, dem Xenophon bei jeder Gelegenheit Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, dieser hingegen in mehr als einer Stelle der Memorabilien eine Abneigung gegen jenen verräth, die sogar der Billigkeit Abbruch thut, welche man sonst in seiner Art, selbst von sehr tadelhaften Menschen zu urtheilen, wahrnehmen kann.

9. Brief.

58 Die Wielandische Uebersetzung dieser Komödie des Aristophanes s. in dem Attischen Museum Bd. 2. – An die nun auch erschienene Vossische darf ich wohl nicht erst erinnern.


59 Fünf Jahre vor Sokrates auf der Insel Kos geboren, ein Pythagorischer Philosoph, schrieb erst in seinem Alter Komödien, deren 52 von ihm aufgezählt werden. Man kennt aus ihnen nur noch mehrere Sittensprüche, und es läßt sich freilich erwarten, daß ein Phytagoräer nicht in den uns so anstößigen Ton der übrigen Komiker Athens werde eingestimmt haben. Solcher Sittensprüche führt Sokrates dem Aristipp selbst, in einem Gespräch mit demselben, einige an.


60 Kratinus, Eupolis – Zwei, mit Aristophanes gleichzeitige Komiker, der erste viel älter, aber selbst einem Aristophanes als Gegner furchtbar; der zweite jüngere scheint mit ihm in gutem Vernehmen gestanden, und ihm sogar in Einigem Beistand geleistet zu haben. Ueber sie und überhaupt über die Attischen komische Bühne muß man nachlesen A.W. Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur Bd. 1. S. 268 fgg., und Kanngießer: die alte komische Bühne in Athen.


61 Eine Art außerordentliches Gericht, worin das versammelte Athenische Volk einen Bürger, dessen Gegenwart und Einfluß sie der Republik für schädlich hielten, auf eine bestimmte oder unbestimmte Zeit des Landes verwiesen; übrigens seiner Ehre und seinem Vermögen unpräjudicirlich. W.


62 Helia hieß ein öffentliches Gebäude zu Athen, wo das höchste Gericht über Staatshändel und Staatsverbrechen, gewöhnlich aus 500, in wichtigen Angelegenheiten aus 1000, 1500 bis 2000, auch wohl aus noch mehr tausend Bürgern bestehend, seine [295] Sitzungen hielt. Diese Richter hießen daher Heliasten. Sie wurden jedesmal ad hoc erwählt, und ihre Anzahl hing von dem Gutbefinden der sechs untersten Archonten ab. W.


63 Die 50 Glieder des Senats der 500 zu Athen, welche 36 Tage lang das Präsidium führten, und während dieser Zeit, da sie den geheimen Rath der Republik ausmachten, im Prytaneion auf Kosten des Staats beköstiget wurden. W.


64 Die besondern Umstände dieser Anekdote sind in Xenophons Sokratischen Denkwürdigkeiten, im zweiten Kapitel des vierten Buchs, ausführlich zu lesen. W.


65 Menschen, deren Stamm das Land, wo sie wohnen, von jeher innegehabt, und also gleichsam von selbst, wie die Bäume, aus dem Erdboden hervorgewachsen war. Die Bewohner von Attika wußten sich viel damit, solche Autochthonen zu seyn. W.


66 Anspielung auf den Charakter, welchen Aristophanes in seinen Rittern dem unter dem Namen Demos personificirten souveränen Pöbel zu Athen beigelegt, besonders auf die Verse im ersten Act, welche ich für diejenigen, die das Original selbst nicht lesen können, aus meiner Uebersetzung (im zweiten Buch des Attischen Museums) hierher setze. Demosthenes und Nikias sagen den Zuschauern:


Uns beiden ward ein ziemlich seltsamer
Patron zu Theil, ein sauertöpfischer
Heißgrät'ger Mann, der sich mit Bohnen füttert,
Viel Galle macht, auch etwas übel hört,
Kurz, ein gewisser Demos aus dem Pnyx,
Ein grilliger, griesgräm'ger, alter Kauz.

67 Dieß bezieht sich auf die Nachricht des Grammatikers, der den Inhalt der Wolken abgefaßt hat, daß Aristophanes von des Sokrates nachmaligen Anklägern Anytus und Melitus gedungen worden sey, dieß Stück zu schreiben.


68 Die Athener wollten neun Heerführer, weil sie die in der Seeschlacht bei Arginussä gebliebenen Bürger nicht aufgesucht und begraben hatten, zum Tode verurtheilen. Diesem ungerechten Ausspruch [296] widersetzte sich der einzige Sokrates mit unerschütterlichem Muthe, trotz aller Drohungen der Ankläger sowohl als des Volks, ihn selbst vor Gericht zu ziehen.


Ueber den in diesem Briefe verhandelten Gegenstand hatte Wieland früher im Attischen Museum eine besondre Abhandlung geliefert: Versuch über die Frage: ob und inwiefern Aristophanes gegen den Vorwurf, den Sokrates in den Wolken persönlich mißhandelt zu haben, gerechtfertigt oder entschuldigt werden könne? (Bd. 3. S. 57–100) Gegen Wielands hierin gefälltes Urtheil über Aristophanes hatte sich der Herausgeber erklärt in seinem Artikel Aristophanes in dem ästhetischarchäologischen Wörterbuch, und konnte Wielanden zufälliger Weise dieß erst zeigen, als es abgedruckt war. »Habe ich, sagte er, dieß alles gesagt, so hatten Sie Recht, es zu bestreiten: mir ist aber, als hätte ich ziemlich dasselbe gesagt, was Sie gegen mich geltend machen.« Nach etlichen Tagen gab er mir die Nachricht, daß ihm die Sache keine Ruhe gelassen habe, und wies mir nun diesen, von mir übersehenen, Brief Aristipps nach; ich ließ hierauf ein Blatt umdrucken. – Was die Sache betrifft, so hätte noch angeführt werden müssen, daß ja auch andere Komiker vor Aristophanes schon den Sokrates auf die Bühne gebracht hatten, und darüber ist nachzusehen Kanngießer a.a.O. zu Ende.

10. Brief.

69 Er scheint sogar nicht ohne Anlage zu Schwärmerei gewesen zu seyn, da er zuweilen in Entzückungen gerieth, worin er sich seiner selbst nicht bewußt war. – Ueber das von Wieland Angeführte s. Xenoph. Memor. Socr. 1, 1. 2, 6. 4, 3. 7.

11. Brief.

70 (Das Königthum, oder die höchste Staatsgewalt, personificirt) – Die Basileia, auf welche Aristipp anspielt, ist nicht die (angeblich historische) Tochter des Uranos und der [297] Titäa, deren alberne Legende Diodorus Siculus im 3ten Buche seiner Universalgeschichte erzählt; sondern die Basileia, die in den Vögeln des Aristophanes, kraft eines zwischen den Vögeln und Göttern geschlossenen Friedens, mit dem Peisthetäros vermählt wird, um ihm die Oberherrschaft über die Welt durch diese Verbindung zu versichern. W.


71 Tyrann, – im Griechischen Sinn ist Alleinherrscher, welcher die Regierung sich angemaßt hat, Usurpator; er kann dabei der mildeste und gerechteste Regent seyn, ist es aber nicht verfassungsmäßig.

12. Brief.

72 Einer der sieben Weisen Griechenlands, hatte den Denkspruch: ich trage all das Meinige bei mir – nämlich seine Weisheit.

13. Brief.

73 (Stadion) – Das gewöhnliche Maß der Ortsentfernung, dessen sich die Griechen bedienten. Nach der Berechnung des Abbé Barthélemy beträgt ein Stadium ein Achtel einer Römischen Meile, oder 941/2 Französische Toisen; also 5000 Stadien gerade 189 Französische Meilen, zu 2500 Toisen. W.


74 Fest des Poseidon oder Neptuns. W.


75 Was von wahrer Geschichte derselben noch auszumitteln war, findet man zusammengestellt von Fr. Jacobs in seinen Beiträgen zur Geschichte des weiblichen Geschlechts. S. Wielands Attisches Museum Bd. 3. S. 173 fgg., und über ihr Verhältniß zu Aristipp insbesondere S. 233. fg.


76 Eine Tochter des Priamos, besaß die Gabe der Wrissagung.


77 Iynx (der Vögel Wendehals) – Ein bei den Alten berüchtigtes Zaubermittel, dessen sich die vorgeblichen Zauberkünstler, Thessalischen Hexen und ihresgleichen bedienten, um durch magische Gewalt verschmähten Liebhabern Gegenliebe zu verschaffen. (S. Theokrits Pharmaceutria, wo der Iynx gleichsam die Hauptrolle spielt.) In metaphorischem Sinn ist also dieses Wort mit Liebreiz, insofern er etwas zauberisch Anziehendes ist, einerlei. W.


[298] 78 Eine Talismanische Pflanze von Homers Erfindung (Odyss. X.), welche Ulysses vom Mercur als ein Gegenmittel gegen die Bezauberungen der schönen Circe erhielt. W.


79 Mit dem Namen des großen Königs bezeichneten die Griechen den König von Persien, als den damals mächtigsten Monarchen.

14. Brief.

80 Diese von dem Sophisten Prodikus herrührende allegorische Erzählung ist hinlänglich bekannt, und es bedarf daher hier nur der Bemerkung, daß Sokrates dieselbe mitgetheilt hat in einem Gespräch, das er mit Aristipp hielt, in Xenophons Denkwürdigkeiten des Sokrates das erste im zweiten Buch. Eine Uebersetzung desselben hat auch Wieland im dritten Band des Attischen Museums S. 124 geliefert, und man darf, zur Würdigung Aristipps, die von Wieland beigefügten Anmerkungen nicht übersehen, besonders nicht die erste über das Verhältniß zwischen Xenophon und Aristipp.


81 Kluge Mäßigung.


82 Hippolytus, einigen unsrer Leser aus dem Euripides, andern aus der Phèdre des J. Racine oder aus seinem Nachbilde Silvio im Pastor Fido des Guarini bekannt. W.


83 Das Frauengemach, der Harem bei den Türken, Persern, u.s.w. W.


84 Eine Hetäre, die zuletzt mit einem Thessalischen Könige vermählt wurde.


85 Die Erzählung, welche Aristipp seiner Freundin von dem Besuch des Sokrates bei der schönen Theodota macht, stimmt in allem Wesentlichen genau mit der Xenophontischen im eilften Kapitel des dritten Buchs der Memorabilien überein; wenigstens ist der Unterschied nicht größer als er gewöhnlich zu seyn pflegt, wenn ebendieselbe Begebenheit von zwei verschiedenen Augenzeugen erzählt wird. W.

[299] 15. Brief.

86 Ueber das Zeitalter dieses, nächst Praxiteles berühmtesten, Marmorbildners sind die Alterthumsforscher durch Plinius sehr in Verlegenheit gesetzt worden, indem dieser ihn bei der 87sten und bei der 107ten Olympiade namhaft macht. Die Stelle bei Plinius, worin die erste Angabe vorkommt, wird jedoch für fehlerhaft erklärt, und so konnte Wieland den Skopas, dessen Blüthe gegen Ol. 100 fällt, hier wohl als einen jungen Künstler einführen. Seine Hauptwerke führt Plinius an 36, 4, 7, und die von Wieland angeführten dürften wohl in etwas spätere Zeit zu setzen seyn. Böttiger (s. dessen Andeutungen S. 155 fgg.) sagt: in den Figuren des Cupido und dem Genius der Zärtlichkeit und der schmachtenden Sehnsucht (Eros, Himeros, Pothos), die Pausanias noch in Megara sah, wurde er Schöpfer mehrerer allegorischer Wesen, die man später unter den Amorinen- und Psyche-Spielen nicht immer genau genug unterschieden oder wohl gar mit Eros und Anteros (Liebe und Gegenliebe) verwechselt hat.

16. Brief.

87 Offenbar will Wieland durch diese beiden Worte einen Gegensatz andeuten, und man könnte glauben, daß er an Moritz gedacht habe, wenn er die von demselben angegebene Rection befolgt hätte, nämlich: es dünkt mich, und es däucht mir. Dünken, sagt er, ist etwas, das sich mehr in uns selbst und aus dem vorhergehenden Zustande unserer Seele entwickelt; es bezeichnet eine dunkle Erinnerung oder ein dunkles unwillkürliches Urtheil, dessen wir uns selbst noch nicht recht bewußt sind. Wir fällen hier nicht eigentlich das Urtheil, sondern es ist beinahe als ob es sich selbst fällte, und wir uns leidend dabei verhielten. Däuchten hingegen ist etwas, das erst von außenher durch einen sinnlichen Gegenstand in unsrer Seele erweckt wird. S. deutsche Sprachlehre in Briefen, 4te Aufl. S. 200 fg.

17. Brief.

88 In dem bei Br. 14 angeführten Sokratischen Dialog erklärt sich Aristipp gegen Sokrates für einen Weltbürger. Wieland bemerkt dabei [300] über des Sokrates Antwort: »Ich weiß nicht, ob man einem Menschen, der etwas besser als der unterste unter allen ist, etwas Härteres und zugleich Gröberes sagen kann, als was Xenophon den Sokrates hier dem armen Aristipp ins Gesicht sagen läßt; und Aristipp erscheint, durch die gute Art, wie er diese Attische Urbanität, aus Ehrerbietung vor dem alten Sokrates, erträgt (vermuthlich gegen Xenophons Absicht), in einem vortheilhaften Lichte. – So viel kann doch wohl Sokrates sich über Aristipp, der nicht etwa ein armer Schlucker, sondern ein Fremder von gutem Hause und Vermögen war, nicht herausgenommen haben, wenn er ihn im Ernste gewinnen wollte.« – Es könnte hiebei leicht von drei Seiten gefehlt seyn. Aristipp kündigt seinen Kosmopolitismus durch die Erklärung an, daß er sich an keinen Staat binden, sondern überall wie ein Fremder leben wolle, was denn freilich die eigennützigste Art von Weltbürgerschaft wäre; Sokrates hatte in Beziehung auf Menschenrechte und Bürgerpflichten etwas beschränkte Grundsätze; und Xenophon stellt überall den Aristipp in Schatten, und kann nur nicht vermeiden, ihn doch als den – selbstständigsten Schüler des Sokrates darzustellen, da er sich auf Platon nicht einläßt.

19. Brief.
89 Wortkargheit, wie sie den Lacedämoniern eigen war.

90 Aufseher, obrigkeitliche Würde in Sparta.


91 Ein ziemlich beißende Anspielung auf ein eben so ungerechtes als unkluges Unternehmen der Athener, welches noch in frischem Andenken war.


20. Brief.


92 In der Attischen Stadt Eleusis, wo Ceres den Triptolemos zuerst im Ackerbau unterrichtet hatte, wurde zum Andenken an diese für die fortschreitende Bildung so wichtige Begebenheit alle fünf Jahre ein Fest gefeiert, das Eleusische Fest, die Eleusinien genannt, welches mit besondern Mysterien verbunden war. Zu den Feierlichkeiten dieses neun Tage dauernden [301] Festes gehörte auch eine Procession, welche dn heiligen Korb (Kalathus) nach dem Tempel führte. Erlesene Jungfrauen, in Körbchen auf dem Haupte die Heiligthümer tragend, folgten. sie hießen davon Kanephoren oder Korbträgerinnen.


93 Wenn es Grund hätte, daß eine Venus des Skopas den Beinamen Pothos (Begierde, Sehnsucht) geführt hätte, wie Caylus in seiner Abhandlung de la sculpture et des sculpteurs anciens selon Pline sagt, so könnte man glauben, dieser Scherz der schönen Lais hätte zu jenem Beinamen Anlaß gegeben. Aber Aphrodite konnte ohne einen Barbarism, den die Griechische Sprache nicht erträgt, keinen männlichen Beinamen, wie ποϑος ist, führen. Auch sagt Plinius nicht, daß die Venus des Skopas Pothos geheißen habe; er nennt bloß, indem er eine ziemliche Anzahl der vorzüglichsten Werke dieses Künstlers aufzählt, eine Venus, einen Pothos und einen Phaëthon, vor allen übrigen: is (Scopas) fecit Venerem et Pothon et Phaëthontem, qui Samothraciae sanctissimis ceremoniis coluntur. (H.N. XXXVI. 5.) Wie dieser Pothos aber eigentlich gebildet gewesen, und vornehmlich wie er nebst dem Phaëthon zu der Ehre gekommen, die ihm auf jener durch die Kabirischen oder Orphischen Mysterien berühmt gewordenen Insel mit hochheiligen Ceremonien erzeigt worden seyn soll, gehört (meines Wissens) unter die noch unaufgelösten antiquarischen Probleme. In den alten Genealogien der Götter und Götterkinder findet sich kein Pothos; dem Homer ist er, als ein dämonisches Wesen, eben so unbekannt wie Eros; und wenn Plato in seinem (von wenigen recht verstandenen) Kratylus, den Sokrates einen spitzfindigen Unterschied zwischen Himeros, Pothos und Eros machen läßt, so spricht er von ihnen nicht als von Dämonen oder Genien, sondern betrachtet sie bloß als eine dreifache Modification des Θυμος, d.i. der leidenschaftlichen Bewegung des Gemüths zu einem begehrten Gegenstand: so daß Pothos die Begierde nach einem abwesenden bezeichnet, Himeros und Eros hingegen sich auf ein gegenwärtiges Object beziehen, aber unter sich wieder darin verschieden sind, daß die Begier, womit Himeros die Seele wie durch einen heftigen Strom zu dem Begehrten hinreißt, sich aus ihm selbst ergießt, da sie hingegen im Eros erst durch den Gegenstand entzündet wird und von außenher durch die Augen in die Seele strömt (εἰσρεε ἐξωϑεν, και ουκ οἰκεια ἐστιν ἡ ῥοη αὑτη τω ἐχοντι, ἀλλ᾽ ἐπεισακτος δια τῶν ὀμματων.) So viel scheint indessen gewiß, daß der Pothos [302] des Skopas eine allegorische Person, vermuthlich ein vom Eros und Himeros hinlänglich unterschiedener und die Sehnsucht nach einem abwesenden Geliebten symbolisierender Genius gewesen seyn müsse. Vielleicht war Skopas der erste Künstler, der diese Personification unternahm; wenigstens scheint er sich darin gefallen zu haben, da, nach dem Berichte des Pausanias(Libr. 1. c. 43. §. 7. pag. 167. edit. Facii), auch in einem Tempel der Venus zu Megara neben den Bildsäulen des Eros und Himeros, auch eine des Pothos zu sehen war. W.


94 Eine Silbermünze, an Werth ungefähr einem Kopfstücke von 20 Kr. gleich, deren hundert eine Mine ausmachten.


95 Einige Leser werden sich vielleicht bei dieser Stelle des


Non cuivis homini contingit adire Corinthum


aus Horazens Epistel an Scäva, und des

Ad cujus jacuit Graecia tota fores


des Properz (L. II. El. 6.) erinnern. Aristipp konnte sie freilich nicht im Sinne gehabt haben; aber das erste ist auch bloß die Uebersetzung des Griechischen Sprüchworts, οὐ παντος ἀνδρος εἰς Κορινϑον ἐστιν ὁ πλοῦς, welches älter als Lais und Aristipp war; und das andere könnte, möglicher Weise, für eine Anspielung des sehr belesenen Römischen Dichters auf diesen Scherz des Aristipp gehalten werden, wenn man nicht zugeben will, daß zwei Personen auf eben denselben Gedanken und Ausdruck gerathen können, ohne daß die eine ihn nothwendig der andern abgestohlen haben muß. W.

23. Brief.

96 Landenge. Auf einem solchen schmalen Erdstreifen, der den Peloponnes mit Attika verbindet, lag Korinth, und dieß brachte wohl Lais darauf, mittelst seiner die Enge des Raumes auf die Zeit überzutragen.


97 Einem jeden, der den Phädrus des Plato im Original oder in der neuesten Uebersetzung (von dem Herrn Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg) gelesen hat, [303] muß sogleich in die Augen springen, daß hier von keinem andern Ahorn die Rede seyn könne, als von dem, der durch die in seinem Schatten vorgefallne Unterredung zwischen Sokrates und dem schönen Phädrus einer der berühmtesten Bäume in der Welt geworden ist; und so hätte sich's durch ein sonderbares Spiel des Zufalls gefügt, daß die schöne Lais ihre erste Bekanntschaft mit Sokrates (um dessentwillen sie die Reise nach Athen unternahm) gerade unter diesem Ahorn an eben dem Abend, da jenes berühmte Gespräch vorgefallen, gemacht hätte. Unglücklicherweise stößt sich's (wenn wir auch andere kleine Zweifel nicht achten wollen) an einen topographischen Umstand, der diese Zusammenkunft unmöglich zu machen scheint. Der besagte Ahorn nämlich stand ganz nahe an dem kleinen Bach Ilissus, der aus dem Berg Hymettus ostwärts von Athen entspringt; Lais aber kam von Megara und Eleusis auf dem entgegen gesetzten Wege her, und hätte, ohne irgend einen denkbaren Grund, einen Umweg von mehreren Meilen nehmen müssen, um bei dem Ahorn, unter welchem Sokrates zufälliger Weise saß, vorbei zu kommen. Daß entweder sie selbst oder Plato in der Angabe des Orts so gröblich sich geirrt haben sollte, läßt sich um so weniger annehmen, da beide in der Bezeichnung desselben genau zusammenstimmen. Ich sehe also weder wie dieser Knoten, wofern unsre Aristippische Briefsammlung ächt seyn sollte, aufgelöset, noch wie der Urheber derselben, falls sie erdichtet ist, von dem Vorwurf einer groben Unwissenheit oder Nachlässigkeit frei gesprochen werden könnte. Das einzige Mittel aus dieser Schwierigkeit herauszukommen, wäre, wenn der geneigte Leser sich gefallen lassen wollte, den Ahorn sammt dem Ilissus und dem Berg Hymettus in Gedanken auf die Westseite vor Athen an die Straße von Eleusis zu versetzen: eine Gefälligkeit, die man ihm freilich, wofern er sich nicht aus gutem Willen dazu bequemt, nicht wohl ansinnen kann, ob sie gleich im Grunde nicht mühsamer wäre, als wenn Mercur und Charon beim Lucian, durch die magische Kraft etlicher Homerischer Verse den Ossa auf den Olymp, den Pelion auf den Ossa, und zuletzt noch gar den Oeta und den Parnaß auf den Pelion thürmen, um sich einen tauglichen Standpunkt zur Uebersicht des Erdkreises zu verschaffen. W.


98 Tänaros, Vorgebirg an der äußersten Spitze des Peloponnes, Athos, Berg auf einer Halbinsel in Macedonien. Beide bezeichnen Griechenland von einem Ende zum andern.

[304] 25. Brief.

99 Eine phrygische Gottheit, die von verschiedenen Oertern verschiedene Namen hatte, Kybele, Berecynthia u.a.


100 Obrigkeitliche Personen zu Athen, denen die Polizei des weiblichen Theils der Einwohner dieser großen Stadt anbefohlen war. W.


101 Wird man wohl am besten kennen lernen durch Wielands Versuch über das Xenophontische Gastmahl im Attischen Museum Bd. 4.


102 (Beschützerin der Stadt) – Ein Beiname der Minerva, als der Schutzgöttin von Athen. Vor dem Tempel, den sie unter diesem Namen auf der Akropolis hatte, stand ein uralter Oelbaum, der Tradition nach eben derselbe, durch dessen Hervorbringung die Göttin den Sieg über den Neptun, der ihr das Schirmrecht über Athen streitig machte, erhalten hatte. W.


103 Die Göttin des glücklichen und unglücklichen Zufalls. W.


104 (Flötenspielerinnen) – Gewöhnlich wie die Tänzerinnen und Eitherspielerinnen, eine Classe von Hetären, welche bei Gastmählern gedungen wurden, die Gäste mit ihrer Kunst zu unterhalten. W.


105 Ein vornehmer Athener dieses Namens bewarb sich, zugleich mit Megakles, Alkmäons Sohn von Athen und vielen andern ansehnlichen Freiern, um Agerista, die Tochter des Klisthenes, Tyrannen von Sicyon. Der Vater wußte sich nicht besser zu helfen, als daß er seine Tochter demjenigen zusagte, der bei einem angestellten großen Gastmahl die vorzüglichsten Talente beweisen würde. Hippokleides trieb bei diesem Wettstreit seinen Eifer so weit, daß er, um eine Kunst, worin es ihm keiner seiner Mitwerber nachthun könnte, zu zeigen, auf dem Kopfe zu tanzen anfing. Das dünkte dem alten Herrn gar zu arg. Du hast dich um meine Tochter getanzt, sagte er zu dem jungen Springinsfeld; ich gebe sie dem Sohne Alkmäons. Das läßt Hippokleides sich nicht kümmern, erwiederte dieser, und man fand die Antwort so merk würdig, daß sie zu einem der gemeinsten Sprüchwörter ward. W.

[305] 26. Brief.

106 Welche Grundsätze Sokrates über diesen delicaten Punkt hatte, sieht man aus Xenophons Sokratischen Denkwürdigkeiten B. 1. Kap. 3., und wie sich selbst Antisthenes danach richtete, aus Xenophons Gastmahl.

30. Brief.

107 Wenn man den Namen Lysippus hört, denkt man gewöhnlich nur an den großen Bildhauer, der diesen Namen zu einem der berühmtesten in der Kunstgeschichte gemacht hat. Es gab aber auch einen Komödiendichter dieses Namens, und von ihm sind die vom Aristipp hier angeführten Verse, die im Original also lauten:


Ει μη τεϑεασαι τας Αϑηνας, στελεχος ἐι.
Ει δε τεϑεασαι, μη τεϑηρευσαι δ᾽, ὀνος.
Ει δ᾽ ἐυσαρεστων ἀποτρεχεις, κανϑηλιον.

S. Henr. Stephani Dicaearchi Geograph. Quaedam c. 3. (in Vol. XI. Thes. Gronov. p. 14.) oder Hudsons Geograph. Graec. T. II. W.


108 Außer unserm Aristipp (dessen Autorität ich hier keineswegs in Anschlag gebracht haben will) ist Plinius der einzige alte Schriftsteller, der des hier beschriebenen Gemäldes Meldung thut; aber die Art, wie er sich darüber ausdrückt, scheint mir anzuzeigen, daß er es bloß von Hörensagen gekannt habe. Hier sind seine eigenen Worte: Pinxit et demon Atheniensium, argumento quoque ingenioso: volebat namque varium, iracundum, injustum, inconstantem, eundem exorabilem, clementem, misericordem, excelsum, gloriosum, humilem, ferocem fugacemque et omnia pariter, ostendere. – De la Naure in einem Memoire sur la manière dont Pline a traité de la Peinture, ist mit dem berühmten de Piles (Cours de Peinture p. 75. s.) geneigt zu glauben, daß Parrhasius diese schwere und beinahe unmögliche Aufgabe durch eine allegorische Composition, auf eine ähnliche Weise wie Rafael in seiner sogenannten Schule von Athen ein ähnliches Problem, nämlich eine Charakteristik der verschiednen philosophischen Schulen und Secten unter den Griechen, aufzulösen versucht habe. Car enfin (sagt er), un [306] tableau allégorique du génie d'un peuple par le moyen de plusieurs groupes, qui en retraçant des événemens historiques de divers tems, marqueroient la vicissitude des sentimens populaires, ne paroît pas plus difficile à concevoir qu'un tableau allégorique du génie de la philosophie par d'autres groupes, qui en représentant des personnages historiques de différens pays et de différens siècles, indiquent la vicissitude des opinions philosophiques. Le parallèle (setzt er hinzu) semble complet, avec cette différence, que le sujet caustique de Parrhasius étoit délicat à traiter: aussi Pline a-t-il insinué par le terme il vouloit, que l'exécution, ou du moins le succès, furent moins heureux que l'invention. – Mir scheint das volebat des Plinius nichts weiter anzudeuten, als daß er sich, da er dieses sonderbare Gemälde nicht selbst gesehen hatte, aus bescheidener Zurückhaltung nicht positiver ausdrücken wollte. Uebrigens berge ich nicht, daß ich die Idee, die uns Aristipp von diesem Gemälde gibt, und die Art, wie das räthselhafte Problem dadurch aufgelöset wird, der zwar sinnreichen, aber dem Leser keinen klaren Begriff gebenden Hypothese des de Piles, vorziehe. Die erheblichste Einwendung, die man gegen sie machen kann und wird, gründet sich auf die ziemlich allgemein angenommene Meinung, weder Parrhasius noch irgend ein anderer Griechischer Maler hätte, aus Unbekanntschaft mit den Regeln der Perspectiv, auch nur den Gedanken fassen können, ein Stück auf diese Art zusammenzusetzen und zu disponiren, wie der Demos Athenäon nach Aristipps Beschreibung hätte geordnet seyn müssen. Die Alten, sagt man, hatten keinen Begriff von Vor-, Mittel- und Hinter-Grund; sie stellten auch in ihren reichsten Compositionen alle Figuren und Gruppen auf Einen Plan, und die optischen Gesetze, nach welchen verschiedene Körper, in verschiedenen Entfernungen aus Einem Gesichtspunkt gesehen, verhältnißmäßig größer oder kleiner, stärker oder matter gefärbt erscheinen, waren ihnen unbekannt. Ohne mich hier in Erörterung der Gründe einzulassen, warum ich über diesen Punkt der Meinung des Grafen Caylus zugethan bin (S. dessen Abhandlung über die Perspectiv der Alten im neununddreißigsten Band der Mémoires de Littérature), begnüge ich mich zu sagen, daß ich für den Demos des Parrhasius, so wie Aristipp dieses Gemälde beschreibt, weiter nichts verlange, als was man den beiden großen Compositionen eines ältern Malers, des Polygnotus, die an den beiden Hauptwänden der sogenannten Lesche zu Delphi zu sehen waren, und wovon die eine das eroberte Troja und die Abfahrt der Griechen, [307] die andere den Homerischen Ulyß im Hades darstellte, zugestehen muß, wenn man anders so billig seyn will, einem Maler, wie Polygnotus war, zuzutrauen, daß er die ungeheure Menge von Figuren und Gruppen, womit diese großen Schildereien, nach dem ausführlichen Bericht des Pausanias, angefüllt waren, etwas ordentlicher und verständlicher zusammengesetzt haben werde, als dieser geschmacklose inquisitive traveller sie beschreibt. Zwar geht er, mit der mühseligsten Genauigkeit in die kleinsten Details ein, zählt uns alle auf dem ganzen Gemälde vorkommende, beinahe unzähligen Personen, mit dem jedem beigeschriebenen Namen, wie aus einer Musterrolle zu, bemerkt ob sie einen Bart haben oder noch bartlos sind, ob ihre Namen aus dem Homer, oder aus der sogenannten kleinen Ilias eines gewissen Lesches genommen, oder vom Polygnot eigenmächtig erfunden worden, und was dergleichen mehr ist. Ihm ist die kleinste Kleinigkeit dieser Art merkwürdig; z.B. daß zu den Füßen eines gewissen unbedeutenden Amphiales ein Knabe sitzt, dem kein Name beigeschrieben ist; daß Meges und Lykomedes, jener eine Wunde am Arm, dieser eine an der Vorhand hat; daß nach dem Bericht des besagten Dichters Lesches, Meges seine Wunde von einem gewissen Admet, Lykomedes die seinige von Agenorn bekommen; daß der Maler dem armen Lykomed, ohne von dem Dichter dazu autorisirt zu seyn, noch eine andere Wunde am Schenkel und eine dritte am Kopfe geschlagen u.s.w. Und in tausend solchen einzelnen Beschreibungen und Umständlichkeiten, immer mit beigemischten mikrologisch-philologischen Anmerkungen von diesem Schlage, verwirrt und verliert der gute Mann sich selbst, seine Leser und das Gemälde, wovon die Rede ist, dermaßen, daß er selbst und wir vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen können. Alle diese einzelnen Personen und Sachen, die er uns so graphisch als ihm möglich ist verzeichnet, in unserm Kopfe zusammen zu ordnen, und ein Ganzes daraus zu machen, überläßt er uns selbst. Daß dieß eben nicht schlechterdings unmöglich sey, hat Graf Caylus durch eine der ehmaligen Académie des Belles Lettres vorgelegte und von einem gewissen Le Lorrain in Kupfer geätzte Zeichnung bewiesen. (S. Descript. de deux Tableaux de Polygnote etc. im dreizehnten Bande der Histoire de l'Acad. Roy. des Inscr. et B.L. p. 54 der Duodez-Ausgabe.) Indessen hat Pausanias sein Möglichstes gethan, uns über den Punkt, woran uns jetzt am meisten gelegen ist, wo nicht gänzlich irre zu führen, doch wenigstens ungewiß zu machen, und bei vielen den Gedanken zu veranlassen, weil er von der [308] malerischen Anordnung und der hierin bewiesenen Kunst des Meisters kein Wort sagt, so müsse es wohl dem Gemälde selbst daran gefehlt haben. Aber diesen Schluß kann oder sollte doch niemand machen, der sich aus dem ganzen Werke des Pausanias handgreiflich überzeugen könnte, daß es unmöglich ist weniger Sinn für die Kunst zu haben als er, und daß alle Werke der bildenden Künste, in deren Aufsuchung, Beaugenscheinigung und Beschreibung er so sorgfältig und mühsam war, ihn nur insofern interessirten, als sie ihm zu dem, was zugleich sein Hauptstudium und sein Steckenpferd war, zu mythologischen, antiquarischen, topographischen, chronologischen, genealogischen, kurz zu allen möglichen Arten von historischen Anmerkungen und Untersuchungen Gelegenheit gaben. Dieß muß (seinen übrigen Verdiensten unbeschadet) als Wahrheit anerkannt werden, oder wir würden genöthigt seyn, uns auch von dem Olympischen Jupiter des Phidias, seiner kalten, platten, genie- und gefühllosen Beschreibung zufolge, einen ganz andern Begriff zu machen als wozu uns alle andern Schriftsteller des Alterthums, die dieses erhabenen Kunstwerks erwähnen, berechtigen. Uebrigens werde ich mit niemand hadern, der sich selbst begreiflich machen kann, wie Polygnot jene zwei von Pausanias detaillirten Gemälde ohne einige, obgleich noch sehr unvollkommene perspectivische Ordonnanz und Haltung der Gruppen, in welche die ungeheure Menge von Figuren nothwendig vertheilt seyn mußten, habe zu Stande bringen können. Ich sage bloß: waren diese großen Compositionen des Polygnotus das, was sie, nach dem Begriff, den ich mir aus Xenophon und Plinius von diesem Künstler mache, seyn konnten, und (wofern sie nicht ein kindisches Gemengsel über, unter und neben einander geklecks'ter isolirter Figuren waren) seyn mußten: so dürfte wohl gegen die Möglichkeit, daß Parrhasius, ein jüngerer und größerer Meister als Polygnot – ein Werk, wie das von Aristipp in diesem Briefe (nur mit etwas mehr Kunstgefühl, als Pausanias zeigt) beschriebene Gemälde habe aufstellen können, wenig Erhebliches einzuwenden seyn. Denn, wofern er, wie kein Zweifel ist, einer von jenen summis pictoribus, formarum varietate locos distinguentibus war (Cicero de Orat. II. 87.), so müßte es nicht natürlich zugegangen seyn, wenn er nicht so viel Menschenverstand, Augenmaß und Kunstfertigkeit besessen hätte, als dazu erfordert wird, den Markt zu Athen, auf einer Tafel von gehöriger Größe, ohne Verwirrung und Unnatur mit allen von Aristipp angegebenen Figuren und Gruppen auszufüllen. Und mehr verlangen wir nicht von ihm. W.


[309] 109 Eine fehlerhafte Redefigur bei den alten Grammatikern, wenn ein Wort auf eine ungewöhnliche und auffallende Art gegen seine wahre Bedeutung genommen wird. (Die nothwendigen, und daher nicht zu tadelnden Katachresen, wovon Quinctilian spricht, gehören eigentlich nicht in diese Rubrik, und sollten billig einen andern Namen haben.) W.


32. Brief.


110 In einer Anmerkung zu dem schon öfter erwähnten Sokratischen Dialog, den man hier etwas persiflirt zu sehen sehr begreiflich finden wird, sagt Wieland: das Wort Liebe sollte nie so sehr mißbraucht und herabgewürdigt werden, um die oft sehr unsittliche Befriedigung eines Triebes zu verschleiern, für welchen, sobald er von dem reinen Zweck der Natur getrennt wird, keine Sprache ein anständiges Wort hat. Da der Name Aphrodite, für Venus, allen deutschen Lesern bekannt ist, so däucht mich, es geschehe durch den Ausdruck Aphrodisische Befriedigungen der Pflicht, sich dem Leser verständlich zu machen, ein hinlängliches Genüge, und es werde zugleich die höhere Pflicht beobachtet, ungleichartige Dinge nicht mit einander zu vermengen, und einem Worte, das den schönsten und edelsten Affect der menschlichen Seele zu bezeichnen bestimmt ist, durch einen, obgleich wohlgemeinen Mißbrauch eine so leicht vermeidliche Zweideutigkeit zuzuziehen. Ein ausländischen Wort, insofern es nur verständlich genug und überhaupt so beschaffen ist, daß es unter gesitteten Menschen gehört werden kann, dünkt mich hiezu immer das schicklichste.


111 Aristophanes verspottet öfters die von Euripides in Bettlerlumpen und überhaupt höchst lamentabel aufgeführten Könige.


112 Antisthenes war in dem Flecken Piräum zu Hause, der zu dem Attischen Hafen gleiches Namens gehörte, und größtentheils von Handwerkern, die der Schiffsbau beschäftigte, Matrosen, Fischern und andern zur untersten Classe des Athenischen Volkes gerechneten Leuten bewohnt wurde. Dieß erklärt, was Aristipp unter Piräischem Salz im Gegensatz mit Attischem zu verstehen scheint. W.

[310] 34. Brief.

113 Was Plutarch am Schlusse seines Alcibiades von dieser Timandra sagt, paßt sehr gut zu der vortheilhaften Schilderung, welche unser Aristipp von ihr macht. Daß sie aber (wie eben dieser Autor im Vorbeigehen als etwas Ungewisses erwähnt, der Scholiast des Aristophanes aber, wenn anders Epimandra nicht die rechte Lesart ist, positiv versichert) die Mutter der Lais von Hykkara gewesen, scheint dadurch schon hinlänglich widerlegt zu seyn, daß Timandra in diesem Falle wenigstens über vierzig Jahre gehabt haben müßte, als sie mit dem Alcibiades während seiner Verborgenheit in einem Phrygischen Dorfe lebte. Die Lais, welche eine Tochter der Timandra gewesen seyn soll, müßte also, wofern die Sage Grund hätte, eine von den spätern Laissen gewesen seyn, die diesen durch die erste Lais so berühmt gewordenen Namen, vielleicht der guten Vorbedeutung wegen, angenommen haben mögen. W.


114 Das Geschäft der alten Rhapsoden war, die Gesänge Homers und a. zu recitiren und mit begeisterten Vorträgen zu begleiten. Ion, einer der berühmtesten jener Zeit, ist durch einen Dialog Platons verewigt, der seinen Namen führt, und voraus man die alten Rhapsoden sich am lebhaftesten vergegenwärtigen kann.

37. Brief.
115 Sonnengott.

116 Meeresgöttin.


117 Der fanatische, dem Wahnsinn ähnliche Zustand, worein (wie die Alten glaubten) diejenigen geriethen, die eine Nymphe unversehens ansichtig wurden.

38. Brief.

118 Diese große und mächtige Stadt auf der östlichen Küste von Sicilien, mit drei Häfen, von denen zwei durch die Insel Ortygia getrennt waren, die eins der Quartiere der Stadt ausmachte, war gegen 700 Jahre v. Ch. durch Colonisten aus Korinth gegründet worden. Ihre Verfassung war ursprünglich aristokratisch, und [311] bestand über 200 Jahre glücklich. Nun aber wurden die alten Landeigenthümer von denen, die an dem Landeigenthum keinen Antheil hatten, vertrieben, und es entspann sich daraus ein lange dauernder, nur zuweilen unterbrochner Krieg, während man zugleich gegen Carthago's Uebermacht zu kämpfen hatte. Dieß gab den Feldherren so große Macht, daß es ihnen nicht schwer fiel, die Alleinherrschaft an sich zu bringen. Gegen das Jahr 478 erhielt sie der treffliche Gelon, dem sein Bruder Hieron folgte, gefeiert durch Pindars Hymnen und Xenophons Lobschrift, jedoch als Fürst keineswegs so ruhmwürdig als sein Bruder. Unter dem dritten Bruder wurde die Demokratie wieder hergestellt, während deren etwa sechzigjähriger Dauer das Project des Alcibiades gegen Sicilien ausgeführt wurde. Kaum war dieses glücklich vernichtet, als eine neue größere Gefahr von Carthago her drohte, welche Dionysius I schlau benutzte, um den umgestürzten Thron für sich wieder herzustellen. Er regierte von 407–367 v. Chr.


119 Agrigent auf der südlichen Küste von Sicilien war nach der Eroberung durch die Carthager gänzlich ausgeplündert, und alle Kostbarkeiten auch aus den Tempeln waren nach Carthago gebracht worden.


120 Auch Plutarch legt dieses Wort dem Dionysius in den Mund: Και το του Διονυσιου ἀληϑες ἐστι. Εφη γαρ ἀπολαυειν μαλιστα της ἀρχης, ὁταν ταχεως ἁ βουλεται ποιη. ΠΡΟΣ ἩΓΕΜ. ΑΠΑΙΔ. pag. 368.(Opp. Moral. edit. Xylandri.) Aus dem Vorhergehenden und Nachfolgenden ist mir klar, daß der gute Plutarch (dem es bloß darum zu thun war, bei dieser Gelegenheit eine, wiewohl sehr alltägliche, moralische Lehre anzubringen) die Meinung des Dionysius eben so unrichtig gefaßt habe als die Syrakusischen Herren, mit welchen Aristipp hier diskutiert. Der natürlichste Sinn dieses Fürstenworts, oder vielmehr der einzige, den es ohne Verdrehung und Deutelung darbietet, scheint derjenige zu seyn, welchen Aristipp darin gesehen hat. W.

39. Brief.
121 S. Diod. Sic. 13, 112.
[312] 43. Brief.
122 Gesetzgeber.

44. Brief.


123 Anspielung auf die Reise der Homerischen Götter zu den unsträflichen Aethiopen an des Okeanos Fluth, d.i. ans Ende der Erde, von wo sie je nach zwölf Tagen zu dem Olymp zurückkehrten. Wem es um Erklärung zu thun ist, der sehe Dorneddens »Neue Theorie zur Erklärung der Griechischen Mythologie.«


124 Sie lautete wie sie im Tempel der Demeter, als dem Staats-Archiv, aufbewahrt wurde, so: diese Klage hat angestellt und beschworen Melitos, des Melitos Sohn der Pittheer gegen Sokrates des Sophroniskos Sohn aus dem Alopekischen Demos. Sokrates handelt gegen die Gesetze, indem er die Götter, die der Staat für solche hält, nicht glaubt, sondern andre neue Dämonien einführt. Er handelt ferner gegen die Gesetze, indem er die Jünglinge verderbt. Die Strafe sey der Tod.


125 Bei dieser ganzen Untersuchung dient zu einer vorzüglichen Erläuterung die Abhandlung über den Proceß des Sokrates in der Bibliothek der alten Literatur und Kunst (von Heeren und Tychsen). Im zweiten Stücke S. 5. fgg. wird der dunkle Punkt beleuchtet, bei welchem Gerichtshof Sokrates angeklagt worden sey. Sonst, heißt es, glaubte man gewöhnlich, daß er vor dem Areopagus gerichtet sey, und es sind für diese Meinung viele Gründe. Der Areopag war gleichsam das höchste Polizei-Collegium in Athen, das über die Sitten und Aufführung der Bürger, besonders der Jünglinge, die Aufsicht hatte. Da S. vorzüglich als Jugendverderber angeklagt ward, so scheint diese Sache am natürlichsten vor diesen Gerichtshof zu gehören. Auch urtheilte der Areopag über Neuerungen, und richtete, außer den Blutsachen, besonders in Sachen, die die Religion betrafen. Plutarch erzählt, Euripides habe nicht laut sagen dürfen, daß er die Götter des Volks läugne, aus Furcht vor der Ahndung des Areopagus; und ebenso sagt Justin der Märtyrer, daß Plato wegen seiner neuen Lehre von Einem Gott den Areopag gefürchtet habe. Ferner beruft man sich auf die Beispiele Theodors des [313] Atheisten und des Apostels Paulus, die beide vor dem Areopag belangt wurden; der letztere aus eben dem Grunde wie Sokrates, weil er neue Götter lehrte. Allein so scheinbar einige dieser Gründe sind, so sind dagegen Schwierigkeiten, die sich nicht heben lassen. Die Zahl der Richter, die in der Sache des Sokrates saßen, ist zu groß. Es wird erzählt, daß 281 Stimmen mehr gewesen, die den S. verurtheilt als ihn lossprachen, und daß von den letztern zuletzt noch 80 gegen ihn gestimmt hätten. Dieß gäbe wenigstens 361 Richter, so viel wohl nie im Areopagus gewesen sind. Auch kommt in keiner der Apologien eine Spur vom Areopag vor, oder von den diesem ehrwürdigen Gericht eigenen Gebräuchen, welches doch sicher zu erwarten wäre. Ferner schickt sich das, was Plato den S. sagen läßt, daß seine Richter Demüthigungen und Erflehungen ihres Mitleids und Gnade von ihm erwarteten, gar nicht zum Areopagus, wo alle diese Mittel, die Gerechtigkeit zu beugen, strenge verboten waren. Plato endlich läßt den S. am Tage seiner Verurtheilung vor der Halle des Königs wandeln, was sich zum Areopagus, der unter freiem Himmel Gericht hielt, gar nicht schickt. Aus diesen Gründen wird wahrscheinlich, daß die Sache des S., wenn sie gleich, der alten Einrichtung Solons gemäß, eigentlich vor den Areopagus gehörte, doch vor einem der Volksgerichte geführt sey, wozu die Ursachen in der damaligen Verfassung Athens lagen. Der Areopagus hatte durch die Verwaltung des Perikles von seinem Ansehen und seinen Geschäften so viel verloren, daß ihm in diesen Zeiten fast bloß die Blutsachen übrig geblieben, und die Religionssachen zu den Volksgerichten gezogen zu seyn scheinen. Schon lange vor Sokrates wurden Aspasia und Alcibiades, die beide ähnlicher Vergehungen gegen die Religion beschuldigt waren, nicht vor dem Areopag, sondern vor einem Volksgericht angeklagt. Man könnte sogar muthmaßen, daß in diesem Jahre gar kein Areopag existirt habe, weil in den vorhergehenden Jahren die ganze Verfassung Athens erschüttert und unter den 30 Tyrannen wenigstens keine Archonten gewesen waren, aus welchen allein der Areopag bestand. Dann wäre ein Grund gefunden, warum die Feinde des S. gerade dieses Jahr zu ihrer Anklage gewählt hätten, weil sie eher hoffen konnten, die Richter in einem der Volksgerichte zu blenden und einzunehmen, als die ehrwürdigen Mitglieder des Areopags. Das Gericht, vor welchem S. angeklagt wurde, war höchst wahrscheinlich das Heltastische; ein Gerichtshof, der nach dem Areopagus der angesehenste und größte in Athen war.


[314] 126 Dieser berühmte Redner bot dem S. eine Schutzrede an, die dieser aber nicht annahm, weil eine künstliche Vertheidigung sich für seinen Charakter nicht schicken würde. Cic. de Orat. 1, 54.


127 Weil dieser berühmte Centaur eine Art von Ritterakademie in Thessalien hatte, wo auch Achilles seine Bildung erhielt, so steht er hier statt Erzieher überhaupt.

45. Brief.

128 Der Lederhändler, der nach Perikles sich zum Haupt der Athenischen Staatsverwaltung emporschwang, wird von Aristophanes in den Rittern als ein grober und ungeschlachter Schreier geschildert.


129 Das personificirte Volk, welches Aristophanes ebenfalls auf die Bühne brachte; auf diese Schilderung wird hier hingedeutet.


130 Ein auf einem Hügel gelegenes, halbkreisförmiges Gebäude, zu Volksversammlungen (Ekklesia) bestimmt, in der Nähe des Marktes von Athen.


131 Abkömmling von dem letzten Athenischen Könige, Kodrus.


132 Wie die berühmte Zaubrerin Medea in ihrem Zauberkessel ein Mittel bereitete, wodurch Aeson, ihres geliebten Jasons Vater, seine Jugend wieder erhielt, erzählt ausführlich Ovid im 7ten Buch der Verwandlungen.

46. Brief.

133 S. unter den Anm. S. 296 Prytanen.


134 Plato im Phädon erzählt, daß, als Theseus nach Kreta segelte, die bedungenen Jünglinge dem Minos als Tribut zu bringen, die Athener dem Apollon eine jährliche heilige Sendung nach Delos gelobten, wofern sie gerettet würden. Sie wurden gerettet, und das Gelübde erfüllt. Von der Zeit des Abgangs bis zur Rückkunft des heiligen Schiffes durfte in Athen kein Todesurtheil vollzogen werden.

[315]
48. Brief.

135 Auch zur Verständniß dieses Briefes verweisen wir auf die schon erwähnte Abhandlung über Athens Verfassung.


136 Anspielung an die φρατορας τριοβολου des Aristophanes in den Rittern. S. Attisches Museum. 2. Bd. W.

49. Brief.
137 S. die Anm. zu Peregrinus Proteus, Bd. 16.
138 Name einer der Furien.
50. Brief.

139 Weibliches Gespenst, dem man nachsagte, daß es Menschen fresse. Vergl. die Anm. zu Agathodämon, 3. Buch, 14. Abschn. Bd. 18.


140 Hier mit Anspielung auf den Kunstausdruck der Maler, welche nasses Gewand jene Bekleidung nennen, durch welche die natürlichen Formen des Körpers durchscheinen.

51. Brief.

141 Man vergleiche, was in besonderer Beziehung auf Aristophanes über Sokrates von Schnelle gesagt ist in seinem Werke: welche classische Autoren, wie und in welcher Folge – – soll man auf Schulen lesen? Bd. 2. S. 901. fgg. Gewiß mußte Sokrates vielen seiner Landsleute aus diesem Gesichtspunkt erscheinen. Bei der angeführten Stelle ist übrigens noch zu bemerken, daß auch Schelle bei seinem Urtheil über Wielands Beurtheilung des Aristophanes keine Rücksicht auf Aristipp muß genommen haben.


142 Sind verschiedene Arten von Schmiedekünstlern der alten Welt, von denen die Alten eben so viel Wunderbares und Geheimnißvolles berichten, als die Neuern von den Freimaurern. Beide sind sich in der[316] That ähnlich genug, und eine zwischen ihnen gezogene Parallele könnte gar nicht uninteressant seyn, und vielleicht mehr aufklären als die meisten bisherigen Untersuchungen darüber.


143 S. Wielands Abhandlung: die Pythagorischen Frauen.


144 S. Diod. Sic. 14, 44. fgg.


145 Diese Anekdoten erzählt Cicero de nat. Deor. 3, 34. und Aelian V.H. 1. 20., bei welchen Stellen die Erklärer nachsehen können, wer das Genauere darüber kennen will.


146 Diese Anekdoten erzählt Cicero de nat. Deor. 3, 34. und Aelian V.H. 1. 20., bei welchen Stellen die Erklärer nachsehen können, wer das Genauere darüber kennen will.


147 Busiris wird als ein Aegyptischer König genannt, der seiner Grausamkeit wegen verrufen war, und man erzählt besonders von ihm, daß er die Fremden, die in sein Land kamen, schlachtete. Wie es sich eigentlich damit verhalte, ist hier nicht der Ort zu untersuchen. der Einfall des Dionysius entspricht dem von Napoleon, der von einer Apologie Nero's sprach, die, wenn ich nicht irre, auch geliefert worden ist. Einer Lobrede auf Busiris gedenken übrigens die Alten von dem Sophisten Polykrates, von demselben, der auch zur Probe eine Anklage-Rede gegen Sokrates verfertigte.


148 Ein wenig bekanntes Volk in Afrika; – Massageten, an der Ostseite des Kaspischen Meeres, nährten sich hauptsächlich von Fischen.

52. Brief.
149 S. die Anm. zu Agathadämon, 2. Buch, 8. Abschn. Bd. 18.
53. Brief.

150 Daß Kleombrot durch Lesung des Platonischen Dialogs Phädon veranlaßt worden sey, seinem Leben freiwillig ein Ende zu machen, war aus einem Epigramm des Kallimachus bekannt, welches die einzige Quelle dieser Anekdote zu seyn scheint. Denn Cicero, welcher derselben im 34. Kapitel des 1sten Buchs seiner Tusculanischen Gespräche Erwähnung thut, beruft sich auf dieses Epigramm, und alle [317] andern, die dieser Begebenheit erwähnen, oder über sie räsonniren, sind um mehrere Jahrhunderte später, und scheinen das, was sie davon wissen, entweder aus dem Griechischen Dichter selbst, oder aus dem Römer geschöpft zu haben. Das Epigramm des Kallimachus lautet:


Εἰπας Ἡλιε χαιρε Κλεομβροτος ᾥμβρακιωτης
ἡλατ᾽ αφ᾽ ὑψηλου τειχεος ἐις ἀϊδην,
Ἀξιον ὀυτι παϑων ϑανατου κακον, ἀλλα Πλατωνος
εν το περι ψυχης γραμμ᾽ ἀναλεξαμενος.
Rufend Sonne fahr' wohl! sprang von Ambraciens hohen
Mauern Kleombrotus einst rasch in den Hades hinab;
Nicht als hätt' er etwas des Todes Werthes erlitten,
Bloß weil er Platons Schrift über die Seele durchlas.

Der Phädon (welcher vermuthlich gemeint ist) hätte also bei diesem Jünger des Sokrates völlig das Gegentheil von dem gewirkt, was er auf den Philosophen Olympiodorus wirkte, der in seinem Commentar über diesen Platonischen Dialog versichert: er würde sich schon lange ums Leben gebracht haben, wenn ihn Plato nicht von der Unsterblichkeit der Seele überzeugt hätte. Es wird wohl immer eine unauflösliche Frage bleiben, ob die Worte des Epigramms, »ἀξιον ουτι παϑων« u.s.f. nur eine Vermuthung des Dichters sind, oder sich auf irgend ein besonderes historisches Zeugniß gründen. Daß Kleombrot sich zu Ambracien (gleichviel ob von der Stadtmauer oder von einer Felsenspitze) ins Meer gestürzt habe, weil er Platons Phädon gelesen, scheint Thatsache zu seyn: daß er es aber aus ungeduldigem Verlangen, sich von der Wahrheit der im Phädon vorgetragenen Lehre zu überzeugen, gethan habe, ist wenigstens ungewiß, und bei weitem nicht so wahrscheinlich als die Ursache und Veranlassung, die in dem vorliegenden Briefe angegeben wird. So dünkt es wenigstens mir; jedem sein Recht, die Sache anders zu sehen, vorbehalten. W.

Die hinter Kunst versteckte Bitterkeit in dem Vorwurfe Platons hat vor Wieland schon Demetrius der Phalereer auseinander gesetzt (de elocut. §. 306). Wieland läßt, entschuldigend, den Kleombrotos allein von dem Vorwurfe getroffen werden, und reinigt den Aristipp gänzlich von der Beschuldigung. »Dir – schreibt Kleombrot – that das verleumderische Gerücht Unrecht! Dich hatte die Pflicht nach Cyrene abgerufen!« Mit dieser Behauptung steht keine in einem grellern Contrast als die von Meiners, welcher (Geschichte d. Wiss. in Griech. [318] und Rom II. 649. Anm.) sagt: »Aristipp unterbrach sein Wohlleben auf der Insel Aegina keinen Augenblick, um seinem Lehrer in den Gefahren und zur Stunde des Todes beizustehen, ungeachtet er nur um 200 Stadien von ihm entfernt war.« Wären die von Leo Allatius herausgegebenen Briefe der Sokratiker ächt, so würde der 16te in dieser Sammlung doch nur beweisen, daß Aristipp wirklich in Aegina gewesen, aber gar nicht auf die Art, wie Meiners angibt. Woher hat er nun dieß erfahren? Er beruft sich auf Diogenes den Laerter; der aber sagt 3, 36.: »Platon war gegen Aristipp feindselig gesinnt; in seiner Schrift von der Seele macht er ihm daher bösen Leumund, indem er sagt, daß er bei des Sokrates Tode nicht zugegen, sondern in Aegina, nahe genug, gewesen sey.« In der Stelle aber, welche Meiners selbst anführt 2, 65 (der vorigen gedenkt er nicht), heißt es bloß: »Xenophon war dem Aristipp abgeneigt; auch Theodoros in seiner Schrift über die Secten verlästerte ihn (ἐκακισεν), und Platon in seiner Schrift über die Seele, wie ich anderwärts gesagt habe,« – nämlich in der vorigen Stelle. Vergebens beruft sich Meiners dabei auf Menage (et ibi Menag.), denn ich finde nicht, daß dieser ein Wort weiter hinzufügt, sondern nur daß er von der ersten Stelle auf die zweite, und von der zweiten auf die erste verweist. So leicht hat sich also Meiners die Verlästerung Aristipps gemacht, die am Ende ganz allein auf Platons Zeugniß sich gründet, den die übrigen Zeugen selbst für verdächtig erklären. Indeß auch Platon sagt nicht ein Wort weiter, als daß Aristipp damals in Aegina gewesen sey, und diese Thatsache wird ihm, wenigstens so viel ich weiß, von niemand bestritten. Hat also Meiners, um Aristipp schwärzer zu machen, mehr gesagt als er durfte, so hat hingegen Wieland, um ihn weißer zu machen, nicht nur weniger gesagt als er sollte, sondern auch ganz etwas anderes, und zwar, wenn die Nachricht gegründet wäre, daß Aristipp erst nach seines Vaters Tode zu Sokrates gereist sey, etwas durchaus Falsches. Wäre es bloß um einen Roman zu thun gewesen, so würde Wielands Rechtfertigung in den Gesetzen des Romans selbst liegen: da es ihm aber offenbar um eine Charakteristik zu thun ist, so fragt man billig nach seinen Gründen. Wie es scheint, hatte er keine anderen als daß 1) Platon selbst die Thatsache als bloßes Gerücht anführt, 2) daß Diogenes von Platons Anführung als von einer Verlästerung spricht, daß 3) der vor Aristipps Abreise erfolgte Tod seines Vaters keineswegs erwiesen ist und daß 4) Aristipp von Aegina aus mehrmals Reisen [319] machte. Dieß schien ihm vielleicht hinreichend zu der Erlaubniß, seine Neigung, durch etwas veränderte Stellung in Berichten der Anekdotenträger und Sammler ein Verdammungsurtheil abzuwenden, auch hier zu befriedigen. Bis indeß ein anderer so glücklich seyn wird auszufinden, was ich nicht habe ausfinden können, daß Aristipp wirklich nicht in Aegina gewesen sey, wird mir der Wunsch bleiben, Wieland möchte, statt eine Thatsache zu läugnen, lieber anders motivirt haben: den beabsichtigten Zweck hätte er doch erreicht.

54. Brief.

151 Plato stammte aus einem patricischen Geschlechte in Athen. Dropides, ein Bruder des Athenischen Gesetzgebers Solon, war der Aeltervater der Mutter Platons; Dropides stammte in gerader Linie von Kodrus, dem letzten Könige von Athen, und Kodrus war in der fünften Generation ein Abkömmling von dem Könige von Pylos und Vater Nestors, Neleus, einem vorgeblichen Sohne Poseidons oder Neptuns (nach Plutarch und Diogenes von Laerte.) Dieser Genealogie zufolge nennt hier Aristipp den Plato ein wenig naserümpfend einen Abkömmling Poseidons. W.


152 Platon.


153 Kunst des philosophischen und sonst gelehrten Streites mit Anwendung alles dessen, wodurch man den Gegner irre führen und täuschen kann.

55. Brief.

154 Anspielung auf die eigenen Worte Platons in der oben von Kleombrot in seinem Briefe an Aristipp angezogenen Stelle: »Wo blieb denn Plato? – Es hieß er sey unpäßlich.« W.

Wenn es indeß wahr ist, was Diogenes erzählt, daß Platon vor Gericht aufgetreten, um den Sokrates zu vertheidigen, und nur durch einen Attischen Scherz der Richter unterbrochen worden sey, so hätte sich Platon doch viel anders benommen als Aristipp.


155 Neben-, Bei-Werk.

156 Was das Gemüth in eine sanft anziehende, ruhig vergnügliche Bewegung setzt. W.
[320] 56. Brief.
157 Ein schöner Jüngling, den bei der Argonautenfahrt die Nymphen raubten.

158 S. Bd. 10.


159 Diogenes von Laërte hat uns zwei oder drei von diesen Epigrammen aufbehalten, wodurch Aristipp den göttlichen Plato bei seiner schönen Freundin in den Verdacht zu bringen sucht, als ob er gegen die Reize ihres Geschlechts unempfindlich gewesen. Der Compilator hat aber nicht vergessen, auch ein paar andere, an eine gewisse Xantippe (vermuthlich nicht die etwas saure aber sonst unbescholtne Hausfrau des Sokrates) und an die Hetäre Archianassa beizufügen, die unserm Briefsteller unbekannt gewesen seyn müssen, und mit welchen Plato sich gegen jene Beschuldigung aufs vollständigste hätte rechtfertigen können. Aber ernsthaft zu reden, wäre nichts unbilliger als solchen jugendlichen Scherzen, wie z.B. das Epigramm auf die alte Archianasse:


»In deren Runzeln sogar dräuend ein Liebesgott saß«

mehr Bedeutung beizulegen, als sie für unbesangene Augen haben können. W.
57. Brief.

160 Plinius erwähnt dieser beiden Stücke unter den berühmtesten Werken dieses Meisters. Sunt et duae picturae ejus nobilissimae, Hoplitides: alter in certamine ita decurrens ut sudare videatur; alter arma deponens ut anhelare sentiatur. H.N.I. 35. c. 10. W.


161 Pinxit et minoribus tabellis libidines, eo genere petulantis joci se reficiens. Plin. XXXV. 10. W.

59. Brief.

162 Diese in der Natur der Sache gegründete Weissagung ging, wiewohl etwas später als Aristipp glaubte, in Apelles, Protegenes und Aristides in Erfüllung. Wenn Plinius von dem letztern sagt: is omnium primus animum pinxit [321] et sensus omnes expressit, so kann er damit nicht haben sagen wollen, er sey der erste (der Zeit nach) gewesen, der die Seele und das Gemüth zu malen gewußt habe; denn da hätte er sich selbst in dem, was er vorher an Timanthes und Parrhasius gerühmt hatte, widersprochen: sondern nur, er habe in diesem Stück allen seinen Vorgängern und Nachfolgern den Rang abgewonnen. W.

61. Brief.

163 Die Musenkünste betreibend.


164 Eine Art Ueberrock oder Mantel, von grober Wolle, der kaum über die Knie reichte, und worin öfters die ganze Garderobe der Athenischen Bürger von geringem Vermögen bestand. W.

62. Brief.

165 Eine, von Einigen zu den Kykladischen, von Andern zu den Sporadischen, gerechnete, ganz mit Fels und Stein bedeckte Insel, wohin die Römer Criminalverbrecher verbannten.


166 Eine mit den schönsten Südfrüchten prangende Gegend in Nord-Afrika.


167 Tastbar.


168 Die im Unterleibe enthaltenen Eingeweide, wo nach der Meinung der Platoniker u.a. der thierische Theil der menschlichen Seele seinen Sitz hatte. W.

63. Brief.

169 Wird hier der Geist genannt, weil er, statt der materiellen Weltursache früherer Philosophen, den Geist (νους) als Welturheber aufstellte.


170 Pythagoras.

171 Pythagoras Gemahlin.
172 Eine der reizendsten Gegenden in Ionien, am Meere zwischen Ephesus und Myus gelegen. W.
[322] 64. Brief.

173 Die Athener, heißt es im Proceß des Sokrates, thaten alles, um ihre Hochachtung gegen ihn und ihren Schmerz über den Verlust eines so würdigen Mannes auszudrücken. Sie schlossen die Ring- und Uebungsplätze zu, wie bei einer allgemeinen Trauer, und straften seine Anhänger mit dem Tode oder der Landesverweisung. Dem Melitus, als Hauptkläger, ward der Tod zuerkannt, und Anytus, der sich nach Heraklea geflüchtet hatte, ward von den Herakleoten noch denselben Tag aus ihrer Stadt verwiesen. An dem Schicksal des letztern soll Antisthenes Ursache gewesen seyn, der einige Jünglinge aus Pontus, die nach Athen gekommen waren den Sokrates zu sehen, zum Anytus führte, und spöttisch sagte, das sey der Mann, den man für weiser und tugendhafter halte als den Sokrates. Die Athener fühlten die Wahrheit dieses Spotts so sehr, daß Anytus sogleich die Stadt räumen mußte. Dem Sokrates ward eine Statue aus Bronze an dem vornehmsten Platze der Stadt aufgestellt, und die große Folge der ganzen Begebenheit war, daß man nach dieser Zeit kein Beispiel von einer ähnlichen Anklage und Verurtheilung in Athen findet. So suchten die Athener dem unschuldig hingerichteten Weisen so viel Genugthuung zu geben als damals möglich war. Es scheint ungerecht, über diese plötzliche und heftige Reue zu spotten; denn man muß das Volk von den Richtern unterscheiden. Das Urtheil der Richter war nicht Urtheil des ganzen Volks, und das Betragen des letztern war nicht sowohl Reue, als Gefühl der anerkannten Unschuld des Sokrates, und Bestreben den Fehler einiger Bürger wieder gut zu machen und von sich zu entfernen. Auch geschah dieses nicht so plötzlich: Sokrates war 30 Tage im Gefängniß, ohne daß man daran dachte das Urtheil der Richter aufzuheben. Vielmehr scheint alles nach und nach durch seine Freunde bewirkt zu seyn, deren Vertheidigungen des Sokrates die Athener nun mit kühlerem Blut prüften, und die Unschuld des Sokrates und die Bosheit seiner Feinde entdeckten. Vielleicht trugen auch die Nach richten von seinem großen und standhaften Bezeigen im Gefängniß dazu bei. Das Betragen des Volks ist also die schönste Rechtfertigung sowohl für den Sokrates, als für die Athener selbst. – Während scheint daher den Kleonidas hier sehr hart urtheilen zu lassen, aber freilich – er läugnet auch die ganze Begebenheit. Die Gründe, die ihn dazu bewogen, sind [323] von Barthélemy in Bd. 5. der Reise des Anacharsis aufgeführtsur les prétendus regrets que les Athéniens témoignèrent après la mort de Socrate.


174 Plinius erwähnt dieser Anekdote im 10ten Kap. des 35sten Buchs: Magnis suffragiis superatus a Timanthe Sami in Ajace armorumque judicio, herois nomine se moleste ferre dicebat, quod iterum ab indigno victus esset. W.


175 Diese Vermuthung des Timanthes ist bekanntlich in vollem Maß eingetroffen. Plinius folgte in seinem Urtheil über den angeblichen Kunstgriff, welchen der Maler durch Verhüllung des Agamemnon angebracht haben sollte, allem Ansehen nach bloß der damals schon allgemein angenommenen und seitdem von unzähligen Neuern (ohne nähere Untersuchung, wie es scheint) nachgesprochenen Meinung. Timanthi plurimum adfuit ingenii; ejus enim est Iphigenia, oratorum laudibus celebrata, quâ stante ad aras periturâ, eum moestos pinxisset omnes, praecipue patruum Menelaum, cum tristitiae omnem imaginem consumsisset, patris ipsius vultum velavit, quem digne ostendere non poterat, l. cit. Ich müßte mich sehr irren, oder die Erklärung, welche Timanth in dieser Erzählung des Kleonidas den drei jungen Kunstkennern gibt, bedarf keiner weitern Beweise, um für die einzig wahre Darstellung seines Verfahrens und der Gründe desselben erkannt zu werden. W.

Ohne Zweifel dachte Wieland hiebei auch an das, was Lessing hierüber gesagt hat in dem Laokoon S. 34 fgg.

66. Brief.

176 Ein Schüler des Pythagoräers Archytas von Tarent, soll die Pythagorische Lehre zuerst öffentlich bekannt gemacht, so wie die Bewegung der Erde um die Sonne zuerst gelehrt haben.


67. Brief.


177 Wie Lais den Schluß ihrer Antwort unter den angegebenen Umständen hat schreiben können, überlasse ich denen auszumachen, welche gern Räthsel lösen.

[324] 68. Brief.

178 Uebertrieben subtile und pedantische Grübler, wahrscheinlich ein von Aristophanes in den Wolken zuerst in diesem Sinne gebrauchtes Wort. W.

Eine ausführliche Abhandlung über die Wörter Phrontis, Phrontizein, Phrontisten und Phrontisterion hat Wieland geliefert in seinen, der Uebersetzung der Wolken beigefügten Erläuterungen (Att. Mus. II. 2, 35–47). – Voß hat das Aristophanische Phrontisterion übersetzt durch Denkwirthschafteri, und Phrontist (μεριμνοφροντιστης) durch Tiefsinnesdenker.


179 Anspielung auf eine merkwürdige Allegorie Platons, wodurch er zu Anfange des siebenten Buches seiner Republik den menschlichen Zustand in Ansehung des Wissens und Nichtwissens zu versinnlichen sucht.


180 Aus Sesamon, einer kornartigen Hülfenfrucht, bereitet, mit Honig, Käse und Oel gemischt, war ein bei den Athenern sehr beliebtes Backwerk.


181 Es war eine alte Sitte bei den Athenern, daß jeder Gast seinen eigenen Bedienten mitbrachte, um sich von ihm bei der Tafel bedienen zu lassen, und vornehmlich um von den verschiedenen Gerichten, wovon jedem Gast eine reichliche Portion vorgesetzt wurde, alles was dieser nicht selbst verzehrte und was transportabel war (z.B. Stücke gebratnen Wildbrets, Würste, Hühner, Fische, wildes Geflügel, Kuchen u.s.w.), in einen bei sich habenden Korb oder Sack stecken und nach Hause tragen zu lassen. W.

69. Brief.

182 Dieß kann sich nur auf Hippasos von Metapont beziehen, der das Feuer für das Grundelement hielt, wodurch in periodischem Wechsel die Welt entstehe und untergehe.


183 Für die menschliche Erkenntniß gibt es eine doppelte Quelle, entweder die Sinnlichkeit oder Verstand und Vernunft. Jene zeigt die Dinge nur als einzelne, eigenthümliche, in ihrer Besonderheit, diese in ihrer Allgemeinheit, nach dem, was allen Dingen einer Art gemeinsam ist. Hienach unterschied Platon eine doppelte Welt, die Sinnenwelt und die Verstandeswelt (die intelligible, die nur durch [325] den Verstand und nicht durch den Sinn erkennbar ist). Nach seiner Ansicht erkennt man nur in dieser Verstandeswelt die Dinge wie sie an sich sind (als ὀντως ὀντα), rein von allen zufälligen Besonderheiten in ihrem wahren Wesen, oder, welches auf Eins hinausläuft, die Ideen derselben (wobei Platon hier an die Gattungsbilder dachte), gegen welche er die wirklichen Dinge nur als unvollkommene Nachbilder betrachtete. Wenn sie Wieland hier als bloße Schatten der Ontoos Ontoon, d.i., wie er oben übersetzte, der wirklich wirklichen Dinge angibt, so geschieht es in Beziehung auf die früher erwähnte Allegorie von der Höhle. Man vergleiche hiemit, was früher über die Platonischen Ideen gesagt ist.


184 Personificirung abstracter Begriffe und lebloser oder wenigstens unpersönlicher Dinge. Auch die Redefigur abwesende Personen als gegenwärtig aufzustellen und sprechen oder handeln zu lassen, führt bei den Grammatikern diesen Namen. W.


185 Trygäus, im Frieden des Aristophanes, reitet auf einem Mistkäfer in die Burg Jupiters, um diesen zu befragen, was er mit dem Hellenenvolke beschlossen habe.


186 (Wolkenkukuksheim) nennt Aristophanes die Stadt, die er die Vögel unter Anführung des Athenischen Abenteuerers Peisthetäros den Göttern zu Trotz in die Wolken bauen läßt. W.


187 Höhlenbewohner, wurden nach dieser thierischen Lebensweise von den Alten gewisse noch im rohesten Naturstande begriffene Menschenhorden genannt, deren Plinius in seiner Naturgeschichte mehrere aufführt. W.


188 (Fischesser) – Diejenige Classe der rohen Naturmenschen, die sich hauptsächlich vom Fischfang nähren. W.


189 Anthropodämon, scheint ein von Aristipp erfundenes Wort zu seyn, um damit diejenige energische Eigenschaft der menschlichen Natur zu bezeichnen, wodurch sie vermöge einer innern Nothwendigkeit ewig der höchsten Vollkommenheit entgegenstrebt, ohne sie gleichwohl jemals zu erreichen. W.


190 Ein Beiname der Göttin Nemesis, deren Amt war, alle aus Stolz und Uebermuth begangenen Frevel zu rächen, und deren Ungnade man sich also, nach dem gemeinen Glauben, durch Ungenügsamkeit und allzu üppige Wünsche zuzog. W.

Fußnoten

A1 Seine Anhänger werden Cyrenaiker genannt, auch Hedoniker, von Hedone, Wollust, über welche sich Wieland vielleicht am besten erklärt hat.

Zweiter Band

1. Kleonidas an Aristipp
[1] 1.
Kleonidas an Aristipp.

Seit einiger Zeit befindet sich ein junger Perser Namens Arasambes hier, der großes Aufsehen macht. Er ist (um bei dem anzufangen, was zuerst in die Augen fällt) der schönste Mann, den ich noch gesehen habe, von hoher Geburt (seine Mutter war eine Schwester des letzten Königs) und, wie es scheint, Herr eines unermeßlichen Vermögens. Sein vor kurzem verstorbener Vater, welcher Statthalter von Syrien gewesen war und seinen Sohn zu einer Stelle bestimmte, wo (seiner Meinung nach) ein feineres politisches Verhältniß gegen die vornehmsten Griechischen Freistaaten dem Dienst des großen Königs nützlich seyn könnte, hatte ihn zu diesem Ende schon in der ersten Jugend zu Sardes 1 und Ephesus nach Griechischer Art erziehen lassen. Er spricht unsre Sprache sehr geläufig, kennt unsere Dichter, und in Uebungen, die sich für eine Person seines Standes schicken, thut es ihm hier keiner zuvor. Er verbindet morgenländische Prachtliebe mit Griechischem Geschmack, hat die schönsten Pferde, die jemals in Ionien gesehen wurden, und macht sich den Milesiern [1] durch die funkelnden Dariken, die er in Umlauf bringt, nicht wenig beliebt.

Du erräthst leicht, Aristipp, was dir alle diese Vorboten ankündigen. Wie hätte ein so verzärtelter Günstling der Götter gegen die Reize des schönsten Weibes unserer Zeit gleichgültig bleiben können? Es scheint vielmehr, Eros, der sich nicht immer an ungleichen und widersinnischen Verbindungen belustigt, habe ihn geflissentlich nach Milet geführt, damit er die Einzige fände, die ihn selbst zweifelhaft machen kann ob er ihrer Liebe würdig sey. Kurz, Arasambes liegt, mit adamantenen Ketten 2 gebunden, zu den Füßen der schönen Lais, und erwartet von ihren Lippen die Entscheidung, »ob er der glücklichste oder der elendeste aller Sterblichen seyn soll.« Sie scheint noch unentschlossen, wiewohl ich es für unmöglich halte, daß sie von so vielen Vorzügen und Versuchungen nicht endlich überwältiget werden sollte. Aber das wunderbare Weib behält immer so viel Herrschaft über sich selbst, daß es noch keinem gelungen ist, ihre schwache Seite ausfindig zu machen; und wenn sie seiner Leidenschaft endlich nachgibt, so geschieht es gewiß nicht anders, als mit Vorbehalt ihrer Freiheit, die ihr, wie sie sagt, um den Thron des großen Königs selbst nicht feil wäre. Auch kennt Arasambes sie schon zu gut, um sich von den reichen Geschenken, womit er sie überhäuft, viele Wirkung zu versprechen; und damit man sehe, daß er selbst keinen Werth darauf lege, schenkt er einen Perlenschmuck, der zwanzig Attische Talente 3 werth ist, mit einer Miene weg, als ob es eine vergoldete Haarnadel wäre, und bloß dadurch zu etwas werde, wenn sie es anzunehmen [2] würdige; aber er treibt es in dieser großen Manier so weit, daß unsre Freundin für nöthig hielt, ihm zu erklären, daß sie unter keiner Bedingung weder kleine noch große Geschenke mehr von ihm annehmen würde. Du weißt, in welchem Grade die Zauberin es in ihrer Gewalt hat, selbst dem Verwegensten diese Art von zurückschauernder Ehrfurcht zu gebieten, wovon man beim Eintritt in das heilige Dunkel eines berühmten Tempels oder Hains unfreiwillig befallen wird. Arasambes, der sie wirklich bis zur Anbetung liebt, fühlt sich durch diese abergläubische Scheu noch mehr als andre durchdrungen, und bedarf daher eines Vertrauten um so mehr, da die ungewohnte Zurückhaltung seiner Leidenschaft ein peinlicher Zustand ist, den er nicht sehr lange ausdauern könnte. Dieser Vertraute, mein Freund – bin ich selbst, und höre, wie ich dazu gekommen bin. Bald nach meiner Zurückkunft nach Milet gerieth ich auf den Einfall, das berühmte allegorische Mährchen vom Prodikus, den Hercules auf dem Scheidewege, in zwei Seitenstücken zu malen; so daß Lais in dem einen die Tugend, in dem andern die Wollust vorstellt, und (wie du bereits errathen hast) der junge Göttersohn im einen der Erstern, im andern ihrer reizenden Gegnerin die Hand reicht. Ich arbeitete mit Liebe an diesen Bildern, aber so geheim, daß sogar Musarion nichts davon gewahr ward. Als sie vollendet waren, fügte sich's, daß mein Perser (der schon vorher eine besondere Zuneigung auf mich geworfen hatte, und die Kunst liebt) in meine Werkstatt kam, und über die beiden Bilder in ein solches Entzücken gerieth, daß ich mich genöthigt sah, sie ihm zu überlassen, [3] nachdem ich ihn mit vieler Mühe dahin gebracht, von der Hälfte des Preises, den er selbst darauf setzte, abzustehen. Von dieser Zeit an hat er mich zum Vertrauten und Vermittler seiner Leidenschaft gemacht, und da Tyche 4 in ihrer freigebigsten Laune unsrer verschwenderischen Freundin nichts Angemess'neres hätte zuschicken können als einen solchen Liebhaber; so hoffe ich mein Geschäft zu beider Theile Zufriedenheit bald und glücklich zu Ende zu bringen.

Wenn ich mich nicht sehr an dir irre, lieber Aristipp, so wirst du dich in dieß alles wie ein weiser Mann fügen, und mit einer Freundschaft, die dir immer ein beneidenswerthes Vorrecht vorbehalten wird, sehr wohl vorlieb nehmen können.

2. Aristipp an Kleonidas
2.
Aristipp an Kleonidas.

Die Nachrichten, die du mir von unsrer Freundin mittheilst, stimmen zu gut in meine üppigsten Wünsche für ihr Glück, als daß sie mir nicht große Freude gemacht haben sollten. Die Liebe eines solchen Mannes, wie dein Perser, ist das einzige ihrer nicht ganz unwürdige Mittel, ihre gewohnte Lebensart immer fortzuführen, insofern sie nur von sich erhalten kann, ihrer großherzigen Verachtung des verächtlichsten und schätzbarsten, unentbehrlichsten und unbrauchbarsten aller sublunarischen Dinge einige Schranken zu setzen, und nur so viel Oekonomie in ihr Hauswesen zu bringen, als der große König selbst nöthig hat,[4] wenn er mit seinen Einkünften auslangen will. Daß sie den prächtigen Vogel nicht eher, als bis es ihr selbst gefällt, aus ihrem goldnen Käfig entlassen, und hingegen fleißig dafür sorgen wird, ihre eigene Person von den verhaßten Gesetzen der morgenländischen Gynäceen frei zu erhalten, bin ich zu gewiß, als daß sie hierüber meines Rathes bedürfte. Es bleibt mir also nichts übrig, als mich ihres Glückes zu freuen, und zu wünschen, daß sie es recht lange dauern lasse.

Du urtheilst sehr richtig von mir, Freund Kleonidas, wenn du mich der Narrheit, die Sonne für mich allein behalten zu wollen, unfähig glaubst. Eben so wenig soll es, wie ich hoffe, jemals in die Macht einer Person oder einer Sache, die ich liebe, kommen, sich mir in einem so hohen Grade wichtig zu machen, daß ich ihrer nicht ohne Verlust meiner Gemüthsruhe entbehren könnte. Ich liebte die schöne Lais beim ersten Anblick, weil sie mir gefiel; und sie gefiel mir aus eben der Ursache, warum mir irgend etwas gefällt, und desto mehr, je mehr sie zugleich die Summe meiner feineren Gefühle vermehrte, und meinen Geist in die angenehmste Thätigkeit setzte. In allem diesem ist mir's, denke ich, wie jedem andern Menschen. Aber was ich vor meinem unbekannten Freund Arasambes und vielen andern voraus habe, ist: daß die schöne Lais selbst mit allen ihren Vollkommenheiten für mich kein unentbehrliches, geschweige mein höchstes Gut ist. Ich habe Augen für alle ihre Vorzüge, Sinn für alle ihre Reize; sie ist mir alles, was sie einem Manne von Verstand und Gefühl seyn kann; aber sie vermag (einzelne Augenblicke vielleicht ausgenommen) wenig oder nichts über [5] meine Freiheit; ich verlasse sie ohne mich losreißen zu müssen, sogar wenn sie lieber sähe daß ich bliebe; ich komme mit dem lebhaftesten Vergnügen wieder, und scheide zum zweiten, dritten und viertenmal, immer durch den Gedanken des Widersehens wohl getröstet und im Gleichgewicht erhalten. Indessen würde ich mich selbst belachen, wenn ich mir deßwegen viel auf meine Weisheit zu Gute thun wollte. Du weißt daß ich mit einem Frohsinn, der an Leichtsinn gränzt, geboren bin; ich fühle mehr schnell und lebhaft als tief; ich habe Sinn für alles Schöne und Gute, ohne Affectation einer besondern Zartheit, und das Schönere und Bessere benimmt nach meiner Schätzung dem Geringern nichts. Bei einer solchen Anlage war es natürlich, daß die bewundernswürdige Gleichmüthigkeit, wozu es mein edler Lehrer Sokrates mit einem vielleicht nicht so lenksamen Temperamente gebracht hatte, einen so starken Eindruck auf mich machte, daß ich mir vornahm, mich öfters, auch ohne besondere Veranlassung, in Bezwingung meiner Begierden und Schwichtigung meiner Wünsche zu üben. Kurz, ich machte mir zur Maxime: mich in allem mit dem Guten in jedem leidlichen Grade zu behelfen, ohne hartnäckig auf dem Besten zu bestehen; und ich befinde mich bei dieser Mäßigung so wohl, daß ich meine Diät einem jeden anrathen möchte, der es mit sich selbst so gut meint, daß er um größere Unlust zu vermeiden, lieber weniger Vergnügen haben, als Gefahr laufen will, einen Platz an der Göttertafel mit der Strafe des Tantalus zu bezahlen. Dadurch gewinne ich den Vortheil, daß ich mich auch bei Nektar und Ambrosia bescheiden aufführe, und daher nie [6] in den Fall kommen kann, meinen Uebermuth so streng wie jener Göttersohn zu büßen.

Dieß heißt viel über sich selbst philosophirt! Brauche davon was du kannst, und fahre fort, mir mitzutheilen, was du mir gut findest.

Es war ein herrlicher Gedanke, Lieber, den du hattest, die schöne Lais unter zwei so entgegengesetzten und beide doch so gut passenden Charaktern darzustellen. Du würdest dich mir durch eine Copey von deiner eigenen Hand unendlich verbinden, wär' es auch nur von den beiden einzelnen Figuren. Vermuthlich setzt dein persischer Freund seine Hoffnung auf die gefälligere Gestalt, wiewohl er seine Göttin unter beiden anbetet. Gewiß ist schwerlich jemals ein schönes Weib so gleich geschickt gewesen, beide Personen zu spielen, und sich selbst, sobald sie will, durch sich selbst auszulöschen. Ein gefährliches Talent, welches zu mißbrauchen sie, glücklicherweise, keine Anlage hat. Indessen werde ich sie doch nie aus den Augen verlieren, um auf den Fall, da sie eines Freundes bedürfte, immer bei der Hand zu seyn; denn auf dem schönen, breiten und kurzweiligen Wege, den sie geht, nicht zu verirren, ist schwerer als sie zu glauben scheint.

3. Lais an Aristipp
3.
Lais an Aristipp.

Kleonidas hat dir das Neueste aus Milet bereits zu wissen gethan. Eine freundliche Persische Perise 5 (damit du doch [7] siehest, daß ich durch meinen neuen Anbeter schon ein wenig gelehrter geworden bin) hat mir einen Liebhaber bis vom Euphrates her zugeschickt; und welch einen Liebhaber! schön wie ein Medier, liebenswürdig wie ein Grieche, und beinahe so reich wie Midas und Crösus! Denn was wir armen Griechen tausend Drachmen nennen, ist ihm eine Hand voll Obolen; und wie ich nöthig fand, seiner übermäßigen Freigebigkeit mit aller Strenge einer Gebieterin Einhalt zu thun, verwunderte sich der hoffärtige Mensch, daß ich solche Kleinigkeiten meiner Aufmerksamkeit würdigen möge. Wirklich scheint er eines so großen Maßstabs gewohnt zu seyn, daß er Geschenke, die einer Königin dargebracht werden dürften, für Kleinigkeiten ansieht, und sich daher ihrentwegen weder zu der mindesten Freiheit, noch zu Erwartung einer größern Gefälligkeit von meiner Seite, berechtigt glaubt. Das sticht nun freilich von der ökonomischen Manier der Söhne Deukalions 6, mit ihren Geliebten bei Drachmen und Obolen abzurechnen, gewaltig ab, und thut dem edeln Achämeniden 7, wie du leicht erachten kannst, keinen Schaden bei mir. – Kurz, lieber Aristipp, dieser Arasambes ist ein sehr gutherziger und umgänglicher Barbar 8, und es ahnet mir zuweilen, ich werde noch in starke Versuchungen kommen, zu vergessen, daß ich eine Griechin bin, und die Entführung der schönen Helena an allen Asiaten zu rächen habe. Die einzige morgenländische Unart, die ihm ankleben mag, scheint ein ziemlicher Ansatz zur Eifersucht zu seyn, und dieß wäre auch das einzige, das mich zurückschrecken könnte. Wenn er nicht so viel Zutrauen zu mir fassen kann, sich auf mein Wort ohne Riegel und Hüter [8] sicher zu glauben, so brech' ich ab, lass' ihm alle seine Geschenke wieder zustellen, und fahre mit dem ersten guten Winde nach Korinth zurück.

Mein Plan mit Musarion und Kleonidas ist zu seiner Reife gediehen; sie ist seiner Werth; und wiewohl er bisher (wenn wahre Liebe sich verhehlen ließe) ihr selbst und der ganzen Welt ein Geheimniß aus dem wahren Namen seiner zärtlichen Freundschaft zu ihr gemacht hat, so bin ich doch völlig gewiß, daß ich durch das Band, das ich zwischen ihnen zu knüpfen im Begriff bin, den feurigsten seiner Wünsche befriedige.

Du, mein weiser Freund, liegst noch immer zu Samos den meteorischen Dingen 9 mit so großem Eifer ob, daß ich Bedenken tragen sollte, dich mit den Puppenspielen, die uns Kindern der Erde so wichtig scheinen, in deinen erhabenen Anschauungen zu stören. Wie hoch du dich aber auch immer, selbst über die Jupitersburg und das luftige Wolkenkuckucksheim deines Freundes Aristophanes erheben magst, so denke ich doch meine Ansprüche an deine Freundschaft so leicht nicht aufzugeben, und schmeichle mir hinwieder, daß alle Pythagorischen Zahlen, Cirkel und Dreiecke nicht vermögend seyn sollen, deine Anadyomene immer aus deiner Erinnerung zu verdrängen.

4. Kleonidas an Aristipp
[9] 4.
Kleonidas an Aristipp.

Freue dich meines Glücks mit mir, Aristipp! Musarion, meine Musarion – – das war sie, meinen Gefühlen und Wünschen nach, schon beim ersten Blick; aber, da mir die Absichten ihrer großmüthigen Vormünderin mit ihr unbekannt waren, und ich es für unedel hielt, ihre Zuneigung verstohlnerweise zu gewinnen, verschloß ich meine Wünsche in meinen Busen, und hielt mich zurück sie sogar dir zu entdecken, vor dem ich nie ein anderes Geheimniß haben werde – diese Musarion, mein Freund, ohne die für mich kein Glück ist (halte mir diesen einzigen Zug von Ungleichheit mit dir zu gut!), ohne die ich das reinste Glück des Lebens nie gekannt hätte, sie ist mein! Sie wird mir in einen andern Welttheil folgen! In kurzem werden die hochzeitlichen Fackeln für deinen Freund angezündet. Möchtest du doch in Person gegenwärtig an unsrer Freude Antheil nehmen! Ich darf es nicht hoffen; aber ich sehe den Tag kommen, der uns in Cyrene, vielleicht enger als jemals, wieder vereinigen wird.

Die schöne Lais, die Stifterin meines Glücks, hat sich ihrer sich selbst auferlegten Pflicht gegen die Tochter des Leontides auf eine höchst edle Art erledigt, und bei den guten Aussichten, die ich in unserm Vaterlande habe, scheint mein künftiger Wohlstand so fest gegründet zu seyn, als es in diesem ewigen Wogen der menschlichen Dinge überhaupt möglich ist.

[10] Auch der fürstliche Arasambes ist dem Ziel seiner feurigsten Wünsche nah. Lais scheint immer mehr Neigung zu ihm, er immer mehr von dem Zutrauen, das man für ein höheres aber wohlthätiges Wesen fühlt, zu ihr zu fassen. Er will sie bloß ihr selbst, nicht seinem Ungestüm noch seinen Schätzen, zu danken haben; und dieß ist, wenn ich sie recht beurtheile, gerade das Geheimniß sie zu gewinnen. Sie werden (wenigstens so lange als ihn der König nicht an seine Hofstatt beruft) abwechselnd bald zu Ephesus, bald zu Sardes, bald auf den prächtigen Gütern, die er in Lydien hat, leben, und Lais wird einen Zauberkreis von Freuden und Scherzen, Musen und Grazien, um ihn her ziehen, der seine Wohnung in einen Göttersitz verwandeln wird.

Arasambes hat alles versucht, mich bei ihm zurückzuhalten: aber Umstände und Pflichten, und ich weiß nicht welches stille aber drängende Sehnen nach der vaterländischen Luft, rufen mich gebieterisch nach Libyen zurück. Doch werde ich, bis zu der Jahreszeit, die der Ueberfahrt die günstigste ist, bei ihm verharren, und wenn ich es irgend bewerkstelligen kann, dich, mein Freund, noch vorher zu Samos sehen.

5. Aristipp an Lais
5.
Aristipp an Lais.

Ich rathe dir, schönste und mächtigste der Erdentöchter, opfre der Ate 10 unverzüglich das Kostbarste was du – entbehren kannst; denn du bist zu glücklich, als daß deine Freunde deinetwegen [11] ruhig seyn dürften. Nicht, als ob du es für deinen Werth je zu viel seyn könntest: sondern weil es (wie man sagt) neidische Mächte gibt, welche nicht wollen, daß die Götter alle Schätze ihres Füllhorns so verschwenderisch auf ein einziges sterbliches Wesen herabschütten.

Arasambes ist, nach allem was mir Kleonidas von ihm meldet, deiner würdig, und nach allem was du selbst anzudeuten scheinst, dem Glücke nah' von dir dafür erkannt zu werden. Deine Weisheit wird dich in dem goldnen Strom, worin du schwimmst, vor Uebermuth bewahren; deine Edelmüthigkeit wird in einem weiten Kreise Glückseligkeit um dich her verbreiten; und die Klugheit, die ich dir wünsche, wird den Gedanken an die Zukunft und die ungewisse Flüchtigkeit des Gegenwärtigen nie ganz aus deiner Seele schwinden lassen. Auch erinnerst du dich, wie ich sicher hoffe, mitten unter den glänzenden und rauschenden Freuden, die dich täglich umschwärmen werden, zu weilen eines Freundes, der in seiner Art vielleicht doch einzig ist, und den du immer da, wo du ihn ließest, wieder finden sollst. Denn weder Ort noch Zeit werden je die Gesinnungen schwächen, die dein erster Anblick in ihm anfachte und eine Folge freudebringender Horen, im trauten Umgang unsrer verschwisterten Seelen, zur Reife brachte. Sollte auch eine Zeit kommen, die ihm jeden andern Genuß entzöge, so wird die bloße Erinnerung an Aegina, Korinth und Milet ihm Ersatz für alles seyn, und, so lang er weiß daß du glücklich bist, ihn gegen alles, was seine Ruhe von außen bestürmen könnte, gleichgültig machen.

6. Aristipp an Hippias
[12] 6.
Aristipp an Hippias.

Ich höre mit vielem Vergnügen, daß du im Begriff bist das unruhige Samos zu verlassen und in die schöne und reiche, den Frieden und die Künste des Friedens liebende Hauptstadt von Ionien zu ziehen, wo du dich in jeder Hinsicht besser befinden wirst; es sey daß du einen würdigen Schauplatz für deine Talente, oder nur einen Ort suchest, wo du, so frei und angenehm als vielleicht an keinem andern in der Welt, einer selbst erwählten Gesellschaft von Freunden, den Musen und deinem Genius leben kannst. Was hätte dich auch länger in Samos zurückhalten sollen? Ueberall, wo die Athener den Meister spielen, ist in die Länge nicht gut wohnen. Ich habe öfters sagen hören, der Athener sey nirgends artig und liebenswürdig als in Athen selbst; ich für meine Person habe gefunden, daß sie allenthalben die liebenswürdigsten aller Menschen sind, sobald sie eine Ursache haben es seyn zu wollen, und die widerwärtigsten, sobald sie jenes für unnöthig halten. Wenn sie dieß zu Athen weniger zu seyn scheinen, so rührt es vielleicht von einer zwiefachen Täuschung her. In den Inseln sind sie die Wenigern an der Zahl, und ihre Unarten fallen daher um so stärker auf, zumal da sie gewohnt sind, sich gegen ihre Colonien, Schutzverwandten und Unterthanen alles zu erlauben. Zu Athen sind eben dieselben Unarten unter die ganze Masse der Bürger vertheilt, also an den einzelnen weniger auffallend, wie man sich im [13] Lande der Buckligen bald gewöhnen würde lauter Höcker zu sehen. Ueberdieß kommt den Athenern zu gut, daß alles, was ein gebildeter Mensch nur immer zu sehen, zu hören und zu genießen verlangen kann, so vollständig und in einem so seltnen Grade von Vollkommenheit in Athen vereiniget ist, daß ein Fremder, der sich auf einmal in den Mittelpunkt alles Großen, Schönen und Angenehmen versetzt glaubt, den Glanz, den das Ganze von sich wirft, auch auf den Einwohnern widerscheinen sieht, und das, was ihm von ihrer häßlichen Seite in die Augen fällt, um so mehr in einem mildernden Lichte betrachtet, je mehr sie sich anfangs beeifern, ihm nur die schöne und gefällige zu zeigen. Du wirst in den ersten Tagen eine große Aehnlichkeit zwischen den Athenern und Milesiern finden; sie dient aber nur, die Verschiedenheit desto auffallender zu machen, welche, meines Bedünkens, ganz zum Vortheil der letztern ist. Doch ich will deinem eignen Urtheil nicht vorgreifen, und bin vielmehr begierig, das meinige dadurch entweder bestätiget oder berichtiget zu sehen.

Vermuthlich ist dir Xenophons Anabasis 11 bereits zu Gesichte gekommen, die seit einiger Zeit so viel von sich und ihrem Verfasser zu reden macht; oder sollte es noch nicht geschehen seyn, so wirst du dich zu Milet leicht mit einem Exemplar versehen können, denn die Nachfrage nach diesem Buch ist so stark, daß die Bibliokapelen 12 von Athen und Korinth nichts Angelegner's haben, als die Hände aller Geschwindschreiber, die in beiden Städten aufzutreiben sind, mit möglichster Vervielfältigung desselben zu beschäftigen. Ich glaube nicht zu viel von diesem Werke, so beschränkt auch der [14] Gegenstand desselben ist, zu sagen, wenn ich es, in Rücksicht auf die historische Kunst, mit dem berühmten Kanon des Bildhauers Polyklet vergleiche, und behaupte, so müsse jede Geschichte geschrieben seyn, auf deren historische Wahrheit man sich verlassen können soll. Die ganze Erzählung ist wie eine Landschaft im vollen Sonnenlicht; alles liegt hell und offen vor unsern Augen; nichts steht im Schatten, damit etwas anderes desto stärker herausgehoben werde; alles erscheint in seiner eigenen Gestalt und Farbe; nichts vergrößert, nichts verschönert, sondern im Gegentheil jede so häufig sich anbietende Gelegenheit, das Außerordentliche und Wunderbare der Thatsachen durch Colorit und Beleuchtung geltend zu machen, geflissentlich vernachlässigt, und die Begebenheiten mit ihren Ursachen und Folgen, die Handlungen mit ihren Motiven und dem Drange der äußern Umstände so natürlich verbunden, daß das Wunderbarste so begreiflich als das Alltäglichste wird. Ein Maler oder Dichter, von welchem alles dieß gesagt werden könnte, würde schlecht dadurch gelobt seyn: aber was bei diesen Mangel an Genie und Kunst verriethe, ist, nach meinem Begriff, das höchste Lob des Geschichtschreibers. Xenophon hat es allen, die nach ihm kommen werden, schwer, wo nicht unmöglich gemacht, ihn hierin zu übertreffen. Nichts kann ungeschminkter, ja selbst ungeschmückter seyn als die naive Grazie seines Styls; nichts einfacher und anspruchloser als seine Art zu erzählen; nichts kaltblütiger und unparteiischer als seine Charakterschilderungen, die, bei aller Bestimmtheit und Schärfe der Zeichnung, doch so sanft gehalten und beleuchtet sind, daß jeder nachtheilige Zug ihm [15] von der Wahrheit selbst wider Willen abgedrungen scheint. Uebrigens gestehe ich gern, daß alles, was ich der Anabasis hier zum Ruhme nachsage, schlechterdings erforderlich war, da der Verfasser im Grunde selbst der Held des Stücks ist, und also die Einfalt und Bescheidenheit, in welche er alles Große und Ruhmwürdige, was ihn die Wahrheit von Xenophon zu sagen nöthigt, einhüllt, wofern sie ihm nicht natürlich wäre, hätte heucheln müssen, um das Verdächtige und Verhaßte, das der Erzählung unsrer eignen Großthaten anzukleben pflegt, durch den Schleier der Grazien dem Auge der Tadelsucht und Mißgunst zu entziehen.

Was mir dieses Buch so besonders lieb macht, ist die Sokratische Sophrosyne, die es von Anfang bis zu Ende athmet, und die in allem, was Xenophon sich selbst darin denken, reden und handeln läßt, so lebendig dargestellt ist, daß, indem ich lese, unzählige Erinnerungen in mir erwachen, welche seiner an sich schon so anziehenden Erzählung, durch tausend feine Ideenverbindungen und leise Beziehungen auf etwas, so ich ehemals an Sokrates wahrgenommen oder aus seinem Munde gehört, einen Grad von Interesse geben, den sie freilich nur für wenige haben kann. Indessen muß doch dieses in seiner Art einzige Buch auch für Leser, die kein näheres Verhältniß zu Sokrates hatten, immer eines der unterhaltendsten die unsre Sprache aufzuweisen hat bleiben, und ich müßte mich sehr irren, wenn es nicht noch in den spätesten Zeiten das Handbuch und der unzertrennliche Gefährte aller großen Feldherren werden sollte.

In den letzten dreißig bis vierzig Jahren haben sich die [16] Athener zu ihrem größten Schaden einer Menge wild und ohne alle Cultur aus dem Boden hervorgeschossener Heerführer anvertraut, die sich's gar nicht zu Sinne kommen ließen, daß Krieg führen und einem Kriegsheere vorstehen eine Kunst sey, welche viel Wissenschaft voraussetzt und eben so gut gelernt seyn will, wie irgend eine andere. Xenophons Anabasis wird hoffentlich solchen Autoschediasten 13 (wie Sokrates sie zu nennen pflegte) die Augen öffnen, und ihnen einleuchtend machen, welch eine seltene Vereinigung großer ungewöhnlicher Naturgaben mit einer Menge erworbener Talente, welche Stärke und Erhabenheit der Seele, Geistesgegenwart, Mäßigung und Gewalt über sich selbst, welch ein behendes, festes in der Nähe und Ferne gleich scharf sehendes Auge, welche Sorge für die mannichfaltigen Bedürfnisse eines Kriegsheeres, welche Aufmerksamkeit auf die kleinsten Umstände, welche Voraussicht aller möglichen Zufälle, welche Fertigkeit die günstigen auf der Stelle zu benutzen, und was widrige geschadet haben, sogleich wieder gut zu machen, welche Geschicklichkeit die unter ihm stehenden Menschen zu prüfen, zu lenken, zu gewinnen, und mit weiser Strenge an einen eben so pünktlichen als willigen Gehorsam zu gewöhnen, mit Einem Worte, wie unendlich viel dazu gehöre, daß ein bloßer Freiwilliger, wie Xenophon war als er dem Cyrus seine Dienste anbot, sich in kurzer Zeit als einen so vollkommenen Feldherrn zeigen könne, wie er sich während dieses beispiellosen Unternehmens erwiesen hat, wo es um nichts Geringeres zu thun war, als ein Heer von zehntausend aus allen Theilen Griechenlands zusammengerafften Kriegern, die nichts als sich selbst und [17] ihre Waffen hatten, aus dem Herzen des feindlichen Landes, durch eine lange Reihe barbarischer feindseliger Völker, über unzugangbare Gebirge und brückenlose Flüsse, einen Weg von mehr als 25000 Stadien in ihr Vaterland zurück zu führen. Uebrigens ist vielleicht der wichtigste Dienst, den er durch dieses Buch der ganzen Hellas geleistet hat, dieser: daß sie sich daraus überzeugen können, wie furchtbar sie den Barbaren durch ihr schwer bewaffnetes Fußvolk und durch ihre Disciplin und Taktik sind, und welch eine leichte Sache, wofern sie nur unter sich selbst einig wären, es seyn würde, mit dreißig bis vierzigtausend Griechen von einem Agesilaus oder Xenophon geführt, sich des ganzen ungeheuern Perserreichs zu bemächtigen. Wenn dieser Rückzug der Zehentausend den Muth ihrer braven Vorfahren nicht in ihnen aufzureizen vermag, dann gebe ich sie gänzlich verloren!

Aber wie meinst du, Hippias, daß die edeln und weisen Athener einem Mitbürger, der ihnen so große Ehre macht, und von dessen Talenten und Charakter sie so große Vortheile ziehen könnten, ihre Achtung bewiesen haben? Sie fanden sich durch seine, ihnen übrigens ganz unnachtheilige Vorliebe zu den Lacedämoniern beleidiget, und haben ihn auf ewig aus Attika hinausgewiesen. O die Kechenäer!

Wenn dir in dem reizenden Milet noch eine leere Stunde übrig bleibt, die du an deinen Freund Aristipp zu verschenken willig bist, so wird mich dein Brief zu Rhodus finden, sofern du ihn an Lykophon, Menalippus Sohn (einen allen Schiffern in diesen Meeren bekannten Namen) zur Bestellung empfehlen willst. L.W.

7. Hippias an Aristipp
[18] 7.
Hippias an Aristipp.

Xenophons Anabasis, welche, weil der Rückzug die Hauptsache ausmacht, eben so gut Katabasis 14 heißen kann, war mir bereits bekannt, als ich deinen Brief aus Rhodus erhielt. Auch ich habe sie mit Vergnügen gelesen, und wiewohl mir däucht, daß von dem hohen Werthe, den du diesem Werke beizulegen scheinst, noch etwas abgehen könnte, so gestehe ich doch, daß es nicht leicht wäre, eine an sich selbst so wunderbare Geschichte wie der Zug und Rückzug der zehntausend Griechen mit weniger Prunk und in einem treuherzigern Ton zu erzählen; was das unfehlbarste Mittel ist, einen nicht allzu mißtrauischen Leser in die angenehme Täuschung zu setzen, daß er, ohne allen Argwohn durch diesen Ton selbst getäuscht zu werden, immer die reinste Wahrheit zu lesen glaubt. Ich sage dieß nicht um die Aufrichtigkeit Xenophons verdächtig zu machen; indessen bin ich gewiß, von allen den Hauptleuten, die eine Rolle in dieser Geschichte spielen, würde ein jeder sie mit andern Umständen erzählt, und vieles mit andern Augen und in einem andern Lichte gesehen haben. Wenn nun jeder von ihnen eine Katabasis geschrieben hätte, müßte nicht ein unbefangener Leser öfters zweifelhaft seyn, wem er glauben sollte? Dieser Einwurf gilt gegen die Zuverlässigkeit einer jeden Geschichtserzählung einer Reihe von Begebenheiten, in welche nebst dem Erzähler selbst, viele an Denkart, sittlichem Charakter, Absichten und Interesse verschiedene [19] Menschen verwickelt waren; und er ist um so weniger zu heben, da er sich auf die menschliche Natur selbst gründet, und daher schwerlich eine Ausnahme zu Gunsten irgend eines Einzelnen zuläßt. Alles was wir von einem solchen Erzähler zu fordern berechtigt sind, ist daß er den Willen habe, uns nichts für wahr zu geben als was er selbst für wahr hält. Werden wir dann demungeachtet getäuscht, so liegt die Schuld an uns selbst, nicht an ihm. Ich zweifle so wenig daran, daß Xenophon uns nichts als reine historische Wahrheit geben wollte, daß ich vielmehr sagen möchte, er habe diesem löblichen Vorsatz keinen geringen Theil des Vergnügens aufgeopfert, das er uns hätte machen können, wenn er, wie Herodot, unsre Einbildungskraft etwas mehr Antheil an seiner Erzählung hätte nehmen lassen wollen. Denn nichts kann einem Schriftsteller leichter begegnen, als vor lauter Begierde wahr zu seyn, langweilig zu werden. Doch dafür ist in diesem Werke gesorgt. Man kann sich darauf verlassen, daß ein Autor, der seine eigene Geschichte und Thaten erzählt, wofern er nicht ohne alles Genie ist, nie sehr langweilig werden wird. Solltest du den kleinen Streich nicht bemerkt haben, Aristipp, den ihm die wunderbare Zaubrerin, die man aus Mangel eines passendem Namens Eigenliebe nennt, vermuthlich ohne sein Wissen und Wollen gespielt hat, »ihm, so oft er uns erzählt, was Xenophon der Athener gedacht, gesprochen, gethan und gewollt hat, ganz leise leise das Sokratische Ideal eines vollkommnen Feldherrn unterzuschieben?« Eine Täuschung, deren er sich um so weniger versah, da er vermuthlich dadurch, daß [20] er von sich selbst immer in der dritten Person spricht, eine treffliche Maßregel gegen die Nachstellungen des hinterlistigen Ichs genommen zu haben glaubte. Daß er während dieses ganzen Kriegszuges jenes Ideal immer vor Augen hatte, daß er es zu erreichen strebte, war eines ehmaligen Zöglings und vieljährigen Freundes des weisesten aller Menschen würdig: aber daß er es so vollständig in seiner eigenen Person darstellt, dabei könnte sich doch wohl, ihm selbst unbemerkt, etwas Poesie eingemischt haben. Oder wollen wir es ihm etwa gut schreiben, daß er sich so ganz unverhohlen zu der Sokratischen Schwachheit, – in vollem Ernst an Zeus Meilichios 15 und Hercules Hegemon 16 zu glauben, bekennt, und uns mit der Treuherzigkeit eines Böotischen Bäuerleins seine Träume und noch manche andere Dinge erzählt, die er seiner Urgroßmutter nach zusagen hätte erröthen sollen? Ich mußte laut auflachen, wie ich im vierten Buche las, was geschehen sey, da sie eines Tages auf ihrem beschwerlichen Marsche über die Karduchischen Berge, bei einem äußerst heftigen und schneidenden Nordwind, der ihnen mit vollen Backen ins Gesicht blies, sich durch Ellen tiefen Schnee so mühselig durcharbeiten mußten, daß viele Menschen und Thiere dabei verloren gingen. »Da hieß uns einer von den Wahrsagern dem Wind' ein Opfer schlachten,« sagt Xenophon mit einer Einfalt, die man für Sokratische Ironie halten müßte, wenn er nicht unmittelbar darauf mit dem gläubigsten Ernst hinzusetzte: »es wurde also geopfert, und es däuchte allen, daß die Strenge des Windes nachgelassen habe.« – Doch dieses Geschichtchen ließe allenfalls noch eine leidliche [21] Erklärung zu. Der Gott Boreas, der zu Athen und an mehrern Orten Griechenlands einen Altar hat, wird vorzüglich von den Arkadiern zu Megalopolis verehrt; und beinahe der dritte Theil des Heers bestand aus Arkadiern. Der Einfall des Wahrsagers, den Zorn dieses Gottes durch ein Opfer zu besänftigen, war also nichts weniger als unverständig, da er dazu diente, den Muth des gemeinen Mannes wieder zu beleben, und die Wuth des Windes, falls sie indessen nicht etwa von selbst nachließ, wenigstens durch die Kraft des Glaubens zu dämpfen. Das letztere scheint auch der Fall gewesen zu seyn; denn Xenophon sagt nicht, der Wind habe wirklich nachgelassen, sondern nur, sie hätten alle geglaubt er lasse zusehends nach. Schwerer dürfte es seyn, den Menschenverstand unsers Sokratischen Kriegshelden mit seinem überschwänglichen Glauben an die Hieroskopie 17 zu vereinigen. In der That treibt er diese Schwachheit so weit, daß man oft lieber an seiner Aufrichtigkeit zweifeln, und seine seltsame Beharrlichkeit, sich alle Augenblicke in den Eingeweiden der Opferthiere, mit dem blindesten Vertrauen auf ihre Entscheidung, Rathes zu erholen, für einen Kunstgriff halten möchte, eine aus so vielerlei verschiedenen Griechischen Staaten gezogene, über den schlechten Erfolg ihrer großen Erwartungen mißmuthige, widerspänstige, mißtrauische, und immer zum Aufstand bereite Mannschaft (wie die Zehntausend sich in dieser ganzen Geschichte beweisen) desto leichter beisammen und in einiger Subordination zu erhalten. Aber man sieht sich alle Augenblicke genöthigt, diese Vermuthung wieder aufzugeben, so häufig sind die Beispiele, wo, ohne die Voraussetzung [22] daß er an diese Art von Divination in vollem Ernst geglaubt habe, entweder sein Betragen schlechterdings unbegreiflich wäre, oder wo sich nicht der mindeste Beweggrund ersinnen läßt, warum er vernünftigen Lesern seines Buchs die Gesundheit seines Verstandes durch eine ohne allen Zweck vorgegebene Deisidämonie 18 hätte verdächtig machen wollen. Das Sonderbarste bei der Sache ist, daß er in diesem Aberglauben viel weiter geht als sein Meister selbst, dessen Ansehen sonst so viel bei ihm gilt. Sokrates wollte, daß man nur in Fällen, wo das Orakel der Vernunft verstummt, seine Zuflucht zu den Opferlebern oder zu den Hexametern der Pythia nehmen sollte; Xenophon hingegen sagt zu seinen versammelten Soldaten: »Ich berathe mich, wie ihr seht, aus den Opfereingeweiden so oft und viel ich nur immer kann, so wohl für euch als für mich selbst, damit ich nichts reden, denken noch thun möge, als was euch und mir das Rühmlichste und beste ist.« – Konnte und mußte ihm nicht, wenigstens in den meisten Fällen, seine Vernunft die sicherste Auskunft hierüber geben? Du wirst mir vielleicht sagen: dieser seltsamen Schwachheit ungeachtet hat sich Xenophon bei diesem Rückzug als einen der verständigsten, geschicktesten und tapfersten Kriegsobersten bewiesen, die jemals gewesen sind. – Aber würde er dieß, ohne eine so lächerliche Grille, weniger, oder nicht vielmehr in einem noch höhern Grade gewesen seyn? Bei allem dem gestehe ich gern, daß Xenophon, ein wenig Sokratische Pedanterie abgerechnet, der polirteste, sittlichste und für alle Lagen und Verhältnisse des öffentlichen und Privatlebens tauglichste Mann nicht nur unter [23] allen Sokratikern, sondern vielleicht unter allen Griechen, so wie er noch jetzt, in einem Alter von mehr als funfzig Jahren, einer der schönsten ist; und ich kann ihm dieß um so zuversichtlicher nachsagen, da ich ihn hier zu Milet mehr als Einmal im Gefolge des Agesilaus gesehen und gesprochen habe. Dieser König von Sparta scheint im Begriff zu seyn, das, was du von einer sehr möglichen Folge des Rückzugs der Zehntausend geweissagt hast, wahr zu machen. Aber der böse Dämon der Griechen ist mit den Schutzgöttern Persiens im geheimen Einverständniß; oder, ohne Figuren zu reden, ihre Zwietracht und Eifersucht über einander, die seit dem Trojanischen Kriege die Quelle alles ihres Unglücks war, wird auch dießmal die Sicherheit des Perserreichs seyn, und es so lange bleiben, bis sich in Griechenland selbst ein König erhebt, der vor allen Dingen der Unabhängigkeit aller dieser kleinen Republiken ein Ende macht, welche sich ihrer Freiheit so schlecht zu ihrem eigenen Besten zu bedienen wissen. Dieser König wird über lang oder kurz wie ein Gewitter über sie her fallen, und wer weiß, ob er nicht in Sicilien oder Thessalien oder Macedonien schon geboren ist?

Je länger ich hier lebe, je mehr finde ich daß du mir nicht zu viel von dem Aufenthalt in Milet versprochen hast, und die Einwohner scheinen mir den Vorzug, den du ihnen vor den Athenern gibst, täglich mehr zu rechtfertigen. Die Milesier haben den guten Verstand, keine glänzendere Rolle in der Welt spielen zu wollen, als wozu sie durch die Lage ihrer Stadt bestimmt sind, und scheinen sich ohne Mühe in den Schranken zu halten, welche die Mittelmäßigkeit ihres Gemeinwesens [24] um sie her zieht. Milet ist alles was es seyn kann, indem es einer der ansehnlichsten und blühendsten Handelsplätze in der Welt ist; und sich dabei zu erhalten, scheint ihr höchster Ehrgeiz zu seyn.

Wie glücklich wären die Athener, wenn sie sich, seit Solon den Grund zu ihrem ehemaligen Wohlstand legte, so wie die Milesier zu mäßigen gewußt hätten! Aber das Ansehen und der Ruhm, den sie sich in dem Zeitraum des Medischen Kriegs erwarben, machte sie schwindlicht; seit dieser Zeit können sie nicht ruhig seyn, wenn sie nicht die Ersten in Griechenland sind; aber sie können eben so wenig ruhen, wenn sie es geworden sind. Mit jeder höhern Stufe, die sie ersteigen, entdecken sie, wie viel noch fehlt um die Ersten in der Welt zu seyn; und nun ist ihnen nichts was sie haben genug, und sie schnappen so lange nach dem luftigen Gegenstand ihrer Unersättlichkeit, bis sie auch das verlieren was sie hatten und durch Genügsamkeit und ein zugleich männliches und kluges Betragen ewig erhalten könnten. Der Athener ist unendlich eifersüchtig über eine Freiheit, die er nicht zu gebrauchen weiß; er will bloß frei seyn, damit ihm alle andern dienen; deßwegen will er es allein seyn, und unterwirft sich alles, was nicht mächtig genug ist, ihm zu widerstehen: der Milesier ist mit so viel Freiheit zufrieden als er zu seinem Wohlstand nöthig hat, und verlangt keine größere Macht, als die Beschützung seines ausgebreiteten Handels erfordert.

In beiden Städten ist das Volk überhaupt lebhaft, witzig und zum Scherz geneigt; aber der Milesier, ohne leicht die [25] Gränzen der Wohlanständigkeit und der Achtung, die man im geselligen Umgang einander schuldig ist, zu überschreiten. Der Witz des Atheners hingegen ist scharf und beißend; auf den ersten Blick hat er das Lächerliche an Personen und Sachen weg, und bespottet es mit so viel weniger Schonung, da ihm sein demokratischer Trotz und der Stolz auf den Athenischen Namen eine Selbstgefälligkeit und einen Uebermuth gibt, den die Fremden ziemlich drückend finden. Er sieht alles was nicht Attisch ist über die Achseln an, und ist immer voraus entschlossen, allem was er nicht selbst sagt zu widersprechen. Er weiß schon bei deinen ersten Worten was du vorbringen willst, widerlegt dich ehe du ihm zeigen kannst daß du bereits seiner Meinung bist, antwortet dir auf ein ernsthaftes Argument mit einem Wortspiel oder einer Spitzfindigkeit, und geht im Triumph davon, wenn er nur ein paar Lacher auf seiner Seite hat. Athener und Milesier sind gesellig und gastfrei: aber wenn der Athener dich einladet, so ist es um sich dir zu zeigen; der Milesier will, daß dir wohl bei ihm sey. Beide scheinen alles Schöne, besonders in den Künsten, bis zur Schwärmerei zu lieben: aber der Athener um darüber zu schwatzen, der Milesier um es zu genießen. Ueberhaupt sind die letztern ein fröhliches, genialisches Volk, heiter und lachend wie ihr Himmel, warm und üppig wie ihr Boden; aber doch das letztere nicht mehr, als mit der Betriebsamkeit und dem Handelsgeiste bestehen kann, denen sie ihren großen Wohlstand zu danken haben. Zu Milet sehe ich jedermann in der ersten Hälfte des Tages beschäftigt, um die andre desto freier dem Vergnügen widmen zu können. Der Reichthum hat in ihren [26] Augen nur insofern einen Werth, als er ihnen die Mittel zum angenehmsten Lebensgenuß verschafft: aber sie vergessen auch nie, daß die Quellen desselben durch anhaltende Thätigkeit im Fluß erhalten werden müssen, und ohne eine verständige Oekonomie bald versiegen würden. Die Athener bleiben, unter unaufhörlichen Entwürfen, wie sie ohne Arbeit reich werden wollen, immer hinter ihren Bedürfnissen zurück, und die meisten darben im Alter, oder müssen zu den schlechtesten und verächtlichsten Hülfsquellen ihre Zuflucht nehmen; weil ein Athener es sich nie verzeihen könnte, wenn er einen gegenwärtigen Genuß einem künftigen aufgeopfert hätte. Dieß ist ungefähr alles, Freund Aristipp, was ich bis jetzt von dem Unterschied in dem Charakter der Milesier und der Kechenäer bemerkt habe. Daß es auf beiden Seiten Ausnahmen gibt, versteht sich von selbst.

Seit einigen Tagen erfahre ich endlich auch wieder etwas von der schönen Lais. Sie lebt, sagt man, zu Sardes auf Kosten des bezauberten Arasambes wie eine zweite Semiramis, und Leute, die seit kurzem von Ephesus kommen, können nicht genug von der Pracht ihres Hofstaats erzählen, und von der Menge und Schönheit ihrer Sklaven und Sklavinnen, und von den herrlichen Festen, die ihr zu Ehren unaufhörlich auf einander folgen; kurz von der gränzenlosen Ueppigkeit, womit sie die Schätze ihres Liebhabers verschwendet, der es auf diesen Fuß nicht lange aushalten könnte, wenn auch alles Gold des Paktols 19 und des Ganges in seine Schatzkammer strömte. Ich zweifle nicht, daß in allem diesem sehr viel Uebertriebenes ist; doch begreift sich's, wie die Liebe zum Schönen [27] und Großen in der Natur und der Kunst (die einzige Leidenschaft unsrer Freundin) unter der Herrschaft einer so fruchtbaren Einbildungskraft wie die ihrige, in weniger als zehn Jahren einen Crösus 20 zum Irus 21 machen könnte. Daß sie eine so betrübte Katastrophe nicht abwarten wird, bin ich gewiß, oder ich müßte sie schlecht kennen. Indessen nimmt mich's doch Wunder, was das Spiel für einen Ausgang nehmen wird.

8. Aristipp an Kleonidas
8.
Aristipp an Kleonidas.

Ich rechne es der schönen und guten Musarion zu keinem kleinen Verdienst an, daß es ihr, wie du mir schreibst, so wohl in Cyrene gefällt; nicht, als ob es mir an kindlicher Liebe zu meiner Vaterstadt so sehr gebräche, daß ich von allem, was zu ihrem Lobe gesagt werden kann, auch nur ein Leucippisches Sonnenstäubchen 22 abgehen lassen wollte! Aber wir haben Athen und Korinth und Syrakus und Milet und Ephesus gesehen; und blühete nicht Musarion in den Zaubergärten der Lais zu Aegina auf? Wahrlich, wenn sie die Gärten der Hesperiden um Cyrene zu sehen glaubt, und die Aussicht vom Altan ihres Hauses in die unendlichen Kornfelder und mit lauter Silphium 23 bedeckten Anhöhen um Cyrene so reizend findet, so kann ich wohl schwerlich irren, wenn ich es einer Ursache beimesse, [28] welche sogar die kahlen Felsen von Seriphos an der Seite ihres Kleonidas zur Insel der Kalypso 24 für sie machen würde.

Warum hat doch die Natur diesen zarten Liebessinn, der sich auf Einen Gegenstand beschränken und in dessen Glückseligkeit seine eigne höchste Befriedigung finden kann, nicht auch unsrer schönen Freundin Lais eingepflanzt? – Eine närrische Frage, ich gesteh' es – denn da wäre sie nicht Lais – Aber, wenn ich mir vorstelle, daß ein so herrliches Weib, aller Wahrscheinlichkeit nach, in der zweiten Hälfte ihres Lebens nicht glücklich seyn wird: so kann ich mich dennoch des Wunsches nicht erwehren, daß es möglich seyn möchte, die sanfte, genügsame, liebende Seele unsrer Musarion zu haben, und doch Lais zu seyn. Ich sehe voraus, daß der fürstliche Arasambes das Glück worauf er stolz ist, das schönste Weib des Erdbodens zu besitzen, theurer bezahlen wird als er gerechnet hat. Ich meine damit nicht, daß er seine Schätze verschwendet, um alle ihre Tage zu Festen zu machen; das rechnet er selbst für nichts. Aber wenn er sehen wird, daß er es, mit allem was er für sie thut, nicht in seine Macht bekommt, die, die ihn unendlich glücklich machen würde wenn sie es selbst wäre, in eben dieselbe Täuschung zu versetzen, in welcher er, so lang' er sie für Wahrheit hielt, sich den Göttern gleich fühlte; wenn er sehen wird, daß diese Zaubrerin, die alles was ihre Augen erreichen in Flammen setzt, selbst, gleich dem Salamander mitten im Feuer kalt bleibt, und daß der Mann, der sich ihr ganz aufopfert, wie liebenswürdig er auch seyn mag, doch immer einen alle seine Beeifrungen vereitelnden Nebenbuhler in ihr selbst finden wird: was muß die natürliche Folge einer [29] solchen Entdeckung seyn? Und wie lange glaubst du, daß die stolze Lais auch nur die ersten Symptomen der Eifersucht, den stillen Mißmuth, die geheime Unruhe und die halberstickten Seufzer eines unbefriedigten Liebhabers ertragen wird?

Ihre ersten Briefe von Sardes waren freilich von der besten Vorbedeutung, und hätten mich, wenn ich sie nicht genauer kennte, beinahe überreden können, daß es dem schönen Perser gelungen sey, eine glückliche Veränderung in ihrem Innern zu bewirken. Die Neuheit des Schauplatzes, auf dem sie im Glanz einer Königin auftrat; das schmeichelnde Gefühl sich von jedem, der ihr nahen durfte, als die sichtbar gewordene Göttin der Schönheit angebetet zu sehen; eine ununterbrochene Folge von Festen, deren immer eines das andere auslöschte; die Macht über die Schätze ihres Liebhabers nach Gefallen zu gebieten; die fliegende Eile, womit jeder ihrer Winke befolgt, jeder ihrer leisesten Wünsche ausgeführt wurde; und (was vielleicht noch stärker als dieß alles auf sie wirkte) der Anblick der schwärmerischen Wonnetrunkenheit des glücklichen Arasambes, die ihr Werk war, und, weil sie ihr das schmeichelhafteste Selbstgefühl gab, den Willen in ihr hervorbrachte, ihn in der That so glücklich zu machen als es in ihrem unerschöpflichen Vermögen steht: wie hätte nicht alles dieß auch sie in eine Art von Berauschung setzen sollen, die der gute Arasambes für Liebe hielt, und sie selbst vielleicht eine Zeit lang dafür halten mochte? Aber was mir mein Herz schon lange weissagte, scheint bereits erfolgt zu seyn. Der magische Taumel ist vorüber; das alltäglich Gewordene rührt sie nicht mehr; sie hat alles, was tausend andre – Matronen 25 [30] und Hetären – mit Tantalischer Begierlichkeit wünschen oder verfolgen, und nie erreichen werden, bis zur Sättigung genossen; ihr unbefriedigter Geist verlangt neue unbekannte Gegenstände, wünscht vielleicht sogar die alten zurück, die aus dem Medeen-Kessel der Phantasie, aufgefrischt und in jugendlichem Glanze, vor ihr aufsteigen. In dieser Stimmung dürfte sich ihr der Gedanke, daß Arasambes sie als sein Eigenthum betrachte, nur von ferne zeigen, sie wäre fähig ihn und alles zu verlassen und nach Korinth zurückzukommen, bloß um sich selbst zu beweisen, daß sie frei sey.

Mein Verhältniß zu dieser seltenen Frau war vom ersten Augenblick unsrer Bekanntschaft an so einzig in seiner Art, als sie selbst. Wir gefielen einander, und gleiteten in sympathetischer Unbefangenheit, auf dem sanften Strom einer leisen Ahnung dessen was wir einander seyn könnten, still und sorglos dahin. Nie, oder doch nie länger als eine leichte Berauschung in Wein von Lesbos dauert, habe ich das, was man leidenschaftliche Liebe nennt, für sie gefühlt: aber der wärmste ihrer Freunde werd' ich bleiben so lang' ich athme; und wie wenig ich mir auch Hoffnung mache, daß es mir gelingen werde, so will ich doch nie aufhören ihrem bösen Genius entgegenzustreben. Sie hat nun (da sie doch weder wünschen noch hoffen kann, Königin von Persien zu werden) die Erfahrung gemacht, von welcher Art die Glückseligkeit sey, die ein Geist wie der ihrige aus dem, was gewöhnlichen Menschen das Höchste ist, schöpfen kann. Sollt' es denn wirklich unmöglich seyn, sie zu überzeugen, daß sie, wofern sie es nur ernstlich wollte, das einzige Gut, das ihr noch unbekannt [31] ist, Zufriedenheit und Seelenruhe, zu Aegina, im Schooße der Natur, der Kunst und der Freundschaft finden könnte?

Ich halte mich, nachdem ich den ganzen Sommer damit zugebracht habe, beinahe alle Inseln des Ikarischen Meeres, die man die Sporaden zu nennen pflegt, eine nach der andern zu besuchen, dermalen zu Rhodus auf, wo ich die neue Hauptstadt dieses Namens, gleich einer prächtigen hundertblättrigen Rose in der Morgensonne, sich ausbreiten und zu einer der schönsten Städte, die von Griechen bewohnt werden, emporblühen sehe. Weil ich hier sehr vieles finde, das meinem Reiseplan zufolge meine ganze Aufmerksamkeit verdient, so gedenke ich bis zu Anfang des Thargelions 26 hier zu verweilen, und hoffe, da der Verkehr zwischen Cyrene und Rhodus 27 jetzt lebhafter als jemals ist, binnen dieser Zeit mehr als einmal gute Nachrichten von euch zu erhalten.

9. Lais an Aristipp
9.
Lais an Aristipp.

Du, der so vielerlei weiß und Neugier für alles hat, solltest du nicht etwa ein Mittel für die Art von Langweile wissen, welche (wie mir ein Sohn des Hippokrates sagt) aus allzugroßem Ueberfluß an Kurzweil' entspringen soll?

Du hast dich vor einiger Zeit nach meinem Wohlbefinden erkundiget. O mein Freund, ich bin so glücklich, so entsetzlich glücklich, daß ich es vor lauter Glückseligkeit nicht lange mehr [32] ausdauern werde. Gnade mir Adrasteia! Sagt man nicht, es gebe Leute, die sich weit leichter in großes Unglück als in großes Glück zu finden wissen? Ich muß wohl eine von diesen widersinnischen Personen seyn. Dieser Arasambes, zum Beispiel, ist unläugbar viel zu vornehm, zu reich, zu schön, zu gefällig, zu aufmerksam und zu dienstfertig für deine arme Lais; und woher, um aller Grazien willen, sollte sie die ungeheure Menge von Liebe nehmen, die sie nöthig hätte um die seinige zu erwiedern? Ich merke wohl, daß er mir mit guter Art zu verstehen geben will, ich brauche es nur zu machen wie er: als da ist, mir beinahe die Augen aus dem Kopfe zu gucken, um in den seinigen zu erspähen, was er vielleicht morgen wünschen werde; oder, wenn ich irgend eine leichte Spur vom Schatten eines Wölkchens auf seiner breiten Stirn gewahr werde, gleich in eine tödtliche Unruhe zu fallen, und Himmel und Erde in Bewegung zu setzen, um die Ursache des großen Unglücks zu entdecken, und das Mittel dagegen auf der Stelle herbeizuschaffen. Ich übertreibe nichts, Aristipp; dieß ist seine Manier zu lieben, und es liegt nicht an ihm, wenn ich nicht das glücklichste Wesen unter der Sonne bin, so unbeschreiblich beschwerlich und ängstlich ist seine Aufmerksamkeit und sein Verlangen, mich zur seligsten aller Sterblichen zu machen. Denn wie sollt' er je zu viel für diejenige thun können, die ihn schon durch ein zufriednes Lächeln, schon durch einen Blick, der ihm sagt, daß sie seine Aufmerksamkeit bemerkt, mitten unter die Götter versetzen kann? Du erinnerst dich vielleicht noch, daß mir anfangs ein wenig bange war, er möchte wohl einige Anlage zur [33] Eifersucht haben; aber von der Art Eifersucht, womit der arme Mensch geplagt ist, ließ ich mir wenig träumen. Er ist nicht etwa darüber eifersüchtig, daß ich nicht zärtlich genug gegen ihn bin, oder vielleicht einen andern lieber haben könnte als ihn: er ist es über sich selbst, weil er immer zu wenig zu thun glaubt, und immer einen Arasambes im Kopfe stecken hat, der noch viel mehr thun möchte und könnte. Auch geht sein Eifer mir gefällig zu seyn, und mir keinen möglichen Wunsch übrig zu lassen, bis zum Unglaublichen. Hat er nicht neulich zwanzig schöne Hyrkanische Pferde zu Tode reiten lassen, um einen gewissen Fisch, mit einem barbarischen Namen den ich wieder vergessen habe, herbeizuschaffen, von welchem jemand über der Tafel erzählt hatte, er habe wechselsweise gold- und purpurfarbne Schuppen, und würde nirgends als im Ausfluß des Phasis gefangen? Ich Unglückliche lasse mir in der Unschuld meines Herzens das Wort entfahren; diese Fische müßten in einem Gartenteiche nicht übel aussehen. Augenblicklich springt mein Arasambes auf, ist wie ein Blitz aus dem Saal verschwunden, und in weniger als einer halben Stunde höre ich das Trampeln einer ganzen Schwadron Reiter, die den Befehl haben, Tag und Nacht zu rennen, um etliche Fäßchen voll dieser Fische, sie möchten kosten was sie wollten, vom östlichen Ende des Euxins herbeizuholen. Du kannst nicht glauben, wie ich mich in Acht nehmen muß, daß solche Dinge nicht alle Tage begegnen. Und nun vollends den Zwang, den ich mir anthun muß, wenn ich nicht in meinen eignen Augen die undankbarste Person von der Welt scheinen will, ihm über dergleichen ausschweifende Beweise [34] seiner sublimen Leidenschaft eine Freude zu zeigen, die ich nicht fühle! Ich sage dir, wenn das noch lange so währen sollte, ich behielte keinen ehrlichen Blutstropfen im Leibe!

O mein Aristipp! was für glückliche Zeiten waren das, wo wir in der Rosenlaube zu Aegina, dem Altar der Freundschaft gegenüber, beisammen saßen, und mit freier unbefangener Seele über tausend Dinge philosophirten, die uns im Grunde wenig kümmerten, und wenn uns nichts mehr einfallen wollte, die Lücke mit Scherzen und Tändeln ausfüllten, und ohne uns das Wie? und Warum? und Wie viel oder Wie wenig? anfechten zu lassen, einander gerade so glücklich machten, als jedes zu seyn wünschte und fähig war! – Welch eine große Wahrheit sagt Sophokles in seiner Antigone:


»Wär' auch dein ganzes Haus mit Reichthum angefüllt,

Und lebtest du in königlichem Prunke,

Fehlt Frohsinn dir dabei, so gäb' ich nicht

Den Schatten eines Rauchs um alles das!«


Wahr! wahr! Und wußt' ich es nicht vorher? Wozu hatte ich nöthig, mich durch eigene Erfahrung davon zu versichern? – Freilich, ich war eine Thörin! Aber die kürzesten Thorheiten sind die besten. Muthe mir also nicht zu, daß ich es hier länger aushalte. Nein, Trauter! meine Entschließung ist genommen, und daß ich nicht gleich auf der Stelle davon laufe, hängt bloß an einer einzigen Schwierigkeit. Du weißt, ich mag alles gern mit guter Art thun. Arasambes hat nichts als Gutes um mich verdient. Er selbst muß unsre Trennung wünschen, muß mir noch Dank dafür wissen, wenn [35] ich meiner Wege gehe. Dieß auf eine feine und ungezwungene Art herbeizuführen, ist, so wie die Sachen jetzt stehen, keine leichte Aufgabe. Ich habe zwar ein ganz artiges Plänchen in meinem Kopfe; nur das Mittel zur Ausführung liegt noch im Schooße der Götter. Aber, wie gesagt, meine Geduld reicht nicht mehr weit; und wenn der Zufall, der bei allen menschlichen Dingen doch immer das Beste thun muß, sich meiner nicht bald annimmt, so stehe ich dir nicht dafür, daß ich nicht, in einem Anstoß von guter Laune, dem edeln Arasambes den Antrag mache, nach Leukadia 28 mit mir zu reisen, und Hand in Hand den berüchtigten Sprung mit mir zu wagen, der uns beide, ihn von seiner nie befriedigten Liebe, mich von der Last sie zu dulden und nicht erwiedern zu können, auf Einmal befreien würde.

10. Aristipp an Lais
10.
Aristipp an Lais.

Du wärest wahrscheinlich die erste, schöne Lais, die den Sprung von Leukadia thäte, um eine Glückseligkeit los zu werden, wegen welcher du von allen Schönen Griechenlands beneidet wirst. Hoffentlich soll es dazu nicht kommen, wenn anders die Leidenschaft des königlichen Arasambes nicht von einer so unzerstörbaren Natur ist, daß alle Mittel sich hassen zu machen, die ein reizendes Weib in ihrer Gewalt hat, an ihm verloren gehen sollten. Du würdest mich billig auslachen, [36] wenn ich mir herausnähme, den Delphin (wie das Sprüchwort sagt) schwimmen zu lehren, und dir einige dieser Mittel vorzuschlagen, die ich für unfehlbar halte! Ich sehe wohl, es liegt nicht daran, daß du sie nicht kennen solltest, du kannst dich nur nicht entschließen Gebrauch davon zu machen; und freilich wär' es eine seltsame Zumuthung, von dir zu verlangen, daß du weniger liebenswürdig seyn solltest, weil ein anderer das Unglück hat, dir mit seiner Liebe beschwerlich zu seyn. Doch getrost, meine Freundin, ich sehe das Ende deiner unerhörten Leiden schneller, als du hoffest, heran rücken. Wäre die Schwärmerei, womit der arme Arasambes behaftet ist, wechselseitig gewesen, so würde sie sich wie alles Uebermäßige, schon lang' erschöpft haben. Bloß der Umstand, daß ihm immer noch so viel zu wünschen übrig bleibt, und daß du ihn immer ahnen lässest, du hättest noch weit mehr zu geben, ist die Ursache, daß seine Leidenschaft gerade durch das, was andre Liebhaber gewöhnlich abkühlt, immer heißer werden muß. So lang' er noch hoffen kann, dich endlich eben so warm zu machen als er selbst ist, verdoppelt er seine Bemühungen; wenn er aber alles versucht hat ohne seinem Ziele näher gekommen zu seyn, was bleibt ihm übrig? Er muß und wird endlich, vielleicht ohne sich's gestehen zu wollen, ermüden. Du wirst immer zerstreuter und kaltsinniger, er, dem deine leisesten Bewegungen nicht entgehen, immer unruhiger und mißmuthiger werden. Er wird es unnatürlich finden, daß so unendlich viel Liebe dich nicht endlich überwältigen könne, und wird nicht aufhören, die Ursache davon ergründen zu wollen. Unvermerkt wird eine Eifersucht sich[37] seiner bemächtigen, die desto peinlicher für ihn seyn wird, da sie keinen Gegenstand hat, und du selbst, deiner vorsetzlichen Langweiligkeit unbeschadet, immer eine heitre Stirne zeigst, alles vermeidest, was Verdacht in ihm erregen könnte, und alles thust, was dein Verlangen ihm gefällig zu seyn beweisen kann. Du tanzest so oft und so lang' er will; singst, sobald er es zu wünschen scheint, ohne dich einen Augen blick bitten zu lassen; kleidest und putzest dich immer nach seinem Geschmack, und bedankst dich für einen Phönix 29, den er mit schweren Kosten aus Panchaia für dich kommen läßt, eben so artig als für einen Blumenstrauß aus seinen Gärten; kurz, du thust alles, was ein Mann nach einer zwanzigjährigen Ehe von der gutartigsten Hausfrau nur immer erwarten kann. Wenn er diese Diät länger als sechs Wochen aushält, so nenne mich den unwissendsten aller Menschen! Nun versuch' es, und sag' ihm, in einer Stunde, wo du seine feurigsten Liebkosungen mit der matronenhaftesten Würde und Ruhe geduldest hast: »wie zärtlich auch die Sympathie zwischen zwei Liebenden seyn möge so sey es doch wohl gethan, sich von Zeit zu Zeit einer kleinen Trennung zu unterwerfen;« bitte um seine Einwilligung zu einer Luftveränderung in Aegina, und rathe ihm auf etliche Monate nach Susa oder Ekbatana zu gehen; du wirst sehen, daß er sich mit der besten Art von der Welt dazu bequemen wird. Mein Dämonion müßte mich zum erstenmale betrügen, Laiska, wenn dieß nicht das unfehlbarste Mittel ist, uns binnen zwei Monaten in deiner Rosenlaube zu Aegina, unter den Augen der freundlichen Grazien – wieder zu sehen!

11. Lais an Aristipp
[38] 11.
Lais an Aristipp.

Im Vertrauen zu dir gesagt, Aristipp – mir steigt zuweilen ein kleiner Zweifel auf, ob ich nicht eine sehr unartige verkehrte Person und eine Thörin obendrein sey, daß ich es ordentlich drauf anlege und mir alle mögliche Mühe gebe, einen Liebhaber los zu werden, welchen mit Vulcanischen Fesseln zu umwinden und fest zu halten, jede andere an meiner Stelle zum einzigen Ziel aller ihrer Gedanken und Bestrebungen machen würde. Du siehest hieraus, daß ich noch nicht ganz mit mir selbst einverstanden bin; vielmehr muß ich besorgen, daß Arasambes noch einen geheimen Anhang in meinem Herzen hat, der vielleicht nur desto gefährlicher ist, weil er sein Wesen im Verborgenen treibt. Woran hange ich denn hier noch? Des hofmäßigen Prunks und Pomps, der Sardanapalischen Tafeln 30, des lästigen Gewimmels von Eunuchen und Sklavinnen, bin ich überdrüssig, und die ewigen Feste in morgenländischem Geschmack machen mir lange Weile. Es ist wahr, eine Zeit lang fand ich Vergnügen daran, mich selbst mit Erfindung und Anordnung einer Menge mannichfaltiger, hier nie gesehener Ergötzungen für Aug' und Ohr zu beschäftigen. Die geschicktesten Baumeister, Bildhauer und Maler Ioniens, die berühmtesten Tonkünstler, Schauspieler, Tänzer und Tänzerinnen wurden angestellt, die Kinder meiner üppigen Phantasie zur Welt zu bringen. Aber auch diese Quelle ist vertrocknet. Kurz, ich habe nur noch ein einziges [39] Gefühl, das lebhaft genug ist mich zu überzeugen, daß ich nicht schon unter den Schatten im Hades herum gleite, und das ist – die Ungeduld, die mich zuweilen anwandelt, mich auf meinen Thracischen Goldfuchs, einen unmittelbaren Sohn des Aeolus, zu schwingen und ohne Abschied davon zu rennen. Stände mir, wie der glücklichen Medea, auf den ersten Wink ein Drachenwagen zu Dienste, so wäre ich in diesem Augenblick – bei dir zu Rhodus, wofern ich anders nicht besorgen müßte, dich ein wenig übermüthiger zu machen, als einem Sokratischen Philosophen geziemen will. Da dieß nicht angeht, so habe ich mich endlich doch, gern oder ungern, zu dem Mittel herablassen müssen, das du mir vorgeschlagen hast – weil du nicht zu fühlen scheinst wie unwürdig es meiner ist. Dafür muß ich dir aber auch zum Troste sagen, es schlägt trefflich an, und könnt' ich es nur über mein Herz bringen damit fortzufahren, so glaube ich beinahe selbst, es würde alles wirken, was du dir davon versprichst. Aber ich gestehe dir meine Schwachheit, wenn es ihm (was ich jetzt selten begegnen lasse) endlich einmal gelungen ist, mich auf meinem Sopha allein zu finden, und ich ihm, in Antwort auf die zärtlichsten Dinge, die er mir mit allem Feuer der ersten unbefriedigten Leidenschaft sagt, deiner Vorschrift zufolge, mit der matronenhaftesten Kälte so holdselig als möglich ins Gesicht gegähnt habe, und der arme Mensch, vor Erstaunen über die Schönheit meiner zweiunddreißig Perlenzähne, mitten in einer zärtlichen Phrase stecken bleibt und den trostlosesten Blick auf meine ruhigen spiegelhellen Augen heftet, – da kommt mich ein solches Mitleiden mit ihm an, daß es mir unmöglich [40] ist meine Hausfrauenrolle fortzuspielen; und ich schäme mich dir zu sagen, schon mehr als einmal hat sich eine solche Scene so geendigt, daß ich vorhersehe, dein Mittel würde mich, wenn ich es fortbrauchen wollte, mehr zurück als vorwärts bringen.

Glücklicherweise hat sich eine Göttin meiner angenommen, deren besondere Gunst ich in meinem Leben schon oft genug erfahren habe, um es meine erste Sorge seyn zu lassen, wenn ich nach Aegina zurückkomme, ihr einen kleinen Tempel vom schönsten Lakonischen Marmor zu erbauen. Dieser Tage läßt sich ein Cilicischer Sklavenhändler bei mir melden, und bietet mir eine junge Sklavin aus Kolchis an, die (wie er sich sehr höflich ausdrückte) wofern Lais unter die Sterblichen gerechnet werde, an Schönheit die zweite in der Welt sey. In der That überraschte mich ihre Gestalt, als sie aus dem dreifachen Schleier, der sie allen profanen Augen unsichtbar gemacht hatte, wie der Vollmond aus einem Gewölbe hervor trat, und in dem zierlichen Anzuge einer jungen Korbträgerin 31 der Athene oder Demeter 32 vor mir stand. Schwerlich hast du jemals so große, so schwarze und so blitzende Augen gesehen, von schönerm Ausschnitt, und die das Hygron, das die Dichter und Maler der Aphrodite geben, in einem so hohen Grade gehabt hätten, noch Lippen, die so unwiderstehlich zum Kuß herausfordern, wie Anakreon sagt! Ich nahm sie sogleich ins Bad mit mir, und ich könnte dir über das Erstaunen, womit wir einander beide ansahen, sonderbare Dinge erzählen, wenn sie nicht unter die unaussprechlichen gehörten. Laß dir genug seyn, Aristipp, daß ich gewiß bin, durch den glücklichsten Zufall [41] gefunden zu haben, was ich lange vergebens hätte suchen können, und daß Arasambes diesem Iynx nicht widerstehen wird. Kurz und gut, ich habe mir mit tausend blanken Dariken eine Nebenbuhlerin erkauft, die mir in kurzem die Wonne verschaffen soll, mein geliebtes Griechenland wieder zu sehen, und die herzerquickende Luft der Freiheit wieder zu athmen, außer welcher ich nicht gedeihen kann. Das Mädchen scheint nicht über sechzehn Jahre alt, ist eine Griechin von Geburt und absichtlich für das Gynäceum irgend eines Persischen Satrapen erzogen; denn sie singt und spielt verschiedene Instrumente sehr gut, tanzt wie eine Nymphe, und weiß ihre großen funkelnden Augen meisterlich zu regieren. Das ist aber auch alles. Indessen fehlt es ihr nicht an Anlage; sie besitzt ein treffliches – Gedächtniß, und wenn sie noch etliche Duzend Lieder von Anakreon und Sappho und Korinna auswendig gelernt und einige Wochen mit meinen Grazien gelebt hat, soll sie es mit allen Timandren und Theodoten zu Athen aufnehmen können.

12. Lais an Aristipp
12.
Lais an Aristipp.

Mein Anschlag ist gelungen. Arasambes läßt sich gefallen – Aber ich eile vor lauter Freude mir selbst zuvor, und sage dir zuerst, was ich zuletzt sagen sollte. Die Sache verdient [42] mit Herodotischer Umständlichkeit erzählt zu werden. Die schöne Perisäne (so nennt sich meine künftige Stellvertreterin) befand sich kaum ein paar Tage im Innern meines Gynäceums, als schon im ganzen Palaste von nichts als der Schönheit der neu gekauften Sklavin die Rede war. Viele hatten sie im Vorbeigehen gesehen, nur Arasambes konnte nicht zu diesem Glücke gelangen; denn in denjenigen von meinen Zimmern, in welche er zu allen Zeiten einzugehen die Freiheit hat, war sie nie zum Vorschein gekommen, und er fand mich beim Morgenbesuch immer von meinen gewöhnlichen Aufwärterinnen umgeben. Nach einigen Tagen merkte ich, daß er so aussah, als suchte er etwas bei mir, das sich nicht finden lassen wollte; aber ich that als ob ich nichts sähe, und der arme Mensch mußte sein Anliegen endlich gern oder ungern zur Sprache bringen. – »Ich höre, liebe Lais, du hast eine sehr schöne Sklavin gekauft.« – Eine Sklavin? sagte ich, als ob ich mich nicht gleich besinnen könne. – »Eine junge Griechin aus Kolchis« – Ach! diese? Eine Griechin darf keine Sklavin seyn, Arasambes; ich habe sie bereits frei gelassen, und behalte sie nur so lange bei mir, als es ihr selbst bei mir gefällt. – »Ist sie wirklich so schön als man sagt?« Sie ist nicht übel; ein paar Medeenaugen, und die Stimme einer Sirene. – »Es ist wenigstens etwas Neues. Könnte man sie nicht einmal zu hören bekommen?« – Sehr gern, zu hören und zu sehen, lieber Arasambes; ich denke nicht daß sie dir sehr gefährlich seyn wird. – Du stellst dir vor, Aristipp, daß er mir etwas sehr Artiges erwiederte, und ich versprach ihm mit der zutraulichsten Miene, [43] gleich diesen Abend eine Musik in meinem Saale zu veranstalten, wobei sich die kleine Perisäne hören lassen sollte.

Alles ging nach Wunsche. Die Kolcherin erschien in einem zierlich einfachen Putz, eher zu viel als zu wenig eingewindelt, doch so, daß von der Eleganz ihrer Formen, wenigstens für die Einbildung wenig verloren ging. Sie schlug ihre großen Augen jungfräulich nieder, erröthete, und spielte die Verlegenheit, die ihrem Stand und Alter ziemt, mit vieler Natur. Schon hatte sie ein paar Lieder von Anakreon gesungen, und auf etlichen Instrumenten mit eben so viel Anstand als Fertigkeit geklimpert, ohne daß sie mehr als zwei-oder dreimal einen schüchternen Versuch machte, die Augen halb aufzuschlagen, und unter den langen schwarzen Wimpern hervorzublinzen. Aber endlich wagte sie es, mitten in der feurigsten Stelle einer Sapphischen Ode ihren schönen Kopf zu erheben, und, nachdem sie die weit offnen Augen eine kleine Weile Blitz auf Blitz hatte herum schießen lassen, heftete sie einen so seelenvollen durchdringenden Blick auf Arasambes, daß er von Marmor hätte seyn müssen, wenn dieser Blick nicht, wie der schärfste Pfeil von Amors Bogen, in seiner Leber stecken geblieben wäre. Zwar wäre es jedem andern, als mir, kaum möglich gewesen, eine Veränderung an ihm wahrzunehmen, so gut weiß er (wie alle Perser von Stande) in Gegenwart anderer Personen das Aeußerliche einer vornehmen Unempfindlichkeit zu behaupten. Aber ich war ihm zu nahe und beobachtete ihn zu scharf, um mich durch den kalten einsylbigen Beifall, den er der schönen Sängerin ertheilte, und am wenigsten durch die ungewöhnliche Lustigkeit, [44] die er nach Endigung der Musik den ganzen Abend über heuchelte, irre machen zu lassen. Am folgenden Tage war keine Rede mehr von der Kolcherin; auch am zweiten und dritten nicht. Arasambes kam alle Augenblicke auf mein Zimmer, bald zu sehen wie ich mich befinde, bald mir einen Blumenstrauß zu bringen, bald mich über etwas um Rath zu fragen, bald etwas zu holen, das er hatte liegen lassen. Eine seltsame Lebhaftigkeit trieb ihn von einem Ort zum andern; er war zerstreut, hatte immer etwas zu fragen, und hörte selten was ihm geantwortet wurde. Am vierten Tage fing diese Unruhe an, uns beiden peinlich zu werden. Es war hohe Zeit, alles mit guter Art so einzurichten, daß er den berühmten Tonkünstler Timotheus (den ich vor einiger Zeit von Milet nach Sardes hatte kommen lassen) in meinem Zimmer antraf, beschäftigt die junge Perisäne einen neuen Dithyramben von seiner Composition singen zu lehren. Der Meister wollte sich zurückziehen, als Arasambes herein trat; aber ich winkte ihm zu bleiben. Es ist dir doch nicht entgegen, sagte ich zu Arasambes, daß Timotheus in seiner Lection fortfahre? Der Mensch hatte die größte Mühe, seine Freude hinter ein kaltes ganz und gar nicht zu verbergen. Unvermerkt klärte sich sein ganzes Wesen wieder auf; er setzte sich der Musik gegenüber auf den Sofa, sprach mit dem Meister, ohne ein Auge von der Schülerin zu verwenden, und bat ihn, den Gesang erst selbst vorzutragen, um aus der Art, wie Perisäne sich aus der Sache ziehen würde, desto besser von ihrem Sinn für die Musenkunst urtheilen zu können. Ich machte mir indessen in einem anstoßenden Cabinette zu thun, und bemerkte wie die [45] Kolcherin, während daß Timotheus sang, ihre funkelnden Zauberaugen weidlich auf meinen Adonis arbeiten ließ, der sich vermuthlich der Gelegenheit, nicht von mir gesehen werden zu können, mit eben so wenig Zurückhaltung bediente.

Das geheime Verständniß zwischen ihnen war nun angesponnen. Ich beschenkte Perisänen, um ihr meine Zufriedenheit zu zeigen, mit einem zierlichen Morgenanzug von der feinsten Art von Zeugen, welche die Persischen Kaufleute aus Indien holen. Arasambes fand sie am folgenden Morgen in diesem Anzuge bei meinem Putztische, und ich begegnete ihr vor seinen Augen mit einer so ausgezeichneten Vertraulichkeit, daß er sich schmeicheln konnte, ich würde alles, was er für meinen neuen Günstling thäte, so aufnehmen als ob er bloß mir seine Aufmerksamkeit dadurch beweisen wolle. Arasambes biß getrost an die Angel. Seine Leidenschaft wuchs nun mit jedem Tage schneller, und man murmelte schon im ganzen Palast davon, bevor er selbst vielleicht wußte, wie weit sie ihn führen könnte. Aber wer bei allem diesem mit gänzlicher Blindheit geschlagen zu seyn schien, war deine Freundin Lais. Sie allein merkte nichts davon, daß sie sich thörichter Weise mit schwerem Gelde eine gefährliche Nebenbuhlerin erkauft habe; ahnete so wenig davon, daß sie ihren Fall noch sogar beschleunigte, indem sie dem zärtlichen Perser, nach einem paar schwerfälligen Stunden, die er mit ihr zuzubringen genöthiget war, den Vorschlag that, den ihr der weise Aristipp unter den Fuß gegeben hatte. Arasambes machte, wie billig, einige Schwierigkeiten, mußte sich aber, da er keinen Begriff davon hatte, wie man ihr etwas abschlagen könnte, endlich doch ergeben; zumal wie [46] er hörte, daß sie ihre geliebte Perisäne zum Unterpfand ihrer Wiederkunft zurücklassen wolle, wofern sie sich versprechen dürfe, daß er das gute Kind in seinen Schutz nehmen werde; eine Bedingung, die er ihr in den gefälligsten Ausdrücken von der Welt zugestand.

Nicht wahr, Aristipp, das nennt man doch eine Sache mit guter Art machen? So zart und schonend pflegen Liebende bei euch Griechen einander nicht zu behandeln!

Meine Abreise von Sardes nach Milet wird nicht länger aufgeschoben werden als die nöthigen Zurüstungen erfordern. Arasambes hat mir zu diesem Ende zehntausend Dariken, theils in Golde, theils in Anweisungen auf bekannte Häuser in Milet zustellen lassen – ein Reisegeld, das vielleicht den Argwohn bei dir erregen wird, als ob er nicht sehr auf meine Zurückkunft rechne.

Bevor ich schließe, muß ich dir doch noch ein Bekenntniß thun, wiewohl ich vielleicht dadurch Gefahr laufe, etwas von deiner guten Meinung zu verlieren. Aber ich will nicht, daß du mich für etwas anderes haltest als ich bin. So höre denn an und denke davon was du kannst. Ob ich gleich die Schlinge, worin der gute Arasambes sich verfing, selbst gestrickt und gelegt hatte, so konnte sich doch mein Stolz mit dem Gedanken nicht vertragen, daß es ihm so leicht werden sollte sich von mir zu trennen. Ich beschloß also mich selbst dem Vergnügen einer kleinen Rache aufzuopfern, und den letzten Tag vor meiner Abreise zum glücklichsten unter allen zu machen, die er mit mir gelebt hatte. Es ist unnöthig dir mehr davon zu sagen, als daß Arasambes vor diesem Tage keinen Begriff [47] davon gehabt hatte, wie liebenswürdig deine Freundin seyn könne, wenn sie Aphroditen ihren Gürtel abgeborgt hat. Was er in diesen letzten vierundzwanzig Stunden davon erfuhr, war es eben gewesen, wornach der arme Tantalus schon so lange gehungert und gedürstet hatte. Die kleine Perisäne schwand dahin, wie eine Nebelgestalt in der Sonne zerfließt. Lais war ihm Cythere selbst, die ihren Adonis in den Hainen von Amathus beseligt. – So viel Bosheit hätte ich dir nicht zugetraut, sagst du – Wie, Aristipp? Siehst du nicht, wie interessant die Abschiedsscene dadurch werden mußte, und was für Erinnerungen ich ihm für sein ganzes Leben zurückließ? – Arasambes konnte das freilich nicht sogleich zurecht legen, und stellte sich ein wenig ungebärdig. Der arme Mensch! was sagte und that er nicht, um mich zum Bleiben zu bewegen! Aber er hatte nun einmal sein Wort gegeben, ich war reisefertig, meine Freunde in Griechenland erwarteten mich – Kurz, ich siegle diesen Brief – den du durch einen in Angelegenheiten des Königs nach Rhodus abgehenden Eilboten erhalten wirst – und reise in einer Stunde ab.

13. Aristipp an Kleonidas
13.
Aristipp an Kleonidas.

Ich fürchte, lieber Kleonidas, wir andern Weisheitsliebhaber sind, mit aller unsrer Freiheit von popularen Vorurtheilen und Hirngespenstern, doch nur eine Art großthuiger [48] Poltrons, die, sobald sie dem Feinde unter die Augen sehen sollen, so gut zittern als andere, welche ihre wenige Herzhaftigkeit ehrlich eingestehen. Ich habe seit kurzem eine sonderbare Erfahrung hiervon gemacht. Du weißt, daß ich die Erzählungen von Gespenstern, die sich zu gesetzten Stunden an gewissen Orten sehen lassen, und von Verstorbenen, die, gleichsam in den Schatten ihrer ehmaligen Gestalt eingehüllt, sich entweder von freien Stücken zeigen, oder durch magische Mittel zu erscheinen genöthiget werden, immer für das, was sie sind, gehalten, und die Furcht vor allen diesen Ausgeburten eigner oder fremder Einbildung für eine der lächerlichsten Schwachheiten erklärt habe. Gleichwohl hab' ich mich selbst unvermutheter Weise über dieser ziemlich allgemeinen menschlichen Schwachheit ertappt, und finde mich jetzt durch eigene Erfahrung sehr geneigt duldsamer gegen andere zu seyn, da ich mich immer mehr überzeuge, daß kein Mensch so viel vor allen andern voraus hat, daß er sich vor irgend etwas, wozu Wahn und Leidenschaft einen Menschen bringen können, völlig sicher halten darf. Höre also, was mir in der vorgestrigen Nacht begegnet ist.

Das Haus, das ich hier bewohne, liegt zwischen dem Hafen und der Stadt, mitten in einem ziemlich großen Garten, der auf der Ostseite die Aussicht ins Meer hat, und gegen Mittag in einen kleinen den Nymphen geheiligten Hain von Buschholz ausläuft, den ein langer Gang von hohen Cypressen in zwei gleiche Theile schneidet. Die Rhodier sind überhaupt an eine Lebensordnung gewöhnt, von welcher sie selten abweichen. Eine Stunde nach Sonnenuntergang ist in [49] den Häusern und auf den Straßen alles still; denn mit der ersten Morgenröthe ist auch schon alles wieder munter; sogar die Frauen würden sich's zur Schande rechnen, von dem Sonnengotte (der hier vorzüglich verehrt wird) in den Armen des Schlafs überrascht zu werden. Wir Cyrener sind einer andern Lebensart gewohnt, und ich bringe daher in mondhellen Nächten, wenn schon alles weit um mich her im ersten Schlafe versunken ist, gewöhnlich noch ein paar Stunden allein in einem Gartensaale zu, der in Gestalt eines kleinen Tempels dem Cypressengange gegenüber steht, und von etlichen Reihen prächtiger Ahornbäume umschattet wird. Diese einsamen nächtlichen Stunden sind es, worin ich mich aus den Zerstreuungen des Tages in mich selbst zurückziehe, und nach Pythagorischer Weise mir selbst Rechenschaft darüber ablege, was ich gethan oder verabsäumt, um was ich besser oder schlechter geworden, was ich gesehen, gehört oder gelesen habe, das des Nachdenkens und Aufbehaltens werth ist, und was ich morgen vorzunehmen oder zu besorgen gedenke; kurz, es sind, wenn ich so sagen kann, die Digestionsstunden meines Geistes, die mir zu meiner Lebensordnung so nothwendig sind, daß ich mir nur selten erlaube, ihnen eine andere Anwendung zu geben.

Ich weiß nicht wie es kam, daß gerade an diesem Abend die Erinnerung an Lais alle andern Gedanken in mir verdrängte. Ich hatte ungefähr acht Tage vorher einen Brief von ihr erhalten, worin sie mir ihre Trennung von Arasambes berichtete, und daß sie im Begriff sey nach Milet abzugehen. Welche seltsame Unruhe des Geistes, dachte ich, treibt [50] sie aus einer beneidenswürdigen Lage heraus, um des eingebildeten Glücks einer unbeschränkten Freiheit zu genießen, die ihr am Ende vielleicht doch nur zur Fallgrube werden könnte! Sie vermochte alles über Arasambes; es stand in ihrer Macht ihn auf immer an sich zu fesseln; und mit welchem Muthwillen zerbricht sie ihren eigenen Zauberstab! Wie leichtsinnig treibt sie wieder in den Ocean des Lebens hinaus, ohne Plan und Zweck, wohin Zufall und Laune des Augenblicks sie führen werden! Was wird endlich das Schicksal dieses außerordentlichen Weibes seyn, in welchem die Natur alle Reize ihres Geschlechts mit den glänzendsten Vorzügen des männlichen so sonderbar zusammengeschmelzt hat?

Der Charakter der schönen Lais war mir immer ein Räthsel gewesen, dessen Auflösung ich vergeblich gesucht hatte. Indem ich mich jetzt von neuem bemühte, alle die reizenden Widersprüche, woraus er zusammengesetzt ist, und in deren Verbindung gerade der Zauber ihrer unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit liegt, unter Einen Begriff zu bringen, fiel mir plötzlich die große Aehnlichkeit auf, die ich zwischen ihr und dem außerordentlichsten Manne unsrer Zeit, dem ehemaligen großen Liebling des Sokrates, zu sehen glaubte. Sie ist, sagte ich zu mir selbst, unter den Frauen, was Alcibiades unter den Männern war. In beiden hat die Natur alle ihre Gaben mit üppiger Verschwendung aufgehäuft. Wohin er kam, war er der erste und einzige; wo sie erscheint, wird sie immer die erste und einzige sey. Er würde die Welt erobert haben, wenn er nicht so gewiß gewesen wäre daß er es könne: sie würde sich überall alle Herzen unterwerfen, wenn sie es [51] nur der Mühe werth hielte. Ein allzu lebhaftes Selbstgefühl war die Quelle aller seiner Ausschweifungen, Fehler und falschen Schritte: eben dieß ist und wird immer die Quelle der ihrigen seyn. Wäre er zwanzig Jahre später in die Welt gekommen, und sie wären einander (wie nicht zu zweifeln ist) begegnet, sie würden sich vereiniget, und, wie Platons Doppelmenschen 33, unglaubliche Dinge gethan haben. Aber nur zu wahrscheinlich bereitet sie sich ein ähnliches Schicksal. Dieses innige Gefühl dessen was sie ist, und was sie seyn kann sobald sie will, würde sie wahrscheinlich antreiben irgend eine große Rolle zu spielen, wenn es nicht bei ihr, wie bei Alcibiades, mit der Indolenz eines kaltblütigen Temperaments verbunden wäre, die der Energie ihrer Einbildungskraft das Gegengewicht hält, und die Ursache ist, warum sie mit den größten Kräften nie etwas Großes unternehmen, oder, wenn sie es begonnen hätte, nie zu Stande bringen wird. Daher dieser übermüthige Leichtsinn, der sich über alles wegsetzen kann, sich aus allem ein Spiel macht, und, weil ihm nichts groß genug ist, nothwendig alles klein finden muß. Wär' es ihr zu Sardes eingefallen Königin zu werden, sie wäre nach Susa gegangen, und hätte den Artaxerxes zu ihrem Sklaven gemacht. Daß sie es nicht versucht hat, kommt bloß daher, weil sie zu fahrlässig dazu ist, und weil ihr Stolz Befriedigung genug in dem Gedanken findet, schon als Lais alles zu seyn was sie will. Mit einem andern Temperamente wäre sie vielleicht die ausgelassenste aller Hetären; aber ich fürchte sie ist fähig, es aus bloßer Eitelkeit zu werden, wenn sie sich's jemals in den Kopf setzen sollte, auch hierin unübertrefflich zu seyn.

[52] Diese Betrachtungen machten mich unvermerkt wehmüthig; die bloße Möglichkeit, daß die Liebenswürdigste ihres Geschlechts dereinst noch unglücklich seyn, und vielleicht sogar unter sich selbst herabsinken könnte, war mir peinlich, und ich verlor mich im Nachdenken, ob dieser weibliche Alcibiades nicht wenigstens in eine Art von Aspasia zu verwandeln seyn möchte – als ich auf einmal eine hohe Gestalt in einem langen weißgrauen Gewande zwischen den Cypressen langsam gegen mich herschweben sah, in welcher ich beim ersten Anblick die Gestalt und den Anstand der Freundin zu sehen wähnte, welche mich schon eine Stunde lang in Gedanken beschäftigte. Ich gestehe dir, daß ich zusammenfuhr, aber nichtsdestoweniger, zwischen Grauen und Neugier was daraus werden würde, die Augen starr auf die wunderbare Erscheinung heftete. Noch schwebte die Gestalt immer vorwärts; aber in dem Augenblick, da sie eine vom einfallenden Mondlicht stark beleuchtete Stelle betrat, blieb sie ohne Bewegung stehen, und nun war es unmöglich zu zweifeln, daß ich die Gestalt der Lais vor mir sehe. Aber wie sollte sie selbst auf einmal hierher gekommen seyn? Da es unläugbar ihre Gestalt war, was konnt' es anders seyn als eine Erscheinung, die mir sagen sollte, daß sie selbst nicht mehr lebe; es sey nun, daß Arasambes sie in einem Anfall von Eifersucht ermordet, oder daß sie auf der Rückreise nach Griechenland Schiffbruch gelitten, oder sonst durch einen Zufall das Leben verloren hatte. Diese Gedanken blitzten so schnell in meiner Seele auf, daß meiner Philosophie nicht Zeit genug blieb, sie in Untersuchung zu nehmen; und ich bekenne dir unverhohlen, daß mir ungefähr eben so zu Muthe [53] war, wie einem jeden seyn mag, der einen abgeschiedenen Geist zu sehen glaubt. Ich wollte von meinem Ruhebettchen aufstehen, aber meine Füße waren mit Blei ausgegossen, und meine Arme ohne Kraft; so daß ein ziemliches Weilchen verging, bis ich wieder einige Gewalt über meinen Körper erhielt. Die Gestalt stand noch immer unbeweglich, und ich konnte deutlich sehen, daß sie einen zärtlich ernsten Blick auf mich heftete. Die immer zunehmende Gewißheit, daß es der Schatten meiner Freundin sey, brachte nun mein stockendes Blut wieder in Bewegung; mir ward warm ums Herz, und eine unaufhaltsame Gewalt riß mich zu dem geliebten Schatten hin. Mit weit ausgebreiteten Armen flog ich auf sie zu, aber die Ausrufung, »bist du es, liebste Lais?« blieb mir am Gaumen kleben. Doch im nämlichen Augenblick, da ich mit ausgespannten Armen auf sie zueilte, öffnete sie auch die ihrigen, und einen Augenblick darauf fühlte ich, mit unaussprechlichem Entzücken, daß ein warmer elastischer Körper meine Arme füllte, daß ihr Busen an dem meinigen überwallte, kurz, daß das vermeinte Gespenst – Lais selbst war. Die Seligkeit dieses Augenblicks fühlst du, indem du dich an meine Stelle denkst, viel besser, als wenn ich das Unbeschreibliche zu beschreiben versuchen wollte. Alles, was ich davon sagen kann, ist, daß es der längste und kürzeste meines Lebens war; denn er könnte eine Stunde gedauert haben, und hätte mir doch nur ein Augenblick gedäucht. Mir war, als ob ich mit ihr zusammenwachsen müßte, um mich ihres Daseyns recht gewiß zu machen.

Lais gestand mir, daß sie sich ein eigenes Vergnügen [54] daraus gemacht habe, meine Philosophie sowohl als meine Freundschaft auf diese Probe zu setzen, und mich die Gunst eines so unerwarteten Besuchs mit einer kleinen Angst erkaufen zu lassen, die den Werth derselben erhöhen würde. Es freut mich, setzte sie hinzu, daß ich meine Absicht, dir den Genuß eines noch unbekannten Wonnegefühls zu gewähren, so glücklich erreicht habe: und ich hoffe du wirst dich desto leichter in die Nothwendigkeit fügen, dich eben so unvermuthet wieder von mir zu trennen als du mich gesehen hast; denn in einer Stunde muß ich wieder am Bord seyn. Ich komme gerades Weges von Sardes; meine vorgegebene Reise nach Milet sollte dir bloß verbergen, was ich damals schon beschlossen hatte. Der nämliche Eilbote, der dir meinen Brief überbrachte, hatte den Auftrag, mir ein eigenes Schiff zu miethen, welches mich sobald als möglich zu den Poseidonien nach Aegina bringen soll. Alles ist zur Abfahrt bereit, der Wind ist günstig, und die Seeleute sind, wie du weißt, hartherzige Leute.

Du zweifelst wohl nicht, Kleonidas, daß mir diese Nachricht etwas unerwartet kam; ich hatte mir wenigstens auf etliche Tage Hoffnung gemacht. Aber du kennst auch das unwiderstehliche Gemisch von Anmuth und Majestät, womit diese Zaubrerin ihre Willenserklärungen als unwiderrufliche Beschlüsse des Schicksals anzukündigen pflegt. Es fand nicht nur weder Einwendung noch Bitte gegen diese Verfügung statt, sondern dein armer Freund mußte sich auch bequemen, diese ganze kostbare Stunde über in dem langen Cypressengang mit ihr auf und ab zu schlendern, und sich einen kurzen Auszug [55] ihrer Geschichte seitdem wir uns nicht gesehen hatten, erzählen zu lassen, die ein paar Stunden später unendlich unterhaltend gewesen wäre, aber jetzt mit einer Zerstreuung angehört wurde, von welcher er sich nicht völlig Meister machen konnte. Sie schien es endlich gewahr zu werden. Denn als sich ihre am Ausgang des Wäldchens zurückgelassenen Leute von ferne sehen ließen, und ihr ein Zeichen gaben, sagte sie lächelnd: ich fühle daß ich deine Schuldnerin bin, lieber Aristipp, und ich würde dir den Antrag thun, mich auf der Stelle nach Aegina zu begleiten, wenn ich nicht besorgen müßte, daß es Aufsehen erregen und deine Sokratischen Freunden eine sehr erwünschte Gelegenheit geben möchte, dir einen Namen in Griechenland zu machen. Ich selbst mache mir, wie du weißt, nichts aus dem was die Leute von mir sagen: aber ich hätte sehr Unrecht, wenn ich glaubte daß eine solche Gleichgültigkeit auch dir gezieme. Sich fremden Meinungen gänzlich aufzuopfern wäre thöricht: aber die meisten Menschen sind eine so neidische und hämische Art von Thieren, daß wir es ihnen um unsrer eigenen Ruhe willen zu verbergen suchen müssen, wenn wir glücklicher sind als sie.

Ich bin überzeugt, Kleonidas, daß alles dieß ihr Ernst war, und so antwortete ich ihr wie es diese Ueberzeugung forderte. Es wäre unartig gewesen ihr merken zu lassen, daß ich sie, auch ohne Rücksicht auf das Urtheil der Welt, nicht nach Aegina begleitet haben würde. Indessen hatte ich keiner Verstellung nöthig, um ihr zu zeigen, daß es mich nicht wenig koste, mich ihrem Gutdünken zu unterwerfen. Denn freilich hätte ich mir aus dem Spott und den Vorwürfen der [56] Sokratiker eben so wenig gemacht als sie, wenn ich bloß meiner Neigung, wie sie ihren Launen, folgen wollte. Das Vergnügen, die ihrige durch diesen seltsamen Besuch befriedigt zu haben, machte sie so aufgeräumt, daß es ihr gelang mich zuletzt auf eben denselben Ton zu stimmen. Was für eine Aufnahme meinst du daß die Wittwe des Arasambes sich von den Korinthiern versprechen dürfe? fragte sie mit der unschuldig leichtfertigen Miene, die ihr so wohl ansteht, und setzte, ohne meine Antwort zu erwarten, hinzu: ich habe ein unfehlbares Mittel mich bei ihnen in Ansehen zu setzen; denn ich muß dir sagen, daß ich sehr reich von den Ufern des goldenen Paktols zurückkomme. – Du hast ein noch unfehlbareres, sagte ich; aber – Ich verstehe dich, fiel sie mir lachend ins Wort, und was dein Aber betrifft, so begreifst du leicht, daß der zweijährige Aufenthalt zu Sardes mich nicht demüthiger gemacht hat als ich vorher war. Ich rathe niemanden meinetwegen nach Korinth zu reisen. Du kennst meine Liebe zur Freiheit, meinen Haß gegen euer übermüthiges Geschlecht, und das Vergnügen, das ich gleichwohl daran finde, mit Männern umzugehen, und sie für die Augenlust, die ich ihnen wider Willen mache, nach allen Regeln der Kunst zu peinigen. Dabei wird es wohl bleiben. – Ich wünschte, liebe Lais, sagte ich, daß es nicht dabei bliebe. Möchtest du doch das Glück das deiner Musarion zu Theil geworden ist (das einzige das du noch nicht kennst) nicht muthwillig von dir stoßen, wenn es dir sich anböte! – »Hab' ich es nicht schon mit Arasambes versucht? Es geht nicht, lieber Aristipp! Wer vermag etwas gegen die allmächtige Natur? [57] Die Glückseligkeit ist immer eben dieselbe; nur in den Mitteln und in der Art zu genießen, liegt die Verschiedenheit. Ich fühle mich, so wie ich bin, glücklich: was kannst du mehr verlangen, mein Freund?« – Sie sagte dieß mit einer so reizenden Unbefangenheit, daß es Thorheit gewesen wäre ihr eine ernste Antwort darauf zu geben. Unsre letzte Umarmung war nicht ganz so warm, und dauerte nicht halb so lange als die erste. Wirklich würde mir's schwer geworden seyn, ihr länger zu verbergen, wie schmerzlich es mir war, in allem was sie sagte und that, den weiblichen Alcibiades immer deutlicher zu erkennen. – Aber hatte ich Recht, der schönen Lais übel zu nehmen, daß sie Lais war? Und sollte nicht fehlgeschlagne Erwartung (wiewohl ich es mir auf der Stelle nicht gestehen wollte) die wahre Ursache der übelverhehlten Lauigkeit gewesen seyn, womit ich mich, zu bald für eine Freundschaft wie die unsrige, ihren schönen Armen entwand? Daß sie es nur zu gut merkte, bewies sie mir, im Augenblick des Scheidens, durch einen Kuß, von jenen nektarischen, die sie allein küssen kann, und welche auch du, wenn ich nicht irre, bei einer gewissen Gelegenheit kennen gelernt hast. Brauchte es mehr, um die dünne Eisrinde plötzlich zu schmelzen, womit sie das Herz des treuesten ihrer Freunde umzogen gefühlt hatte? Aber ehe ich wieder zur Besinnung kommen konnte war sie meinen Augen so schnell entschwunden, daß ich alles wieder für eine bloße Erscheinung hätte halten können, wenn der magische Kuß nicht noch eine ganze Stunde auf meinen Lippen fort gebrannt hätte.

Nun, lieber Klonidas, wie gefällt dir meine Gespenstergeschichte? [58] Gewiß ist sie keine von den schlechtesten, die du in deinem Leben gehört hast. Aber was wirst du von deinem Aristipp denken, der bei dieser Gelegenheit schwach genug war, die schöne Lais erst für ein Gespenst anzusehen, und sie dann wieder von sich zu lassen, als ob sie es wirklich gewesen wäre? Lache immerhin über mich, Kleonidas; ich mache eine so alberne Figur in meinen eigenen Augen, daß ich keine Schonung von dir verlangen kann.

14. Kleonidas an Aristipp
14.
Kleonidas an Aristipp.

Wirklich, lieber Aristipp, scheint mir dein Aufenthalt unter den weichlichen Asiaten deine Nerven ein wenig abgespannt zu haben: nicht, weil dir so gut als einem andern etwas Menschliches begegnen kann; und noch weniger, weil du die schöne Lais wieder gehen ließest wie sie gekommen war; – wie hättest du es anders machen können? Sie ist doch wohl keine Person, mit der man ungestraft den Satyr spielen dürfte? – sondern weil du nicht gewahr worden bist, daß die Schwachheit, deren du dich selbst beschuldigest, bloß darin liegt, daß du dich schämest wo sich nichts zu schämen ist.

Ich weiß nicht wo ihr Philosophen die Einbildung her nehmt, ihr müßtet etwas mehr als menschliche Menschen seyn, oder wir andern sollten wenigstens so gutmüthig seyn, [59] euch auf euer Wort dafür gelten zu lassen. Ich für meine Person finde in deiner Gespenstergeschichte nichts, was nicht ganz natürlich wäre, und dem weisen Sokrates selbst so gut hätte begegnen können wie dir. Du befindest dich in einer mondhellen Nacht allein in einem Garten; alles schlummert weit umher; Nacht, Einsamkeit und allgemeine Stille stimmen dich zu dem, was man wachend träumen nennen könnte. Der Mondschein allein versetzt uns schon in eine andere, oder vielmehr in die nämliche Welt, die den gemeinen Vorstellungen vom Hades zum Urbild gedient hat; in eine Welt, wo alles sich dem Auge ganz anders darstellt, als wir es bei Tage sehen; wo wir Mühe haben in den zweifelhaften farbenlosen Gestalten, die ein mattes oft unterbrochnes Schattenlicht bald erscheinen bald wieder verschwinden läßt, die gewohntesten Gegenstände wieder zu erkennen; wo es ohne Hülfe des Gefühls fast immer unmöglich ist, Schatten und Körper nicht zu verwechseln; kurz, in eine von der Sonnenwelt so verschiedene Zauberwelt, daß der Einbildungskraft bei der geringsten Veranlassung nichts leichter ist, als Gegenstände des Homerischen Schattenreichs dem, was wir wirklich sehen, unterzuschieben. In dieser Lage stellt sich dir auf einmal die Gestalt einer Person dar, für welche du seit mehrern Jahren eine besondere Anmuthung fühlst, und mit welcher du dich unmittelbar zuvor in Gedanken unterhalten hattest; eine Person, die, deiner gegründeten Meinung nach, jetzt zu Milet seyn muß, und die du dir in diesem Augenblick so wenig in Rhodus, als dich selbst in Milet, denken kannst. Was ist da natürlicher, als daß du, bei dieser Disposition deiner [60] Sinne und – deiner Einbildung, nicht – was du in diesem Momente für unmöglich hältst – diese Person selbst im Leben, sondern die bloße wesenlose Gestalt der nicht mehr Lebenden zu sehen wähntest? Denn, wie viel auch die Philosophie gegen dergleichen Erscheinungen einzuwenden hat, ihre Unmöglichkeit kann sie nicht beweisen; und wenn gleich deine Vernunft die Gespenstergeschichten, die du von Kindheit auf erzählen hörtest, aus ihrem eigenen Kreise verwiesen hat, aus deiner Seele konnte sie dieselben nicht hinausbannen; sie zogen sich in die nächtlichste Region deiner Phantasie zurück, und es brauchte nichts als das Zeugniß deiner Augen, die dir die Gestalt einer weit entfernt geglaubten Person unmittelbar darstellten, um nicht nur deine Phantasie plötzlich ins Spiel zu setzen, sondern deine Vernunft selbst zu einem Trugschluß zu verleiten, dessen Täuschung sie keine Zeit hatte wahrzunehmen. Du wirst sagen: eben darum, weil ich die Gestalt der Lais auf mich zugehen sah, hätte ich sogleich gewiß seyn sollen, daß sie es selbst sey: denn es war doch unendlichmal wahrscheinlicher, daß sie ihren Reiseplan geändert, und anstatt nach Milet zu gehen, den Weg nach Rhodus genommen, meine Wohnung ausgekundschaftet, und sich vielleicht ein Vergnügen daraus gemacht habe, mich unversehens zu überraschen. Ich antworte: alles dieß war vernünftiger Weise nichts weniger als wahrscheinlich; wenn du es aber auch bei ruhiger Ueberlegung wahrscheinlicher hättest finden müssen, als die Erscheinung eines Geistes, so bedenke, daß die Phantasie in einem solchen Augenblick ihr Gaukelspiel viel zu behende macht, als daß sie dir Zeit zu Abwägung der [61] Wahrscheinlichkeiten gelassen hätte. Das Zeugniß der Augen, das Vorurtheil, was du sahst könne nicht Lais selbst seyn, und die Einbildung es müsse also ihr Geist seyn, wirkten so unendlich schnell zusammen, daß alle drei in eine einzige sinnliche Vorstellung, deren du dir klar bewußt warst, zerflossen; und, wie gesagt, eben dasselbe wäre jedem andern an deiner Stelle begegnet. Ich wenigstens stehe dir nicht dafür, daß mir selbst, ungeachtet ich durch dein Beispiel gewarnt bin, mit Musarion oder dir nicht eben dasselbe begegnen könnte, wenn ich euch zu einer Zeit, da ich euch weit von mir entfernt wüßte, unter ähnlichen Umständen, plötzlich auf mich zuschleichen sähe. Denn freilich gehört auch der langsame gespenstmäßige Gang und das weißgraue Gewand so gut zur Sache als Einsamkeit, Mondschein und nächtliche Stille.

Um dir meine Behauptung noch einleuchtender zu machen, frage ich dich: wenn du die schöne Lais nicht umarmt, nicht mit ihr gesprochen, und dich also nicht durch Gefühl und Ohr von ihrer Körperlichkeit hättest überzeugen können; – wenn zum Beispiel (was wenigstens an einem andern dazu geschickten Orte durch künstliche Veranstaltungen hätte bewirkt werden können), wenn, einen Augenblick zuvor ehe du ihr in die Arme fielst, plötzlich eine Flamme zwischen dir und ihr aufgefahren, und ein dichter Rauch, unter einem vermeinten Donnerschlag, ihre Gestalt deinen Augen plötzlich entzogen hätte, – würdest du (vorausgesetzt daß dieß alles täuschend genug ausgeführt und der Betrug dir nicht von Lais selbst entdeckt worden wäre) nicht vielleicht noch jetzt deinen Sinnen mehr glauben als deiner Philosophie, und alles für eine [62] Erscheinung aus der Geisterwelt zu halten geneigt seyn? Wenigstens bin ich versichert, daß unter zehntausend, denen ein solches Abenteuer begegnete, nicht Einer wäre, der es für etwas anders nähme. Ich kenne sehr verständige Leute, die, wenn von solchen Wunderdingen die Rede war, gegen alles, was von Andern erzählt wurde, die erheblichsten Einwendungen zu machen hatten, aber immer damit aufhörten, mit der größten Ueberzeugung von der historischen Wahrheit der Sache, irgend eine Gespenster- oder Zaubergeschichte zu erzählen, von welcher sie sich selbst als Augenzeugen aufstellten. Noch einmal also, ich sehe nicht was für Ursache du hättest es dich verdrießen zu lassen, daß du der schönen Lais nicht durch unzeitige Besonnenheit einen Spaß verderbt hast, um dessentwillen sie sich eine Reise von dreizehnhundert Stadien zu Land und zu Wasser nicht verdrießen ließ. Ich kann mir zwar wohl einen Menschen denken, der auf dem Wege des philosophischen Todes, den uns Plato in seinem Phädon empfiehlt – dadurch, daß er den Sinnen, der Phantasie und allen Trieben und Leidenschaften der menschlichen Natur schon bei lebendigem Leibe abgestorben ist – sich in die Unmöglichkeit gesetzt hat, von ihnen getäuscht zu werden: aber ich weiß daß ich dieser Mensch nicht seyn möchte, und wünsche dir Glück daß du es eben so wenig bist als ich.

Den andern Punkt betreffend, hätte sich, dünkt mich, jeder Mann, der nicht von allem Gefühl des Schicklichen und aller Achtung gegen sich selbst verlassen wäre, eben so, wie du, benehmen müssen; überdieß lag es wohl nicht an deinem guten Willen, wenn du dich am Ende mit einem Kuß [63] abfinden lassen mußtest. Man ist freilich auf eine so sonderbare Grille nicht gefaßt, wie diese war, die Reise von Sardes nach Rhodus zu machen, um einem guten Freund einen Kuß zu geben; indessen hängt es immer von einer Schönen ab, wie viel Werth sie auf ihre Gunsterweisungen legen will, und der Kuß, den du zur Entschädigung erhalten hast, war nach deinem eigenen Geständniß so viel werth, daß du ihn nicht zu theuer erkauft hättest, wenn du ihm bis zu den Hyperboreern hättest entgegen reisen müssen. Die Wahrheit zu sagen bin ich mit dir weit besser zufrieden als mit der Dame, die mir in den zwei Jahren ihrer unumschränkten Herrschaft über den königlichen Arasambes von Seiten des Charakters mehr verloren als gewonnen zu haben scheint. Ich fürchte sie hat sich durch die fliegende Eile, womit jeder ihrer Winke befolgt werden mußte, durch die unermüdete Aufmerksamkeit, womit ein eben so großmüthiger als vielvermögender Liebhaber allen ihren Wünschen zuvorkam, kurz, durch die grobe Abgötterei, die zu Sardes mit ihr getrieben wurde, die böse Gewohnheit zugezogen, jede Phantasie, die ihr zu Kopfe steigt, auf der Stelle zu befriedigen, und zu erwarten daß man sich alles, was sie zu sagen und zu thun beliebt, wohl gefallen lasse. Mit Einem Wort, Aristipp, dein weiblicher Alcibiades ist das wahre Wort des Räthsels. Geben die Götter, daß die Aehnlichkeit sich nicht bis auf den Ausgang der Abenteuer erstrecke, in welche sie sich mit einem solchen Charakter noch verwickeln könnte.

Das zarte dankbare Herz meiner Musarion leidet nicht wenig bei der Freiheit, die wir uns in unsern Urtheilen über [64] ihre geliebte Pflegemutter heraus nehmen. Sie möchte sich selbst gerne verbergen, daß wir Recht haben, und würde uns zürnen, wenn sie zürnen könnte, daß wir alles im vollen Sonnenlichte sehen, was sie selbst nur in dem sanft verhüllenden und verwischenden Mondlicht, oder in der verschönernden Beleuchtung der Abendsonne sehen will. Demungeachtet bittet sie mich, dir in ihrem Namen für die freundliche Art zu danken, wie du ihrer gegen Lais erwähnt hast. Das holdselige Weibchen gibt mir täglich neue Ursache, mich in ihrem Besitz glücklich zu fühlen. Ich weiß nicht ob du dich erinnerst, daß ich eine Schwester habe, die bei deiner ersten Abreise von Cyrene noch ein Kind von vier bis fünf Jahren war? Da wir vor einiger Zeit das Unglück hatten unsre gute Mutter zu verlieren, bat Musarion meinen Vater, daß er ihr die junge Kleone anvertrauen möchte, die jetzt gerade in die Jahre tritt, wo die Aufsicht und Leitung einer mütterlichen Freundin einem Mädchen am nöthigsten ist. Du zweifelst nicht, daß es ihr mit der besten Art zugestanden wurde; und so habe ich schon seit mehreren Wochen das Vergnügen, eine Schwester, die ich nach Musarion über alles liebe, unter ihren Augen, gleich einer lieblichen noch ganz unversehrten Rosenknospe unter den schirmenden Blättern des mütterlichen Stockes, allmählich zur schönsten Blüthe sich entfalten zu sehen.

Gedenkst du dich noch lange zu Rhodus zu verweilen, Aristipp? – Wie gerne wir dir auch die mannichfaltigen Genüsse gönnen, die dir in dem Lande, welches sich Minerva und Apollo mit den Musen und Grazien zu ihrem eigenen [65] Sitz erkoren haben, von allen Seiten zuströmen, so gibt es doch Tage und Stunden (und es sind gerade die seligsten unsers glücklichen Familienlebens), wo wir uns alle nach dir sehnen, und die Athener und Korinthier, Milesier und Rhodier – und wer kann sie alle zählen, die uns das Glück, dich zu besitzen, vorenthalten? – so herzlich darum beneiden, daß es ihnen unmöglich wohl bekommen kann.

15. An Kleonidas
15.
An Kleonidas.

Die sittenrichterliche Miene, womit du die scherzhaften Stellen meines letzten Briefes beinahe gar zu ernsthaft beantwortest, lieber Kleonidas, läßt dir so gut, daß ich nicht ungehalten über dich werden könnte, wenn ich auch Ursache hätte es – über mich selbst zu seyn. Es ist nicht unmöglich, daß die Asiatische Luft, die ich seit einigen Jahren athme, die Wirkung auf mich thut, die du bemerkt haben willst; wenigstens wäre dieß eben so natürlich, als daß der zarte Sinn meines Kleonidas für das Geziemende und Schöngute durch die glückliche Beschränktheit, Regelmäßigkeit und halcyonische Stille seines häuslichen Künstlerlebens immer zärter werden, und daher manches mehr oder weniger auffallend finden muß, woran wir andern sorglos und vogelfrei in der Welt herum treibenden Menschen nicht den geringsten Anstoß nehmen. Es ist, denke ich, mit dem moralischen Gefühl, wie mit dem [66] organischen: das Anwehen eines rauhen Lüftchens fällt den zarten Wangen eines fast immer in den Mauern des Frauengemachs eingekerkerten Mädchens, oder eines mit Rosen aufgefütterten Knaben empfindlicher, als das Anprallen des schärfsten Nordwindes der ledernen Haut eines abgehärteten Kriegsmannes oder Seefahrers. Indessen, wenn gleich auch hier das eben Rechte in der Mitte liegt, so gesteh' ich doch willig ein, daß es in sittlichen Dingen besser ist zu viel als zu wenig Zartgefühl zu haben.

Meine Vergleichung unsrer Korinthischen Freundin mit dem berüchtigten Sohn des Klinias hätte ich von dir lieber bestritten als bekräftigt sehen mögen. Vielleicht urtheilen wir beide zu strenge über sie; vielleicht stimmt mich dagegen zu einer andern Zeit die Erinnerung an so viele mit ihr verlebte Tage, die so schön nie wiederkehren werden, zu einer größern Nachsicht, als sie von einem ganz unbefangenen Richter zu erwarten hätte. Genug, ich bin weit entfernt, die Hoffnung aufzugeben, daß sie sich noch, unvermerkt, und am ehesten ohne fremdes Einmischen, zu dieser ruhigen Selbstgenügsamkeit und Festigkeit des Gemüths läutern werde, ohne welche wir freilich Ursache hätten immer für sie in Sorgen zu seyn. Warum hätte sie sich von Arasambes getrennt, und ihrer Freiheit durch diese Trennung so große Opfer gebracht, wenn das schöne Bild einer reinern Glückseligkeit, welche sie zu geben und zu empfangen fähig ist, nicht lebhaft genug auf sie gewirkt hätte, um über die üppigsten Befriedigungen der Sinne, über alle Forderungen der Eitelkeit, der Prachtliebe, und jeder andern selbstsüchtigen Leidenschaft das Uebergewicht [67] zu erhalten? Lassen wir ihrer blumenreichen Phantasie noch einige Zeit sich durch rastloses Herumflattern zu ermüden! Das Bedürfniß der Ruhe wird mit dem erwachenden Gefühl dessen, was sie sich selbst seyn könnte, nur desto dringender werden; sie wird sich unversehens nach Aegina zurückziehen, ihre lieblichen Haine der Sokratischen Sophrosyne und ihren ernsten Grazien heiligen, und glücklich seyn wie sie es noch nie gewesen ist; oder das letzte rührende Lebewohl und der weihende Händedruck des scheidenden Weisen müßte alle seine Kraft an ihr verloren haben.

Ich glaube gar ich schwärme, Freund Kleonidas? Beim Anubis 34, es ist nicht ganz richtig mit mir! Bald werd' ich mir gestehen müssen, daß ich dir ähnlicher bin als mir meine Bescheidenheit zu denken erlauben wollte. – Ernsthaft zu reden, meine Freundschaft oder Liebe (wenn du willst) für dieses wunderbare Wesen ist nie wärmer als wenn etliche tausend Stadien 35 zwischen uns liegen. Die Phantasie treibt zuweilen auch mit uns andern kaltblütigen Leuten ihr Gaukelspiel. Mir, zum Beispiel, schiebt sie, in einer solchen Entfernung, unvermerkt eine Art von idealischer Lais unter, wie ich etwa wünsche daß die wirkliche seyn möchte; und dann dünkt mich, es sey nichts was ich nicht für sie zu thun fähig wäre, wenn sie dadurch glücklich würde, und mir gehen seltsame Grillen durch den Kopf, die ich mir durch allerlei scheinbare Vorspiegelungen wahr zu machen suche. Ich besorge sehr, die Hoffnung, daß der abgeschiedene Geist des Sokrates noch ein Wunder an ihr thun werde, ist eine dieser Grillen; denn leider! bei kühler Ueberlegung sehe ich wenig Wahrscheinlichkeit, [68] daß die leibhafte Lais jemals von dem was sie ihr System nennt zurückkommen werde, wiewohl es im Grunde nichts als Blendwerk ist, hinter welchem sie ihre übermüthige Lust, Unheil in unsern armen Köpfen anzurichten, sich selbst zu verbergen sucht.

Mit der schönen Cyrene, zu welcher du mich so freundlich einladest, geht es mir wie mit der schönen Lais; meine Liebe zu ihr wächst mit dem Raum und der Zeit die mich von ihr entfernen; und wie könnte Liebe ohne Verlangen seyn? Cyrene, die doch alles, was mir das Liebste ist, enthält, bleibt auch immer das letzte Ziel meiner Wanderungen, das Ithaka 36 der freiwilligen Odyssee, die ich – nicht dichte – sondern lebe. Ich nenne sie freiwillig, weil keine feindseligen Götter sich gegen meine Zurückkunft verschworen haben: aber dennoch zweifle ich selbst, daß sie so ganz willkürlich ist, als das täuschende Gefühl der Freiheit sie mir vorspiegelt; denn die unsichtbaren Seile, die mich nach Korinth und Athen zurückziehen, sind darum nicht minder stark, weil es keine Ankertaue sind. Beide liegen noch zwischen mir und Cyrene, und ich kann jetzt noch nicht ernstlich daran denken, sie hinter mir zu lassen. Ueberdieß werde ich in Rhodus selbst durch mancherlei Verhältnisse aufgehalten, und nach Achaja gedenke ich nicht wieder zu kehren, ohne zuvor alle merkwürdigen Orte in Klein-Asien und die nördliche Küste des Euxins 37 besucht zu haben. Kurz, lieber Kleonidas, da ich mich einmal so weit in die Welt hinaus gewagt habe, gebührt es sich entweder gar nicht, oder als ein stattlicher, an Kenntnissen [69] und Erfahrungen reicher, weiser und gefüger Mann nach Cyrene zurück zu kommen.

16. Learchus an Aristipp
16.
Learchus an Aristipp.

Wir erfreuen uns wieder eines Vorzugs, um welchen uns Athen und Syrakus beneiden, des Glücks, die schöne Lais, nach einer mehr als vierjährigen Abwesenheit, wieder in unsern Mauern zu besitzen; wenn anders die Erlaubniß, seine Augen unentgeltlich an ihrem Anschauen zu weiden, für eine Art von gemeinsamen Besitz gelten kann. Dieß ist ein Recht, oder vielmehr eine Wohlthat, die sie, gleich der Sonne, allen Augen zugesteht, die es auf die Gefahr, eben so wie von einem Blick in die Sonne geblendet zu werden, wagen wollen in die ihrigen zu sehen. Irgend einer höhern oder geheimern Gunst kann sich unter allen, die sich darum zu beeifern scheinen, bis jetzt noch keiner rühmen: aber auch diese ist schon so groß, daß einige Zeit hingehen dürfte, bis irgend ein Uebermüthiger sich erdreisten wird, über die Unzulänglichkeit einer so geistigen Nahrung der ungenügsamsten aller Leidenschaften zu knurren. In der That ist ihre Schönheit noch immer im Zunehmen, und scheint sogar, anstatt durch die Zeit das Geringste von ihrer frischen Blüthe verloren, im Gegentheil in der Blende, worin sie zu Sardes [70] gestanden, einen noch höhern Glanz gewonnen zu haben, – etwas Gebieterisches, Königliches möcht' ich sagen, das in die Länge kaum erträglich wäre, wenn sie es nicht durch die liebenswürdigste Anmuth der Sitten und das gefälligste Benehmen im Umgang zu mildern wüßte. Bei allem dem lebt sie auf einem so fürstlichen Fuß zu Korinth, daß zu besorgen ist, falls auch sie selbst reich genug wäre, es immer auszuhalten, die Korinthier möchten nicht artig oder demüthig genug seyn, es lange gut zu finden. Indessen, bis jetzt geht noch alles als ob es nicht anders seyn könnte. Das Volk, dem der Schein immer für das Wesentliche gilt, wird durch den Schimmer, womit sie sich umgibt, und ihre große Manier das Persische Gold in Umlauf zu setzen, im Respect erhalten; unsre Patricier hingegen trösten sich mit dem Gedanken, daß eine solche Lebensart der geradeste Weg sey, die stolze Göttin desto eher zu humanisiren und endlich so geschmeidig zu machen, als jeder sie, wenigstens für sich selbst, zu finden wünscht. Da dieß aber ganz und gar nicht in den Plan der Dame zu passen scheint, so würde, däucht mich, ein warnender Wink von einem vertrauten Freunde nicht überflüssig und vielleicht von guter Wirkung seyn. Ich selbst bin zwar so glücklich sie öfters zu sehen, und sogar zu dem engern Ausschuß ihrer Gesellschafter zu gehören: aber, wenn ich auch großmüthig genug seyn wollte, gewissermaßen gegen mei nen eigenen Vortheil zu handeln, so ist doch mein Verhältniß zu ihr nicht von solcher Art, daß ich mir ohne Zudringlichkeit das Amt eines Erinnerers herausnehmen dürfte. Auf jeden Fall, lieber Aristipp, wäre wohl das Beste, wenn du dich entschließen[71] könntest, dich den Reizen der schönen Rhodos zu entreißen, und mit der ersten guten Gelegenheit nach Korinth zu kommen. Lais scheint beinahe gewiß darauf zu rechnen, und dein gastfreundliches Gemach im Hause deines Learch ist zu allen Stunden für deine Aufnahme ausgeschmückt.

L.W.

17. Lais an Aristipp
17.
Lais an Aristipp.

Verzeihe, mein Lieber, wenn ich dich länger als recht ist auf Nachricht warten ließ, wie deiner Freundin die Luft des Isthmus wieder bekommt, und wie sie nach einer so langen Abwesenheit von den Korinthiern aufgenommen worden. Jene hat mir mit dem ersten Athemzug alle meine vorige Leichtigkeit und Unbefangenheit wiedergegeben; diese benehmen sich so artig und anständig, als es die etwas zweideutige Wittwe eines noch vollauf lebenden Persischen Fürstensohns nur immer verlangen kann. Ich mache ein ziemlich großes Haus, lebe wieder so frei wie die Vögel des Himmels nach meiner eigenen gewohnten Weise, und erinnere mich zuweilen des Aufenthalts zu Sardes, und aller seiner Herrlichkeiten, als eines seltsamen Morgentraums, der im Erwachen unvermerkt an der aufgehenden Sonne zerrinnt, und, wie angenehm er auch war, kein Bedauern daß er ausgeträumt ist in der Seele zurückläßt. Freilich befinde ich mich in dem ungewöhnlichen Fall einer Person, die im Traum einen großen [72] Schatz erhoben hätte, und beim Erwachen wirklich einen kleinen Berg von Goldstücken vor ihrem Bette aufgeschüttet fände; und wenn du glaubst, daß dieser Umstand nicht wenig zu der Ruhe, deren ich mich rühme, beitragen könnte, so will ich so ehrlich seyn und gestehen, daß du es nahezu errathen hast.

Ich lebe hier ungefähr auf eben demselben Fuß wie zu Milet. Mein Haus ist, zwar nicht zu allen Stunden, aber doch in den gewöhnlichen, wo man Gesellschaft sieht, allen offen, die man zu Athen Kalokagathen 38 nennt. Eupatriden, Staats- und Kriegsmänner, Dichter, Sophisten und Künstler, alte und junge, reiche und arme, fremde und einheimische, jedermann, der sich in guter Gesellschaft mit Anstand zeigen kann, ist gern gesehen; nur daß immer zwei oder drei mit einander kommen müssen: denn die Unterhaltungen unter vier Augen sind nur den vertrautern Freunden, lauter Männern, die meine Väter seyn könnten, vorbehalten, und unter den jüngern, höchstens Einem, den die Götter etwa in besondere Gunst genommen haben; dir, zum Beispiel, wenn du hier wärest, zumal da sich bisher noch keiner gefunden hat, der mich vergessen machen könnte, daß du es nicht bist.

Es ist wohl kein Zweifel, daß ich mich durch diese Lebensordnung weder den Matronen noch den Hetären (deren Orden hier sehr zahlreich und begünstigt ist) sonderlich empfehle; wiewohl die letztern mehr Ursache hätten, mich für eine Wohlthäterin als für eine Conkurrentin anzusehen. Denn bei weitem die meisten meiner Anbeter unterliegen am Ende doch der Versuchung, [73] sich bei ihnen, wie die Freier der Penelope bei – den gefälligen Hofmägden des Ulyssischen Hauses, für ihre bei mir verlorne Zeit und Mühe zu entschädigen. Indessen muß ich gestehen, daß die Verbindlichkeit, die sie mir von dieser Seite schuldig sind, vielleicht doch einige Einschränkung leiden mag. Die Sache ist, daß ich, theils um mir selbst die Pflichten der Frau des Hauses zu erleichtern, theils (wenn du willst) aus Gutherzigkeit, einige schöne junge Mädchen zu mir genommen habe, die zwar Korinthische Bürgerinnen sind, aber aus Mangel an Vermögen und Unterstützung wahrscheinlich sich genöthigt gesehen hätten, ihren Unterhalt der Aphrodite Pandemos 39 abzuverdienen. Diese lasse ich von den geschicktesten Lehrmeistern im Lesen der Dichter, in der Musik und in der Tanzkunst unterrichten, und mache mir, nach dem Beispiele der schönen Aspasia, selbst ein Geschäft daraus, sie zu angenehmen Gesellschafterinnen für mich und andere zu bilden. Könnte ich ihnen mit meinen Grundsätzen auch zugleich meine Sinnesart einflößen, so würde meine Absicht vollkommen erreicht. Da sich aber darauf nicht rechnen läßt, so bin ich zufrieden, ihnen so viel Achtung gegen sich selbst und so viel Mißtrauen gegen euer übermüthiges Geschlecht beizubringen, als einem Mädchen nöthig ist, das sich in den gehörigen Respect bei euch setzen, und wenn sie, unglücklicherweise, der Liebe sich nicht gänzlich erwehren kann, wenigstens keinem andern Amor unterliegen will, als jenem Anakreontischen, den die Musen


Mit Blumenkränzen gebunden

Der Schönheit zum Sklaven gegeben.


[74] Du kannst dir leicht vorstellen, lieber Aristipp, was für eine alberne Celebrität ich mir durch diese, den Söhnen und Töchtern der Achäer so ungewohnte und so vielerlei Vorurtheile vor die Stirne stoßende, Lebensart zuziehen werde. Dieß ist eben nicht was ich wünsche; aber ich sehe nicht wie ich es vermeiden könnte: wer schwimmen will, muß sich gefallen lassen naß zu werden.

Ich habe die traulichen kleinen Symposien, die ich zu Milet bei mir eingeführt hatte, wobei eine freie muntre Unterhaltung über interessante Gegenstände die bessere Hälfte der Bewirthung ausmachte, auch hier wieder in den Gang gebracht; wiewohl die Korinthier überhaupt genommen keine Liebhaber von so nüchternen Gastmählern sind. Bilde dir darum nicht ein, daß mein Koch sich dabei vernachlässigen dürfe. Wenige Schüsseln, aber das Beste der Jahrszeit aufs feinste zubereitet; kleine Becher, aber die edelsten Weine Cyperns und Siciliens, – darin besteht meine ganze Frugalität, und ich gestehe gern, daß ich sie – dir selbst abgelernt habe. Zu Athen reicht man damit aus und erhält noch Lob und Dank: aber so genügsam sind unsre Korinthischen Kalokagathen nicht. Außer deinem Freunde Learchus, und einem viel versprechenden jungen Künstler, Namens Euphranor (der, im Vorbeigehen gesagt, einer meiner wärmsten und hoffnungsvollsten Anbeter ist), sind es daher fast lauter Fremde, die sich um den Zutritt zu meinen Aristippischen Orgien 40 (wie ich sie dir zu Ehren nennen möchte) bewerben, oder von freien Stücken dazu eingeladen werden. Die Unterhaltung gewinnet nicht wenig dadurch, und ich denke es sollte sich aus unsern [75] Tischreden etwas ganz Artiges machen lassen, wenn sie, von einem Geschwindschreiber aufgefaßt, als bloßer Stoff einem Meister wie Xenophon oder Plato in die Hände fielen. Nicht selten wagen wir uns, auf die Leichtigkeit unsrer Hand vertrauend, sogar an die verschlungensten Knoten der Philosophie; und wenn uns die Entwicklung zu langweilig werden will, ziehen wir uns zuweilen auf die kürzeste Art aus der Sache, und kommen der Subtilität unsrer Finger – mit der Scheere zu Hülfe. Gestern z.B. erwähnte Einer zufälligerweise, daß Sokrates das Schöne und Gute für einerlei gehalten, und also nichts für schön habe gelten lassen wollen, wenn es nicht zugleich gut, d.i. nützlich, ja sogar nur insofern es nützlich sey. Dieß veranlaßte einen Dialog, wovon ich dir, weil ich gerade zum Schreiben aufgelegt bin und (die Wahrheit zu gestehen) deine eigene Meinung von der Sache wissen möchte, so viel als mir davon erinnerlich ist, mittheilen will, wenn du anders Lust und Muße hast weiter zu lesen.

Die Hauptpersonen des Gesprächs waren der junge Speusipp 41 (Platons Neffe von seiner ältern Schwester, einer der liebenswürdigsten Athener die ich noch gesehen habe), ein gewisser Epigenes von Trözen, der seine Geistesbildung vornehmlich von den Sophisten Prodikus und Protagoras erhalten zu haben vorgibt, und Euphranor, welchem, da er Maler und Bildner zugleich ist, ein unstreitiges Recht zukam, mit zur Sache zu sprechen. Daß die Frau des Hauses sich ein paarmal in das Gespräch mischte, wirst du einer so erklärten Liebhaberin alles Schönen zu keiner Unbescheidenheit auslegen.

[76] Mich dünkt (sagte Epigenes, der zu dieser Erörterung den Anlaß gegeben hatte), ehe wir uns auf die Frage »was das Schöne sey?« einlassen, wäre wohl gethan, den Sprachgebrauch um die Bedeutung des Wortes zu fragen, da es so vielerlei, zum Theil ganz ungleichartigen Dingen beigelegt wird, daß der allgemeine Begriff, der mit diesem Worte verbunden zu werden pflegt, nicht leicht zu finden seyn dürfte. Wir sagen: ein schöner Himmel, eine schöne Gegend, ein schöner Baum, eine schöne Blume, ein schönes Pferd, ein schönes Gebäude, ein schönes Gedicht, eine schöne That. Man sagt: dieser Wein hat eine schöne Farbe, dieser Sänger eine schöne Stimme, diese Tänzerin tanzt schön, dieser Reiter sitzt schön zu Pferde. Ich würde nicht fertig, wenn ich alle die körperlichen, geistigen und sittlichen Gegenstände, Bewegungen und Handlungsweisen herzählen wollte, denen das Prädicat schön beigelegt wird. Was ist nun die ihnen allen zukommende gemeinsame Eigenschaft, um derentwillen sie schön genannt werden? Ich kenne keine allgemeinere als diese, daß sie uns gefallen. Die Menschen nennen alles schön was ihnen gefällt.

Speusipp. Ich gebe gern zu, daß das Schöne allen gefällt, deren äußerer und innerer Sinn gesund und unverdorben ist: aber daß alles, woran ein Mensch Wohlgefallen haben kann, darum auch schön sey, kann schwerlich deine Meinung seyn.

Lais. Sonst wäre nichts Schöneres als ein mit Fässern und Kisten wohl beladenes Lastschiff voll morgenländischer Waaren! wenigstens in den Augen des Korinthischen Kaufmanns, [77] vor dessen Hause sie abgeladen werden, und der in diesem Augenblick gewiß mehr Wohlgefallen an seinen ohne Symmetrie über einander hergewälzten Fässern, Kisten und Säcken hat, als an dem schönsten Gemälde des Parrhasius.

Epigenes. Also, mich genauer auszudrücken, nenne ich schön, was allen Menschen, ohne Rücksicht auf den Nutzen, der daraus gezogen werden kann, gefällt.

Speusipp. Sollte damit zu Erhaltung des Begriffs vom Schönen etwas gewonnen seyn? Was gefällt, ist (deinem eigenen Geständniß nach) nicht immer schön; aber das Schöne gefällt immer, bloß weil es schön ist. Die Frage was ist schön? bleibt also noch unbeantwortet.

Euphranor. Könnte uns nicht irgend ein Werk der Kunst am leichtesten zu der Antwort verhelfen, die wir suchen?

Lais. Mich dünkt, Euphranor bringt uns auf den rechten Weg.

Euphranor. Zum Beispiel, der junge Bacchus dort, dem der lachende Faun den rosenbekränzten Becher reicht, indem er mit dem linken Zeigefinger schalkhaft auf die neben ihm an einem Weinschlauch eingeschlafne Mänas hinweiset.

Lais. Es soll eines der besten Werke des berühmten Alexis von Sicyon seyn.

Euphranor. Lassen wir diesen Bacchus für schön gelten, oder hat jemand etwas Wesentliches an ihm auszusetzen?

Speusipp. Ewige Jugend in ewig fröhlicher Wollusttrunkenheit kann unmöglich schöner dargestellt werden.

[78] Euphranor. Das möchte ich nun eben nicht behaupten; genug, wir alle geben zu, daß er nicht häßlich ist.

Alle. Unstreitig.

Euphranor. Was mag wohl die Ursache dieses einstimmigen Urtheils seyn?

Lais. Unser Gefühl vermuthlich.

Epigenes. Aber warum wir es alle fühlen, und fühlen müssen, wir mögen wollen oder nicht, das ist es wohl was Euphranor hören möchte?

Euphranor. Und worin könnte dieß liegen, als in der Gestalt des jungen Gottes, in der bestimmten Form eines jeden seiner Glieder, in ihren Verhältnissen gegen einander, und in ihrer Verbindung zur harmonischen Einheit des Ganzen?

Ich und Epigenes und die übrigen alle waren sogleich mit unserm Ja bei der Hand. Nur Speusipp lächelte beinahe unmerklich und schwieg.

Euphranor. Aber die schlummernde Mänas zu seinen Füßen – kann man läugnen daß sie schön ist?

Learchus. Ich glaube in aller Männer Namen kühnlich sagen zu dürfen, sie ist sehr schön.

Euphranor. Und der junge Faun?

Lais. Ich wenigstens habe noch keinen schönern gesehen.

Euphranor. Also der Gott ist schön, der Faun ist schön, die Bacchantin ist schön, ungeachtet das, warum wir jedes für schön halten, die Formen und Verhältnisse der einzelnen Theile und die Symmetrie des Ganzen, an allen dreien [79] die augenscheinlichste Verschiedenheit zeigt. Würden wir aber zufrieden seyn, wenn der Faun für den Weingott angesehen werden könnte, oder der Weingott für einen Faun? Mit der Form des schönsten Fauns würden wir den Bacchus nicht schön genug, mit den Formen des letztern hingegen jenen allzu schön finden. Und wenn die Mänas ihren hohen Busen gegen die breite Brust des Bacchus, er seine Schultern und Hüften gegen die ihrigen umtauschte, würden nicht beide dabei verlieren, wiewohl sie Schönes um Schönes gäben?

Epigenes. Ganz gewiß. Schön wäre demnach etwas so Verhältnißmäßiges, daß es unter veränderten Umständen häßlich werden könnte; wie z.B. ein schönes Weib einen mißgestalteten Mann, ein schöner Faun einen häßlichen Bacchus abgäbe?

Euphranor. Dieß möchte doch wohl zu viel gesagt seyn. Ein Mann mit weiblichen Gliederformen wäre doch immer ein schönes Ungeheuer, und ein Bacchus mit den Formen eines schönen Fauns würde nur unedel, nicht häßlich seyn. Indessen könnte auch aus lauter schönen Theilen ein sehr widerliches Ganzes zusammengesetzt werden, ohne daß die Theile aufhörten schön zu seyn; es braucht dazu nichts weiter, als jedem eine unrechte Stelle zu geben. Der schönste Munde schief auf die Stirn, das schönste Auge an die Stelle des Mundes, und die zierlichste Nase an den Platz des Auges gesetzt, würde aus dem Gesicht einer Lais eine lächerliche Fratze machen.

Lais. Führt uns dieß nicht unvermerkt auf den Sokratischen Begriff 42 zurück, daß jedes Ding schön ist, wenn es [80] das ist, was es seiner Natur und seinem Zwecke nach, seyn soll?

Epigenes. Wenn dieß keine Ausnahmen leidet, so würde der Elephant, der Dachs und die Fledermaus eben so wohl an Schönheit Anspruch zu machen haben, als der Onager 43, das Reh und der Fasan.

Lais. Warum nicht, wenn wir dem unerschöpflichen Erfindungsgeiste der göttlichen Bildnerin Natur nicht unbefugte Schranken setzen, und durch eigensinnige Vorliebe für gewisse uns vorzüglich gefällige Gestalten uns zu kleinlichen einseitigen Urtheilen verleiten lassen wollen?

Euphranor. Mit allem Respect, den ich dir und der göttlichen Bildnerin schuldig bin, verzweifle ich doch es jemals so weit zu bringen, daß mir die Fledermaus oder der Krokodil schön vorkomme, und ich glaube hierin die Augen aller Menschen, und die deinigen zuerst, auf meiner Seite zu haben. Auch sehe ich nicht, warum alles, was die Natur hervorbringt, gerade für unsern Schönheitssinn gebildet seyn müßte; und da es uns an Worten nicht mangelt, warum muß denn etwas, das nur dem Verstande schön ist, mit einem Worte bezeichnet werden, welches in seiner eigentlichen Bedeutung vorzüglich solchen Dingen zukommt, die durch Formen und Farben, harmonische Verhältnisse und Symmetrie unsre Augen, oder vielmehr den innern Sinn, dessen Werkzeug sie sind, vergnügen? Die meisten Schöpfungen der Natur haben diese Eigenschaft in höhern und mindern Graden. Ich zweifle sehr, daß ein Mensch in der Welt ist, der nicht auf den ersten Anblick die Gans schöner als die Ente, [81] den Schwan schöner als die Gans, den Pfau schöner als den Schwan finden sollte: aber vor der Fledermaus schaudert jeder, der sie erblickt, zurück.

Lais. Wiewohl die Unverschämtheit zu Athen eine Göttin ist, so verlasse ich mich doch nicht genug auf ihren Beistand, um dir hierin zu widersprechen; sie könnte mich häßlich im Stiche lassen, wenn einer dieser schönen Nachtvögel unversehens daher geschossen käme, um sich für die unverdiente Ehre zu bedanken, die ich ihm erwiesen habe.

Dieser unzeitige Scherz stimmte sogleich die ganze Gesellschaft auf einen andern Ton. Die Athener erhielten ziemlich zweideutige Lobsprüche über ihre außerordentliche Gottesfurcht; und da sie eben nicht im Ruf sind, sich durch die Tugenden der Bescheidenheit und Scham unter den Griechen auszuzeichnen, so meinte Learchus, sie hätten wohl gethan, der Anädeia 44 für die guten Dienste, die sie ihnen bei mehr als Einer Gelegenheit geleistet, eine Capelle zu bauen, und sich dadurch ihres Beistandes auf immer zu versichern. Der gute Speusipp, wiewohl er zu viel Urbanität besitzt, um von solchen Scherzen beleidiget zu werden, glaubte doch zuletzt, er müsse sich seiner bedrängten Vaterstadt annehmen, und bemühte sich, uns (etwas ernsthafter als nöthig war) darzuthun: daß es einem so religiösen Volke, wie die Athener von jeher gewesen, zumal in jenen Zeiten einer noch sehr großen Einfalt der Begriffe und Sitten, keineswegs zu verdenken sey, daß sie sich von einem Mystagogen 45, der in einem so hohen Ruf der Heiligkeit und Weisheit in den göttlichen Dingen gestanden, wie Epimenides 46, hätten bewegen lassen, [82] der Hybris 47 und der Anädeia eigene Tempel zu widmen, in der Absicht diese übelthätigen Dämonen dadurch zu besänftigen und zur Schonung zu bewegen; zumal da die entgegen gesetzten guten Dämonen, Eleos und Aido 48, bereits öffentliche Altäre zu Athen hatten, und jene, wenn sie vernachlässigt worden wären, eine solche Parteilichkeit sehr ungnädig hätten aufnehmen können. Die Athener (meinte er) befänden sich mit der Göttin Unverschämtheit in dem nämlichen Falle wie die Spartaner mit ihrem Gotte Furcht, welcher von Alters her sehr andächtig von ihnen verehrt worden sey, ohne daß es jemals einem Menschen eingefallen, ihre Tapferkeit deßwegen in den mindesten Zweifel zu ziehen.

Es wäre nicht artig gewesen, einem Abkömmling des weisen Solon wegen dieser Apologie seiner Mitbürger ins Gesicht zu lachen. Ich versicherte ihn also in unser aller Namen, daß wir weit entfernt seyen, diese Sache in einem andern Lichte zu sehen; und da die ganze Gesellschaft zu bedauern schien, daß wir den Gegenstand unsers Gesprächs darüber aus dem Gesichte verloren, setzte ich hinzu: ich würde für meinen unzeitigen Scherz zu hart bestraft seyn, wenn wir des Vergnügens entbehren müßten, zu hören, wie Speusipp, wenn ich recht in seinen Augen gelesen hätte, im Begriff gewesen sey, den Knoten zu entschlingen, der, meines Erachtens, bisher unter unsern Händen eher noch mehr verwickelt als aufgelöst worden. Du mußt wissen, daß dieser Speusipp, einen schwachen Anstrich von Platonischer Pedanterei abgerechnet, ein sehr feiner Jüngling ist, und (unter uns gesagt) ohne meine Schuld einen der Pfeile, welche der [83] Sohn Cytherens aus meinen Augen links und rechts, wohin es trifft, zu schießen beschuldigt wird, ziemlich tief in der Leber stecken zu haben scheint. Ich bin nicht gesonnen zu seiner Heilung den geringsten Aufwand zu machen; sollte aber das Uebel gar zu ernsthaft werden, so verlasse ich mich auf die kleine Lasthenia 49, die seit einiger Zeit die Stelle der schönen Droso bei mir eingenommen, und eine so schwärmerische Liebe für die Platonische Philosophie gefaßt hat, daß Speusipp, wofern er noch einige Tage hier verweilt, nothwendig davon gerührt werden muß. – Doch wieder zur Sache!

Der junge Mann antwortete auf meine Einladung, nicht ohne bis in die Augen roth zu werden, mit aller Grazie und Zuversicht, die du einem Athener und einem Neffen Platons zutrauen wirst. Mich dünkt, fuhr er fort, wir haben uns bisher immer um einen dunkeln Begriff des Schönen, dessen Daseyn wir voraussetzen, herumgedreht, ohne ihm selbst näher gekommen zu seyn. Sinne und Einbildungskraft stellen uns nichts als einzelne Dinge dar, die wir, wenn ihre Gestalt uns gefällt, schön nennen, wiewohl uns immer eines schöner als das andere däucht. Auch die Kunst zeigt uns, sogar in ihren idealisirten Werken, nur einzelne Gestalten, einen Ringer, Wettläufer oder Faustkämpfer, einen Achilles, Ajax oder Ulysses, einen Zeus, Apollo, Mercur, Bacchus u.s.w., nie den Menschen, den Helden oder den Gott, der so schön ist, als Mensch, Held oder Gott gedacht werden kann. Daher sind die Eleer und Athener nie sicher, daß nicht ein Bildner aufstehe, der einen noch schönern Jupiter als ihren Olympischen, eine schönere Aphrodite als die des Alkamenes in den [84] Gärten darstelle. Aber wie könnten wir urtheilen, daß irgend ein einzelnes Ding schöner sey als ein anderes in seiner Art, wenn die Idee des allgemeinen Schönen nicht bereits in unsrer Seele läge, welche gleichsam der Maßstab ist, woran wir das einzelne Schöne in der Natur und Kunst messen? Diese Idee ist es was wir suchen, ohne zu wissen daß wir sie schon haben, wiewohl es uns eben darum, weil sie eine Idee ist, an Mitteln fehlt, sie auf eine andere Art sinnlich darzustellen als im Einzelnen, das ist, durch bloße Annäherungen, wobei immer die Möglichkeit eines Schönern bleibt, weil das Schönste, die Idee selbst, im Einzelnen erreichen zu wollen, eben so viel wäre als das Unendliche in einen beschränkten Raum zu fassen.

Also sprach er – und ergötzte sich, wie es schien, an dem Erstaunen, das in unser aller weit offnen Augen zu lesen war. Eine allgemeine Stille ruhte eine Weile auf der ganzen Tischgesellschaft; es war uns allen, denke ich, als ob uns etwas geoffenbaret worden wäre, und wir wunderten uns, allmählich gewahr zu werden, daß wir im Grunde nicht mehr von der Sache wußten als vorher. Epigenes war der erste, der das heilige Schweigen brach. Wir sind dem Speusippus nicht wenig Dank schuldig (sagte er mit einem Ernst, der das eben ausbrechen wollende Lachen von den Lippen deiner muthwilligen Freundin zurückschreckte), daß er uns einen Blick in die erhabensten Mysterien seines berühmten Oheims thun ließ, und uns das unaussprechliche Wort seiner Philosophie 50 vertraute. Denn die Idee ist der Schlüssel zu allen Geheimnissen der Natur in und außer dem Menschen. – Ich gestehe mit [85] Beschämung, sagte Euphranor, daß dieser Schlüssel mir nichts aufschließt. Ich begreife nichts von einer Idee, die ich in mir trage, ohne zu wissen weder daß ich sie besitze noch wie ich zu ihr gekommen bin, also auch ohne gewiß zu seyn, daß ich sie habe. – Wundert dich dieß, Euphranor? versetzte der junge Athener lächelnd; du hast also, wie es scheint, nie wahrgenommen, wie vieles in dir ist, dessen Daseyn und Beschaffenheit dir nur durch seine Wirkungen offenbar wird? Die ungelehrtesten Menschen empfinden, erinnern sich des Empfundenen, vergleichen und unterscheiden, bilden sich Begriffe und machen Schlüsse, ohne zu wissen, wie sie dabei zu Werke gehen; und der gelehrteste weiß im Grunde nicht viel mehr davon als sie. Die Idee des Schönen erweiset sich in dir und in uns allen durch ihre Wirkungen; sie selbst ist so wenig anschaulich, als es z.B. die Kraft ist, mit welcher du urtheilst, ob du zu dem, was du malen willst, einen feinern oder gröbern Pinsel nehmen und ihn in diese oder jene Farbenmuschel tauchen sollest. – Es mag vielleicht seyn wie du sagst, erwiederte Euphranor: aber wessen ich sehr gewiß bin, ist, daß ich mich, wenn ich eine Galatea malen oder einen Mercur bilden sollte, auf eine Idee, die ich in mir herumtrage, ohne es zu wissen, nicht verlassen dürfte. Daß ich die Verhältnisse und Formen des männlichen und weiblichen Körpers, die bei den Griechen für die schönsten gelten, studirt habe; daß ich genau weiß, wie ein Arm oder Schenkel gestaltet seyn muß, um von jedermann für schön erkannt zu werden, und wie jedes Gliedmaß nebst allen übrigen, die mit ihm in Verbindung stehen, sowohl in Ruhe als in jeder Art von [86] Bewegung und Stellung, aus jedem Gesichtspunkt betrachtet erscheinen muß; daß ich weiß, wie man den Pinsel und den Meißel handhaben muß; daß ich, wenn ich male, jedem Gegenstande seine wahre Gestalt, Farbe und Haltung, Charakter und Ausdruck, jedem Theil sein rechtes Verhältniß zu den übrigen, jedem Muskel sein gehöriges Spiel zu geben, Licht, Farben und Schatten richtig und zweckmäßig zu vertheilen, und das Ganze auf seinen gehörigen Ton zu stimmen weiß: alles das sind Dinge, deren ich mir sehr klar bewußt bin, wovon ich Rechenschaft geben kann, und ohne welche ich nichts machen könnte, das des Sehens werth wäre. Auch bin ich mir eben so klar bewußt, wie ich zu dem, was ich weiß und kann, gelangt bin: nämlich nicht durch den magischen Einfluß einer Idee, die mir selbst unsichtbar ist, sondern durch emsiges forschendes Betrachten der Natur und der Kunstwerke trefflicher Meister, öfteres Besuchen der Gymnasien und Kampfspiele, hartnäckigen Fleiß, viele Uebung, Liebe zur Kunst, und brennenden Wetteifer mit denen, die ich anfangs nur nachzuahmen suchte. Und was den Maßstab der Grade des Schönen betrifft, wozu bedürfte ich eines andern als der bestimmten Gestalten einer kleinen Anzahl von Personen, die in ihrer Art für vorzüglich schön gelten, und des feinen Gefühls des Gehörigen, Gefälligen und Genugsamen, das durch beständige Uebung des Kunstsinns an der Natur selbst erworben wird? Ich habe, wiewohl ich noch nicht dreißig Jahre zähle, das Schönste gesehen, was in den vornehmsten Städten der Griechen zu sehen ist; aber ich erinnere mich nicht, irgendwo ein Bild eines Gottes, eines Homerischen Helden, einer Göttin oder [87] Nymphe gesehen zu haben, welches (das Conventionelle abgerechnet) schöner wäre, als gewisse Personen, die ich kenne. So ist z.B. dieser Faun nach einem jungen Arkadischen Ziegenhirten – dieser Bacchus nach einem sehr schönen Jüngling, mit welchem ich zu Sicyon öfters badete, und die schlummernde Mänas nach einer Sklavin der Frau dieses Hauses gebildet. – Und dieß weißt du so gewiß? fragte Speusipp. – »So gewiß, als daß nicht der berühmte Alexis von Sicyon, wie Lais im Scherz vorgab, sondern der noch unberühmte Euphranor von Korinth diese Gruppe, die du selbst mit deinem Beifall beehrtest, gearbeitet hat. Hätte ich eine mit dem Gürtel der Venus geschmückte Juno zu malen, so weiß ich sehr wohl, an welche sichtbare Göttin ich meine Gelübde richten würde.« – In der That, sagte Speusipp mit der Attischen Miene, die du als ein Vorrecht der edeln Theseiden 51 kennst, es ist nicht zu läugnen, daß wir ein wenig lächerlich sind, indem wir uns an der Tafel der schönsten Frau in Griechenland die Köpfe darüber zerbrechen was schön sey; denn, welche Bewandtniß es auch mit dieser Frage haben mag, dieß ist gewiß, daß jeder, der sie sieht, seine höchste Idee der Schönheit in ihr verkörpert finden wird.

Sobald das Gespräch eine solche Wendung nahm, war es hohe Zeit, ihm ein Ende zu machen. Auf einen Wink, den ich kurz zuvor einer Aufwärterin gegeben hatte, trat in dem Augenblick, da Speusipp das letzte Wort aussprach, die schöne Lasthenia an der Spitze meiner oben erwähnten jungen Nymphen in den Saal, um die Gesellschaft mit Musik und Tanz zu unterhalten; und bevor eine Stunde vergangen war, glaubte [88] ich zu bemerken, daß meine junge Philosophin den Platoniker (der, wie die Aphyen 52, nur Feuer zu sehen braucht um zu kochen) unvermerkt immer näher an sich zog. Bei euch Männern wird die gefälligste zuletzt immer über die schönste den Sieg erhalten. Es ist ein unglücklicher Vorzug der Weiber, daß die Leidenschaft der Liebe bei ihnen von der Gegenliebe ganz unabhängig und desto hartnäckiger ist, je weniger sie Hoffnung hat erwiedert zu werden.

Ich sehe zu spät, daß ich dir ein Buch statt eines Briefes geschrieben habe. Möchtest du mich mit einem noch größern für meine Unbescheidenheit bestrafen! Sage mir doch ein paar Worte, wie dir's zu Rhodus geht, was du treibst, und ob man hoffen darf, deine ehmalige Andacht zu dem Erderschütterer Poseidon wieder einst erwachen zu sehen?

18. Aristipp an Lais
18.
Aristipp an Lais.

Darf ich dir, im Vertrauen auf die Rechte einer zehnjährigen Freundschaft, gestehen, schöne Lais, wie mir deine jetzige Lebensweise vorkommt? Betrachte ich sie als einen bloßen Uebergang von der Glorie einer unumschränkten Gebieterin über die Person und die Schätze eines Persischen Großen, zu der glücklichern aber weniger schimmernden und prunkenden Lebensart, die einer Einwohnerin von Korinth geziemt, so wünsche ich bloß, daß du dich entschließen mögest, zwar nicht [89] gar zu hastig, aber doch lieber zu schnell als zu langsam, von der Höhe herabzusteigen, die du mit der freiesten Besonnenheit verlassen hast. Was die stolzen Korinthier in die Laune setzt, dir, wie einer fremden Fürstin, welche sich eine Zeit lang unter ihnen aufhalten wollte, eine Art von glänzendem Hof zu machen, ist (außer dem Reiz, den die Neuheit der Sache für sie hat) hauptsächlich die Hoffnung, womit jeder sich schmeichelt, den Vorzug endlich bei dir zu erringen, nach welchem sie alle trachten. Da du nicht sehr geneigt scheinst so viel Glückseligkeit um dich her zu verbreiten, so würde es deiner Ruhe schwerlich zuträglich seyn, wenn du den süßen Wahn einer so großen Menge von Aspiranten allzu lange nähren wolltest. Das Rathsamste wäre also, dich selbst von der hohen Lydischen Tonart 53 allmählich zu der gewohnten Dorischen herabzustimmen; und dazu, däucht mich, würden deine kleinen Abendgesellschaften ein sehr gutes Mittel seyn, wenn du ihnen so viel Geschmack abgewinnen könntest, deine gesellschaftliche Mittheilung allein, oder doch beinahe allein auf diese den Musen vorzüglich geheiligten Orgien einzuschränken; an welchen ich nichts auszusetzen habe, als daß ich durch eine Entfernung von dritthalbtausend Stadien davon ausgeschlossen bin. Doch, du willst mir ja Gelegenheit geben auch abwesend an ihnen Theil zu nehmen, da du mich aufforderst, dir meine Gedanken über euer neuliches Tischgespräch mitzutheilen. Ich bin nicht eitel genug mir einzubilden, daß ich über diesen Gegenstand etwas zu sagen hätte, das für dich neu wäre; und überhaupt gehört, meiner Meinung nach, das Schöne unter die unaussprechlichen Dinge – der Natur, und [90] läßt sich besser fühlen und genießen, als zergliedern und erklären. – »Aber (wirst du sagen) diese unaussprechlichen Dinge sind ja eben was uns am stärksten anmuthet, und worüber wir am liebsten vernünfteln – oder irre reden mögen.« – Ich füge mich also sowohl deinem Willen als meinem eigenen Naturtriebe, und wenn ich dir nichts Unbegreifliches und Unerhörtes offenbare, so schreib' es meiner zur andern Natur gewordenen Maxime zu: im Philosophiren immer verständlich zu bleiben, und vor allem mich immer selbst zu verstehen.

Epigenes hatte Recht, mit der Frage, »was nennen die Menschen schön?« den Anfang der Untersuchung zu machen; nur hätte er dem Einwurf Speusipps zuvorkommen, und sogleich antworten sollen: wir Griechen pflegen alles schön zu nennen, was uns, ohne Rücksicht auf seine Nützlichkeit, gefällt. Das Wohlgefallen ist immer nothwendig mit einem angenehmen Gefühl verbunden, und umgekehrt; aber dieses Gefühl ist nicht der Grund warum uns das Schöne gefällt, sondern die natürliche Wirkung des Schönen auf unsern Sinn. – »Warum gefällt uns denn aber das Schöne?« – Mit der Antwort: weil es schön ist, wäre nichts gesagt; indessen habe ich keine andere Antwort als, weil wir so organisirt sind daß es uns, wofern ihm nicht nachtheilige Umstände von außen oder innen im Lichte stehen, nothwendig gefallen muß. – »Aber muß denn alles, was gefällt, schön seyn? Gefallen uns nicht viele Dinge bloß darum, weil sie zweckmäßig und nützlich sind?« – Allerdings werden, unserm Sprachgebrauch zufolge, auch solche Dinge öfters schön genannt; nur hat der Sprachgebrauch [91] Unrecht, wenn er schön und gut vermengt. Das Schöne ist zwar, insofern es schön ist, immer etwas Gutes; aber das Gute ist nicht, insofern es gut ist, nothwendig auch schön; und dieß macht einen großen Unterschied – »Damit ist für den Begriff des Schönen nichts gewonnen,« sagt Speusipp; »das Räthsel, dessen Auflösung wir suchen, die Frage: was ist das Schöne an sich? bleibt noch immer ungelöst und unbeantwortet.« – Aus einem sehr einfältigen Grunde; bloß weil wir keine Antwort auf diese Frage haben. Das Schöne oder die Idee des Schönen, in Platons Sinne, ist, wie Speusipp selbst gesteht, kein Gegenstand unsres Anschauens. Wir sehen nur einzelne schöne Dinge, und auch diese sind nur schön durch ihr Verhältniß gegen die Organe unsrer Sinne; und wenn wir von schönen Dingen sprechen, so ist die Rede nur von dem, was dem Menschen, nicht was an sich schön ist. – »Diesemnach könnten wir von keinem Dinge sagen es sey schön; denn wie wollten wir die Stimmen aller Menschen, die jemals gelebt haben, jetzt leben, und künftig leben werden, darüber sammeln?« – Auch ist dieß sehr unnöthig. Mir genügt daran, daß etwas mir schön ist; erscheint es auch andern so, desto besser; zuweilen auch nicht desto besser: denn man ist öfters in dem Falle, etwas Schönes gern allein besitzen zu wollen. Wie dem aber auch sey, genug daß es nun einmal nicht anders ist noch seyn kann, und daß wir von sehr vielen Dingen keinen andern Grund, warum wir sie für schön halten, anzugeben haben, als weil sie uns schön vorkommen, oder, genauer zu reden, weil sie uns gefallen. – »Ein Ding kann also zugleich schön und nicht schön seyn?« – Nicht seyn, aber scheinen, so wie [92] z.B. dem Gelbsüchtigen die Lilie, die allen gesunden Augen weiß ist, gelb zu seyn scheint. Was ich schön finde, kann allerdings andern, aus mancherlei Ursachen, mit Recht oder Unrecht, gleichgültig oder gar mißfällig seyn; denn Vorurtheil oder Leidenschaft kann mich oder sie verblenden. Die Liebe verschönert und hat für jeden Fehler des Geliebten ein milderndes Wörtchen, das ihn bedeckt oder gar in einen Reiz verwandelt; der Haß thut das Gegentheil. Mangel an Bildung und klimatische oder andere locale Angewohnheiten haben vielen Einfluß auf die Urtheile der Menschen über Schönheit und Häßlichkeit. Kurz, das Wort schön, welchem Gegenstand es beigelegt werden mag, bezeichnet bloß ein gewisses angenehmes Verhältniß desselben, besonders des Sichtbaren, Hörbaren und Tastbaren, zu einem in Beziehung mit demselben stehenden äußern oder innern Sinn; weiter hinaus reicht unsre Erkenntniß nicht, oder verliert sich in dunkle Vorstellungen und leere Worte.

Ein solches Wort scheint mir die angeborne Idee zu seyn, welche der Neffe des großen Aërobaten 54 Plato für den Kanon 55 des Schönen, und Plato selbst (wenn ich ihn anders verstehe) für einen in unsre Seele fallenden Widerschein eines ihm und uns unbegreiflichen Urbildes des Schönen ausgibt, welchem er in den überhimmlischen Räumen 56 einen Platz unter den übrigen Ideen anweiset. Da diese Platonischen Offenbarungen auch mir (wie dem wackern Euphranor) nichts klärer machen, so halte ich mich an das, was ich auf dem Wege der Beobachtung der Natur im Geschäfte der Entwicklung und Ausbildung unsres Schönheitssinnes abgelauscht zu haben glaube.

[93] Ich nehme als etwas allgemein Wahres an, daß ein gewisser Grad von Licht, und die gänzliche Abwesenheit desselben, eine ganz lichtlose Finsterniß, die entgegengesetzten äußersten Gränzen bezeichnen, innerhalb welcher das Licht allen gesunden menschlichen Augen schön ist. Innerhalb dieser Gränzen ließen sich, wenn wir ein Werkzeug das Licht zu messen hätten, eine Menge Abstufungen andeuten, welche die Grade unsers Vergnügens am Licht, oder (was eben dasselbe sagt) die Grade seiner Schönheit bezeichnen würden. Indessen lehrt die Erfahrung, daß eine gewisse Abwechselung und Mischung der höhern Grade des Lichts mit dem niedrigsten dasjenige ist, was in dem großen Gemälde der Natur die angenehmsten Eindrücke auf uns macht. Der Grund hiervon liegt ohne Zweifel in der organischen Beschaffenheit unsers Auges, und mich dünkt, wir können uns dabei beruhigen, ohne tiefer in das Geheimniß der Natur eindringen zu wollen als sie uns erlaubt. Mit den Farben hat es eben dieselbe Bewandtniß. Der Anblick einer in tausendfältige Schattirungen von Grün gekleideten und von einem azurnen Himmel umflossenen Landschaft vergnügt unser Auge und däucht uns schön; noch schöner der Himmel, wenn eine Menge leichter goldverbrämter Rosenwölkchen, wie schwimmende Inseln in einem hellblauen Meere, von Abend gegen Morgen langsam an ihm daherschweben; am schönsten, wenn die Abendsonne durch ein dünnes Dunstgewölk in eine Glorie von zusammengefloss'nen Regenbogen zu zerschmelzen scheint. Eine ähnliche Wirkung würde der Anblick der Erde thun, wenn Bäume, Gras und Kräuter, gleich einem mit den buntesten Blumen [94] aller Art besetzten Gartenstück, einen unaufhörlichen Wechsel der lebhaftesten Farben in unsre Augen spielten. Wie entzückend aber auch ein solcher Anblick wäre, so sind doch unsre Gesichtswerkzeuge nicht dazu eingerichtet, so viel Schimmer und so lebhafte Farben in die Länge zu ertragen. Indessen erklärt sich daraus, warum uns die Natur im Frühling am schönsten erscheint; weil nämlich die Färbung des magischen Gemäldes, das sie uns in dieser lieblichsten der Horen darstellt, zwischen dem einförmigen Blau und Grün, und einem allzu bunten und feurigen Farbenspiel gleichsam in der Mitte schwebt.

Eben so, wie die Ursache der mehr oder minder an genehmen Wirkung des Lichts und der Farben in der Organisation unsers Auges zu suchen ist, scheint auch die allgemeine Erfahrung, daß gewisse Linien, Figuren und Körper dem Auge und der tastenden Hand angenehmer sind als andere, hauptsächlich in der natürlichen Beschaffenheit dieser Organe gegründet zu seyn. Warum gefällt uns eine sanftwallende Linie besser als eine gerade? warum ein Cirkelbogen besser als ein Winkel? Die Kreislinie mehr als das Eirund? Wie man diese Fragen auch beantworte, am Ende müssen wir immer gestehen, die Einrichtung unserer Gesichts-und Gefühls-Werkzeuge bringe es nun einmal so mit sich. Eine gerade fortlaufende Linie, eine ebene ununterbrochne Fläche gefällt einen Augenblick, wird aber bald durch ihre Einförmigkeit langweilig; das Winklichte beleidigt Gesicht und Gefühl; ein sanfter Uebergang vom Ebnen zum Gebogenen schmeichelt beiden. Daher, daß uns das leichte Wallen eines sanftbewegten Wassers schöner däucht, als die schroffen in einander [95] berstenden Wogen des empörten Meeres; daher, daß unsre Töpfer und Bildner gewisse zwischen der Kugel und dem Ei mehr oder weniger in der Mitte schwebende Formen als die schönste zu Urnen und Prachtgefäßen wählen.

Was ich von Licht und Schatten, Farben und Linien als den Elementen des sichtbaren Schönen gesagt habe, gilt in seiner Art auch von den verschiedenen Schwingungen der Luft, wodurch der Schall in unserm Ohr und vermittelst dieses Organs in unserm innern Sinne gewisse angenehme Gefühle erregt; von dem majestätischen Rollen des Donners bis zum leisen Geflüster der Pappel und Birke; vom klappernden Tosen eines entfernten Wasserfalls, bis zum einschläfernden Murmeln einer über glatte Kiesel hin rieselnden Quelle; vom fröhlichen Geschwirr der Lerche bis zum eintönigen Klingklang der Cicade. Alle diese einfachern Schälle und Töne, durch welche die Natur unser Ohr als ein zu ihr stimmendes lebendiges Saiteninstrument anspricht, betrachte ich als die Elemente des hörbaren Schönen, welches, gleich dem sichtbaren, in der Mitte zwischen zwei Aeußersten schwebt, und also eben demselben Gesetz unterworfen ist, wodurch die dem Auge gefälligen Töne des Lichts und der Farben, und die dem Gefühle schmeichelnden Formen der Körper bestimmt werden, dem Gesetze der Harmonie der sinnlichen Eindrücke von außen mit der Einrichtung der ihnen entsprechenden Organe.

Wiewohl ich nun diese angenehmen Empfindungen, wovon bisher die Rede war, als die Elemente betrachte, woraus alles sichtbare, hörbare und fühlbare Schöne zusammengesetzt ist; so würden sie uns doch, jede für sich allein, nie auf den [96] Begriff der Schönheit geführt haben. Denn wie lebhaft auch die angenehme Empfindung seyn mag, die z.B. durch eine gewisse Farbe oder einen gewissen einzelnen Ton in uns erregt wird; so würde doch eine lange Dauer derselben unser Auge oder Ohr ermüden, und uns erst gleichgültig, dann langweilig, endlich widrig und unerträglich werden. Verschiedenheit und öftere Abwechselung der angenehmen Eindrücke sind sowohl zum Vergnügen als zur Erhaltung der Organe gleich nothwendig: aber im Verschiedenen muß Aehnlichkeit seyn, die Abwechselung durch sanfte Uebergänge bewirkt werden, und das Mannichfaltige, von Harmonie zusammengefaßt, zu einem Ganzen, dessen Totaleindruck uns angenehm ist, verschmolzen werden; und dieß allein ist es, was die Idee der Schönheit in uns erzeugt.

Lass' uns nun einen höhern Standort nehmen. Die Natur ist alles was ist, war, und seyn wird, also auch die Quelle, so wie die Summe alles Schönen. Wär' es möglich einen Augenpunkt zu finden, aus welchem sich die ganze Natur mit Einem Blick von uns überschauen ließe, so würden wir das wahre Urbild alles Schönen in der Wirklichkeit vor uns sehen. Aber unser Auge ist auf ein enges Hemisphärion eingeschränkt, und die Natur unermeßlich. Was sie unsern Sinnen darstellt, sind nur unendlich kleine Abschnitte und Bruchstücke eines gränzenlosen Ganzen. Aber das Wundervolle und Göttliche in ihr, das, wodurch sie sich so unendlich weit über die Kunst des Men schen erhebt, ist, daß jedes der kleinsten Gliedmaßen, aus welchen sie zu einem einzigen leben- und seelenvollen Körper innigst verwebt ist, eine Welt voll harmonischer [97] Mannichfaltigkeit, eine unendliche Menge von organisirten Theilen enthält, deren jeder wieder als ein neues Ganzes betrachtet werden könnte, wenn die Werkzeuge unsrer Sinne fein und scharf genug wären, die besondern Eindrücke, die er auf uns macht, zu unterscheiden.

Hier verliert sich der Gedanke in einem uferlosen Ocean, und uns bleibt nichts übrig, als uns wieder in die Schranken unsrer eigenen Natur zurückzuziehen, und, dem Gesetz der Nothwendigkeit gehorchend, uns selbst (so klein wir sind) als den Kanon der Natur, unser Empfindungsvermögen als das Maß ihrer Schönheit, und unsre Kunstfähigkeit als eine schaffende Macht zu betrachten, welche berechtigt ist, den uns überlass'nen Erdschollen, unsre Welt, nach unsern eigenen Bedürfnissen, Zwecken und Begriffen zu bearbeiten, und in ein beschränktes Ganzes für uns zu unserm Nutzen und Vergnügen umzuschaffen.

Daher kommt es nun, daß wir die Natur nur insofern schön finden, als das Schauspiel, womit sie uns umgibt, oder der einzelne Gegenstand, den wir daraus absondern, und für sich betrachten, unsern Sinnen angenehm ist. Eben dieselbe Landschaft, die uns bei heiterem Himmel unter einem gewissen Winkel von der Sonne beleuchtet, in Entzücken setzt, gibt bei trüber Luft einen sehr gleichgültigen Anblick; eben dieselben Gegenstände, z.B. ein sumpfiger Boden, umgestürzte, ausgefaulte Baumstämme, schroffe mit schmutzigem Moose bewachsne Felsenstücke, tiefe finstre Höhlen, wildes struppichtes Gebüsche, – lauter Dinge die uns einzeln und in der Nähe betrachtet. Unlust, Ekel und Grauen erregen, erscheinen aus[98] einem entfernten Gesichtspunkt, und durch eine gewisse Beleuchtung in ein Ganzes verbunden, als ein reizendes Gemälde. Vorzüglich aber erklärt sich daher, daß der Mensch keine schönere Gestalt kennt als seine eigene, und sich selbst, ohne sich dessen bewußt zu seyn, zum Typen aller schönen Formen macht. Da alles was die Natur hervorbringt, in seiner Art vollendet und vollkommen ist, wie käme der Krokodil oder die Kröte dazu, daß wir sie so häßlich und abscheulich finden, wenn nicht daher, weil der Contrast ihrer Bildung und Gestalt mit der unsrigen so ungeheuer groß ist; da wir hingegen alle Arten von Thieren desto schöner finden, und um so viel mehr Anmuthung zu ihnen fühlen, je mehr die Formen und Proportionen ihrer Bildung sich den unsrigen nähern; eine Bemerkung, die du sogar an solchen Naturgeschöpfen, welche die wenigste Aehnlichkeit mit uns zu haben scheinen, an Blumen, Stauden und Bäumen, bestätigt finden wirst, und wovon der Affe allein eine Ausnahme macht, weil er, durch einen Anschein von Aehnlichkeit, die mit der widerlichsten Häßlichkeit verbunden ist, der menschlichen Gestalt zu spotten, und den höchsten Grad von Verunstaltung und Abwürdigung derselben darzustellen scheint.

Es scheint mir nun ein Leichtes, die verschiedenen Meinungen deiner Symposiasten nach dieser Ansicht der Sache zu vereinbaren oder zu berichtigen. Wenn wir zwischen dem, was ich die Elemente des Schönen nenne, und den schönen Naturerzeugnissen oder Kunstwerken, die daraus zusammengesetzt sind, gehörig unterscheiden, so heben sich alle Schwierigkeiten von selbst. Wir können von jenen keinen andern Grund [99] angeben warum sie uns gefallen, als weil sie einen angenehmen Eindruck auf unsre Organe machen; bei diesen hingegen liegt der Grund tiefer, nämlich in der Natur unsrer Seele selbst, welcher das innigste Wohlgefallen an Ordnung, Harmonie und Vollkommenheit wesentlich ist. Indessen ist auch bei dieser zusammengesetzten und vielgestaltigen Schönheit nicht zu vergessen, daß das, wodurch sie uns wirklich als schön erscheint und gefällt, bloß die schnell auf Einen Blick oder in einem untheilbaren Moment gefühlte Einheit im Mannichfaltigen ist; indem dieses Gefühl und mit ihm die Idee der Schönheit so bald verschwindet, als wir den Gegenstand zergliedern oder in seinen einzelnen Theilen und Elementen stückweise betrachten. Mit dem, was Euphranor über die Platonische Idee der Schönheit sagt, bin ich insofern einverstanden, als ich sie für die Frucht einer natürlichen Täuschung halte, die daher entsteht, daß uns selten ein Gegenstand, sey es ein Werk der Natur oder der Kunst, vor die Augen kommt, der, unsrer Einbildung nach, nicht schöner seyn könnte als er uns erscheint. Indem wir dieß zu fühlen glauben, erzeugt sich in unsrer Phantasie ein mehr oder weniger klares Bild dieser höhern Schönheit, welches wir (dünkt uns) sogleich darstellen könnten, wenn wir die dazu nöthige Kunstfertigkeit besäßen; und daß es nichts anders ist, scheint mir daraus klar, daß sobald ein schöner Gegenstand uns gänzlich befriedigt, wir unser Ideal in ihm realisirt, ja wohl gar noch übertroffen zu sehen wähnen. Daß es solche Gegenstände gebe, kann wohl kein Unbefangener bezweifeln, der aus den Unsterblichen den Jupiter oder die Minerva des Phidias, und aus den Sterblichen die schöne Lais gesehen hat.

[100] Ich müßte mich sehr irren, oder meine Philosophie des Schönen (wenn ich ihr anders einen so vornehmen Namen geben darf) ist auch auf das, was wir in sittlichem Verstande schön nennen, anwendbar. Auch hier finde ich meinen Unterschied zwischen den Elementen desselben und dem, was unser Verstand daraus zusammensetzt, wieder. Aufrichtigkeit, Unschuld, Güte, Treue, Dankbarkeit, Bescheidenheit, Sanftheit, Großherzigkeit, Geduld, Seelenstärke, und alle aus diesen Eigenschaften oder Tugenden entspringenden Gefühle, Gesinnungen und Thaten nennen wir schön; weil sie uns, vermöge einer in unsrer Natur gegründeten Nothwendigkeit, gefallen, anziehen, Achtung und Liebe einflößen, wo, wann, und an wem wir sie gewahr werden, ohne alle Rücksicht auf das Nützliche, das sie für uns haben oder haben könnten. Im Gegentheil eine schöne That erscheint uns desto schöner, je mehr Selbstüberwindung und Aufopferung eigener Vortheile sie erfordert, und unser besonderes Ich kommt dabei so wenig in Betrachtung, daß, wofern der Mond Einwohner hätte und man erzählte uns irgend eine schöne That, die ein Mann im Monde vor zehntausend Jahren gethan hätte, die Vorstellung derselben eben so auf uns wirken würde, als wenn sie vor wenig Tagen mitten unter uns geschehen wäre. Dieß erstreckt sich sogar auf die Thiere, an welchen wir etwas dieser oder jener Tugend Aehnliches zu sehen glauben, ja noch weiter hinab bis ins Pflanzenreich, wo es, z.B. Blumen gibt, die uns durch Gestalt, Farbe und Wohlgeruch zu natürlichen Symbolen gewisser sittlicher Eigenschaften werden, und aus diesem Grunde, öfters auch ohne daß wir uns dessen bewußt sind, Personen [101] von zärterem Gefühl eine sonderbare Art von Anmuthung einzuflößen vermögen.

Einen aus jenen Eigenschaften, als den Elementen oder Grundzügen des Sittlichschönen richtig zusammengesetzten Charakter nennen wir schön, weil und sofern er sich uns als ein mit sich selbst harmonisches und in sich selbst vollendetes Ganzes darstellt. Das Schönste in dieser Art wäre also unstreitig ein ganzes Leben, welches, aus lauter schönen Gesinnungen und Thaten zusammengesetzt, uns das Anschauen der reinsten Harmonie aller Triebe und Fähigkeiten eines Menschen zu Verfolgung des großen Zwecks der möglichsten Selbstveredlung und der ausgebreitetsten Mittheilung gewähren würde. Ein solcher Charakter in einem solchen Leben dargestellt, würde für die Formen und Proportionen des sittlichen Menschen eben das seyn, was der Kanon des Polykletus für die richtigsten Verhältnisse des menschlichen Körpers. Denn unläugbar gibt es in beiden ein Schönstes, über welches die Phantasie nicht hinausgehen darf, wenn sie des wahren Ebenmaßes nicht verfehlen, und statt schöner Gestalten schöne Ungeheuer hervorbringen will. Die Einbildung, daß sich immer noch etwas Schöneres denken lasse als das Schönste was uns die Natur wirklich darstellt, ist bloße Täuschung; und ich bin auch über diesen Punkt gänzlich der Meinung deines Freundes Euphranor, der es zu verdienen scheint, daß du ihm hierin zur vollständigsten Ueberzeugung verhelfest.

Deiner Einladung zur Feier der bevorstehenden Poseidonien in Aegina (denn dafür darf ich doch wohl ohne mir zu viel zu schmeicheln die Frage am Schluß deines Briefes nehmen?) [102] würde ich mit der lebhaftesten Dankbarkeit entgegen fliegen, wenn ich mich nicht gegen einen der angesehensten Rhodier verbindlich gemacht hätte, seinen Sohn auf einer Reise nach Cypern zu begleiten. So fern von Aegina als ich dann seyn werde, könnt' ich mich um so leichter versucht fühlen, meine Wanderungen zu Wasser und zu Land noch eine gute Strecke weiter auszudehnen. Den Vorsatz trage ich schon lange mit mir herum, und soll er jemals ausgeführt werden, so muß es jetzt geschehen, da die Entfernung von dir schon so groß ist, daß etliche tausend Parasangen mehr oder weniger keinen sonderlichen Unterschied machen.

19. An Eurybates
19.
An Eurybates.

Es ist Zeit, Eurybates, daß du wieder von mir selbst vernehmest, daß ich noch unter denen bin, die das erfreuende Licht der Sonne trinken.

Ich habe nun alle Griechischen Pflanzstädte an den Küsten Asiens und den größten Theil des von den Söhnen Hellens bevölkerten festen Landes und der dazu gehörigen Inseln besucht, und nach einer mehr als achtjährigen Abwesenheit sehn' ich mich in die schöne Athenä zurück, die unvergeßliche und unvergleichbare, zu welcher man sich, wie zu einer etwas unartigen aber reizvollen Geliebten, immer wieder mit verborgener Gewalt hingezogen fühlt, weil man, aller ihrer Unarten und [103] Launen ungeachtet, dennoch nichts Liebenswürdigeres kennt als sie. Ich werde den Athenern den Tod des Sokrates nie verzeihen; aber sieben Jahre haben ihre Wirkung gethan und mich an die Vorstellung gewöhnt, daß ich das, was geschehen ist, von der Natur selbst zu gewarten gehabt hätte. Ich würde ihn entweder nicht mehr am Leben, oder in einem Zustande von Abnahme angetroffen haben, worin man, für seine Freunde und sich selbst, schon über die Hälfte – zu seyn aufgehört hat. Die Zeit hilft uns vergessen was nicht zu ändern ist, und was sie selbst bewirkt hätte, wenn ihr die Menschen nicht zuvorgekommen wären.

Was mich am meisten mit den Athenern ausgesöhnt hat, ist: daß sie das Andenken des besten ihrer Bürger in seinen Freunden und Zöglingen ehren, und der Philosophie einen so freien Spielraum und Uebungsplatz gestatten, als sie nur immer verlangen kann. Wie ich höre so hat mein alter Freund Antisthenes schon seit geraumer Zeit in der Cynosarge 57, und Plato, seitdem er von seinen Reisen in Aegypten und Italien zurückgekommen ist, in seinem an der Akademie gelegenen Gärtchen, eine Art von Sokratischer Schule eröffnet, deren Beschaffenheit ich mit meinen eigenen Augen zu erkundigen begierig bin. Ich erwarte von beiden nichts anders, als wozu sie schon bei Lebzeiten des Meisters gute Hoffnung gaben, nämlich, daß der eine die Philosophie des Sokrates übertreiben, der andere verfälschen werde. Am richtigsten wär' es vielleicht, wenn man die Sokratiker sammt und sonders als Pflanzen verschiedener Art betrachtete, die neben einander aufgekommen sind, und ihre Nahrung aus eben demselben [104] Boden gezogen, aber jede auf eine andere, ihrer eigenen Natur gemäße Art, verarbeitet haben. Man könnte sie auch mit mehrern Söhnen eben desselben Vaters vergleichen, deren keiner ihm recht ähnlich sieht, wiewohl dieser seine Augen, jener seinen Mund, ein dritter seine Nase hat. Zuweilen findet sich auch ein vierter, der zwar in jedem einzelnen Zuge von dem Vater verschieden ist, hingegen im Ganzen der Physiognomie eine auffallende Aehnlichkeit mit ihm hat. Ich meines Orts möchte lieber dieser letzte seyn als einer von den andern; wiewohl ich glaube, die Natur habe es darauf angelegt, daß jeder sich selbst gleich sehen soll.

Ich habe deinem Freigelass'nen Phormion, meinem alten Hausverwalter zu Athen, aufgetragen, mir, wo möglich in der Nähe vom Pompeion 58, eine Wohnung, wie ich sie nöthig habe, zu miethen; das ist, ein paar Schlafkammern, einen Speisesaal und eine Galerie neben etlichen Reihen schattengebender Bäume. Erweise mir die Freundschaft, dich der Sache anzunehmen, und dem ehrlichen Phormion merken zu lassen, daß es dir angenehm seyn werde, wenn er sich meines Auftrags mit Verstand erlediget.

Ich werde mich so lange, bis du mir meldest daß ich kommen könne, bei einem Freunde zu Tanagra 59 aufhalten, und nicht vergessen, dir den stattlichsten Kampfhahn mitzubringen, der in der ganzen Stadt aufzutreiben seyn wird.

20. An Kleonidas
[105] 20.
An Kleonidas.

Nach Vollendung meines großen Kreislaufs durch alle Hellenischen Colonien in Asien habe ich noch einige Monate zugebracht, die südliche Küste von Thracien und Macedonien, und die Landschaft Thessalien und Phocis zu besuchen, und befinde mich jetzt, bis meine künftige Wohnung in Athen eingerichtet ist, bei einem Freunde zu Tanagra. Ich habe, wie Odysseus, auf meiner langen Wanderschaft vieler Menschen Städte und Sinnesart kennen gelernt; auch hat es mir, wie dem herrlichen Dulder, nicht an mancherlei fröhlichen und unfröhlichen Abenteuern gefehlt, die uns dereinst, wenn uns eine freundliche Gottheit wieder in Cyrene vereiniget, reichen Stoff zu kurzweiligen Unterhaltungen geben sollen. Nur das Neueste, was mir in Thessalien aufstieß, schickt sich, denke ich, besser für eine schriftliche Erzählung, zumal da ich den Kopf noch so voll davon habe, daß ich für nöthig halte mich dessen zu entladen, bevor ich nach Athen zurückkehre, wo es nicht rathsam wäre viel davon zu sprechen. Um keine täuschenden Erwartungen bei dir zu erregen, schreite ich ohne weitere Vorrede zur Sache.

Nachdem ich mich zu Potidäa über den Thermaischen Meerbusen an die Thessalische Küste hatte übersetzen lassen, war mein Erstes, das berühmte Tempe 60 zu besuchen, wovon ich, seit ich unter den Griechen lebe, so oft mit Entzücken reden gehört hatte. Denn ein Grieche, der Olympia und Delphi[106] nicht gesehen, und sich nicht wenigstens einmal in seinem Leben in Tempe erlustiget hätte, würde an einem sehr unglücklichen Tage geboren zu seyn glauben. Dieses Thal, das sich einige Stunden von Larissa zwischen dem Olympus und Ossa in sanften Krümmungen bis an die See hinzieht, ist in der That vielleicht der reizendste Winkel des ganzen Erdbodens. Es würde der fruchtbarsten Phantasie eines Malers oder Dichters schwer werden, mehr Schönheit und Anmuth mit größrer Abwechslung und Mannichfaltigkeit in einen engern Raum zusammen zu zaubern und mit dem Erhabensten und Grauenvollsten in einem anmuthendern Contrast zu sehen, als hier ohne alle Nachhülfe der Kunst (wie es scheint) Natur und Zufall allein bewerkstelliget haben. Ich brachte zwei der angenehmsten Tage meines Lebens in diesem oberirdischen Elysium zu, und zum höchsten Lebensgenuß fehlte mir nichts, als die heilige Trias meiner Geliebtesten, Lais, Kleonidas und Musarion. Ich vermißte euch um so viel stärker, weil sich's zufälliger Weise traf, daß ich (was hier selten begegnet) diese zwei Tage über der einzige fremde Bewohner von Tempe war.

Ungetheiltes, allein genoss'nes Vergnügen, wie ungemein es auch sey, verliert gar bald seinen süßesten Reiz, und eine geheime Unruhe, deren Ursache wir uns nicht immer bewußt sind, treibt uns zu neuen Gegenständen. Am dritten Morgen kam mich die Lust an, den benachbarten Ossa zu besteigen, theils um meine Augen an den herrlichen Aussichten zu weiden, die er über die umliegenden Thäler, Hügel und Landschaften und über den Thermaischen Meerbusen bis an die [107] Küste von Pallene hin, gewährt, theils in Hoffnung einige mir noch unbekannte Arten von Steinen und Pflanzen auf diesem wilden Gebirge aufzufinden. Ich ließ meinen alten Xanthias mit einem jungen Sklaven bei den Maulthieren im Thal zurück, bestieg einen Gipfel des Berges nach dem andern, und fand überall so viel zu sehen und zu sammeln, daß die Sonne sich unvermerkt zum Untergange neigte, bevor ich gewahr wurde, daß keine Hoffnung übrig sey, die Herberge wieder zu erreichen, wo ich meine Leute gelassen hatte. Schon fing ich an, unter den häufigen Schluchten und Klüften, wovon dieses durch mächtige Erderschütterungen zerriss'ne Gebirg allenthalben voll ist, mich nach irgend einer Höhle zum Nachtlager umzusehen, als ich, beim Umwenden um die scharfe Ecke eines struppigen Felsen, im Eingang einer durch Menschenhände (wie es schien) bewohnbar gemachten Höhle, einen Mann sitzen sah, der anfangs über meinen Anblick noch mehr als ich über den seinigen betroffen schien, aber (da er keine Ursache sah mir Arges zuzutrauen) sich schnell genug faßte, um einige Schritte auf mich zuzugehen. Es war ein langer hagerer Mann, dem Ansehen nach nicht viel über Sechzig; noch fest und lebhaft, von vielsagender Gesichtsbildung, aber finsterm Blick unter einer Stirn, durch welche schmerzliche Erfahrungen tiefe Furchen gezogen zu haben schienen. Ich näherte mich ihm mit Zuversicht und Ehrerbietung, eröffnete ihm mein Anliegen, und erkundigte mich, ob nicht irgend eine Herberge im Gebirge anzutreffen sey, die ich vor Einbruch der Nacht noch erreichen könnte. Du scheinst ein Arzt zu seyn, und dich im Botanisiren so tief in diese Wildniß gewagt zu haben, [108] versetzte der Alte. Er schloß dieß vermuthlich aus einem ziemlichen Bund Kräuter und Blumen, den ich unter dem Arme trug. Ich antwortete: ich wäre zwar kein Arzt, als etwa in Nothfällen, wo jeder Mensch so viel wissen sollte, um sich selbst und andern eine Hülfe schaffen zu können; aber ich studirte die Natur, und versäumte selten eine Gelegenheit, meine Kenntniß von den Pflanzen und ihren Eigenschaften und Kräften zu erweitern. Wenn dieß ist, erwiederte er mit zusehends sich erheiternder Miene, so kannst du dich auch wohl eine Nacht bei einem Manne behelfen, der dir nichts als das Unentbehrlichste anbieten kann, zumal da du es in diesem Gebirge nirgends besser finden würdest; auch wär' es schon zu spät, um dich auf dem Pfade nicht zu verirren, der nach den nächsten Hirtenwohnungen führt. Da ich sein Anerbieten mit Dank und Freude annahm, schlug er mit seinem Stab an eine kleine Glocke, und eine reinlich gekleidete Sklavin von mittlerem Alter und guter Gestalt kam aus dem Innern der Höhle hervor, und entfernte sich wieder, sobald er ihr etliche leise Worte gesagt hatte. Bald darauf führte er mich durch einen ziemlich dunkeln krummen Gang, von ungefähr zwanzig Schritten, in einen geräumigen gewölbten Saal, der gegen einen großen, unregelmäßigen, und ringsum von schroffen Felsen eingeschloss'nen Garten offen war. Hier setzten wir uns zwischen zwei ziemlich roh gearbeiteten Säulen nieder, das Gesicht gegen den Garten gekehrt, den ich mit fruchtbaren Bäumen und mancherlei eßbaren Gewächsen und Kräutern bepflanzt, und dem Ansehen nach gut gewartet sah. Mein Alter ward zusehends immer heitrer, sprach aber wenig, meistens [109] nur in Fragen, auf deren Beantwortung er mir seine Zufriedenheit mit Kopfnicken oder einzelnen Sylben zu erkennen gab. Ungefähr nach einer Stunde rüstete die Sklavin einen kleinen Tisch, und setzte uns eine Schüssel gekochtes Ziegenfleisch, mit feinen Wurzeln und Kräutern wohlschmeckend zubereitet, und zum Nachtisch trockne Feigen, eine leichte Art von Kuchen, und einen Krug des besten Weins von Thasos vor. Meine Eßlust vergnügte meinen alten Wirth, wie es schien, nicht weniger als mein übriges Wesen und Benehmen; und nachdem er den dritten Becher auf unsre neue Bekanntschaft geleert hatte, ward er selbst gesprächiger, und sagte traulich mir die Hand schüttelnd: »Wundre dich nicht, Fremdling, daß du mich so wenig reden hörst. Ich war nicht immer so wortarm; aber seit zwanzig Jahren bist du, außer einem alten Freunde, der mich immer zur Zeit der Pythischen Spiele zu besuchen pflegt, und der Thrazierin, die für meine Bedürfnisse sorgt, das einzige menschliche Wesen, mit dem ich mehr als ein paar einsylbige Worte gewechselt habe. Du siehst, daß dieß der gerade Weg ist, das Reden zu verlernen, wenn man auch der redseligste aller Athener gewesen wäre. Wohl möchte mir's übrigens bekommen seyn, wenn ich mich immer mit Ja und Nein zu behelfen gewußt hätte. Denn daß du mich hier siehest, kommt allein daher, daß ich ehmals meiner Zunge mehr Freiheit ließ als einem klugen Manne ziemt.«

Du kannst dir leicht vorstellen, Kleonidas, daß ich meinen Wirth nach dieser Rede schärfer als zuvor ins Auge faßte. Du wohnst schon zwanzig Jahre hier? fragte ich. – »Nicht [110] völlig so viel; aber vorher lebte ich einige Zeit auf dem Landgute eines Freundes so sorgfältig versteckt, daß ich außer ihm selbst keine Seele zu Gesichte bekam.« – Das muß eine schlimme Race von Menschen seyn, vor welchen ein Mann wie du sich so verstecken muß, sagte ich. – Ich sehe daß du mich näher kennen möchtest, erwiederte er. Wenn deine Neugier nicht schwächer ist als meine Neigung mich dir zu entdecken, so bleibst du ein paar Tage bei mir, um mich wieder reden zu lehren, und du sollst allerlei erfahren, das vielleicht dieses Opfers werth ist.

Mein Wirth kam durch diese Einladung einem Wunsch entgegen, den ich nicht gewagt hätte laut werden zu lassen. Wir redeten nun von andern Dingen, und wiewohl er sich noch immer sehr lakonisch ausdrückte, so verrieth doch das Wenige was er sagte einen Mann von freiem Geist, vieler Erfahrung und ausgebreiteter Menschenkunde. Als die Zeit zum Schlafengehen gekommen war, führte er mich in eine kleine, mit Binsenmatten behangene und belegte Schlafkammer, und ließ mich allein. Hier konnt' ich mich der Thorheit nicht erwehren, hin und her zu sinnen, wer der sonderbare Alte seyn könne, mit dem ich auf dem Ossa so unvermuthet in Bekanntschaft gerathen war; aber alles Nachsinnen war umsonst. Ich ergab mich also in die Nothwendigkeit meine Neugier bis morgen einzuschläfern, und sie schlief so gut, daß die Sonne schon über der Spitze des Athos schwebte, als ich in dem Saal erschien, wo mir mein Alter, in einen langen Pelz gehüllt, so munter entgegenkam, daß ich erröthete, mich in einer Tugend, die meinen Jahren besser ziemte als den [111] seinigen, von ihm übertroffen zu sehen. Er führte mich sogleich in den Garten, wo ein sanfter, wiewohl etwas scharfer Morgenwind die Luft mit dem lieblichen Athem der Kräuter und Blumen durchwürzte. Ich habe, fing er an, mehr als die Hälfte meines Lebens mit Beobachtung aller Arten von Menschen zugebracht, und besitze einige Fertigkeit in der Kunst das Innere einer Person aus ihrer Gesichtsbildung und Miene zu errathen. Deine Physiognomie hat dir mein Zutrauen auf den ersten Blick erworben; ich wünsche von dir gekannt zu seyn, und überlasse mich ohne Bedenken dem Vergnügen, nach einer so langen unfreiwilligen Verborgenheit einen Menschen gefunden zu haben, dem ich mich aufschließen darf. Ich bin kein Menschenhasser, wie du aus meiner seltsamen Lebensweise vermuthen mußt; im Gegentheil, daß ich es zu gut mit den Menschen meinte, ist mein Unglück gewesen. Sie haben mich ausgestoßen, verbannt, einen Preis auf meinen Kopf gesetzt, und bloß um kein Schlachtopfer ihrer Wuth zu werden, hab' ich mich in eine Höhle des Ossa verbergen müssen. – Du wunderst dich was ich verbrochen haben könne, um die Menschen, mit denen ich einst lebte, so heftig gegen mich aufzubringen? Ich wollte sie weiser machen als sie ertragen können. – Bei diesem Worte hielt er inne und seine Stirn verfinsterte sich einige Augenblicke so sehr, daß ich Bedenken trug, ihm zu zeigen, wie sehr er durch diese Worte meine Neugier gespannt hatte.

Wir waren indessen unvermerkt auf eine Anhöhe gekommen, die, in einem Kreise von ungefähr dreihundert Schritten, mit einer dreifachen Reihe von Pappeln, und [112] zwischen den Bäumen mit hölzernen Schnitzbildern besetzt war. Aber was für Bildern! Nie ist mir etwas Auffallenderes in meinem Leben vorgekommen, als diese in ihrer Art gewiß einzige Bildergalerie; man müßte sie aber selbst gesehen haben, um sich die Wirkung vorzustellen, die der Ueberblick des Ganzen auf einen keines Argen sich vorsehenden Anschauer macht. Doch, du bist ein Künstler, mein Kleonidas, und deine Phantasie wird ohnehin das Beste bei meiner Beschreibung thun müssen. Bilde dir also ein, du sehest alle Götter der Griechen, vom Zeus Olympius bis zum bocksfüßigen Pan, und von der weißarmigen Herrscherin Here bis zu den schlangenhaarigen Erinnyen, einzeln und gruppenweise, unter Beibehaltung einer gewissen Aehnlichkeit mit ihren gewöhnlichen Darstellungen, in die pöbelhaftesten Mißgestalten travestirt, aber mit einer so komischen Laune in der Art der Ausführung, daß es mir bei ihrem Anblick eben so unmöglich war, mich des Lachens als des Unwillens zu erwehren. So zeigten sich (um dir nur etliche Beispiele zu geben) Jupiter auf der einen Seite, wie er, in Gestalt eines erbosten vierschrötigen Sackträgers, im Begriff ist, seine eheliche Widerbellerin mit einem Amboß an jedem Fuß in die Luft herabzuhängen; auf der andern, wie er sich auf dem Gipfel des Ida von der listigen Matrone, im Costume einer nächtlichen Gassenschwärmerin, zu einer Thorheit verführen läßt, für welche die armen Trojaner übel büßen werden. Du kennst die sonderbare Art, wie Homer seinen unbefangenen und von der Zaubergewalt des Gürtels der Venus unwissend überwältigten Zeus der schönen Dame die Wirkung, die sie [113] auf ihn macht, zu erkennen geben läßt: aber von der energischen Art, wie dieser in einen brünstigen Centaur übersetzte Jupiter sein Anliegen vorträgt, hat eine so wohlgeordnete Einbildung wie die deinige keine Ahnung. In dieser Manier kommt nun die ganze Göttersippschaft an den Reihen. Hier sind Pallas Athene und der hinkende Hephästos, dieser in Gestalt eines alten Kesselflickers, jene im Charakter einer derben Marketenderin, in dem zweideutigen Kampfe, dem der drachenfüßige Erichthonius entsprang, begriffen; dort tanzt Cytherea, als eine halbtrunkne Austernymphe, mit einem bengelhaften Adonis den leichtfertigsten Kordax 61, der je getanzt worden ist, und Phoibos Apollo, als blinder Leyermann mit den neun Schwestern als musikmachende Bettlerinnen, arbeiten aus allen Kräften auf der Leyer, dem Triangel, der Schellentrommel und dem Dudelsack dazu. In zwiefacher Trunkenheit taumelt Bacchus in die plumpen Arme einer weinseligen Ariadne; Mercur zieht dem Plutus mit der behendesten Gewandtheit einen Beutel aus dem Busen, Apollo dem Satyr Marsyas das zottelige Fell über die Ohren. Ueber sie alle erhebt sich der langöhrige Schutzgott von Lampsakus, und scheint als der wahre Götterkönig mit gewaltigem Scepter über den Olympus zu herrschen. Vorzüglich nimmt sich ein Jupiter in einer grotesken Gestalt aus, woran nichts als der Kopf sein eigen, alles übrige hingegen aus den verschiedenen Thieren, in welche ihn seine Gynäkomanie 62 verwandelte, aus Stier, Adler, Bock, Schwan, Schlange, Wachtel und Ameise seltsam genug zusammengesetzt ist. Das große Kunstwerk aber, worin der Meister [114] sich selber übertroffen hat, ist die Darstellung der berühmten Scene aus dem Gesang des blinden Demodokos in der Odyssee, wo der ehrliche Vulcan, nachdem er seine Gemahlin mit ihrem Liebhaber Ares in einem unsichtbaren und unzerreißlichen Netze gefangen hat, alle Götter zusammenruft, um Zeugen seines lächerlichen Unglücks zu seyn. Kurz, weiter kann weder die Kunst der Carricatur, noch der Muthwille und die Verachtung der Homerischen Götter getrieben werden, als in dieser großen Composition von Gruppen, die den innersten Cirkel des grünen Amphitheaters einnimmt. Der Alte, der mich von einer Figur zur andern herumführte, ergötzte sich, wie es schien, stillschweigend an meiner Verlegenheit, und an dem Sardonischen Lachen 63, welches mir seine zur niedrigsten Menschenclasse herabgesetzten Götter wider Willen abnöthigten. Was denkst du, sprach er endlich mit einem selbstzufriednen Blick, zu der guten Gesellschaft, die ich mir in meiner Einsamkeit zu verschaffen gewußt habe?

Ich. Ich denke, wie du wohl zu dieser guten Gesellschaft gekommen seyn kannst; denn unter den Bildschnitzern, die ich kenne (und ich kenne ungefähr alle, die in einigem Rufe stehen), wüßte ich keinen, den ich für den Schöpfer dieser sonderbaren Kunstwerke halten könnte.

Er. Das will ich wohl glauben.

Ich. Gleichwohl kann sie kein Stümper gemacht haben. Sie sind zwar größtentheils etwas roh, und mit einer gewissen Nachlässigkeit gearbeitet, auch hat ein Carricaturenschnitzer den Vortheil, sich viele Willkürlichkeit erlauben zu dürfen; indessen bleibt die Natur doch immer seine Regel; [115] auch die überladensten Zerrbilder müssen eine aus Harmonie mit sich selbst entspringende Wahrheit haben; und da bei ihnen alles auf eine starke und geistvolle Bezeichnung des Charakteristischen in ziemlich willkürlichen Formen ankommt, so erfordern sie vielleicht mehr Genialität und eine noch keckere Hand, als Werke, die nach einem bestimmten Kanon der schönsten Formen gearbeitet sind. Und hierin scheinen mir diese hier alles zu übertreffen, was ich jemals in ihrer Art gesehen habe.

Er. Es ist mir also gelungen. Denn alle diese närrischen Unkepunze (μορμολυκεια) sind meine eigene Arbeit, und ihnen hab' ich es zu danken, daß mir die lange Zeit, die ich hier gelebt habe, und mit der ich sonst nichts anzufangen wußte, ziemlich kurz geworden ist. Denn du begreifst leicht, daß ich fleißig seyn mußte, um in achtzehn Jahren damit fertig zu werden. Ich hatte von Kindheit an viel Geschick für diese Art von Bildnerei; und das Mechanische, welches dazu erfordert wird, lernte ich in meiner Jugend von einem ziemlich mittelmäßigen Xyloglyphen 64 in meiner Vaterstadt.

Ich. Aber was haben dir die Götter gethan, das dich reizen konnte, eine so unbarmherzige Rache an ihnen zu nehmen?

Er. Was sie mir gethan haben? Wahrlich, ich habe von ihnen, oder (was am Ende auf Eins hinausläuft) von ihren Priestern mehr als zu viel gelitten! Und doch ist dieß nicht was meine Galle gegen sie gereizt hat. Denn ich muß gestehen, in der Fehde, worin wir mit einander befangen sind, war ich der angreifende Theil. Aber ich ärgerte mich, wenn [116] ich so manchen großen Künstler allen seine Kräfte aufbieten sah, für diese unsittlichen Idole, in welchen der schnödeste Betrug und der sinnloseste Aberglaube alle Unarten und Thorheiten der menschlichen Natur vergöttert hat, schöne und große mehr als menschliche Formen zu erfinden, um sie in prachtvollen Tempeln dem dummen Haufen zur Anbetung aufzustellen. Mußt du nicht gestehen, daß meine Carricaturen den Göttern Homers viel angemess'ner sind, als die erhabenen Gestalten eines Phidias und Alkamenes? Wer kann sich den brünstigen Jupiter auf Ida, oder seine Gemahlin, die den armen Priamus und seine Söhne mit allen übrigen Trojanern lieber roh auffressen möchte, unter der Gestalt des Olympischen Jupiters und der Samischen Juno 65 denken?

Ich. Es sollte mir eben nicht schwer seyn, den Sachwalter des Homerischen Zeus, wenigstens in der ehlichen Scene auf dem Gargaros die dir so anstößig ist, zu machen, und ganz stattliche Ursachen anzugeben, warum er sich seiner vielen trefflichen Bastarde und der schönen Erdentöchter und Göttinnen, die ihm diese Helden erzeugen halfen, mit so vielem Wohlbehagen erinnert. Indessen, weil du bei einer scharfen Untersuchung am Ende doch wohl Recht behalten möchtest, gebe ich den Wolkenversammler mit seiner stieräugigen Gemahlin, und meinethalben alle andern unsterblichen Olympier der verdienten Züchtigung preis. Aber wenigstens hättest du der holden Musen, die uns aus dem Stande der rohen Thierheit gezogen und den Keim der Humanität in uns entwickelt haben, schonen sollen.

Wie? (rief er in angenommenem komisch-zürnendem Tone) [117] haben sie ihre Strafe nicht schon dadurch allein reichlich verdient, daß sie dem alten blinden Sänger so viel tolles und ungebührliches Zeug auf Kosten der armen Götter weiß gemacht haben? Denn, da er uns nichts singt als was sie ihm vorgesungen, fällt nicht billig alle Schuld auf sie? Doch, wenn auch dieser Vorwurf nicht träfe, um eurer Allegorien willen kann ich keine Ausnahmen machen; nicht einmal zu Gunsten der Grazien, die der feile Pindar den Orchomeniern zu Gefallen 66 so hoch erhebt, und die du dort, nicht weit von der hochgeschürzten Austernymphe von Cythere, in Gestalt böotischer Kühmägde sich mit Faunen und Bocksfüßlern herumdrehen siehest. Hier ist nichts zu schonen! Ich bin meines Daseyns nicht gewisser als der traurigen Wahrheit, daß der bloße Aberglaube dem Menschengeschlecht mehr Schaden zugefügt hat, als alle unsre übrigen Schwachheiten, Narrheiten und Laster zusammen genommen. Ich habe also Göttern und Priestern ewige Fehde angekündiget, und ich wundre mich nicht, daß mir, wiewohl ich nur ein Pfuscher in der Kunst bin, diese Zerrbilder so wohl gerathen sind: denn ich habe (was vielleicht ohne Beispiel ist) zugleich mit Liebe und mit Grimm daran gearbeitet, mit Liebe zum Werke selbst, und mit immer steigendem Grimm über die Gegenstände. Alles dieß, lieber Aristipp, wird dich nicht länger befremden, sobald ich dir sage: daß der Mann, den du vor dir siehst, Diagoras der Melier 67 ist, von dem du, bei Gelegenheit, in der ganzen Hellas als einem Atheisten mit Abscheu und Schaudern reden gehört haben wirst, und der doch wahrlich diesen ehrenvollen Beinamen, so viel in seinen Kräften ist, zu verdienen suchen muß.

[118] Wie? Ist's möglich? rief ich: du Diagoras? eben dieser Diagoras, der seit mehr als zwanzig Jahren für todt gehalten wird, und, wie die gemeine Sage geht, von der Rache der Götter überall verfolgt, in einem Schiffbruch unterging!

Sprich, versetzte er, von der Rache der Priester verfolgt, so hast du die Wahrheit gesagt; ihrer Götter halben wollt' ich mich in einem Kornsieb auf den Ocean wagen. Was ich dir sage; ich, wie du mich hier siehest, bin dieser von den Athenern geachtete und durch ein fürchterliches Decret in allen Theilen Griechenlands verfolgte Diagoras von Melos, der, auf seiner Flucht nach Thracien, an der Küste der Abderiten Schiffbruch litt, und, zum redenden Beweise wie mächtig die Götter der Griechen sind, allein am Leben blieb, als das Schiff mit allen übrigen, die es am Bord hatte trotz der heißen Gelübde, die sie dem Erderschütterer Poseidon und Zeus dem Retter zuwinselten, ohne Rettung zu Grunde ging.

Jetzt ward mir alles klar, was mich bisher an meinem Wirthe befremdet hatte, und nun erst erinnerte ich mich, was mir gestern nicht aufgefallen war, daß er bei Tische die gewöhnliche Libation vorbeiging, die kein Grieche, bevor er trinkt, aus der Acht läßt.

Diagoras erzählte mir nun, mit welcher Mühe, Gefahr und Noth er sich in allerlei Verkleidungen von einer Insel des Aegeischen Meeres zur andern bis nach Lemnos geflüchtet, wo er zufälligerweise erfahren, daß die Athener eine große Belohnung für den, der ihn todt oder lebendig liefern würde, durch ganz Griechenland ausrufen lassen; wie er, aus Furcht zu Lemnos entdeckt zu werden, etliche Monate [119] sich in Wäldern und Bergklüften verbergen, und sein Leben kümmerlich mit rohen Wurzeln und wilden Früchten habe fristen müssen, und wie er endlich unverhofft in einem Schiffe aufgenommen worden, das für Byzanz befrachtet war, aber das Unglück hatte, von einem Sturm an die Thracische Küste geworfen zu werden, und nicht weit von Abdera zu scheitern. Diagoras, der sich durch Schwimmen ans Land gerettet hatte, erinnerte sich jetzt seines Freundes Demokritus, bei welchem er Rath und Unterstützung zu finden gewiß war: als er sich aber zu Abdera nach ihm erkundigte, hieß es, er sey schon vor geraumer Zeit weggezogen, ohne daß man wisse was aus ihm geworden sey. Zu gutem Glücke traf er auf einen seiner ehmaligen Jugendfreunde, der indessen ein bedeutender Mann in Abdera geworden war, und sich seiner sehr lebhaft annahm. Das Decret der Athener war auch hier bereits angekommen, und von den Abderiten, zum Beweis ihres Eifers für die Sache der Götter, öffentlich bekannt gemacht worden. Da sich nun leicht jemand finden konnte, der die ausgesetzte Belohnung hätte verdienen mögen, so verbarg ihn sein Freund sorgfältig auf einem seiner Landgüter im Macedonischen; und weil Diagoras keinen andern Wunsch mehr hatte, als sein übriges Leben in gänzlicher Verborgenheit zuzubringen, kamen sie nach Verfluß einiger Zeit auf den Gedanken, ihm in Thessalien, auf einem der wildesten und unzugangbarsten Theile des Ossa, wo ihn niemand suchen würde, eine Wohnung zu verschaffen. Es fand sich eine geräumige Felsenhöhle, welche mit geringer Mühe zu einer Einsiedlerei, wie er sie nöthig hatte, zugerichtet werden konnte, und in ein von steilen Klippen [120] umgürtetes Thal auslief, wo er sich mit Anpflanzung und Wartung eines Gartens beschäftigen konnte. Das ganze Wesen wurde der Gemeine des nächstgelegnen Dorfes, deren Eigenthum dieser Theil des Gebirges ist, abgekauft, und Diagoras, unter dem Namen Agenor, mit einer Thracischen Sklavin, die ihm sein Freund überließ, in den Besitz desselben gesetzt. Agenor gilt (wie er mir sagte) unter den benachbarten Hirten und Landleuten, einer dem Thessalischen Volke gemeinen Vorstellungsart zufolge, für einen mächtigen Zauberer, in dessen Ungnade zu fallen jedermann sich sorgfältig hütet; und er läßt sie um so lieber in diesem Wahn, da er sich, durch die gute Wirkung einiger von Demokritus gelernten Heilungsmittel für Menschen und Vieh, ihr Zutrauen erworben hat. Auch seine Unsichtbarkeit trägt zu der Ehrfurcht, die der Name Agenor einflößt, das Ihrige bei; denn niemand kann sich rühmen, ihn jemals in der Nähe gesehen zu haben, und alles, was er mit ihnen zu verkehren hat, geht durch den Mund und die Hände seiner getreuen Sklavin.

Diagoras verlangte von mir zu hören, ob zur Zeit meines Aufenthalts in Athen noch die Rede von ihm gewesen sey, und was für eine Vorstellung ich mir, nach den Gerüchten die über ihn herumgegangen, von ihm gemacht hätte. Ich antwortete, alles, was ich für und wider ihn gehört, wäre mir so übel zusammenhangend und widersinnisch vorgekommen, daß ich, in der Ungewißheit was ich davon denken sollte, nur die vermeinte Unmöglichkeit beklagt hätte, die Wahrheit von ihm selbst zu erfahren. So hätte ich z.B. die Sage von der wahren Ursache seiner Atheisterei gar zu [121] ungereimt gefunden, – O, die möcht' ich doch hören, fiel er mir ins Wort; ich bitte dich, was sagte die Sage? – »Es hieß, die eigentliche Veranlassung zu deiner erklärten Feindschaft gegen die Götter sey ein Rechtshandel gewesen, in welchen du mit einem gewissen Menschen gerathen, der dir ein ihm anvertrautes Gedicht unterschlagen und den Empfang desselben mit einem förmlichen Eide vor Gericht abgeläugnet, aber, nachdem er frei gesprochen worden, das Gedicht als sein eigenes Werk mit großem Beifall bekannt gemacht habe. Dieser Handel, sagte man, hätte dich so tief gekränkt, daß du den Göttern nicht hättest verzeihen können, daß sie nicht auf der Stelle ein Zeichen an dem Meineidigen gethan; kurz, das erlittene Unrecht hätte dich in deinem Glauben so irre gemacht, daß du endlich auf den Gedanken verfallen seyest: da die Götter, wofern Götter wären, einen solchen Frevel unmöglich ungestraft lassen könnten, so müßten nur gar keine Götter seyn. Das ist lustig, sagte Diagoras: man muß gestehen, für ein so witziges Volk, wie die Athener sind, räsonniren sie zuweilen erbärmlich; und überhaupt ist nichts so ungereimt, das sie sich nicht weiß machen ließen, sobald es auf andrer Leute Kosten geht. Fürs erste, habe ich in meinem Leben (wenigstens seitdem ich nicht mehr in die Schule gehe) nichts gemacht das einem Gedicht ähnlich sähe. Hätte ich aber auch das Talent, Verse zu machen die gestohlen zu werden verdienten, so würde ich, anstatt den Dieb gerichtlich zu belangen, mein Recht an sie dadurch bewiesen haben, daß ich noch bessere gemacht hätte. Und gesetzt endlich, ich hätte mich in der ersten Hitze zu einem Rechtshandel gegen [122] den Räuber hinreißen lassen, so würde ich wenigstens nicht so albern gewesen seyn, zu verlangen daß Jupiter, – der, um den Erdboden nicht gänzlich zu entvölkern, so viele tausend falsche Eide ungestraft lassen muß, – nun gerade meiner Verse wegen eine Ausnahme machen sollte. Wahrlich wäre der sparsame Gebrauch der Donnerkeile, und die Art, wie die Welt regiert wird, überhaupt die schwächste Seite der Götter, sie würden von mir immer unangefochten geblieben seyn! Denn ich wüßte wirklich nicht wie sie es angreifen müßten, um die ungeheure Menge von Narren, Thoren und Schelmen, womit die Erde überdeckt ist, besser zu regieren, als wir im Ganzen regiert werden; aber eben daraus, daß wir so gut regiert werden, als es unsre Narrheit und Verkehrtheit nur immer zuläßt, schließe ich, die Welt werde nicht von unsern Göttern regiert. Denn, nach der Probe zu urtheilen, die sie in Homers Ilias abgelegt haben, müßte es noch zehnmal toller zugehen, wenn die Zügel der Weltregierung in den Händen so selbstsüchtiger, launischer, ungerechter, stolzer, rachgieriger, wollüstiger und grausamer Despoten lägen, als der alte Sänger uns diese nämlichen Götter schildert, die in allen Städten Griechenlands Tempel, Altäre und Priester haben. Ich sagte ihm: auch mir wäre jene Sage von der Ursache seines Götterhasses zu lächerlich vorgekommen, um den mindesten Glauben zu verdienen. Aber was ich mir nicht zu erklären gewußt hätte, wäre der Hang zu den geheimen Gottesdiensten, der bei ihm (wie man versichert) ehmals bis zur Leidenschaft gegangen sey. Es war eine Zeit, sagt man, wo Diagoras im Glauben an Theophanien 68, Orakel und Wunderdinge aller Art eher zu [123] viel als zu wenig that, und man weiß daß er den größten Theil seines Vermögens aufgeopfert hat, um in der ganzen bewohnten Welt herumzureisen, und sich in alle Mysterien, so viele er deren ausspähen konnte, einführen zu lassen. Wie ein Mann, der die Religiosität bis zu diesem Grade von Schwärmerei getrieben, auf einmal zum entgegen gesetzten Aeußersten habe überspringen können, schien etwas so Unnatürliches, daß man sich geneigt fühlte, selbst die ungereimteste Erklärung, die ein solches Wunder einigermaßen begreiflich machte, für gut gelten zu lassen.

Dir, versetzte Diagoras, hoffe ich, ohne deiner Vernunft etwas Ungebührliches zuzumuthen, ziemlich begreiflich zu machen, wie ich gerade durch die vollständigste Befriedigung der besagten Schwärmerei zu dem Atheism gekommen bin, dessen ich mit und ohne Grund, je nachdem man's nimmt, beschuldiget werde. Alle Menschenkinder kommen, denke ich, mit mehr oder weniger Hang zum Wunderbaren auf die Welt. Bei mir äußerte sich dieser Naturtrieb von früher Jugend an sehr lebhaft, aber mit einer Gegenwirkung verbunden, die ihm alle seine Schädlichkeit benahm. Ich horchte nämlich mit dem größten Vergnügen auf alle Erzählungen dieser Art; Milesische Mährchen, Zauber- und Gespenstergeschichten, theurgische Wunder, Theophanien, und alle die übernatürlichen Dinge, die sich täglich ereignet haben sollen als die Götter noch unter den Menschen wandelten, und die Erde mit ihren Söhnen und Töchtern erfüllten, kurz, alle diese Kindereien, wovon die Griechen immer so große Liebhaber waren, hatten auch für mich einen ungemeinen Reiz; aber ich glaubte kein [124] Wort davon. Sie belustigten und beschäftigten bloß meine Einbildungskraft und meinen Witz; jenes desto mehr, je unglaublicher sie waren; dieses, indem sie mich zum Nachdenken anreizten, wie es mit diesen Dingen natürlich habe zugehen können, d.i. woher wohl die dabei vorwaltende Täuschung gekommen, und wie es möglich gewesen, solche Albernheiten selbst den einfältigsten Menschen weiß zu machen. Diese Anlage bei mir vorausgesetzt, wird dir alles Uebrige sehr begreiflich werden. Ich hatte von Kindheit an viel von Orakeln, besonders von dem zu Delphi, gehört; als ich heran gewachsen war, hörte ich auch zuweilen, wiewohl immer mit geheimnißvoller Zurückhaltung, von den Eleusinischen und andern Mysterien reden. Dieses Geheimthun der Eingeweihten reizte meinen Vorwitz, hinter die wunderbaren Dinge zu kommen, die, wie ich nicht zweifelte, in diesen Mysterien zu sehen und zu hören seyn müßten. Ich versuchte es auf alle Weise, fand aber, daß ich auf keinem andern Wege zu meinem Zweck gelangen würde, als wenn ich mich selbst in diesen geheimen Gottesdiensten iniziiren ließe. An Gelegenheiten dazu konnte mir's nicht fehlen. Mein Vater war einer der ansehnlichsten Handelsleute in Melos. Er schickte von Zeit zu Zeit Schiffe nach den vornehmsten Häfen des Aegeischen, Ionischen und Karpathischen Meeres, und hatte allenthalben Correspondenten, mit denen er in gastfreundlicher Verbindung stand. Frühzeitig mit dieser Art von Geschäften bekannt gemacht, wurde ich von meinem zwanzigsten Jahre an, unter der Führung eines alten Dieners bald dahin bald dorthin verschickt. Diese Reisen gaben mir Gelegenheit, mich mit den Orgien von Lemnos, [125] Kreta und Cypern bekannt zu machen: aber was ich dadurch erfuhr, war so unbedeutend, daß es zu nichts diente, als meine Begierde nach wichtigern Entdeckungen desto stärker anzufeuern. Ich machte mir einen Plan, meine Nachforschungen bei den Priestern zu Memphis und Sais (welche nach dem gemeinen Wahn der Griechen in uraltem Besitz einer geheimen theurgischen Weisheit sind) anzufangen, sodann die von ihnen nach und nach zu den Persern, Syrern, Phöniciern und Griechen übergegangenen Mysterien auf dem Wege den sie genommen zu verfolgen, und nicht eher zu ruhen, bis mir in diesem Fache nichts mehr zu ergründen übrig wäre. Ich führte diesen Plan aus, sobald ich durch den Tod meines Vaters das Vermögen dazu bekam. Ich brachte mehrere Jahre damit zu; und da wir natürlicherweise nach dem, was an uns in die Augen fällt, beurtheilt werden, so konnt' es nicht fehlen daß ich mir durch eine so ungewöhnliche Anwendung meiner Zeit und meines Vermögens den Ruf eines bis zur Schwärmerei religiösen Menschen zuzog; einen Ruf, den ich selbst, so lang' er meinen Absichten beförderlich seyn konnte, auf alle Weise zu unterhalten beflissen war.«

»Auf der letzten Reise, die ich zu Vollendung meines Plans zu machen hatte, ward ich zufälligerweise mit dem berühmten Abderiten Demokritus bekannt, den eine ähnliche Wißbegierde seit vielen Jahren in der Welt herum trieb; nur daß seine Absicht mehr auf Naturgeschichte, und auf die physischen, astronomischen und medicinischen Geheimnisse der Aegyptischen Priester, Magier und Orphiker, als auf die religiösen gerichtet war. Wer die Mitbürger dieses außerordentlichen [126] Mannes kennt, sollte glauben, sein Genius habe Mittel gefunden, sich alles Verstandes, den die Natur unter die Bewohner von Abdera vertheilen wollte, für ihn allein zu bemächtigen. Mir wenigstens ist unter so vielen merkwürdigen Männern, deren Bekanntschaft zu machen meine Reisen mir Gelegenheit verschafften, keiner vorgekommen, der mit einem so hellen und so viel umfassenden Geist einen so unermüdeten Fleiß in Erforschung der Natur, und mit beidem so viel Gutlaunigkeit und Anmuth im Umgang vereinigte wie Demokritus. Von der ersten Stunde unsrer Bekanntschaft an fühlte ich mich so stark von ihm angezogen, daß ich nie wieder von ihm getrennt zu werden wünschte; und auch er faßte so viele Zuneigung für mich, daß er mir nicht nur erlaubte ihn auf seinen übrigen Wanderungen zu begleiten, sondern auch Vergnügen daran fand, mich in seinen eigenen Mysterien einzuweihen, welche mir, wie du gerne glauben wirst, eine ganz andere Befriedigung gaben als die priesterlichen, womit ich einige der besten Jahre meines Lebens vertändelt hatte. Die Bekanntschaft mit diesem Manne hätte mir viel Ungemach und die Nothwendigkeit, mein Daseyn in einer Felsenkluft zu verheimlichen, ersparen mögen, wenn ein Mensch seinem Schicksal entgehen könnte, oder richtiger zu reden, wenn ich meinen Eifer, die Menschen vernünftiger zu machen als sie zu seyn fähig sind, im Zaume zu halten gewußt hätte.«

Was du mir da sagst, fiel ich ein, setzt mich desto mehr in Verwunderung, da ich nach dem Ruf, worin Demokritus steht, eher alles andere als einen Sachwalter der Götter von ihm erwartet hätte.

[127] Der war er denn auch so eigentlich nicht, versetzte Diagoras; aber er hatte sich über diesen Punkt ein System gemacht, wobei er seine Vernunft zu retten glaubte, ohne mit den Priestern und Mystagogen, die den Glauben an ihre Götter und Mysterien zu einer Bürgerpflicht zu erheben gewußt haben, jemals in offne Fehde zu gerathen.

Du würdest mich verbinden, sagte ich, wenn du mich mit seiner Denkart über diesen Gegenstand näher bekannt machen wolltest. – Dieß kann nicht besser geschehen, erwiederte Diagoras, als wenn ich dir eine Unterredung mittheile die über diese Materie zwischen uns vorfiel.

Du bist, sagte Demokritus zu mir, vermuthlich der einzige Mensch in der Welt, der so viel Zeit und Geld aufgewandt hat, um hinter die Geheimnisse der Priesterschaft zu kommen: darf ich fragen, was der reine Gewinn deiner Entdeckungen ist? – Immer so viel (war meine Antwort) daß ich die Unkosten nicht bereue. Ich weiß nun mit einer Gewißheit 69, die ich schwerlich auf einem andern Weg erlangt hätte: daß Götter und Priester Synonymen sind; daß alle unsre Götter (die bloß allegorischen ausgenommen) Menschen waren, die ihre Standeserhöhung und den ihnen angewiesenen Antheil an der Weltregierung den Priestern, durch welche sie regieren, zu danken haben; und daß der Tartarus mit allen seinen Feuerströmen und Schreckgespenstern, so wie die Inseln der Seligen mit aller ihrer Wonne, schlaue Erfindungen sind, wodurch die Priesterschaft sich der beiden mächtigsten Leidenschaften und durch sie der Herrschaft über die Welt bemächtigt hat. Ich begreife nun wie der Götter und der Menschen Vater [128] Zeus zu Kreta geboren und begraben seyn kann; warum Delos die Wiege des Apollo und der Artemis ist, und woher die unendliche Menge von Söhnen und Töchtern kommt, womit unsre Götter und Göttinnen die ganze Hellas so überschwänglich bevölkert haben, daß keine alte Familie ist, die ihr Stammregister nicht mit irgend einem göttlichen Bastard anzufangen die Ehre hätte. Ich begreife nun, warum eine Religion, die in sich selbst so übel zusammenhängt, und deren höchstes Geheimniß ist daß die Götter Nicht-Götter sind, so wenig zur Veredlung der Menschheit beitragen kann. Und wenn auch das alles nicht wäre (setzte ich hinzu) rechnest du etwa für nichts, daß ich weiß wohin Isis ihren Sohn Horus vor dem wüthenden Typhon verbarg, was das alte Mütterchen Baubo der Ceres zeigte, um sie in der höchsten Betrübniß zum Lachen zu bringen, und was in dem verdeckten Korbe war, den Pallas Athene den Töchtern des Cekrops in Verwahrung gab? – O gewiß, versetzte Demokritus lachend, zu diesen Wissenschaften hättest du schwerlich auf einem andern Wege gelangen können; aber alles übrige war wohlfeiler zu haben. – Ich muß bekennen, sagte ich, daß mir die Wissenschaft – nichts oder was wenig besser als nichts ist, zu wissen, hoch genug zu stehen kommt; zumal, da mir, bei aller Aufklärung die ich über unsre Mysterien erhalten habe, der Hauptpunkt noch immer unbegreiflich geblieben ist. – Was könnte dieß wohl seyn? fragte Demokritus. – Weiter nichts, als wie es möglich ist, daß bei der unendlichen Menge von – Iniziirten, es noch einen einzigen vernünftigen Menschen geben kann, der sich durch ein so grobes Gewebe von [129] Betrug, Gaukelei, Kindermährchen und Kinderpossen, wie die Religion unsrer Väter ist, noch einen Augenblick täuschen lassen kann. Denn wirklich thut die Priesterschaft ihr Möglichstes uns die Augen zu öffnen. – Ich sehe, erwiederte er, daß du mit allen deinen Nachforschungen noch immer nicht auf den Grund der Sache gekommen bist. Wir machen uns fast allemal einer Ungerechtigkeit schuldig, wenn wir irgend etwas Menschliches, sey es – Glaube, Gewohnheit, Sitte, oder – Lehre, Gesetz, Institut, eher für ganz ungereimt und verwerflich erklären, bevor wir unbefangen erforscht haben, ob es nicht in seinem Ursprung, zu seiner Zeit und in seiner ersten Gestalt, gut, schicklich und zweckmäßig war. Ich bin gänzlich deiner Meinung, daß der Gebrauch, den die Priesterschaft heutzutage von ihren Orakeln und Mysterien macht, die Verachtung, die du dagegen gefaßt hast, mehr als zu sehr rechtfertigt: nichtsdestoweniger scheinen mir beide zur Zeit ihrer Einsetzung schickliche Mittel zu einem löblichen Zweck gewesen zu seyn, und um dieser Ursache willen einige Schonung zu verdienen. Die undurchdringliche Finsterniß, die auf der ältesten Geschichte aller Völker liegt, hat mich nicht abgeschreckt, in den Alterthümern des unsrigen so weit zu forschen als irgend ein hier und da hervorbrechender Lichtpunkt mir vorzudringen erlaubte. Dem, was ich darin wahrzunehmen glaubte, zufolge, nehme ich drei verschiedene Epochen an, in welchen unsre Volksreligion sich nach und nach zu dem, was sie noch zu unsrer Väter Zeit war, gestaltet hat. Denn über das, was sie jetzt ist, sind wir, denke ich, ziemlich einverstanden. Der erste dieser Zeitpunkte ist der, da unser Land noch von ganz rohen Naturmenschen, [130] oder richtiger gesagt, Thiermenschen bewohnt war. So lange der Mensch auf dieser untersten Stufe steht, kann man von ihm so wenig, als von irgend einem andern Thiere, sagen, daß er eine Religion habe: es ist etwas der Religion Aehnliches, wie man einigen Thieren etwas der Vernunft Aehnliches zuschreibt. Ein dumpfes Gefühl der gewaltigen, ihm unbegreiflichen Kräfte der Natur, das bei ungewöhnlichen, vorzüglich bei furchtbaren Naturbegebenheiten in ihm erregt wird, ist der rohe Stoff, woraus der finstre, schwermüthige und schreckhafte Aberglaube, in welchem wir die Kindheit des Menschengeschlechts befangen sehen, sich nach und nach hervorarbeitet. Das Wort Deisidämonie scheint in unsrer Sprache ganz eigentlich für diesen Zustand gemacht zu seyn; etwas Bestimmteres von der besondern Gestalt, welche dieser noch so sehr unförmliche, dem Zufall und einer ungebändigten Einbildungskraft gänzlich überlass'ne Dämonism 70, unter den Autochthonen 71 unsers Landes angenommen haben mag, weiß ich nicht zu sagen.

Die zweite Epoche scheint mir die ebenfalls unbestimmbare, uralte Zeit zu seyn, da die Titanen, vermuthlich vom Kaukasus her, sich eines großen Theils der nachmaligen Hellas bemächtigten, und ein Reich stifteten, das von keiner langen Dauer gewesen zu seyn, aber doch den ersten Grund zur Civilisirung dieser Gegenden gelegt zu haben scheint. Durch die Länge der Zeit mußte unter einem Volke, dem die Kunst, Gedanken und Worte mittelst einer leichten Art von Bezeichnung zu verkörpern und festzuhalten, noch unbekannt war, die Geschichte der Titanen, durch bloße mündliche Ueberlieferung [131] fortgepflanzt, nach und nach zu Sagen, und, durch eine Kette von Veränderungen, Revolutionen und zufälligen Ursachen aller Art, endlich zu Volksmährchen werden, wovon unsre übelzusammenhängende ältere Götter-und Heroengeschichte ein verworrenes Chaos ist. Unzählige Spuren setzen indessen ihr ehemaliges Daseyn und ihre Verdienste um die ältesten Bewohner Griechenlands außer allen Zweifel. Mit ihnen kamen die zu einem menschlichen Leben unentbehrlichen Künste zuerst in diese Gegenden; und, aller Wahrscheinlichkeit nach, schreibt sich auch die Einführung der ältesten Religion des obern Asiens, die Verehrung des Himmels und der Erde, der Sonne und des Mondes von ihnen her. Wie es nun zuging, daß in der Folge die Titanen selbst für Söhne des Himmels und der Erde gehalten und kraft eines Erbrechtes, das ihnen von niemand streitig gemacht wurde, theils an die Stelle der Sonne und des Mondes, theils in den Besitz der Oberherrschaft über Luft und Erde, Wasser und Feuer gesetzt, theils, als die Urheber der ersten Anfänge des bürgerlichen Lebens, des Feldbaues und der dazu nöthigen Künste, lange nach ihrem Tode göttlich verehrt wurden; ingleichem wie die Regierungsveränderungen, die sich in diesem vergötterten Geschlechte ereignet haben sollen, zu erklären sind, übergehe ich, als zu dem, wovon jetzt die Rede ist, nicht gehörig, und bemerke nur, daß die spätern Aegyptischen und Phönicischen Stifter oder Wiederhersteller der Städte Athen und Theben, Cekrops und Kadmus, als sie nach Griechenland kamen, unsre vornehmsten Götter, Zeus und Here, Poseidon, Apollo und Artemis, Pallas Athene und Aphrodite, Demeter und Persephone,[132] Ares, Hermes und Hephästos (sämmtlich aus dem Titanengeschlechte) vermuthlich schon im Besitz der öffentlichen Anbetung gefunden und um so mehr ungestört darin gelassen haben, da sie ihre eigenen Götter, nur unter andern Namen, in ihnen wiederfanden; wiewohl ich nicht zweifle, daß ein großer Theil der Verwirrungen und Widersprüche, die in der Genealogie und Geschichte der Griechischen Götter herrschen, sich von den mannichfaltigen Vermischungen älterer und späterer, einheimischer und ausländischer Sagen herschreibt, wozu die fremden Colonisten die Veranlassung gegeben haben mögen. Nichtsdestoweniger setze ich die dritte Epoche unsers alten Religionswesens in die Zeit des Aegyptiers Cekrops, insofern ich ihn als den wahren Stifter der Eleusinischen Mysterien betrachte, von welchen alle übrigen, (die Aegyptischen des Osiris und der Isis, welche jenen selbst zum Muster dienten, ausgenommen) bloße Nachahmungen sind. Bis dahin war die Religion unsrer theils wild gebliebenen, theils nach und nach wieder verwilderten Griechen bloße Deisidämonie gewesen; und wiewohl zu glauben ist, daß wenigstens die Schutzgötter jedes Volkes, Stammes und Ortes schon lange vor Cekrops und Kadmus öffentliche Altäre, Tempel und Priester hatten, so findet sich doch keine Ursache, auch nur zu vermuthen, daß man bei den Opfern und Gelübden, die man ihnen darbrachte, etwas anders abgezielt habe, als sich ihrer Gnade und ihres Schutzes zu versichern, oder ihren Zorn, welchem man alle physischen und moralischen Uebel zuschrieb, zu besänftigen. Der Glaube, daß Zeus selbst unmittelbarer Schirmherr des gastlichen Rechts und Rächer des Meineides [133] sey, und daß jeder, sogar unvorsetzliche Mord von den Erinnyen rastlos verfolgt werde, war damals alles, was die Religion zu Beförderung der Humanität unter den ungeschlachten Horden, welche nach und nach mit vieler Schwierigkeit zum bürgerlichen Leben vermocht worden waren, beitrug. Aber die neuen Gesetzgeber fanden (den Begriffen gemäß, die sie aus ihrem Lande mitgebracht), theils zur Erhaltung und Aufnahme ihrer neuerrichteten Colonien, theils überhaupt zur Befestigung der bürgerlichen Ordnung unter einem ungeschlachten Volke nöthig, das schwache Ansehen der Gesetze durch den Glauben zu stützen, »daß die Götter unmittelbare Kundschaft von dem Thun und Lassen der Menschen nehmen, und, nicht zufrieden schon in diesem Leben die Bösen zu strafen und die Guten zu belohnen, auch die Seelen der Verstorbenen vor ein unerbittlich strenges Gericht forderten, und je nachdem sie entweder unsträflich gelebt, oder sich mit noch ungebüßten Ver brechen befleckt hätten, in jenem Falle in einen wonnevollen Zustand versetzten, in diesem durch die schrecklichsten Peinigungen zur Strafe zögen.« Diese Lehre, dem Volk als Glaubenspunkte bloß durch mündlichen Vortrag eingeschärft, würde wenig Eindruck gemacht haben: aber durch die Mysterien symbolisirt, und unter einer Menge Ehrfurcht gebietender Feierlichkeiten den Sinnen selbst unmittelbar dargestellt, mußte sie auf äußerst sinnliche und abergläubische Menschen, die man in den unterirdischen Wölbungen des Tempels zu Eleusis durch künstliche Täuschungen erst in den Tartarus, dann in die Elysischen Haine versetzte, die größte Wirkung thun. Du wirst nicht vergessen haben, Diagoras, wie [134] dir selbst, trotz deinem Unglauben, dabei zu Muthe war, und du kannst von dem Eindruck, den das, was du hörtest und sahest, auf deine Einbildung machte, auf denjenigen schließen, den solche Anschauungen auf ungebildete Menschen machen mußten, die sich nicht, wie du, in ein Schauspiel, sondern übernatürlicher Weise in die wirkliche Unterwelt versetzt glaubten. Ich gestehe, sagte ich, daß sich, bei dem feierlich langsamen Durchgang durch die labyrinthischen Windungen des Tartarus, über das was ich hörte, und in einer durch zuckende Blitze und wirbelnde Rauch- und Flammenwellen erleuchteten sichtbaren Dunkelheit zu sehen glaubte, alle Haarspitzen auf meinem Kopfe und an meinem ganzen Leibe empor richteten. Aber freilich wird der Eindruck, den dieß allenfalls auf ein weiches Gemüth machen könnte, durch den geheimen Unterricht, den man bei der zweiten großen Weihe empfängt, wieder rein ausgelöscht. Daher, sagte Demokritus, wurden ehmals keine andern zu dieser hohen Weihe zugelassen, als Männer, die man stark genug glaubte starke Wahrheiten zu ertragen, und edel genug, sie gehörig zu gebrauchen. Ueberdieß zweifle ich nicht, daß die zweite Initiation bei den Eleusinischen Mysterien in ihrem Ursprung entweder noch gar nicht stattgefunden, oder wenigstens eine andere, der Einfalt jener Zeiten angemessenere Beschaffenheit gehabt habe.

Wenn ich dir alles zugebe, versetzte ich, was du mit vieler Scheinbarkeit von den drei Epochen der Religion unserer Väter gesagt hast, was gewinnt sie dabei in ihrem dermaligen Zustande? Wir leben in einer vierten Epoche, wo kein gebildeter Mensch mehr an Götter glaubt die nie gewesen sind, [135] und unsre eben so ungläubigen Priester, mit den reichen Einkünften, die jedem sein Gott verschafft, zufrieden, sich eher um alles andere bekümmern, als um den sittlichen Einfluß, den die Religion auf das Gemüth der Menschen haben könnte.

Es sollte mir nicht schwer seyn, dir beides streitig zu machen, erwiederte Demokritus: aber, wenn ich dir auch gestehe, daß mir gerade kein Priester beifällt, den ich deiner Behauptung entgegenzustellen wagen möchte; so ist doch die Anhänglichkeit des großen Haufens an den Glauben ihrer Voreltern noch immer so augenscheinlich, daß ich niemand rathen wollte, ihn auf die Probe zu setzen. Sogar unter den ersten Männern unsrer Zeit kenne ich mehr als Einen, der so stark als seine Großmutter an Orakel, Vögel und Opferlebern glaubt, vor einer Mondfinsterniß oder einer Doppelsonne wie vor einem Unglückszeichen erschrickt, und mit dem größten Ernst einem ganzen Senat oder den versammelten Befehlshabern eines Kriegsheers erzählt, was ihm diese Nacht geträumt hat. Macht dieß die Sache unserer Priester nicht besser, so beweiset es wenigstens: daß unser alter Volksglaube noch bei weitem nicht so unwirksam ist als du dir einzubilden scheinst; und ich ziehe daraus die Folge, daß es, sowohl für einzelne Personen als für den Staat selbst, gefährlich wäre, sich über diesen Punkt zu täuschen. So lange die Religion, die bei Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft eines der stärksten Bande der Ordnung und Sittlichkeit war, in dieser Eigenschaft noch nicht alle Kraft verloren hat, soll sie, denke ich, von den Weisen geschont und geachtet werden; wie löblich und nöthig es auch übrigens ist, den Aberglauben durch kluge [136] Verbreitung richtiger Begriffe von der Natur der Dinge nach und nach der maßen zu entkräften, daß er, wie die Spulwürmer durch gewisse Arzneien, zuletzt unvermerkt und ohne Beschwerde, gleichsam von selbst von den Menschen abgeht. Du erlaubst mir alles, erwiederte ich, indem du mir das Recht zugestehst gegen den Aberglauben zu arbeiten. Denn was ist unsre Volksreligion anders als der gröbste und lächerlichste Aberglaube? Ich läugne nicht, daß er noch wirksam ist; aber daß er den wohlthätigen sittlichen Einfluß, den er ehemals gehabt haben soll, noch in unsern Tagen habe, das ist was ich ihm gänzlich abspreche. Was hilft z.B. der Glaube an Zeus den Rächer des Meineides? Der ehrliche Mann schwört keinen falschen Eid, nicht weil er den Donner des Horkios 72 fürchtet, sondern weil er ein ehrlicher Mann ist; und wer es nicht ist, sieht so viele Meineidige unangedonnert herumgehen, und findet überdieß bei den Priestern so viel Bereitwilligkeit ihn für die Gebühr mit Jupiter Horkios auszusöhnen, daß die Furcht vor seinen Donnerkeilen ihn keinen Augenblick zurückhält. Der noch immer im Schwange gehende Glaube an die Orakel, und die Vorbedeutungen die man aus den Eingeweiden der Opferthiere nimmt, ist, wenigstens auf Seiten unsrer bürgerlichen Obrigkeiten und Kriegsbefehlshaber, pure Heuchelei, und kann also weder Gehorsam gegen göttliche Winke noch Zuversicht auf göttlichen Beistand wirken. Man hat schon lange Mittel gefunden, die Pythia sagen zu lassen was man will; oder ihre Aussprüche sind so geflissentlich räthselhaft und vieldeutig, daß man sie nach eignem Gefallen deuten kann; und wenn die Milzen und Lebern der Opferthiere nicht günstig sind, so [137] schlachtet man so lange andre, bis die Vorbedeutung endlich nach Wunsch ausfällt. Demokritus behauptete: in den Händen kluger Regenten und Heerführer könne dieser Aberglaube, so lang' er noch seine Wirkung auf die Menge thue, in vielen Fällen den glücklichen Ausgang einer Unternehmung entscheiden, oder großes Unheil verhüten; und was ich ihm auch entgegen hielt, immer kam er auf den Grundsatz zurück: es sey unweislich gehandelt, ein durch die Länge der Zeit ehrwürdig gewordenes Institut zu vernichten, bevor man gewiß sey, etwas Besseres an seine Stelle gesetzt zu haben. Ist das Bessere wirklich da, sagte er, so wird das Schlechtere von selbst fallen. Wer wird fortfahren wollen, in einem morschen, täglich den Einsturz drohenden Hause zu wohnen, wenn es nur auf ihn ankommt, ein bequemeres neugebautes zu beziehen? Aber ehe man sich Wetter und Winden unter freiem Himmel preisgibt, behilft man sich lieber in einem baufälligen Hause, und stützt und flickt so lange daran als es gehen will.

Da es bei Streitigkeiten dieser Art beiden Theilen nie an Antwort fehlt, so erneuerten wir den Kampf bei jeder Gelegenheit, und Demokritus, der mir ernstlich wohl wollte, gab sich viele Mühe, mich zu bewegen, daß ich dem Gedanken, den Göttern und Priestern öffentlich den Krieg anzukündigen, auf immer Abschied geben möchte. Aber der Haß, den die Betrügereien der letztern und der vielfache Mißbrauch ihres Einflusses auf den großen und kleinen Pöbel in mir angezündet hatten, war ein Feuer, das sich nicht lange heimlich im Busen herum tragen ließ; und kaum hatte ich mich von meinem weisern Freunde wieder getrennt, so warf ich die Larve, [138] die zu meinem Zwecke bisher nöthig gewesen war, von mir, und zeigte mich überall in meiner wahren Gestalt. Alles was seine Warnungen über mich gewonnen hatten, war, daß ich anfangs mit einiger Behutsamkeit zu Werke ging. Indem ich alle Arten von Aberglauben theils zu untergraben, theils geradezu lächerlich zu machen suchte, schonte ich wenigstens die Polias 73 zu Athen, die Juno zu Argos und Samos 74, den Apollo zu Delphi 75, und Jupitern überall 76. Nirgends gelang mir dieß besser als zu Athen, wo der glückliche Erfolg des ungezügelten Muthwillens, womit Aristophanes 77 Götter und Menschen dem Gelächter des Pöbels preisgab, mich aufmunterte, mir größere Freiheiten herauszunehmen. Wirklich können die Athener, denen ein witziger Einfall über alles geht, viel mehr ertragen als andere Griechen, und so lange ich mich begnügte über Götter, Orakel und Orgien nur zu scherzen, ließ man meine Einfälle für absichtlose Ergießungen einer komischen Laune gelten, wobei mehr Unbesonnenheit als böser Wille sey. Als ich aber immer kühner ward, und meine Lehrsätze und Meinungen, nicht nur in vertrautern Gesellschaften sondern sogar auf öffentlichen Versammlungsplätzen, in einem ernsthaften Tone zu behaupten anfing; geschah, was ich hätte voraussehen können, und was mir Demokritus mehr als einmal vorher gesagt hatte. Ich bekam zwar einen Anhang von Jünglingen, für welche die bloße Kühnheit einer Philosophie, die sich über alle Vorurtheile hinwegsetzt, und auf das, was andern das Ehrwürdigste ist, mit tiefer Verachtung herabsieht, schon die Kraft des vollständigsten Beweises hatte: aber gerade dieser Umstand verschlimmerte meine Sache in den [139] Augen der Alten. Die Priester fingen an zu murren, und ehe ich mir's versah, erklärte sich beinahe ganz Athen gegen den Melier 78, der die Vermessenheit hatte, von Göttern, welche ein uralter Besitz gegen alle Beeinträchtigungen sicher stellte, zu fordern, daß sie die Titel der Rechtmäßigkeit desselben vorzeigen sollten. Zu allem diesem kam endlich noch das bekannte Unglück meiner armen Vaterstadt, und unfehlbar würde ich den Haß, den die Athener (um ihr ungerechtes und grausames Verfahren – vor sich selbst zu rechtfertigen) auf alle Melier geworfen hatten, desto schwerer gebüßt haben, wenn mein gutes Glück mir nicht wenige Tage vor dem Ausbruch des Ungewitters, das sich seit einiger Zeit über mir zusammenzog, einen Weg zur Flucht eröffnet hätte. Denn ich wurde gleich nach meiner Entfernung von den Eumolpiden 79 gerichtlich angeklagt, die heiligen Mysterien verrathen, und die Jugend von der Initiation abgehalten zu haben. Beide Beschuldigungen wurden gerichtlich erwiesen, und hätten in der That nicht geläugnet werden können; und so würde, anstatt daß ich jetzt in dieser stillen Freistätte sicher athme, der Sturz in das furchtbare Barathron 80 mein Loos gewesen seyn, wenn ich mich nicht lieber auf die Behendigkeit meiner Fersen verlassen hätte, als auf die Güte meiner Sache, von welcher ich meine Richter schwerlich hätte überzeugen können.

Diagoras endigte hier seinen Bericht, und du wirst vermuthlich gern sehen, daß ich ebenfalls eine Pause in meiner Erzählung mache.


[140] Ich wage es, lieber Kleonidas, in Hoffnung dir durch die Länge dieser Epistel nicht lästig zu seyn, in meiner angefangenen Erzählung fortzufahren. Sollte sie dich nicht müßig genug antreffen, um sie nicht zu lang zu finden, so kannst du sie ja bei Seite legen. Es gibt auch in dem thätigsten und genußreichsten Leben doch zuweilen eine Stunde, mit der man nichts anzufangen weiß, und es müßte nicht gut seyn, wenn sie dir in einer solchen Stunde nicht einige Unterhaltung verschaffen könnte.

Mein alter Wirth schien sich das Betragen, welches ihm die Verbannung aus allen Griechischen Staaten zugezogen hatte, so wenig gereuen zu lassen, und sich bei seiner Ohngötterei so wohl zu befinden, daß mir nicht einfallen konnte, ihn darüber anzufechten. Meine Denkart über diese Dinge ist ungefähr dieselbe, wozu der Weise von Abdera ihn vergeblich zu bereden gesucht hatte. Es würde zu nichts geholfen haben, die seinige mit den nämlichen Gründen zu bestreiten; zumal da er, in seiner gegenwärtigen Abgeschiedenheit, von den Menschen eben so wenig zu besorgen hat, als von den Göttern; und überhaupt ist es einer meiner Grundsätze, mit niemanden über das, was er von den überirdischen und dämonischen Dingen glaubt, oder nicht glaubt, zu hadern. Uns in allen den Gesetzen und Gebräuchen der Völker, unter welchen wir wohnen, zu unterwerfen, oder wenigstens nicht mit dem Kopf vorwärts gegen sie anzurennen, macht uns schon die bloße Urbanität zur Pflicht, wenn es auch die Sorge für unsre eigene Ruhe nicht so gebieterisch forderte. Wer sich, wie Diagoras, den Haß der Priesterschaft geflissentlich zuziehen will, thut wohl, wenn [141] er die unangenehmen Folgen desselben auch wie Diagoras trägt, als etwas das eben so unfehlbar zu erwarten war, als daß man gebrannt wird, wenn man dem Feuer zu nahe kommt. Will er es demungeachtet darauf ankommen lassen, wer kann's ihm wehren? Wie gleichgültig mir also in dieser Rücksicht die Religion des Diagoras seyn konnte, so hatte doch ein Wort, das ihm im Lauf seiner Erzählung entfallen war, meine Neugier rege gemacht: und da wir einmal auf dieser Materie waren, erinnerte ich ihn jenes Wortes, woraus ich schließen müßte, sein Atheism sey nicht so unbedingt, daß er allen Glauben an etwas Göttliches aufhebe. Du scheinst, sagte ich, in deinem Gedankensystem an die Stelle der Götter, die du läugnest, etwas anderes zu setzen. Darf man fragen was?

Diagoras. Mich selbst, und alles was wirklich ist, erwiederte er.

Ich. Das ist viel auf einmal gesagt, Diagoras! woher weißt du daß etwas wirklich ist?

Diagoras. Weil ich weiß daß ich selbst bin.

Ich. Und woher kannst du wissen daß du selbst bist?

Mein Mann schien ein wenig zu stutzen. – Eine seltsame Frage, sagte er lachend.

Ich. Es wäre noch seltsamer, wenn sie dir nie aufgestoßen wäre.

Diagoras. Nie in meinem ganzen Leben. Aber die Antwort ist auch so leicht, daß sie mir bloß deßwegen nicht sogleich beifiel. Ich weiß daß ich bin, weil ich sehe, höre, fühle, denke, mich selbst bewege, und – zwar nicht alles, aber doch sehr vieles kann, was ich will.

[142] Ich. Könntest du das alles, wenn du nicht schon da wärest?

Diagoras. Schwerlich!

Ich. Und wenn die Dinge nicht da wären, die dir zu diesen Aeußerungen deines Daseyns Anlaß geben? –

Diagoras. Ohne Zweifel, nein.

Ich. Du weißt also, daß du bist, weil es Dinge außer dir gibt, die dieses Selbstbewußtseyn in dir erwecken; du könntest aber nicht wissen, daß es Dinge außer dir gebe, wenn du nicht wüßtest, daß du selbst bist. Dieß, dünkt mich, heißt sich in einem Kreise herum drehen, der weder Anfang noch Ende hat, und du hast also keinen hinlänglichen Grund zu glauben, daß du selbst bist.

Diagoras. Pure Sophistereien! Ich glaube nicht daß ich bin, und, genau zu reden, weiß ich es auch nicht; aber ich fühl' es, und das ist genug. Dieses Selbstgefühl, und das Gefühl daß etwas außer mir ist, ist ein und eben dasselbe. Indem ich, zum Beispiel, den Feigenbaum dort sehe, fühle ich daß ich ihn sehe, das ist, ich sehe ihn in mir selbst, und so fühle ich in einem und eben demselben Augenblick mein und sein Daseyn.

Ich. Sein Daseyn in dir, meinst du?

Diagoras. Ich sehe ihn zwar in mir selbst, aber als etwas außer mir Befindliches; und warum wäre das, wenn er nicht wirklich außer mir wäre?

Ich. Du siehst einen Centauren, eine Sirene, auch außer dir, und es sind doch bloße Geschöpfe deiner Phantasie. Woher weißt du, daß es mit dem Baum und allem andern, [143] was du zu sehen meinest, nicht eben dieselbe Bewandtniß hat?

Diagoras. Allerdings ist es meine Phantasie, die aus der Hälfte eines Menschen und eines Pferdes einen Centauren, und aus einem Weibe, einem Vogel und einem Fische eine Sirene zusammensetzt: aber das könnte sie nicht, wenn ich nicht wirklich Menschen, Pferde, Vögel und Fische gesehen hätte.

Ich. Du hältst also alles für wirklich, was du in einer lebhaften künstlerischen Begeisterung siehest? Oder warum solltest du diese Einbildungen nicht für eben so wirkliche Dinge außer dir halten, wie die nämlichen Vorstellungen, wenn sie unter der Beglaubigung deiner Sinne in dein Bewußtseyn kommen?

Diagoras. Weil ich einen sehr wesentlichen Unterschied zwischen ihnen fühle. Wenn ich mir z.B. die Lemnische Venus bloß in Gedanken vorstelle, so sehe ich sie in meiner Einbildung zwar auch außer mir, aber ungleich weniger klar und lebhaft, als wenn das Gebilde des Phidias wirklich vor mir stände; und was noch mehr ist, es hängt bloß von mir ab, ob ich das Gedankenbild sehen will oder nicht; stehe ich hingegen zu Lemnos vor dem wirklichen Bilde der Göttin, so muß ich es sehen, ich wolle oder wolle nicht.

Ich. Wie? auch wenn du die Augen zumachst?

Diagoras. Welche Frage!

Ich. Ich will bloß damit sagen: was du mit deinen Augen siehest, dringt sich dir nur so lange mit Gewalt auf, als du es wirklich ansiehest. Ist es aber mit dem, was du [144] bloß in deiner Einbildung siehest, etwa anders? Sobald die Bedingung da ist, d.i. sobald deine Einbildung dir dieses Bild darstellt, mußt du es eben so wohl, obgleich weniger lebhaft, sehen, als wenn deine Augen es dir dargestellt hätten, und im letztern Falle steht es nicht weniger bei dir, die Augen wegzuwenden oder zuzuschließen, als im erstern deine Einbildungskraft auf etwas anderes zu richten.

Diagoras. Aber setze daß du, an eine Säule gebunden, gegeißelt werdest, steht es dann auch in deinem Belieben, ob du die Pein der Geißel fühlen wollest oder nicht?

Ich. So vieler Gewalt über meine Sinne rühme ich mich keinesweges. Aber setze du dagegen einen verrückten Menschen, der sich in seinem Wahnsinn einbildet, daß er gegeißelt werde: fühlt er die Pein der bloß eingebildeten Geißel nicht eben so lebhaft als wenn sie wirklich wäre? Dem Wahnsinnigen thut seine kranke Phantasie eben dieselbe Gewalt an, welche in dem Falle, den du setztest, dem Gesunden geschieht.

Diagoras. Und was schließest du aus dem allen?

Ich. Daß du keinen hinlänglichen Grund hast, von deinem Gefühl auf die Realität dessen was du fühlst zu schließen.

Diagoras. Deiner Meinung nach gingen also alle meine Vorstellungen aus mir selbst hervor, und ich hätte keine Ursache zu glauben, daß etwas außer mir wäre?

Ich. Ich behaupte nicht daß es wirklich so sey; aber aus dem Gesagten scheint es wenigstens so. Wie kämen auch die vermeinten Dinge außer dir dazu, Vorstellungen in dich [145] zu bringen, die sich nicht in deiner Seele selbst erzeugt hätten? Gesetzt aber auch, dieser Feigenbaum werfe ein kleines Bild seiner Gestalt in dein Auge, und es reflectire aus deinem Aug' in deine Seele, so wäre zwischen einem solchen Bild und dem Bewußtseyn, womit du es siehest, nicht das geringste Causalverhältniß; und doch wird es bloß dadurch, daß du dir bewußt bist es zu sehen, etwas in dir Wirkliches. Kurz, um Dinge außer dir wahrzunehmen, muß deine Seele so viel thun, daß du wenigstens Ursache hast zu zweifeln, ob sie nicht alles thue.

Diagoras. Aber, wie wär' es möglich, Aristipp, daß du nicht sehen solltest, in welche Ungereimtheiten ein solcher Zweifel führen würde? Wenn alle meine Vorstellungen bloße Geschöpfe der denkenden Kraft in mir sind, bin ich nicht genöthiget, mich für das einzige wirkliche Wesen zu halten? Nun sind aber alle andern Menschen in dem nämlichen Falle, und wenn sie alle so räsonniren wollten, was sollte aus dreißig oder vierzigtausend Miriaden Narren werden, deren jeder sich einbildete, alle übrigen seyen nichts als in ihm selbst erzeugte Gedankenbilder?

Ich. Es käme darauf an daß sie sich darüber mit einander verglichen. Da einer so viel Recht hätte als der andere, warum sollten sie nicht in Güte übereinkommen können, einander, um der Bequemlichkeit des gesellschaftlichen Lebens willen, vermittelst einer Art von Prosopopöie die Existenz zuzugestehen?

Diagoras. Und so möchten wir, dächte ich, eben so wohl thun, wenn wir auch allen übrigen Dingen, die in unser [146] Bewußtseyn gerathen, die nämliche Billigkeit widerfahren ließen?

Ich. Das könnten wir ohne Bedenken; aber was hätten wir damit gewonnen, wenn wir uns selbst von dem Grund ihres und unsres Daseyns Rechenschaft geben sollten?

Diagoras. Kann uns denn nicht genug seyn daß wir da sind? Wozu brauchen wir nun eben den Grund zu wissen?

Ich. Diese Frage hast du dir selbst schon beantwortet, Diagoras, da du mir auf die meinige »was du an die Stelle der Götter setzest?« zur Antwort gabst: »mich selbst und alles was wirklich ist.« – Es ist nun einmal in unsrer Natur, sobald sich uns etwas als außer uns darstellt, zu glauben es sey, und wissen zu wollen, was und woher und wie und warum es ist. Das kürzeste Mittel, sich hierüber zu beruhigen, schien den Menschen von jeher zu seyn wenn sie Götter glaubten, in deren Macht und Willkür der Grund des Daseyns und der Zusammenordnung der Dinge liege. Du willst mit diesem Behelf nichts zu thun haben, und setzest dich selbst und alles was wirklich ist an ihre Stelle. Aber bei näherer Untersuchung der Sache hat sich gefunden, daß dein eigenes Daseyn eine sehr zweifelhafte Sache ist, da das Gefühl desselben lediglich auf dem vorausgesetzten Daseyn anderer Dinge beruht, für deren Daseyn du keine andere Gewähr hast als dein eigenes. Gesetzt aber auch es hätte mit deinem Daseyn seine Richtigkeit, so ist es doch eine bloße nackte Thatsache und du hast auf die Frage: woher, wie und warum du da bist? noch immer keine Antwort. Denn daß du nicht immer da warest, und daß der Grund deines Daseyns nicht in dir [147] selbst seyn kann, wirst du schwerlich in Abrede seyn wollen.

Diagoras. Es scheint in der That ich müßte auch etwas davon wissen, wenn ich immer gewesen wäre, und die Mutter die mich gebar, der Vater der mich auferzog, und der Schulmeister der mich im Homer lesen und die Melodien des alten Terpander plärren lehrte, müßten sich auf eine seltsame Weise getäuscht haben. Aber wozu braucht es aller dieser Leptologien 81. Die Formel, über welche du mich schikanierst, soll nichts weiter sagen als: die Natur enthält alles was ist, war und seyn wird, und es bedarf keines andern Grundes für mein und aller übrigen Dinge Daseyn als sie.

Ich. Die Natur! – Ein großes viel umfassendes Wort! Und was denkst du dir eigentlich dabei?

Diagoras. Wie ich sagte, das, woher alles was ist, war, und seyn wird, seinen Ursprung und die Nahrung seines Wesens zieht.

Ich. Ich glaube die Bedeutung jedes einzelnen Wortes dieses Satzes zu wissen; aber bei dem ganzen kann ich mir nichts Deutliches denken.

Diagoras. Ich, die Wahrheit zu sagen, eben so wenig.

Ich. Du hättest also ungefähr so viel als gar nichts damit gesagt?

Diagoras. Ist es meine Schuld daß die Natur etwas Unbegreifliches ist?

Ich. Irgend eine dunkle Vorstellung muß denn doch wohl mit diesem unbegreiflichen Worte verbunden seyn. Denkst [148] du dir die Natur vielleicht als eine unendliche Reihe an einander geketteter einzelner Dinge?

Diagoras. Ich sehe wohin du willst, Aristipp, und ich will dir die Mühe ersparen, mir die Ungereimtheit einer unendlichen Reihe von Eiern und Hühnern darzuthun. Ich denke mir die Natur als das einzige, ewige, unendliche Urwesen, und alles was ist als eine Art von Erzeugnissen, die es ewig aus sich selbst hervorbringt.

Ich. Da hätten wir den Kronos der Dichter, der seine eignen Kinder aufißt, um immer neue zeugen zu können?

Diagoras. Oder, wenn du lieber willst, so stelle sie dir als den Proteus vor, der sich selbst in alle möglichen Gestalten wandelt.

Ich. Für poetische Darstellungen mögen diese Bilder brauchbar genug seyn; aber dem Verstande erklären sie nichts, und wir sind noch um kein Haar breit weiter als anfangs. Alles was ich sehe ist, daß du dich so gut als wir andern genöthigt fühlst, etwas Erstes, Unerklärbares, Unendliches, mit Einem Worte, Göttliches zu glauben, um dich nicht in einem Labyrinth von Fragen und Zweifeln zu verlieren, aus welchem kein Ausgang ist. –

Diagoras. Und weiter wollen wir uns, wenn dir's gefällig ist, nicht versteigen.

Mit diesen Worten führte mich Diagoras zu seinen Götterbildern zurück, um (wie er sagte) die Spinneweben wieder los zu werden, womit uns der Sophistische Dialog über Seyn und Nichtseyn den Kopf angefüllt habe. Er ließ mich eine Menge possierlicher Dinge bemerken, welche meiner Aufmerksamkeit [149] entgangen waren, und überzeugte mich durch sein herzliches Wohlgefallen an den Mißgeburten seiner witzelnden Phantasie immer mehr, wie lächerlich es von mir gewesen wäre, über einen Gegenstand, für welchen er keinen Sinn hatte, in einem ernsthaftern Tone zu sprechen. Uebrigens muß ich dir sagen, daß mein Ton ungefähr der nämliche war, worin Sokrates mit den Sophisten, und allen andern, denen es (wie er glaubte) nicht ernstlich um Wahrheit zu thun war, von solchen Dingen zu disputiren pflegte; und ich wollte diese Gelegenheit nicht vorbei lassen, dir eine kleine Probe zu geben, daß ich nicht drei Jahre lang mit einem solchen Meister in der subtilsten Dialektik gelebt habe, ohne ihm auch in diesem Stück etwas abzulernen; wiewohl ich gern gestehe, daß die ihm eigene ironischeinfältige Miene, die er in solchen Fällen anzunehmen wußte, schlechterdings dazu gehört, wenn diese Manier zu philosophiren ihre ganze Wirkung thun soll.

Ich werde erst jetzt gewahr daß meine Erzählung unvermerkt zu einem Buch angeschwollen ist, und der Griffel in meiner Hand zu zittern anfängt. –

In wenigen Tagen, lieber Kleonidas, hoffe ich die schöne Minervenstadt wieder zu sehen, zu welcher ich mich, nach einer langen Trennung, von einer Art verliebter Sehnsucht hingezogen fühle. Daß vielleicht auch die Nähe von Aegina Antheil an dieser Gemüthsstimmung haben mag, warum sollt' ich es vor einem Freunde wie du verheimlichen wollen?

21. Kleonidas an Aristipp
[150] 21.
Kleonidas an Aristipp.

Wenn ich nicht schon lange wüßte, daß du ein weiserer Mann, oder wenigstens ein nicht so heißer Liebhaber des Schönen bist als ich, so würde mich dein Benehmen gegen den leidigen Zerrbildner Diagoras davon überzeugt haben; denn ich muß gestehen, mir wäre es unmöglich gewesen, beim Anblick seiner unartigen Machwerke Geduld zu behalten. Mag doch immerhin eine Art von Genie und Kunst dazu gehören, auch an lächerlichen Carricaturen nicht über eine gewisse Gränzlinie hinauszuschweifen, und das Burleskhäßliche nicht bis zum Ekelhaften, das Ueberladene und Verzerrte nicht bis zur gänzlichen Unnatur zu treiben: aber was berechtigt diesen Menschen, mit dem Muthwillen eines trunkenen Barbaren in das Heiligste der Kunst einzufallen, und, einer grillenhaften Phantasie zu Liebe, die Ideale alles Schönen, Lieblichen und Erhabenen zu verunstalten und in schmutzig possierliche Mißgestalten zu verkehren, wozu er die Urbilder aus den Hefen der pöbelhaftesten Natur zusammensuchen mußte? Seine Götter und Göttinnen sind unstreitig die schlechteste Gesellschaft, die ein Mensch sich nur immer geben kann: aber mit welchem Recht erkühnt er sich, den Vater der Dichtkunst zu seinem Mitschuldigen zu machen? und wie kann er, ohne von seinem eigenen Gefühl Lügen gestraft zu werden, vorgeben: »seine Zerrbilder seyen den Homerischen Göttern angemessener als die erhabenen Darstellungen eines Alkamenes und Phidias?« [151] – Es ist wahr, wie hoch Homer sich auch immer über sein Zeitalter hätte schwingen mögen, bis zur göttlichen Natur selbst vermocht' er sich und uns nie zu erheben. Er mußte, gern oder ungern, die Götter zu uns herabziehen; aber, da er nun einmal genöthigt war, sie entweder ganz aus dem Spiele zu lassen oder bloß als eine Art menschenähnlicher Wesen aufzuführen; bestand da nicht die größte Kunst darin, sie, dessen was sie mit uns gemein haben ungeachtet, hoch genug über uns zu erheben, um einen stark in die Sinne fallenden und der Einbildung Ehrfurcht gebietenden Unterschied zu bewirken? Ich denke man kann in dieser Rücksicht mit dem, was er geleistet hat, zufrieden seyn. Seine Götter nähren sich z.B. wie wir, aber weniger aus Bedürfniß als zum Vergnügen, von Ambrosia und Nektar, die ihren Leib in Unsterblichkeit und ewiger Jugend erhalten. Sie haben Leidenschaften wie wir; aber auch diese sind nur erhöhte Aeußerungen übermenschlicher Kräfte, oder Wirkungen des lebhaften Antheils, den sie an den Menschen nehmen. – Niemand wird zu läugnen begehren, daß dem Dichter der Ilias bei allem dem noch Spuren der Rohheit seines Zeitalters ankleben: indessen sollte, meines Bedünkens, auch der Umstand in Betrachtung kommen, daß, dem gemeinen Volksglauben nach, alle Heroen und Heroiden jener Zeit halbbürtige, mit Sterblichen erzeugte Götterkinder waren, und also der Abstand zwischen Göttern und Menschen bei weitem nicht so groß schien, daß es billig wäre, dem Dichter zum Vorwurf zu machen, wenn er sich hierin den Begriffen seiner Zeitgenossen fügte; zumal da er das Menschenähnliche seiner [152] Götter fast immer dermaßen zu veredeln weiß, daß in Stellen, wo sein Genius sich zum wirklichen Anschauen dieser himmlischen Naturen zu erheben scheint, selbst Pindars mächtiger Adlersflug sich nicht höher aufzuschwingen vermocht hat. Oder bedarf es etwa hiervon eines stärkern Beweises, als daß es ja eben der Homerische Götterkönig war, der den größten Bildner unsrer Zeit mit der hohen Idee begeisterte, die wir in seinem Jupiter Olympius so rein und kraftvoll dargestellt sehen, daß wir bei dessen Anblick, wie vom Schauder des gegenwärtigen Gottes ergriffen, die Augen niederzuschlagen genöthigt sind und den Boden unter uns erzittern zu fühlen glauben? – Gesetzt aber auch (was kein unbefangener Leser Homers zugeben wird) der Dichter hätte durch seine Art die Götter reden und handeln zu lassen dem leichtfertigen Diagoras zu seinen Zerrbildern Gelegenheit gegeben; mit welchem Grunde kann er es unsern größten Meistern übel nehmen, daß sie alle Nerven ihrer Phantasie angestrengt haben, sich vermittelst dessen, was an der menschlichen Natur das Schönste, Reinste und Vollkommenste ist, zu so hohen Idealen von Göttergestalten zu erheben, daß wir in ihren Werken, wie in theurgischen Erscheinungen, Götter zu sehen glauben, wiewohl wir im Grunde nur Menschen sehen? Ist es ihnen nicht vielmehr zum Verdienst anzurechnen, daß sie, in eben dem Augenblick da sie die Religion des Volkes durch die würdigsten Darstellungen, deren der gemeine Menschensinn fähig ist, reinigen, den Menschen zugleich anschaulich zu machen suchen, welcher Würde ihre eigene Natur fähig sey. Verzeihe mir, Lieber, daß ich mich in meinem gerechten Unwillen so lange bei einer [153] Sache verweile, worüber wir, deiner anscheinenden Gleichgültigkeit ungeachtet, unmöglich verschiedener Meinung seyn können. Ich kann dir nicht ausdrücken, wie angenehm es mir ist, dich wieder mitten in der schönen Hellas zu wissen, in welcher ich noch immer durch die Erinnerung zur Hälfte lebe. Mir ist als ob du mir um so viel näher wärest; und auch Musarion, die Schöne und Gute, schmeichelt sich, ihre theilnehmende, wiewohl unsichtbare, Gegenwart dir und ihrer edeln Freundin bis in Aegina fühlbar zu machen.

22. Aristipp an Kleonidas
22.
Aristipp an Kleonidas.

Schon zwei bis drei Monate, lieber Kleonidas, suche ich eine Gelegenheit dich zu benachrichtigen, daß ich mich zum drittenmal wieder im Schutz der hehren Athene befinde, und durch Vorsorge unsers Freundes Eurybates eine bequeme Wohnung nicht weit vom Pompeion und dem Tempel der Demeter bezogen habe. Ich bin dadurch dem Hafen um so näher, wohin mein unbescholtener Aethiopier tagtäglich zweimal traben muß, um sich zu erkundigen, ob irgend ein Fahrzeug aus euern Gegenden angekommen oder dahin abzugehen begriffen sey. Aber auch jetzt danke ich es bloß dem verwöhnten Gaumen der Athener, denen unser stinkendes Silphi zu einem unentbehrlichen Küchenbedürfniß geworden ist, daß ich endlich[154] eine Gelegenheit aufgetrieben habe, diese Epistel an dich gelangen zu lassen.

Vor allen Dingen, Freund, laß dir sagen, daß die holden Kechenäer sich wieder auf der höchsten Spitze ihres stolzen Selbstgefühls wiegen: denn, um mit Einem Wort alles zu sagen, sie haben wieder Mauern! und zwar noch höhere und festere als die alten, die ihnen Lysander vor zwölf Jahren niederreißen ließ: sie haben wieder neue Mauern, und (worauf sie sich am meisten zu Gute thun) ohne daß es sie einen Heller kostet. Du wunderst dich wie das zuging? Wisse also, daß der schlaue Konon, ihr zweiter Themistokles 82 (wie sie ihn zu böser Vorbedeutung nennen), Konon, ein eben so gewandter Staatsmann als braver Seeofficier, seinen berühmten Sieg über die Spartaner bei Knidos durch seinen Gönner den Satrapen Pharnabaz in einen so hohen Anschlag bei dem großen Könige zu bringen gewußt hat, daß dieser eine sehr staatskluge Partei zu nehmen glaubte, wenn er den Athenern wieder zu ihrem ehmaligen Uebergewicht über Sparta, seine zeitherige Feindin, und zum ersten Rang unter den Griechischen Republiken in Europa behülflich wäre. Die Wiederherstellung der Mauern von Athen (eine Kleinigkeit für die unerschöpflichen Schatzkammern des Königs der Könige) war zu dieser Absicht, und also (wie es freilich von Seiten der Perser gemeint war) zum Dienste des Königs unumgänglich. Konon betrieb das Werk mit unsäglichem Eifer; alles was Hände hatte wurde angestellt; von allen Enden Griechenlands strömten die Arbeiter schaarenweise herbei; der König bezahlte mit blanken Dariken, und der Satrap ließ sich den Auftrag [155] geben mit einer ansehnlichen Flotte, wozu die Griechischen Städte in Karien und Ionien Mannschaft und Schiffe lieferten, die Unternehmung zu beschützen.

Mehr brauchte es nicht, um den Attischen Autochthonen – die, so lange ihre von Lysandern erlittne Schmach durch die Offenheit ihrer Stadt und ihres Hafens noch augenscheinlich beurkundet wurde, die Flügel ziemlich demüthig sinken ließen – auf Einmal ihren ganzen Uebermuth wieder zu geben. Kaum erhoben sich ihre neuen Mauern, kaum hatte ihnen Konon mit der Persischen Flotte, deren Anführung ihm der Satrap überlassen hatte, wieder zu ihrer alten Tyrannie über die kleinern Inseln verholfen, so war auch alles Vergangene wieder rein vergessen; so betrachteten sie sich selbst wieder als die Herren der Welt, und den König, ihren Wohlthäter, als ihren bloßen Zahlmeister, der es sich noch zur höchsten Ehre rechnen müsse, der »weltberühmten, schönen, fetten, veilchenbekränzten Athenä« ihren uralten Glanz wiedergegeben zu haben, und dem sie nicht den geringsten Dank schuldig wären, wenn er ihre Mauern auch mit gediegenem Golde hätte überziehen lassen. Aus diesem Tone kann man sie wenigstens an allen öffentlichen Orten täglich blasen hören. Sie bauen nun wieder ein Nephelokokygia über das andere ins Blaue hinein, immer voraussetzend die Schätze des großen Königs würden ihnen ewig zu Gebote stehen, ob sie es schon der Mühe nicht werth halten, sich seines Wohlwollens durch eine dauerhafte Verbindung seines Interesse mit dem ihrigen zu versichern. Was die Folgen dieses demokratischen Stolzes und der falschen Maßregeln, wozu er sie verleiten wird, seyn müssen, läßt sich, [156] ohne daß man ein Tiresias zu seyn braucht, leicht voraussehen. Aber die kurzsinnige Attische Aufgeblasenheit sieht nichts voraus, wird durch keine Erfahrung klüger, und begeht alle ihre großen und kleinen Thorheiten immer als ob es das erstemal wäre. – Doch, kein Wort weiter von Athenischen Staatsverhältnissen und demokratischen Albernheiten! Weiß ich denn nicht, wie widerlich und langweilig dir, mit Recht, diese Dinge sind? Auch soll es das letztemal seyn, daß ich dich damit behellige! – Ein anderes wär' es, wenn ich dir von Zeit zu Zeit eine Aristophanische Komödie im Geschmack der Acharner, der Ritter und der Vögel mitzutheilen hätte, die dir ohne einen kleinen Commentar nicht immer verständlich wären. Aber solche Früchte bringt der Attische Boden nicht mehr hervor. Die Wiederherstellung der Demokratie hat zwar das Gesetz gegen den Mißbrauch der ungezügelten Freiheit der alten Komödie 83 ziemlich unkräftig gemacht: aber Zeit und Umstände scheinen unvermerkt auch auf diesen Zweig der öffentlichen Unterhaltung zu wirken, und ich betrachte die Komödie, wie ich sie seit meiner Zurückkunft finde, als den Uebergang zu einer künftigen neuen Gattung, deren regelmäßigere und elegantere Form eine natürliche Folge der, in umgekehrtem Verhältniß mit der Abnahme der demokratischen Ungezogenheit, immer steigenden Verfeinerung des Geschmacks und der Sitten seyn wird. Indessen läßt gleichwohl die leichtfertige Muse des Dichters der Wolken weder ihrer unnachahmlichen Genialität noch ihrem gewohnten Muthwillen so enge Schranken setzen, daß sie sich nicht noch immer bald einzelne Hiebe mit derselben Geißel, die vor dreißig Jahren[157] einen Kleon bis auf die Knochen zerfleischte, bald Züge von eben demselben neckenden Spott, womit sie einst einen Lamachus, Euripides, Nicias, Alcibiades, ja den unsträflichen Sokrates selbst verfolgte, und bei jeder Gelegenheit die bittersten Sarkasmen über das Volk und die Regierung von Athen erlauben sollte. Sein neuestes Stück, der Weibersenat 84 betitelt (welches ich für dich abschreiben lasse), enthält ziemlich starke Beweise hiervon, ist aber dabei so ekelhaft schmutzig, daß ich, wiewohl es von feinerem Witz und trefflichen Einfällen strotzt, mir doch kaum getraue es dir vor die Augen zu bringen.

Eine meiner ersten Angelegenheiten, nachdem ich von meiner neuen Wohnung Besitz genommen hatte, war, die alte Bekanntschaft (Freundschaft kann ich sie ehrlicher Weise nicht wohl nennen) mit den Attischen Sokratikern zu erneuern. Der gute Kriton war seinem geliebten Freunde schon vor einigen Jahren in das unbekannte Land nachgezogen, wovon Plato in seinem Phädon so viel Wunderbares zu berichten hat. Stilpon lebt zu Megara, Cebes und Simmias sind nach Theben zurückgekehrt, und streuen dort guten Sokratischen Samen aus. Unter den Anwesenden wurde ich von dem wackern Gerber Simon, von Kritobulus (der unserm Meister durch sein Leben als Hausvater und Bürger Ehre macht) und von Aeschines, des Lysanias Sohn, am freundlichsten empfangen; von Plato kalt und vornehm, von Antisthenes (der mit den Jahren nicht milder geworden ist) ein wenig – cynisch. Es war als ob er mich erst von allen Seiten beschnuppern müßte, bevor er mich erkannte und einige Freude über unser Widersehen [158] äußerte; welches letztere übrigens all bejahrten Leute zu thun pflegen, wenn ihnen ein jüngerer Bekannter nach langer Zeit wieder zu Gesichte kommt. Im Grund ist es nicht so wohl das Vergnügen über unser Daseyn, als die Freude darüber daß sie selbst noch da sind, was sie uns dadurch zu erkennen geben.


Ich fange an sehr lebhaft zu fühlen, daß uns beim Eintritt in die männlichen Jahre, eine bestimmtere Art von Beschäftigung immer unentbehrlicher wird. Ohne gerad' eine förmliche Schule zu eröffnen und ein Aristophanisches Phrontisterion aus meinem Hause zu machen, bin ich entschlossen, nach dem Beispiel des Sokrates und in seiner Manier (sofern ich sie ohne Anmaßung und Nachäfferei zur meinigen machen kann) einen Theil meiner Zeit einigen fähigen Jünglingen, die sich zu mir halten wollen, zu widmen. Zu diesem Ende ist ein gegen den Garten offener Säulengang meines Hauses täglich etliche Stunden einem jeden geöffnet, der sich darin ergehen und an der kleinen Gesellschaft, die sich da zusammen zu finden pflegt, als Mitsprecher oder als bloßer Zuhörer Antheil nehmen will. Diese Galerie ist mit auserlesenen Gemälden geziert, und unter einigen Stücken von Polygnotus, Zeuxis, Pausias, Parrhasius und Timanthes, glänzen die trefflichen Copeien von deinem Tod des Sokrates und dem Ende des unglücklichen Kleombrotus so sehr hervor, daß sie gewöhnlich die Augen der hierher Kommenden zuerst auf sich ziehen und am längsten festhalten. Mitunter fallen auch ziemlich komische Dialogen vor, wie z.B. der folgende, [159] den ich dir, weil er mir noch ganz frisch im Gedächtniß liegt, zur Kurzweil mittheilen will.

Ein edler junger Athener trat mit einem zierlich gekleideten fremden Jüngling Arm in Arm in die Galerie. Sie eilten mit flüchtigen Blicken von einem Bilde zum andern, und blieben endlich vor dem Tode des Sokrates stehen.

Kein unfeines Stück, sagte der Athener mit einer kalten Kennermiene.

Der Fremde. Was es wohl vorstellt?

Ich. Vermuthlich sich selbst.

Der Fremde. Wie meinst du das?

Ich. Um mich deutlicher zu erklären, es ist eine Art von Räthsel oder Hieroglyph.

Athener. Das nenn' ich sich deutlich erklären! Es gehört also ein Schlüssel dazu?

Ich. Er steckt im Gemälde.

Der Fremde. Wie kriegt man ihn aber heraus?

Ich. Jeder muß ihn selbst finden; darin liegt ja der Spaß bei allen Räthseln.

Der Athener. Wenn's der Mühe des Suchens werth ist.

Der Fremde. Ich wollte wetten, dieses hier stellt den Tod des Sokrates vor.

Ich. Ich auch; aber wenn du darauf wetten wolltest, warum fragtest du?

Der Fremde. Um meiner Sache gewiß zu seyn. Nun sehe ich wohl, je länger ich's betrachte, daß es nichts anders ist. Ich kenne die meisten dieser Männer von Person; sie sind zum Sprechen getroffen. Den alten Philosophen hab' ich freilich [160] nicht mehr besuchen können, weil er schon lange todt war; aber man erkennt ihn auf den ersten Blick an seiner Silenengestalt, an der aufgestülpten Nase und an dem Giftbecher, den er so eben aus der Hand des Nachrichters empfangen hat.

Ich. Gut für mich, daß der Maler dieses Bildes uns nicht zuhört.

Der Fremde. Wie so, wenn man fragen darf?

Ich. Weil er seine Arbeit in den nächsten Ziegelofen werfen würde, wenn er dich so reden hörte.

Der Fremde. Ich dächte doch nicht daß ich etwas so Unrechtes gesagt hätte. Es verdrießt dich doch nicht, daß ich den Schlüssel zu deinem Räthsel so leicht gefunden habe?

Ich. Als ob man dir so was nicht auf den ersten Blick zutraute?

Der Fremde. Gar zu schmeichelhaft! Ich gebe mich für keinen Oedipus; aber das darf ich sagen, mir ist noch kein Räthsel vorgekommen, das ich nicht errathen hätte.

Ich. Mit Erlaubniß, was bist du für ein Landsmann?

Der Fremde. Ein Abderit, zu dienen.

Ich. So denk' ich wir lassen das Gemälde wo es ist.

Der Fremde. Zum Verbrennen wär' es wirklich zu gut.

Der Athener. Das sollt' ich auch meinen. Wenn es dir über lang oder kurz feil werden sollte, lieber Aristipp, so bitt' ich mir den Vorkauf aus. Es hat ein warmes Colorit, und sollte sich nicht übel in der Galerie ausnehmen, die ich nächstens von meinem alten Oheim, dem General, zu erben [161] hoffe. Und hier mit schlenderten die jungen Gecken wieder fort. Das Lustigste ist, daß der Fremde (der sich Onokradias 85 nennt und ein Sohn des Archon von Abdera seyn soll) von dieser Stunde an eine sonderbare Anmuthung zu meiner Person äußert, und mich allenthalben wo es nur immer angehen will, wie mein Schatten begleitet. Du wirst lachen, Kleonidas, aber ich habe wirklich große Lust einen Versuch zu machen, ob ich aus diesem Stück Feigenholz, wo nicht einen Mercur, wenigstens – einen leidlichen Abderiten schnitzeln könne. Der junge Mensch zeichnet sich durch eine ganz eigene Mischung von treuherziger Albernheit und plattem instinctartigen Hausverstand, mit einer Portion gutlauniger Schalkheit und angeborner Arglosigkeit versetzt, so sonderbar zu seinem Vortheil aus, daß ich mich leicht an seine Gesellschaft gewöhnen könnte. Vermuthlich um sich in desto größere Achtung bei mir zu setzen, machte er mich ungefragt mit seiner ganzen Familie bekannt. Sein Vater, zur Zeit erster lebenslänglicher Vorsteher der Republik Abdera, nenne sich (sagte er) Onolaus der Zweite. Mein Großvater, fuhr er fort, der als Nomophylax starb, führte meinen Namen, oder vielmehr ich den seinigen; denn ihm zu Ehren nannten sie mich Onokradias. Mein Aeltervater Onages folgte seinem Vater Onolaus dem Ersten in der Würde eines Stadthauptmanns, und so ging's immer in aufsteigender Linie fort, so daß ich mich im Nothfall rühmen könnte, von einem der ältesten und verdientesten Häuser unsrer Republik abzustammen. – Aber, fragte ich ihn, was kann wohl, wenn diese Frage nicht unbescheiden ist, die Ursache seyn, warum deine [162] Voreltern eine so sonderbare Vorliebe zu dem Wort onos gefaßt haben, daß von dem Aeltervater des Aeltervaters her alle eure Namen mit onos zusammengesetzt sind? Nicht, als ob es euch in meinen Augen nicht zur Ehre gereichen sollte, daß ihr das Vorurtheil verachtet, welches gewissen Namen einen gewissen Einfluß – Ich verstehe, fiel er mir lachend in die Rede: wir könnten wohl mit gutem Fug stolz darauf seyn, daß wir vielleicht die Einzigen sind, die einem ungerechter Weise zurückgesetzten wackern Hausthiere die ihm gebührende Ehre nicht versagen. Wenigstens sehe ich nicht, warum Löwe und Wolf, oder Pferd und Ochs, die sich in so vielen Griechischen Namen hören lassen, hierin ein Vorrecht vor dem Esel haben sollten. Aber das ist denn doch die wahre Ursache dieser sonderbaren Familiensitte unsers Hauses nicht: dieser liegt eine eben so sonderbare Begebenheit zum Grunde. Einer meiner Ahnherren lag an einem Brustgeschwür so krank darnieder, daß die Aerzte versicherten, der Augenblick, da es aufbräche, würde der letzte seines Lebens seyn. In banger Erwartung standen alle seine Kinder und Hausgenossen um ihn her, als der Kranke durch die offne Thür seines Gemachs einen Esel erblickte, der von ungefähr über einen großen Korb voll Feigen gerathen war, und während er mit der gierigsten Freßlust in dieses ihm so ungewohnte Ambrosia hineinarbeitete, sein eselhaftes Wohlbehagen durch die seltsamsten Maulverzerrungen zu erkennen gab. Dieser Anblick kam dem Kranken so possierlich vor, daß er in ein heftiges Gelächter ausbrach, wovon das besagte Geschwür so glücklich zerplatzte, daß seine Brust in wenig [163] Augenblicken wieder frei ward, und es dem Arzte nun ein Leichtes war, den Kranken in kurzer Zeit gänzlich wieder herzustellen. Sofort beschloß mein Anherr im ersten Feuer seiner Dankbarkeit, das Andenken einer so wunderbaren Rettung auch auf eine außerordentliche Art in seiner Familie zu verewigen. Er nahm nicht nur selbst auf der Stelle den Namen Onogelastes an, sondern legte zugleich seinem Sohn und seinem Enkel die Namen Onobulus und Onomemnon bei, und verordnete als ein unverbrüchliches Familiengesetz, daß von nun an zu ewigen Zeiten alle seine Abkömmlinge männlichen Geschlechts keine andern als mit onos zusammengesetzte Namen führen sollten. Ueberdieß machte er auch eine Stiftung, aus welcher, bereits über dreihundert Jahre lang, jährlich an dem Tage des besagten Wunders allen Eseln in ganz Abdera zehn trockne Feigen auf den Kopf gereicht werden; daß also das Gedächtniß dieser Begebenheit sogar die gänzliche Erlöschung unsrer Familie (welche die Götter verhüten wollen!) überleben, und wenigstens so lange dauern wird, als die Stadt Abdera auf ihren Fundamenten stehen bleibt.

Ich weiß nicht, Kleonidas, ob ich dich um Vergebung bitten muß, daß ich dich mit solchen Albernheiten unterhalte; mir ist ein Mensch wie dieser Onokradias in seiner Art eben so merkwürdig, als irgend ein anderer ausgezeichneter Mann in der seinigen. Der Fehler ist nur, daß ich dir den Ton und die Miene des ehrlichen Abderiten nicht unmittelbar darstellen kann. Gewiß, du würdest finden, daß ich nicht so Unrecht habe, diesen würdigen Abkömmling des edeln Onogelastes in mein Herz zu schließen.

[164] Eurybates erinnert sich euer oft und mit vielem Wohlwollen. Die schöne Droso besitzt nicht nur die Gabe glänzende Eroberungen zu machen; sie weiß sich auch in ruhigem Besitz derselben zu erhalten, und unser Freund scheint die leichten goldnen Kettchen, womit sie ihn an sich gefesselt hat, mit sehr guter Art zu tragen. Sie hat ihn mit einem Sohne beschenkt, der ihm an Gestalt und Sinnesart so ähnlich ist, daß er sich (was nicht bei allen Athenern der Fall seyn soll) ohne sich selbst oder andern lächerlich deßwegen vorzukommen, ganz laut zu ihm bekennen darf.

Ich brauche dir nicht zu sagen, wie groß mein Verlangen nach guten Nachrichten von meinen Geliebten in Cyrene ist, und wie sehr ich dir's danken werde, wenn du einen Weg ausfindig machst, wie wir uns oft und sicher schreiben können. Melde mir auch mit zwei Worten, wie das neue Räderwerk eurer Republik geht, und sage meinem guten Bruder viel Freundliches in meinem Namen.

23. An Lais
23.
An Lais.

Ich bin dir, Dank sey den Göttern, wieder so nahe, meine schöne Freundin, als es die stolze Minervenstadt »dem reichen mit schönen Kindern prangenden Vorhof des Isthmischen Poseidons« ist. 86 Im Grunde thut freilich, wenn man einander nicht mit den Armen oder wenigstens mit den Augen [165] erreichen kann, eine halbe Parasange für den Augenblick so viel Wirkung als ein halbtausend: aber die Vorstellung, daß ich jetzt nur zwei Tage brauche, um in deinen Armen zu seyn, ist doch etwas ganz anderes, als der trübselige Gedanke, daß eine ganze Odyssee voll Länder, Gebirge, Ströme und Meere zwischen uns liegt; was noch vor wenig Monaten der Fall deines landstreichenden Freundes war. Doch dieß ist nun hinter mir, und mit jedem Mondeswechsel rückt der Augenblick näher, der mich, wenn du anders noch ebendieselbe für mich bist, für die Entbehrungen von fünf langen Jahren entschädigen wird. Ich lass' es nicht fehlen, täglich die andächtigsten Gelübde an den mächtigen Erderschütterer 87 abzuschicken; und mit welchem Zauber auch die neuaufgefrischten Reize der schönen Athenä, deiner einzigen Nebenbuhlerin, auf mich wirken mögen, dießmal soll mich gewiß nichts verhindern, auf der Veilchenbank deines stillen Myrtenwäldchens den Nachtigallen an deinem Busen zuzuhören.

Uebrigens gesteh' ich gern, daß der Aufenthalt zu Athen nach einer so langen Abwesenheit wieder große Annehmlichkeiten für mich hat. Ich lebe auf einem ganz hübschen Fuß, und mache doch einen so mäßigen Aufwand, daß ich mit dreihundert Drachmen des Monats reichlich auszulangen gedenke. Wenn du dich des Rebhuhns für funfzig Drachmen noch erinnerst, so wirst du hoffentlich meiner Frugalität das gebührende Lob nicht versagen, wiewohl sie in Vergleichung mit der Genügsamkeit eines Plato und dem täglichen Triobolon des Antisthenes noch immer den Vorwurf der Ueppigkeit verdient, der mir von den geschwornen Anhängern der Nothphilosophie [166] gemacht wird. Ich würde mich leicht darüber trösten, wenn mir diese Herren nur von Zeit zu Zeit die Ehre erweisen wollten, sich zur Abwechslung mit einem kleinen Symposion in Cyrenischem Geschmack von mir beköstigen zu lassen: aber da sie (den einzigen Aeschines ausgenommen) zu einer so großen Herablassung zu stolz sind, so muß ich mich, wenn ich Gesellschaft haben will, schon mit tragischen Dichtern, Komödienmachern, Malern, Bildnern, Musikern, Kaufleuten, Seefahrern, reisenden Fremden und dergleichen, behelfen, und befinde mich, wie du mir gerne glauben wirst, nicht desto schlimmer dabei.

Indessen lass' ich mich weder die kalte Höflichkeit deines Günstlings Plato, noch die wolkenversammelnden Augenbrauen und die gerümpfte Nase des schmutzigen Antisthenes abschrecken, die Spaziergänge der Akademie und das Cynosarges öfters zu besuchen, und ich habe dieser Herablassung zwei gleich sonderbare und interessante, wiewohl sehr von einander abstechende Bekanntschaften zu danken; die eine mit einem ausgemachten, übrigens sehr verständigen und witzigen – Narren; die andere mit einem jungen Hermaphroditen, der entweder eine Art von Platonischem Androgyn 88, oder (was ich eher glauben möchte) weder mehr noch weniger als – ein verkleidetes Mädchen ist. Es wird dir vielleicht nicht unangenehm seyn, Laiska, wenn ich auch dich ein wenig näher mit diesen Merkwürdigkeiten des Cynosarges und der Akademie bekannt mache.

Beim zweiten oder dritten Besuch, den ich dem alten Antisthenes abstattete, fand ich einen jungen Mann von Sinope bei ihm, der seine schmale Lebensweise anfangs vermuthlich [167] aus bloßer Noth nachgeahmt haben mochte, sich aber bei der Unabhänglichkeit, die sie ihm verschaffte, so wohl befand, daß er den Sokratism in diesem Stücke noch weiter treibt, als Antisthenes selbst, und sich nicht wenig damit weiß, daß er alle seine Bedürfnisse in einem kleinen Quersack immer mit sich trage. – »Und was meinst du, fragte er mich lachend, was in meinem Quersack ist? – Ein hölzerner Becher, eine halbe Metze Wolfsbohnen und ein alter schwarzgebrannter etwas gebrechlicher Napf aus der Verlassenschaft der königlichen Bettler des Euripides. Ich gestehe, vor wenig Tagen war ich noch um einen Haarkamm reicher, der aber einen Zacken weniger hatte, als eine meiner Hände! Die besten Gedanken kommen uns wie durch Eingebung. Bin ich nicht ein Thor, dacht' ich, indem ich von ungefähr meine Finger überzählte, daß ich, im Besitz eines Paars zehnmal bequemerer und zierlicherer Kämme, womit mir die Natur selbst ausgeholfen hat, mich noch mit einem so armseligen Kunstwerkzeug schleppen mag? Fort damit, in den Ilissus!«

Diese seltsame aber genialische Laune, die mit zu viel Frohsinn gepaart ist, um geheuchelt zu seyn, und von der menschenfeindlichen Rohheit eines Timons und dem grämlichen Ernst des runzligen Antisthenes gleich stark absticht, würde mich anreizen, die Freundschaft dieses jungen Mannes zu suchen, wenn ihm sein Stolz nicht in den Kopf gesetzt hätte, daß die Freundschaft eines Menschen meiner Art für seinesgleichen nur ein euphemisches Synonym 89 von Schmarotzerei und Unterwürfigkeit sey. Ich versuchte es einsmals, ihn zu einem sehr frugalen, ächt Sokratischen Abendessen einzuladen. [168] »Wenn ich keine Wolfsbohnen mehr in meinem Quersack finde, lade ich mich von freien Stücken bei dir ein, war seine Antwort.« – Wir sehen uns also nur zufälliger Weise. Vor einigen Tagen traf ich ihn bei einem Brunnen an, da er eben Wasser aus seiner hohlen Hand schlürfte. »Wer sollte gedacht haben, sagte er zu mir, daß ein Lehrling des weisen Antisthenes durch einen Betteljungen noch weiser werden könnte? Es sind noch nicht zwei Stunden, daß ein geborner Philosoph aus dieser Zunft mich von der Entbehrlichkeit meiner hölzernen Trinkschale überzeugt hat. Ich habe sie, fuhr er lachend fort, dem vierzähnigen Kamm in den Ilissus nachgeschickt.« – Was fehlt wohl diesem Narren, um reicher und glücklicher zu seyn als ein König?

Nun auch etwas von meinem neuentdeckten Hermaphroditen. Als ich die Akademie, wo Plato sich nicht selten öffentlich hören läßt, zum erstenmale besuchte, zog ein schöner Jüngling meine Augen auf sich, der kaum siebzehn Jahre zu haben schien, und sich immer, so nah er konnte, zu Speusippus hielt. Man sagte mir, er nenne sich Kleophron, sey der Sohn eines Bildhauers von Sicyon, und, von einer heftigen Liebe zur Philosophie entbrannt, nach Athen gekommen, wo er jetzt einer von Platons eifrigsten Schülern sey.

Der junge Mensch, wie er merkte daß ich ihn aufmerksamer als andere betrachtete, schlug seine großen rabenschwarzen Augen so mädchenhaft erröthend nieder, daß mich sogleich ein Zweifel anwandelte, ob der vergebliche Kleophron nicht etwa die schöne Lasthenia seyn könnte, mit welcher Speusipp (wie du mir vor geraumer Zeit schriebst) in deinem Hause [169] Bekanntschaft gemacht hatte. Was mich in dieser Vermuthung bestätiget, ist der Umstand, daß von allen Freunden und Anhängern Platons gerade sein Neffe der einzige ist, der sich (wiewohl mit einiger Behutsamkeit) um meine Freundschaft zu bewerben scheint. Seit kurzem hat auch der schöne Kleophron angefangen sich mir zu nähern; er ist sogar mit Speusipp in meine Galerie gekommen, um die Gemälde zu besehen, von welchen (wie er sagte) in Athen so viel gesprochen werde. Er machte einige Bemerkungen, welche stark nach der Quelle schmeckten, woraus er sie geschöpft hatte; besonders schien er bei dem Bilde des unglücklichen Kleombrot mit Nachdenken und Rührung zu verweilen. Wenn dieser Sicyonische Knabe, wie ich nicht länger zweifele, deine Lasthenia ist, so muß ich ihr das Zeugniß geben, daß sie der von dir empfangenen Bildung durch ihre Sittsamkeit nicht weniger Ehre macht, als durch die Lebhaftigkeit ihres Geistes. Auch benimmt sie sich in allem mit so vieler Besonnenheit und Gewandtheit, daß ihr Geschlecht von niemand, der nicht, wie ich, schon vorher auf der Spur ist, so leicht entdeckt werden dürfte, insofern sie nur eine gute Ausrede bei der Hand hat, sich den Uebungen auf der Palästra zu entziehen. Plato wenigstens scheint nicht den mindesten Argwohn zu hegen, und die Liebe seines Neffen zu dem schönen Knaben um so weniger zu mißbilligen, da beide, der Liebhaber und der Geliebte, erklärte Verehrer des Systems der begeisterten Diotima sind, von welcher sein Sokrates die subtile Theorie der übersinnlichen Knabenliebe (die er der Tischgesellschaft des gekrönten Dichters Agathon so redselig vorträgt) in seiner Jugend gelernt zu [170] haben vorgibt. Daß dieser Speusipp ein kleiner Heuchler ist, brauche ich dir nicht zu sagen; im übrigen rechtfertigt er alles, was du mir von seiner Liebenswürdigkeit angerühmt hast, vollkommen, und ich gefalle mir sehr in seinem Umgang; zumal da ich dadurch Gelegenheit erhalte, mit dem Geiste der Philosophie seines Oheims und mit seiner geheimen Lehre noch bekannter zu werden.

Uebrigens bestätiget mich jeder Besuch, den ich in der Akademie und dem Cynosarges abstatte, in der schmeichelhaften Meinung, daß, wofern ich mich je entschließen sollte, mein bißchen Weisheit der Welt ebenfalls auf öffentlichen Straßen, Marktplätzen und Hallen, oder in Gärten, Gymnasien und Hainen aufzudringen, es sich am Ende leicht finden dürfte, daß der üppige, von seinen ehmaligen Cameraden ausgeschlossene und bei jeder Gelegenheit hämisch angestochene Aristipp von Cyrene, alles gehörig zurechte gelegt, noch immer der ächteste unter allen Sokratikern ist.

Diese Zeit ist vielleicht nicht mehr weit entfernt. Ich fühle daß mir zu einer völlig behaglichen Existenz nichts abgeht, als eine bestimmte Beschäftigung, und die angenehme Selbsttäuschung, daß ich der Welt zu etwas nütze sey. Ich habe seit zehn Jahren viel gesammelt, in der That mehr als ich für meinen eigenen Bedarf nöthig habe. Ich muß mich des Ueberflüssigen entladen, und andern mittheilen, was ich entweder für mich selbst nicht brauche, oder was man mittheilen kann, ohne selbst ärmer zu werden. Indem ich andre lehre, bringe ich meinen eigenen Vorrath alles dessen, was ich durch Erfahrung, fremden Unterricht, Reisen, Forschen [171] und Nachdenken erworben habe, in bessere Ordnung, sehe was davon für mich selbst und andere brauchbar ist, und werde im Grunde nur desto reicher, je mehr ich wegzugeben scheine. Ich melde dir dieß vorher, damit du dich nicht gar zu sehr entsetzest, wenn dir zu Ohren kommen sollte, Aristipp mache zu Athen den Sophisten, und habe einen Haufen offner Geelschnäbel, die sich von ihm ätzen lassen, um sich her so gut als ein anderer. Auf alle Fälle wirst du, hoffe ich, das Beste von mir denken, und mir zutrauen, daß ich niemanden Kohlen für Gold verkaufen werde.

Wie nahe mir auch zuweilen meine Einbildungskraft unser Widersehen vor die Augen rückt, so kann ich mir doch nicht verbergen, daß bis dahin noch fünf ganze Monate mit schweren bleiernen Füßen vorüber kriechen werden. Wie betrügen wir einen so langen zwischen uns liegenden Zeitraum? Deine Briefe allein, beste Laiska, könnten ihn verkürzen, indem sie ihn in eben so viele kleinere theilten, durch welche ich, in stetem Wechsel von Erwartung und Genuß, wie von einer kleinen Insel zur andern, über diesen langweiligen Sund hinüber schwimmen würde.

24. Lais an Aristipp
24.
Lais an Aristipp.

Sollte wohl mein alter Freund Aristipp im Ernst zweifeln können, ob ich noch eben dieselbe für ihn sey? Ich will es [172] nicht glauben; denn was würde mir ein solcher Zweifel anders sagen, als er selbst sey nicht mehr eben derselbe für mich?

Da die Natur mir, ich weiß nicht wie viel oder wie wenig, dadurch versagte, daß sie mich der tragikomischen Leidenschaft, die man Liebe nennt, unempfänglich gemacht hat, so ist sie dagegen so gerecht, oder so gütig gewesen, mich desto reichlicher mit allen Eigenschaften und Tugenden auszustatten, die zu einer warmen, wenig eigennützigen, aber desto beharrlichern Freundschaft erfordert werden. Ueberdieß hat die meinige, ohne den geringsten Zusatz von den Unarten und Quälereien der Liebe, so viel von ihren Annehmlichkeiten, daß ich glaube, man sollte sich damit behelfen können, ohne daß man sich darum eben viel auf seine Genügsamkeit einzubilden hätte.

Deine dermalige Einrichtung und Lebensweise zu Athen hat meinen ganzen Beifall, und besonders wünsche ich dir zu deiner guten Wirthschaft Glück. Noch fehlt viel, da ich mich hierin mit dir messen dürfte; denn die Summe, womit du einen ganzen Monat auszukommen gedenkst, reicht in einer Haushaltung wie die meinige öfters kaum zwei Tage. Du wirst über meine leichtsinnige Gleichgültigkeit gegen die Folgen eines solchen Aufwandes erschrecken: ich muß dir also zum Troste sagen, daß ich vorsichtiger bin, als du mir zugetraut hättest, und durch Vermittlung meines Freundes Euphranor (dessen älterer Bruder in einem großen Handelsverkehr mit Cypern, Aegypten und den Küsten des Arabischen Meerbusens steht) Mittel und Wege gefunden habe, ein sehr beträchtliches Capital so vortheilhaft geltend zu machen, daß eine doppelt so große Ausgabe als meine gewöhnliche ist meine Freunde [173] nicht beunruhigen darf. Laß dich also, wenn du sehen wirst, daß es noch ziemlich auf Persischen Fuß bei mir zugeht, durch keine sorglichen Gedanken im frohen Genuß des Gegenwärtigen stören; und wofern du über kurz oder lang in den Fall kommen solltest, deiner rühmlichen Frugalität noch engere Gränzen zu setzen, so bediene dich ungescheut der Rechte der Freundschaft, und schöpfe aus der Casse deiner Laiska wie aus deiner eigenen. Wir müßten es beide sehr arg treiben, wenn wir so leicht auf den Boden kommen sollten. Die Nothphilosophie des Cynosarges wäre ja wohl in einem solchen Fall eine Art von Zuflucht. Aber (nichts von mir selbst zu sagen) wie groß auch meine Meinung von der Gewandtheit ist, womit du dich in alle Launen des Glücks zu schicken weißt, so zweifle ich doch sehr, daß du es jemals so weit in der Kunst zu darben bringen würdest, deine ganze Habe mit so vieler Genialität und Grazie in einem leichten Quersack auf der Schulter zu tragen, wie der junge Cyniker, dessen negativen Reichthum du bei dreihundert Drachmen monatlich so beneidenswürdig findest.

Du bist, wie ich sehe, mit einem außerordentlich feinen Spürsinn für unser Geschlecht begabt, daß du den schönen Jüngling von Sicyon, den wir so gut verzaubert zu haben meinten, nur mit einem Blick zu berühren brauchtest, um ihn in seine natürliche Gestalt zurückzunöthigen. Er ist in der That eben dieselbe leibhafte Lasthenia, von welcher ich dir einst sagte, sie sey auf gutem Wege, mir einen schönen, wiewohl sehr glatten und schlüpfrigen Aal, der sich in meinen Reizen verfangen hatte, undankbarer und hinterlistiger Weise vor dem Munde wegzufischen. Aber freilich war die Eroberung [174] eines Neffen des göttlichen Plato eine zu glänzende Versuchung für die Eitelkeit einer sechzehnjährigen Schwärmerin; und was hättest du von mir denken müssen, wenn ich fähig gewesen wäre, sie ihr zu erschweren? zumal da der Fisch von selbst so gierig auf die goldne Fliege zufuhr. Wie dem aber seyn mochte, genug ich konnte oder wollte nicht verhindern, daß sich unvermerkt ein zärtliches Verständniß zwischen ihnen entspann, das mir desto mehr Kurzweile machte, je sorgfältiger die Kindsköpfe es vor mir zu verheimlichen suchten. Als er Korinth wieder verließ, glaubten beide ihr Spiel beim Abschied recht fein zu spielen: aber dafür richtete nun die Leidenschaft des Mädchens für die Platonische Philosophie einen desto größern Unfug in ihrem Köpfchen an. Speusipp schickte ihr fleißig alles was er von seines Oheims Werken habhaft werden konnte, und sie besaß schon eine geheime Abschrift vom Symposion, bevor andere die geringste Ahnung von seinem Daseyn hatten. Das ganz davon entzückte Mädchen konnte sich nicht halten, es mir unter dem Siegel der heiligsten Verschwiegenheit mitzutheilen, zeigte mir aber bald, daß es nicht ohne eigennützige Absicht geschehen war. Kurz, von einer dreifachen Zaubermacht – der Muse des göttlichen Plato, der erotischen Philosophie der Seherin Diotima, und ihrer eigenen geheimen Neigung zu dem glücklichen Speusippus gänzlich überwältigt, erklärte sie mir endlich in einer schönen Mondnacht, daß sie nicht länger leben könne, wenn ich ihr nicht zu dem Glücke verhelfe, den herrlichen Mann selbst zu sehen, zu hören und zu seinen Füßen zu sitzen, von dessen Lippen die Musen diese Nektarflüsse himmlischer Weisheit strömen ließen. – [175] Was war da zu thun? Ich konnte doch nicht so felsenherzig seyn, dem armen Kinde die Befriedigung eines so unschuldigen Verlangens zu versagen? Oder hätte ich sie dafür bestrafen sollen, daß sie mich über den wahren Gegenstand ihrer Leidenschaft zu täuschen suchte? Vielleicht täuschte sie sich noch selbst; oder, wo nicht, wie konnte ich ihr aus dem jungfräulichen Gefühl, das sie zurückhielt, ein Verbrechen machen? Und in jedem Falle, wär' es nicht unedel von mir gewesen, wenn ich die Abhänglichkeit von mir, in welche ein freigebornes Mädchen zufälliger Weise gerathen war, hätte mißbrauchen wollen, ihr das Geheimniß ihres Herzens wider ihren Willen abzudringen? – Ganz aufrichtig zu reden, mochte mein natürlicher Hang zu einer gewissen dramatischen Knotenknüpferei, und die Neugier, was aus diesem kleinen Abenteuer werden könnte, wohl auch etwas, und vielleicht das meiste beitragen, jenen theoretischen Beweggründen mehr Gewicht zu geben, als sie sonst gehabt hätten. Mit Einem Wort, ich ließ mich gewinnen, und machte mir sogar ein Geschäft daraus, sie in der ungewohnten Knabenrolle (denn als Mädchen konnte sie doch den Zutritt in die Akademie nicht zu erhalten hoffen) zu unterrichten und mit allem auszustaffiren, was sie haben mußte, um den Sohn eines Sicyonischen Bildhauers so natürlich als möglich vorzustellen; und als alles das in seiner Ordnung war, ließ ich sie von einem vertrauten alten Diener, der die Rolle ihres bisherigen Pädagogen spielte, sicher an Ort und Stelle bringen. Wie gut die kleine Schelmerei von Statten ging, hast du selbst gesehen.

Glücklicherweise hatte uns die Natur treulich vorgearbeitet. [176] Denn Lasthenia besitzt wirklich mehr die Gesichtsbildung eines schönen Knaben, als eines Mädchens; der Ton ihrer Stimme ist tief, wiewohl sanft und wohlklingend; dabei ist sie, verhältnißmäßig, ziemlich stark von Muskeln und Knochen, etwas breit von Schultern und schmal von Hüften, und hat nicht viel mehr Busen als ein frischer genährter Jüngling ihres Alters zu haben pflegt; so daß sie, im Nothfall (mit Vorbehalt einer ganz kleinen Bedeckung) auf der Palästra selbst für einen Jüngling gelten könnte. Wir haben aber dafür gesorgt, daß sie von dieser Seite nicht angefochten werden darf: denn sie ist mit einer Vorschrift von ihrem ehmaligen Arzte versehen, worin ihr wegen Schwäche ihrer Brust alle heftigeren Leibesübungen, eine mäßige Bewegung zu Pferde ausgenommen, scharf verboten sind. Du siehst daß nichts vergessen worden ist, der Akademie eine so gelehrige Schülerin, und dem wackern Speusipp eine so schöne Gelegenheit sich in der Platonischen Liebe zu üben, so lange zu erhalten, als beide verständig genug seyn werden, sich ihr Spiel nicht selbst zu verderben. In diesem Stücke traue ich dem Mädchen nur halb; denn sie hat, bei allen ihren vorbesagten guten Anlagen, einen ungeheuern Hang zur Zärtlichkeit; und ein so feuerfangendes Wesen, wie Speusipp zu seyn scheint, könnte wohl in einer unbewachten Stunde die Sokratische Lehre von der Gefährlichkeit eines Kusses leichter vergessen als in Ausübung bringen. Daß sie überaus leicht erröthet, wird ihr, anstatt Verdacht zu erwecken, vielmehr den Ruf eines sittsamen wohlerzogenen Jünglings zuziehen; daß sie aber vor deinem spähenden Falkenblick die Augen so jungfräulich sinken ließ, [177] kam wohl daher, weil sie vermuthete, ich werde dir von ihr geschrieben haben, und du betrachtest sie so aufmerksam, weil du sie zu erkennen glaubest. Uebrigens zweifle ich nicht, daß der Umgang mit diesem anziehenden Paar Platonischer Verliebten dein Leben in Athen nicht wenig verschönern helfen werde: nur dürfte dazu nöthig seyn, mit dem Oheim auf einem leidlichen Fuß zu stehen; was dir, meines Erachtens, so schwer nicht werden sollte, wenn du über dich gewinnen könntest, von ihm und seinen Dialogen öffentlich mit einer gewissen Achtung zu sprechen; freilich in einem Tone, den man nicht für Ironie halten könnte. Beide, der Mann und seine Werke, verdienen, däucht mich, diese Achtung, wie groß auch übrigens die Verschiedenheit eurer Art zu denken und zu leben seyn mag. Ich müßte mich sehr irren, oder Plato wird weniger ungerecht gegen dich seyn, wenn du großherzig genug bist, gegen ihn mehr als gerecht zu seyn; und was kann dir das kosten?

Mein Verlangen uns wiederzusehen ist dem deinigen gleich, lieber Aristipp. Ich gestehe dir, die Eintönigkeit meiner Lebensweise zu Korinth fängt mir an lange Weile zu machen. Die Leute, mit denen ich mich behelfen muß, verlangen so viel, und haben so wenig dagegen zu geben! Ich nehme den einzigen Euphranor aus, den du zu Aegina von Person kennen lernen sollst, und von dessen Talent ein paar Stücke, die du mir in deine Galerie zu stiften erlauben wirst, dir indessen zur Probe dienen können: aber was bliebe mir auch, wenn ich den nicht hätte, und wie lange wird es währen, so entschlüpft mir auch er? Glaube mir, ich wäre bereits [178] nach Athen oder anderswohin gezogen, wenn ich mein Haus in Korinth, wie die Schnecke das ihrige, allenthalben mit mir nehmen könnte, und wenn mich dann auch der sehr wesentliche Umstand nicht zurückhielte, daß ein schönes Weib, dessen höchstes Gut die unbeschränkteste Freiheit ist, schwerlich einen andern Ort in der Welt finden kann, wo sie weniger beeinträchtiget und mit mehr Achtung und Artigkeit behandelt würde, als zu Korinth. Mit allem dem finde ich doch nöthig, daß man von Zeit zu Zeit den Ort ändere, und Menschen suche, denen wir und die uns etwas Neues sind.

25. Kleonidas an Aristipp
25.
Kleonidas an Aristipp.

Der schlanke schwarzaugige Jüngling, mit den dunkeln, um Stirn und Nacken herabhangenden Traubenlocken, der dir diesen Brief überbringt, nennt sich Antipater 90, und ist ein naher Verwandter eines meiner hiesigen Freunde, dem ich es nicht abschlagen konnte, dir den jungen Menschen zu empfehlen. Ein löbliches Verlangen, das sehenswürdigste Land der bewohnten Welt zu sehen, und zu Athen, der wahren Hauptstadt dieses an schönen und blühenden Städten so reichen Landes, zu lernen was man in Cyrene nicht lernen kann, hat ihn aus dem Schooß der Seinigen herausgetrieben. Er bedarf aber in einer Stadt, welche, so zu sagen, die ganze Welt in einem Auszug ist, eines Führers, Auslegers und [179] Rathgebers; und an welchen andern hätt' ich mich in dieser Absicht wenden können als an dich, der du, was du schon für jeden andern Menschen thätest, desto lieber für einen Mitbürger thun wirst, der mit dem vollesten Vertrauen auf die Empfehlung deines Freundes Kleonidas zu dir kommt. Bisher haben alle Arten von gymnastischen und andern Leibesübungen beinahe seine ganze Bildung ausgemacht. Er reitet wie ein Thracier, läuft wie der schnellfüßige Achilles, weiß einen Wagen zu lenken wie der Homerische Alcimedon, und im Ringen wird er selbst zu Aegina, der fruchtbaren Mutter so vieler öffentlich gekrönter Athleten, nicht viele finden, die er fürchten müßte. Auch hat er große Lust sich an einem eurer großen Nationalfeste unter die Kämpfer zu stellen, und die Siegeskränze, womit schon mehrere Cyrener unsre Vaterstadt unter den Griechen verherrlicht haben, wo möglich mit einem frischen zu vermehren. Indessen fühlt er doch (was wenigen seines gleichen zu begegnen pflegt) daß er mit allen diesen Vorzügen nur die Hälfte von einem Menschen ist, daß sein Kopf noch leer ist, und daß Kräfte und Anlagen in seinem Innern schlafen, die der Erweckung, oder vielmehr da sie bereits zu erwachen angefangen, künstlicher Ausbildung und strenger Uebung eben so nöthig haben als die körperlichen; kurz, er kommt mit dem rühmlichen Vorsatz zu dir, nicht eher abzulassen, bis er unter deiner Anleitung ein vollständiger Mensch geworden. Ich betrachte es als einen nicht geringen Vortheil für dich und ihn, daß er noch unverstückelt und unverbildet in deine Hände kommt, wie ein schönes Stück rohen aber feinkörnigen Marmors, woraus du, als ein geschickter [180] Bildner, jede schöne Form hervorgehen machen kannst; da hingegen selbst Praxiteles und Polyklet einen Marsyas in keinen Apollo, einen Thersites in keinen Ajax oder Diomedes umgestalten können. Nimm dich also seiner an, lieber Aristipp, und mache dir das Verdienst um Cyrene, uns dereinst in unserm jungen Athleten einen zweiten Milon 91, an Weisheit wie an körperlicher Tüchtigkeit, wieder zurückzuschicken. Da dir dein junger Abderit den Muth nicht benommen hat, wenigstens etwas Leidliches aus ihm zu machen, so können wir um so viel gewisser seyn, daß aus einem so fähigen Jüngling wie Antipater etwas Vortreffliches unter deinen Händen werden müsse.

Plato, – dem wir seine vor so manchem Jahr an dir und dem armen Kleombrot begangene Sünde doch wohl endlich einmal vergessen müssen, – gibt den Wißbegierigen (einer Classe von Müßigen, welche unvermerkt immer zahlreicher zu werden scheint) seit einiger Zeit so viel zu lesen, und wenigstens in dem größten Theil seiner bisher bekannt gewordenen Dialogen so viel Stoff zum Nachdenken und zur angenehmsten Unterhaltung zugleich, daß ich den großen Ruf sehr natürlich finde, der seinen Namen bereits bis an die fernsten Gränzen unsrer Sprache trägt. Materie und Form sind in seinen Werken gleich anziehend: auch wo er mich nicht überzeugt (was freilich oft begegnet), verführt er mich doch zu wünschen daß er Recht haben möchte, oder macht auch wohl daß ich ihm wenigstens so lange glaube als ich ihn lese. Wenn sein mündlicher Vortrag nur halb so angenehm ist als der schriftliche; wenn er, wie man sagt, eine der [181] geistvollesten Physiognomien hat, und der Ton seiner Stimme schon das Ohr für ihn besticht, so muß er eine Art von Sirene seyn, deren Zauber nicht zu widerstehen ist. Auch hat er mit den Sirenen nicht nur gemein, daß er


Alles weiß was geschieht auf der viel ernährenden Erde,


sondern noch vor ihnen voraus, daß er auch weiß was in der über- und unterirdischen Erde, im Himmel und sogar in den überhimmlischen Räumen geschieht; eine Wissenschaft, deren die Homerischen Sirenen, mit allen ihren wenig bescheidenen Ansprüchen, dennoch sich anzumaßen Bedenken trugen. Von einem Manne, der so unermeßlich viel mehr weiß als andere, ist freilich nicht zu erwarten, daß er einem jüngern, einem Ausländer, und was noch das Schlimmste ist, einem der die Miene nicht hat, als ob er sich jemals unter seinen Scepter beugen werde, mehrere Schritte entgegen kommen sollte. Du wirst also, wenn ihr auch nur in einem leidlich anständigen Wohlverhältniß mit einander stehen sollt, schon das Beste dabei thun müssen; und gewiß wünschen alle deine Freunde, daß du auch hierin, wie in so manchen andern Stücken, der klügere Theil seyn mögest.

Unsere dermalige Staatsverfassung, nach deren Wohlseyn du dich erkundigest, erhielt sogleich in ihrer Erzeugung eine so gesunde und kräftige Leibesbeschaffenheit, daß es nicht natürlich zugehen müßte, wenn sie sich in der ersten Blüthe ihrer Jugend nicht wohl befände. Der große Punkt, wovon alles abhing, war die Wahl der Personen, die uns nach Maßgabe der neuen Constitution regieren sollten. Glücklicherweise, oder vielmehr durch eine Folge des Zutrauens unsers ganzen [182] Volkes zu deinem Bruder und seinem Freunde Demokles, und der eben so großen Klugheit und Redlichkeit, womit sie dieses Zutrauen zum gemeinen Besten benutzten, fielen die Wahlen wirklich auf die Besten in jeder Rücksicht, ohne Ansehen der Partei, zu welcher sie sich ehmals gehalten hatten; auf lauter verständige, gemäßigte, der neuen Ordnung aufrichtig anhangende, und größtentheils durch ihre Glücksumstände über alle selbstsüchtigen Absichten weggesetzte Männer; auch erhielten sie daher die allgemeine Billigung. So lange diese unsern kleinen Staat besorgen, und vornehmlich so lange Demokles und Aristagoras an ihrer Spitze stehen, und die ihnen anvertraute höchste Staatsgewalt so gesetzmäßig und mit so großer Weisheit und Eintracht handhaben wie bisher, wird der sichtbar zunehmende Wohlstand unsers Gemeinwesens und unsrer Bürger aller Classen die Verfassung selbst immer mehr befestigen, und einen Rückfall in unsre ehemaligen Uebel unmöglich machen.

Die natürlichste Folgerung, die du, lieber Aristipp, aus Vergleichung des glücklichen Zustandes unsrer Vaterstadt mit dem politischen und sittlichen Verfall von Athen ziehen könntest, will ich dir selbst überlassen. Lebe wohl, und liebe deine Abwesenden, wie du von ihnen geliebt wirst.

26. Aristipp an Lais
[183] 26.
Aristipp an Lais.

Die Gemälde deines Freundes Euphranor sind glücklich angelangt, und zieren bereits die kleine Galerie, welcher du ein so reiches Geschenk zu machen die Güte hast. Wohl verdiente die schöne Scene deiner Unterhaltung mit Sokrates unter dem heiligen Oelbaum der Athene Polias von einem Maler dargestellt zu werden, der neben einem Parrhasius und Timanthes mehr wie ein glücklicher Nebenbuhler als wie ein Nacheiferer erscheint, und das große Talent Seelen zu malen von der Natur selbst in dem Geschenk des innigsten Gefühls für sittliche Schönheit und Grazie empfangen zu haben scheint. Aber womit kann ich dir, o du liebenswürdigste der Weiber, den Gedanken vergelten, daß du auch den schönen Augenblick unsers ersten Zusammentreffens der Gewalt der Zeit entreißen, und, wofern mir ein so langes Leben bestimmt wäre, daß ein allmählich abbleichendes und verwitterndes Gedächtniß eine solche Nachhülfe nöthig machte, das schönste aller Bilder, die meine Einbildungskraft aufbewahrt, immer jugendlich frisch und blühend in mir erhalten helfen wolltest? Euphranor selbst müßte mir seinen Pinsel und seine glühenden Farben leihen können, wenn ich dir auch nur einen kleinen Theil dessen schildern sollte, was ich fühlte, bis das Entzücken der ersten Ueberraschung in den reinen Genuß des ruhigen Anschauens überging. Ohne Zweifel war es gerade die Vereinigung aller möglichen Forderungen der Kunst in diesem so sehr vollendeten [184] Werke, was die Ursache war, warum ich beim ersten Anblick nur von dieser bis zur Täuschung aller Sinne getriebenen Wahrheit und Aehnlichkeit getroffen wurde, die den beiden Figuren den Schein als ob sie wirklich lebten in einem desto höhern Grade gibt, weil sie Lebensgröße haben, und alles was um sie her ist, durch den Zauber der natürlichsten Beleuchtung und Färbung, die Illusion vollkommen machen hilft. Erst lange nachdem der kurze Wahnsinn des ersten Eindrucks vorüber war, gewann ich Besonnenheit genug, dem Geist und der Hand des Meisters ins Besondere und Einzelne zu folgen, und zu bemerken, wie günstig der gewählte Moment seiner Kunst war, aber auch welcher Geschicklichkeit sich der bewußt seyn mußte, der einen solchen Moment zu wählen wagen durfte.

Du wirst mir's hoffentlich nicht für Schmeichelei ausdeuten, wenn ich dir sage, daß dieses Gemälde, seitdem es meine kleine Pökile 92 verherrlicht, das erste ist, was alle Augen an sich lockt, und das letzte, von welchem man sich trennt. Beinahe werd' ich mich noch genöthigt sehen, es an einen geheimern und heiligern Ort zu versetzen, wenn ich verhüten will, daß es den übrigen nicht gar zu viel unverschuldeten Schaden thue. – Aber meinen Abderiten (den jungen Onokradias, von welchem ich dir neulich schrieb, hättest du sehen sollen, als ihm das Anschauen dieses Wunders der Natur und Kunst (die ihm beide gleich unbekannte Gottheiten sind), zum erstenmal verstattet wurde! Seine ohnehin etwas weit hervorstehenden Augen wurden plötzlich noch einmal so groß, und die seltsamen Gebärdungen, womit er die Einwirkung[185] eines für ihn so ganz neuen Schaugerichts zu Tage egte, machten uns einige Augenblicke befürchten, daß er wirklich närrisch geworden sey. Es dauerte eine ziemliche Weile, bis er sich durch mehr als Einen Sinn überzeugen konnte, daß die Nymphe, die er aus der marmornen Kufe auftauchen sah, nur gemalt sey. Nun, bei Jason und Latona! rief er endlich, wenn dieß nur ein gemaltes Bild ist, wie ich nun wohl sehe, so muß ich das Original haben, und wenn es mich das ganze Erbgut meiner Familie kostete! Man versicherte ihn, das Original sey zu Korinth alle Tage in vollem Leben zu sehen. – So bestelle ich heute noch ein Schiff, rief er. – »Weißt du auch wie das Sprüchwort lautet 93?« – O! um dieses Mädchens willen reise ich in einem Fischerkahn bis zu den Säulen des Hercules. »Aber die Sache hat noch einen andern Haken. Wenn du sie auch zu sehen bekommst, desto schlimmer für dich! Denn das Haben mußt du dir ein- für allemal vergehen lassen.« – Dafür macht euch keine Sorge, versetzte der Abderit in einem triumphirenden Ton; ich habe Creditbriefe für zehn Talente bei mir. – »Närrischer Mensch, und wenn du Credit für zehntausend Talente hättest, siehest du denn nicht, daß wir nur unsern Spaß mit dir treiben, und daß diese Auftaucherin – mit Einem Wort, Aphrodite selbst ist?« – O weh! rief er mit einer kläglichen Miene; das ist freilich ein ander Ding! Aber das hättet ihr mir gleich sagen sollen. Ich bin unschuldig, wenn sich die Göttin durch meine vermessenen Reden beleidigt finden sollte. Hoffentlich wird sie mich's nicht entgelten lassen. – »Das hättest du selbst sehen sollen, guter [186] Onokradias, daß es Aphrodite ist, und du wirst auf alle Fälle wohl thun, wenn du den Zorn der Göttin durch so viele schneeweiße Tauben, als du in ganz Attika zusammentreiben kannst, zu versöhnen suchst. Sahst du denn den Menschen hier nicht, der in einer so andächtigen Stellung hier an der Thür steht, und die Göttin anbetet?« – Ja wirklich! Was ich für ein Dummkopf bin! Aber daß ich keinen mit weißen Tauben bespannten Wagen neben der Göttin sah, betrog mich. Freilich hätte mir dieser junge Priester, oder was er ist, das Verständniß öffnen können, wenn ich ihn nur nicht vor dem schönen Mädchen – der Göttin wollt' ich sagen – gänzlich übersehen hätte.

Du siehst, schöne Lais, daß ich mit meinem Abderiten noch nicht sonderlich weit gekommen bin. Ich habe mich aber auch zu nichts anheischig gemacht, als ihn ungefähr zu lassen wie ich ihn fand. Er weiß sich doch wenigstens ziemlich bald wieder zu fassen, und für einen Abderiten ist das schon viel.

Deine Lasthenia und ihr etwas zweideutiger Seelenliebhaber sind inzwischen aus ihrer Wolke hervorgetreten, und haben sich mir, um meinem Scharfblick zuvorzukommen, in höchstem Vertrauen entdeckt. Ich stellte mich überrascht, versprach ihnen aber alle guten Dienste, die sie nur immer von mir erwarten könnten. Das Mädchen macht wirklich große Fortschritte, und hat mir noch ganz kürzlich Platons Ideen so artig vorpoetisirt, daß ich sie beinahe für mehr als bloße Hirngespenster halten möchte, wenn's nur irgend möglich wäre. Sie besitzt eine ganz eigene Ahnungsgabe für alles Uebersinnliche und Unbegreifliche, und spricht von Dingen, [187] wovon niemand etwas weiß noch wissen kann, ohne selbst das Geringste mehr davon zu wissen als andere, mit so viel Geist und Gemüthlichkeit, daß es eine Lust ist, ihr (zumal bei rosenbekränzten Bechern) zuzuhören. Aber was den armen Speusipp in keine geringe Verlegenheit setzt, ist der Umstand, daß der göttliche Plato selbst eine ziemlich warme Zuneigung – für den schönen Kleophron gefaßt hat. Die kleine Spitzbübin scheint mir mehr Freude als Schrecken über diese Entdeckung zu verrathen, welche sie selbst (wie natürlich) zuerst gemacht hat, und wodurch sich ihre Eitelkeit mächtig geschmeichelt fühlt. Indessen tröstet sich Speusipp mit der Hoffnung, daß die Liebe seines Oheims vermuthlich – platonischer seyn werde, als die seinige; und ich bestärke ihn, wie billig, in dieser Ueberredung aus allen Kräften.

Zum Beweise, wie treulich ich deine guten Lehren in Ausübung gebracht habe, und wie gut ich dermalen mit dem ehrwürdigen Aldermann der Akademie stehe, will ich dir nicht verhalten, liebe Laiska (wie sehr auch meine Bescheidenheit dabei ins Gedränge kommt), daß mir diesen Morgen sogar das Glück geworden ist, ihn selbst mit etlichen seiner Vertrauten in meine Galerie treten zu sehen. Er sprach mit mir von meinen Wanderungen, und wunderte sich, daß ein so viel gereister Cyrener Aegypten noch nicht gesehen habe. Es ist noch immer Zeit, sagte ich, die Pyramiden und Obelisken und den Nilmesser in Augenschein zu nehmen; Katarakten habe ich anderswo schon gesehen, und für die Weisheit der Aegyptischen Priester – hab' ich, die Wahrheit zu gestehen, keinen Sinn. – Dagegen ist nichts zu sagen, versetzte er mit einem kleinen [188] Zucken der Nase und Augenbrauen. Bei den Gemälden machte er hier und da eine kurze Bemerkung, welche bewies, daß er mit der Kunst bekannt ist, und das Schönste gesehen hat. Auf Kleombrot warf er im Vorbeigehen einen ernsten Blick, und kehrte sich sogleich wieder von dem Bilde weg; bei dem sterbenden Sokrates hingegen verweilte er desto länger, zwar stillschweigend, aber mit großer Aufmerksamkeit und einigen leisen Zeichen von Rührung. Auch die schöne Anadyomene fesselte seine Augen eine kleine Weile; er rühmte den Maler, der den Zeuxis selbst in einem Theil, worin dieser am größten sey, in der Kunst die Farben in einander zu schmelzen, noch zu übertreffen scheine. Als er im Begriff war, sich wieder davon zu entfernen, heftete er einen Blick auf mich, als ob er mich mit dem unverschämten jungen Gaffer im Gemälde vergleiche. Vermuthlich eine Scene aus deiner eigenen Geschichte, sagte er zu mir mit einem kaum merklichen Lächeln. Die schönste, versetzte ich mit gebührender Dreistigkeit, und (wie sich von selbst versteht) ohne roth zu werden. Er weilte noch einige Augenblicke bei dem Tode des Sokrates, und sagte dann im Weggehen etwas feierlich: »es war ein Unglück für mich, Aristipp, daß ich unpäßlich war; aber daß du nicht zu Aegina warst, magst du deinem Glücke danken.« – Ich fürchte, er hat Recht.

Die Hoffnung mit Euphranor künftigen Sommer durch deine Vermittlung in ein näheres Verhältniß zu kommen, hat nun einen ungleich größern Reiz für mich. Ich werde dir dafür, wenn du es erlaubst, in der Person meines jungen Landsmannes Antipater, der sich seit einiger Zeit bei mir [189] aufhält, einen Jüngling vorstellen, dessen gleichen man auch nicht alle Tage sieht.

27. An Kleonidas
27.
An Kleonidas.

Dein junger Freund Antipater hätte sich durch nichts einer bessern Aufnahme versichern können, als daß er mir einen so lange erharrten Brief von meinem Kleonidas überbrachte; wiewohl ich gestehe, daß er keiner andern Empfehlung bedarf, als sich bloß zu zeigen. Ich bin wirklich stolz darauf, einen so unverdorbenen, kraftvollen und vielversprechenden Sohn der Natur, wie Antipater ist, als meinen Landsmann bei den Athenern aufzuführen. Wohl wird es ihm kommen, wenn er so fest und unreizbar ist, als sein ganzes Wesen ankündigt; denn ich sehe schon drei oder vier unsrer jungen mädchenhaften Bathylle 94 mit Rosen duftenden Locken, schmachtenden Augen und zarten lispelnden Stimmchen, die um ihn herumbuhlen, und alle ihre kleinen Hetärenkünste aufbieten, sich von ihm bemerken zu machen, und ihm zu zeigen, daß sie keine Gefälligkeit zu groß finden würden, um sich eines Liebhabers von seinem Schlage zu versichern.

Ich habe meinem jungen Landsmann ein Zimmer in meinem Hause (das gerade Raum genug für uns beide hat) angewiesen; er ist, so oft es ihm gefällt, mein Tischgenoß, und bedient sich meines Umgangs, ohne mir lästig zu seyn, [190] so viel als ihm gemüthlich ist: dieß ist aber auch alles, was ich (vor der Hand wenigstens) für ihn thun kann, und wirklich schon mehr als er vonnöthen hat. Jünglinge wie er werden nicht gebildet, sondern bilden sich selbst, oder bringen vielmehr ihre schon vorausbestimmte Form mit sich auf die Welt; wie sie sind, sollen sie seyn; was sie werden, sollen sie werden. Was eine Pflanze bedarf, um sich zu entwickeln, Freiheit, Licht und angemessene Nahrung, ist im Grund alles, was solche Menschen zu ihrem Wachsthum und Gedeihen brauchen. Athen ist reich an merkwürdigen Menschen aller Arten, deren Vorzüge, Talente, Kenntnisse, Erfahrungen, Tugenden und Untugenden ein Jüngling wie Antipater benutzen kann: er mag sie selbst aufsuchen, und selbst wählen, zu wem er sich halten will. Zwar werd' ich ihn unvermerkt beobachten, und ihn warnen, sobald ich sehe, daß seine Unerfahrenheit irgend eine große Gefahr laufen könnte; aber mich nicht gleich für ihn ängstigen, wenn er auch dann und wann zu weit mit der Nase vorwärts kommt, oder einen Mißtritt thut, der ihn künftig vorsichtiger zu seyn lehrt. Selten oder nie werd' ich ihm mit meinem Rathe zuvorkommen, niemals ihm von einer Person, die er selbst sehen wird, voraus sagen, was ich von ihr halte: begehrt er aber von freien Stücken meine Meinung, worüber es sey, zu wissen, so werd' ich sie ihm frei und offen sagen. Verlangt er Unterricht über etwas, das ich besser weiß als er, so soll er ihn erhalten. Dieß ist ungefähr die Art, wie ich mit ihm umgehe, bis wir uns näher kennen, und das wahre Verhältniß seiner Natur zu der meinigen sich so bestimmt ausgesprochen hat, daß wir beide genau wissen, wie wir gegen einander[191] stehen, und was wir einander seyn oder nicht seyn können. An eigentliche Bildung ist (wie gesagt) bei einem Jüngling wie dieser nicht zu denken. Ja, so einen Onokradias, den Sohn Onolaus des Zweiten, des Enkels von Onomemnon, der ein Urenkel von Onocephalus dem Großen war, so einen Heldensohn kann man bilden, und soll man bilden, so gut als es gehen will, denn er ist für sich selbst nichts; so einem soll man gesunde Begriffe, Grundsätze und Maximen in den Kopf, oder wenigstens ins Gedächtniß einsammeln, weil er sie ohne fremde Hülfe nie bekommen würde. Wer nicht schon von bloßem Zusehen gehen lernt, muß es in einem Gängelwagen oder am Führband lernen; wer blind ist, muß geführt werden; wer nicht denken kann, soll andern glauben; wer selbst kein Urtheil hat, mag, wenn er nicht schweigen kann, verständigen Männern nachsprechen. So will es die Natur; und so ist's recht. Aus einem Stück Sandstein, Marmor oder Lindenholz kann freilich ein Alkamen nach Gefallen einen Achilles oder Thersites herausmeißeln oder schnitzeln: aber aus seinem Sohn Lamprokles konnte Sokrates selbst keinen Xenophon, so wie aus seinem geliebten Alcibiades keinen Perikles bilden. – Doch, wozu das alles, was du so gut weißt als ich. Denn gewiß wolltest du mit der Bildung deines jungen Freundes, die du mir aufträgst, weder mehr noch weniger sagen, als was ich dir zu leisten versprach, und zu halten gedenke – und das ist genug.

Ohne Zweifel erinnerst du dich noch des alten Antisthenes, den du in Athen kennen lerntest; desjenigen unter den vertrautern Freunden unsers Weisen, der ihm (seine fröhliche [192] Laune und Urbanität und das feine Salz seiner Scherze ausgenommen) in Lehre und Leben am ähnlichsten wäre, wenn er nicht in beidem ziemlich weit über die Linie hinausginge, die das Mittel zwischen zu viel und zu wenig bezeichnet, und freilich nicht immer so genau zu treffen ist, als ein weiser Mann wohl wünschen möchte. – Indessen hat sich ein junger Paphlagonier aus Sinope, Diogenes genannt, von ungefähr zu ihm gefunden, der die Kunst zu entbehren und zu hungern noch viel weiter treibt als Antisthenes, aber dabei, was den Witz, die gute Laune und die Genialität betrifft, so viel Aehnliches mit dem Sohn des Sophroniskus hat, daß ihn Plato, wie ich höre, nur den tollgewordenen Sokrates zu nennen pflegt. Der weiseste Mann, sobald er ohne alle Nachsicht und Schonung auf die Thoren, d.i. auf die große Mehrheit, losgehen, und sich ihnen in gar keinem Stücke gleich stellen wollte, würde ihnen nothwendig, im mildesten Lichte betrachtet, als ein ausgemachter Narr erscheinen müssen. Dieß ist gewissermaßen der Fall dieses Diogenes; mir wenigstens scheint er unter seiner Narrenkappe einen gesundern Kopf zu bergen, als die meisten, die durch die leicht zu machende Entdeckung, daß er ein Narr sey, ihren eigenen Verstand in Sicherheit gebracht zu haben glauben. Im Grunde gehört ein gutes Theil Vernunft dazu, um ein Narr wie Diogenes zu seyn; ja ich möcht' es sogar ein Talent nennen, worin man es zu einer gewissen Virtuosität bringen kann, so gut als in irgend einem andern.

Da dieser junge Mann in der neuentstandenen Classe von Menschen, die sich, seit Plato an ihrer Spitze steht, [193] Philosophen nennen, künftig eine bedeutende Rolle spielen dürfte, so ist es dir vielleicht nicht unangenehm, wenn ich dich, so weit meine dermalige Kenntniß von ihm reicht, etwas näher mit ihm bekannt mache. Er war (wie es scheint, und wie die Erkundigungen, die ich hierüber eingezogen habe, bestätigen) in guten Glücksumständen geboren, und hatte eine dieser Lage angemessene Erziehung erhalten. Ein unvermutheter Umsturz seines Hauses, welches einen ansehnlichen Handel auf dem Euxinischen Meere getrieben hatte, machte ihn auf einmal zum Bettler. Ein andrer Zufall führte ihn zum Antisthenes nach Athen. Da sein Beruf zur Philosophie ein eigentlicher Nothfall war, so zeigte ihm sein guter Verstand sehr bald, was er hier zu thun habe. Einem Menschen, der keine Wahl hatte, als zwischen dienen und arbeiten, oder betteln und müßiggehen, – wo der Gewinn auf beiden Seiten ziemlich gleich, und der tiefe Grad von Verachtung, der den Stand des Bettlers drückt, beinahe das Einzige ist, was die Wage auf die andere Seite ziehen kann – konnte nichts Glücklicher's begegnen, als die Bekanntschaft mit Antisthenes. Denn er sah nun auf den ersten Blick, daß er nur noch Einen Schritt weiter zu gehen brauche als dieser, um seine Dürftigkeit zu Philosophie zu veredeln, sich aus einem Bettler zum unabhängigsten aller Menschen zu machen, und der verächtlichsten Lebensart sogar einen Respect gebietenden Charakter aufzudrücken. Schon Antisthenes würde eben so räsonnirt haben wie Diogenes, wenn seine äußere Lage völlig eben dieselbe gewesen wäre. Auch liegt der wahre Unterschied zwischen ihrer Art zu philosophiren [194] bloß in dem Umstand, daß jener gerade so viel Vermögen hat, daß es ihm täglich wenigstens drei bis vier Obolen, und alle vier Jahre einen neuen Ueberrock abwirft; dieser hingegen gar nichts hat, wovon er leben kann, als seinen Kopf und seine Arme. – Daß er sich zu einigen andern Lebensarten, womit ein Bettler, der alles zu leiden und zu thun bereit ist, sich allenfalls in einer Stadt wie Athen fortbringen kann, zu gut fühlte, wollen wir ihm zu keinem großen Verdienst anrechnen: aber seinen Verstand hat er bei mir in keine gemeine Achtung gesetzt, nicht dadurch, daß er den Stand eines Cynischen Philosophen (wie man den Antisthenes und seine wenigen Anhänger zu nennen anfängt) erwählt hat – denn in seiner Lage war eigentlich nichts zu wählen – sondern daß er diese Nothphilosophie sich selbst und seinen Umständen so anzupassen weiß, daß sie sein eigen wird, daß sie ihm, so zu sagen, bequem sitzt, und wohl ansteht; mit Einem Wort, daß er anstatt Nachahmer zu seyn, Original ist, und auf dem Wege, den er eingeschlagen hat, ziemlich sicher seyn kann, wie viele Nachtreter er selbst auch immer finden möchte, doch so leicht von keinem erreicht, geschweige übertroffen zu werden.

Es klingt paradox genug, hat aber seine völlige Richtigkeit, daß Diogenes zum ersten Grundsatz seiner Philosophie gemacht hat, »alle seine Bedürfnisse, oder alles was er, außer einem ziemlich kurzen und abgetragenen Mantel, auf der ganzen Welt besitzt, in einem mäßigen Schnappsack auf der Schulter mit sich herum zu tragen.« Bei einer neulichen Inventur seines Inhalts fand der närrische Mensch, daß er [195] einen Kamm mit vier Zähnen, und einen hölzernen Becher zu viel habe, da ihm eine seiner Hände beides sehr bequem ersetzen könne; und so wurde dieser Ueberfluß sogleich ins nächste Wasser geworfen. Indem er die Entbehrungskunst bis auf diese Spitze treibt, gewinnt er den Vortheil, daß seine Dürftigkeit das Ansehen eines von freien Stücken aus Grundsätzen erwählten Zustandes erhält, und dieß gibt ihm eine Art von Recht, sich über die Ueppigkeit der Reichen lustig zu machen; ein Zeitvertreib, wozu ihn die Natur mit Witz und Muthwillen reichlich versehen hat. Da die Menschen überhaupt, und die Athener noch mehr als andere, wohl leiden mögen, daß man über ihre Thorheiten spotte, wenn es nur auf eine solche Art geschieht, daß sie mitlachen können, und der Spötter ihnen hinwieder Blößen genug gibt, um ihn mit gleicher Münze zu bezahlen; so hat er sich dadurch bereits eine Art von Popularität erworben, die ihn wenigstens vor dem Mangel an Wolfsbohnen (seiner gewöhnlichen und beinahe einzigen Nahrung) sicher stellt. Aber die Philosophie des Schnappsacks verschafft ihm noch einen Vortheil, der nach seiner Schätzung alle andern überwiegt. Da er so unendlich wenig Ansprüche an die bürgerliche Gesellschaft macht, so glaubt er auch berechtigt zu seyn, sich über alles, was im menschlichen Leben bloß von Uebereinkunft, Gewohnheit und Sitte abhängt, wegzusetzen, und im Nothfall mitten auf dem Markte zu Athen alles, was nicht an sich unrecht ist, für eben so erlaubt zu halten, als in der tiefsten Schlucht des Pentelikus. Er achtet kein Vorurtheil, spottet über den Zwang, den wir uns selbst durch eine unendliche [196] Menge vermeinter Pflichten auflegen, wovon die Natur nichts weiß, und die man übertreten kann, ohne darum ein schlimmerer Mensch zu seyn; und hält sich daher durch die Gesetze der Wohlanständigkeit und Urbanität so wenig gebunden, daß er vielmehr das größte Vergnügen darin findet, sie alle Augenblicke zu übertreten, und den Leuten dadurch lächerlich und anstößig zu werden. Er hat sehr richtig geurtheilt, daß dieß alles zu der Rolle eines bloßen Naturmenschen gehört, und daß er so ziemlich darauf rechnen kann, man werde die Billigkeit fühlen, an einen Menschen, der von andern nichts fordert, als daß sie ihn leben lassen, hinwieder keine Forderungen zu machen, wozu er als bloßer Mensch nicht verpflichtet ist. Bei allem dem hat er doch zu viel Sinn, um in der Ausübung seiner Grundsätze so weit zu gehen, als sie ihn führen könnten. Er spricht freier als er handelt, ist besser und verständiger als er scheinen will; und wiewohl er eine eigene Freude daran hat, in den seltsamen Bockssprüngen, die er seinen Witz und seine Laune machen läßt, der Gränzlinie des Unanständigen öfters so nahe zu kommen, daß man alle Augenblicke befürchtet, er werde vollends über sie weggehen, so weiß er doch (zumal in guter Gesellschaft) den äußersten Punkt immer so genau zu treffen, daß man ihm wenigstens das Lob eines geschickten Luftspringers nicht versagen kann. Noch einer kleinen Tugend muß ich erwähnen, die an einem Philosophen dieses Schlages nicht ganz gleichgültig ist; nämlich daß er – das Wasser nicht spart (welches zum Glück in und um Athen überall umsonst zu haben ist), und daß er daher im Punkt der Reinlichkeit [197] von dem wasserscheuen Antisthenes sehr stark zu seinem Vortheil absticht.

Ich habe mich etwas länger bei der Charakteristik dieses bis jetzt in seiner Art einzigen Sterblichen aufgehalten, damit dir begreiflicher werde, wie es zuging, daß Antipater an ihm und er hinwieder an Antipatern in kurzer Zeit so viel Geschmack finden konnte, daß jetzt keine Dekade vergeht, ohne daß sie einen Gang bald in den Hafen, bald auf den Hymettus oder Pentelikus 95, oder eine Schwimmpartie nach den kleinen Inseln Psyttalia und Atalanta, auch wohl bis nach Salamine, zusammen machen. Es gibt einen komischen Anblick, unsern jungen Landsmann, nach Cyrenischer Weise stattlich gekleidet, mit dem zottigen Barfüßer in seinem groben Tribonion, das ihm kaum über die Kniee reicht und seine ganze Draperie ausmacht, durch die Gassen und Hallen von Athen schlendern zu sehen, wo tausend gaffende Augen und klaffende Mäuler auf sie gerichtet sind, und oft ziemlich laut über das ungleichartige Paar scherzen, ohne daß Antipater die mindeste Kunde davon nimmt. Sein häufiger Umgang mit Diogenes hat ihn auch mit dem alten Antisthenes in Bekanntschaft gesetzt, an dessen trivialem Menschenverstand er unendlich mehr Gefallen bezeigt, als an den sophistischen Spitzfindigkeiten, womit Plato seine Zuhörer so gern – zum Besten hat. Schließe nicht etwa hieraus, daß ich deinen jungen Freund gegen den letztern böslicherweise eingenommen habe. Die Sache machte sich von selbst. Denn zum Unglück mußte sich's fügen, daß Plato, da der gute Antipater zum erstenmal in seine Schule kam, eben in [198] der Vorlesung und Erklärung seines Parmenides 96 begriffen war, worin er diesen Eleatischen Sophisten seinen berühmten Grundsatz: »Alles ist Eins, und Eins ist Alles,« durch eine neunfache Reihe Argumentationen von der allersubtilsten Subtilität durchführen läßt. Der arme Antipater, dem so etwas nie gereicht worden war, horchte mit Augen, Mund und Ohren, und wäre beinahe erstickt, weil er, aus Furcht daß ihm ein Wort entgehen möchte, den Athem so lange bis er nicht mehr konnte an sich hielt. Da er aber in einer ganzen Stunde mit übernatürlicher Aufmerksamkeit und Anstrengung allem, was er gehört hatte, weder Sinn noch Geschmack abgewinnen konnte, und anstatt weiser als zuvor geworden zu seyn, nichts als einen wüsten Kopf, worin sich alles mit ihm im Wirbel herumdrehte, davon trug, lief er, ohne den Schluß abzuwarten, zum Saal hinaus, und schwur bei allen zwölf himmlischen Göttern, seinen Fuß nie wieder über die Schwelle des Mannes zu setzen, welcher wißbegierigen Jünglingen solche Possen für Weisheit verkaufe. Da irrest du dich, Antipater, sagte ich: er gibt sie umsonst. – Desto schlimmer für seine Zuhörer, versetzte der junge Mensch; denn wenn er auch nur den Werth einer Drachme darauf legte, so würde er sich schämen, Spreu für Körner zu verkaufen. Ich muß eilends nach der nächsten Palästra laufen, um das tolle Zeug wieder aus dem Leibe zu schwitzen. – Das magst du immerhin, sagte ich: indessen hättest du doch in dieser einzigen Stunde, die du für verloren hältst, viel gewonnen, wenn du dir merktest, was sie dich gelehrt hat. –

»Und was wäre das?«

[199] Daß es Dinge gibt, von denen ein vernünftiger Mensch nicht mehr wissen wollen muß, als jedermann davon weiß. Daß z.B. Etwas nicht – Nichts, und Eins nicht – Zwei ist, sind Wahrheiten, woran niemand zweifelt: aber Plato wollte auch begreiflich machen, wie und warum es so sey, und verwickelte darüber sich selbst und seine Zuhörer in so undenkbare Sophistereien und Widersprüche, daß du am Ende ungewiß wurdest, ob du selbst Etwas oder Nichts seyest.

»Das ist eben, was mich toll machte. Höre nur an. – Viele können nicht seyn, wenn nicht Eins ist; denn Viele sind weiter nichts als Eins vielmal genommen. Nun kann aber Eins nicht Eins seyn; denn ein anders ist seyn, ein anders, Eins. Sobald also Eins existirte, so wär' es nothwendig mehr als Eins, nämlich das Eins an sich selbst, und das existirende Eins; Eins wäre also Zwey; da aber Zwei nicht Eins seyn kann, weil es dann nicht Zwei wäre, so gibt es weder Eins noch Zwei, folglich auch nicht Viele, folglich gar Nichts. – Ist es erlaubt, solch unsinniges Zeug für Philosophie zu geben, wenn man's auch umsonst gibt?«

Nimm es, wie gesagt, beim rechten Ende, so wird es dich klug machen. Wer weiß ob Plato mit seinem Parmenides etwas anders wollte?

»Wenn das sein Zweck war, so danke ich für das Mittel! Was würde man von einem Menschen sagen, der ein paar Duzend arme Kinder stundenlang mit Versuchen auf dem Kopfe zu gehen quälte, bloß um sie zu überzeugen, daß sie nicht auf dem Kopfe gehen müßten?« –

[200] Was konnt' ich dem jungen Manne antworten, Kleonidas?

Da ich doch einmal auf diesem Kapitel bin, so habe die Geduld, über mein Verhältniß zu Plato, worüber meine Freunde sich, wie ich merke, ziemlich unnöthige Sorgen machen, mein letztes Wort anzuhören.

Niemand kann geneigter seyn als ich, diesem großen Antagonisten und Nebenbuhler der Protagoras, Gorgias, Prodikus, Hippias, und wie sie weiter heißen, in allem was an ihm und seinen Werken als vortrefflich zu loben ist, die vollständigste Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ob ich aber wirklich so gerecht gegen ihn seyn kann, als ich zu seyn wünsche, zweifle ich selbst. Wir sind zu verschiedene Naturen und sympathisiren zu wenig, um einander rein aufzufassen. Daher ist mir auch seine Meinung von mir sehr gleichgültig; vielleicht noch mehr als ihm die meinige. Er kann mir weder schaden noch nützen; denn ich werde nie weder sein Nebenbuhler noch sein Fackelträger seyn. Der Weg, den ich gehe, liegt so weit von dem seinigen, daß wir schwerlich jemals in Zusammenstoß gerathen können. Ruhm scheint alles zu seyn was er sucht; ich suche nichts, als so gut durch die Welt zu kommen wie mir möglich ist, und wenn ich berühmt werden sollte, müßte dem Ruhm nur die Laune anwandeln, mich zu suchen; ich suche ihn gewißlich nie. Wie könnten wir also, Plato und ich, uns je im Wege stehen? Kurz, ich sehe so wenig Ursache, warum ich ihn lieben oder beneiden, als warum er mich hassen oder verachten sollte; warum sollten wir uns also nicht bei unsrer bisherigen Gewohnheit erhalten können, [201] ich von ihm öffentlich immer mit der Achtung, die man großen Talenten schuldig ist, er von mir – gar nicht mehr zu reden? – Indessen werd' ich mir doch gefallen lassen müssen, von den strengern Sokratikern überhaupt – zumal seitdem Xenophon in seinen Erinnerungen an Sokrates den Ton hierin angegeben hat – aus ihrer Gemeine ausgeschlossen, oder, da sie mich doch nicht ganz verwerfen können, wenigstens für einen unächten Sohn des Vaters, zu dem wir uns alle bekennen, erklärt zu werden. Sie machen mir, wie ich höre, mit vieler Bitterkeit zum Vorwurf, daß ich die keusche Philosophie des Sokrates auf eine zweifache Weise zur Hetäre herabwürdige: erstens, indem ich zu ihrem ersten Grundsatz mache, »die Wollust sey das höchste Gut des Menschen;« und zweitens, weil ich sie für baares Geld verkaufe. Ueber den ersten Vorwurf, der sich vermuthlich mehr auf meine von der ihrigen ziemlich stark abstechende Art zu leben, als auf die lächerliche Beschuldigung, daß ich die Wollust zum Princip meiner Philosophie mache, gründet, bedarf ich wohl keiner Rechtfertigung bei dir; über den zweiten hingegen glaube ich dir einige Erläuterung schuldig zu seyn, und trage zu diesem Ende kein Bedenken, dir den ganzen Hergang, der den Anlaß dazu gegeben, umständlich zu erzählen.

Die Entschließung, deren ich ehemals gegen dich erwähnte, einen Theil meiner Muße Jünglingen, die sich nach Sokratischer Weise zu mir halten wollten, zu widmen, fand, als ich sie eine Zeitlang in Ausübung gebracht hatte, vielen Beifall. Meine Art zu philosophiren schien mehrern, welche sich den Sokrates selbst öfters gehört zu haben erinnerten, [202] der Sokratischen Deutlichkeit, Popularität und Anwendbarkeit im Leben ohne Vergleichung näher zu kommen als die Platonische, und ein gutes Theil mehr von der Sokratischen Genialität und Anmuth zu haben, als die herbe einseitige Manier des Antisthenes. Indessen waren doch diejenigen, die sich am meisten an mich andrängten, größtentheils Fremde, die nur wenige Wochen oder Monate in Athen verweilen konnten oder wollten. Eine Anzahl dieser letzten verabredete sich mit einander, mich zu bitten, daß ich ihnen in so kurzer Zeit als möglich einen vollständigen Unterricht in der Philosophie des Sokrates ertheilen möchte, die seit seinem Tode in ein Ansehen und eine Nachfrage gekommen ist, so sie niemals, während er selbst noch lebte, gehabt hat. Diese Leute mochten gehört haben, daß Prodikus und andere berühmte Sophisten sich für ihre Vorlesungen ziemlich theuer hätten bezahlen lassen; oder glaubten vielleicht, was man umsonst weggebe, müsse wenig werth seyn; oder hielten es auch wohl für unbillig, einem Manne, den keine Noth dazu treibt, zuzumuthen, daß er Athem aufwende, andere gescheidter und besser zu machen, ohne sich selbst besser dadurch zu befinden; genug, sie beschlossen, es gänzlich in meine Willkür zu stellen, was für einen Preis ich auf meine Gefälligkeit setzen wollte, und genehmigten zum voraus jede Bedingung, die ich ihnen machen würde. An einem schönen Morgen erschienen ihrer nicht weniger als dreißig, um mir durch einen aus ihrem Mittel diesen Antrag zu thun. Ich suchte anfangs die Sache in Scherz zu verwandeln, aber es war den Leuten bittrer Ernst. Ich wies sie an Plato, Aeschines, [203] Antisthenes, Stilpon, Simmias u.s.w., aber sie hätten nun einmal das Zutrauen zu mir, sagten sie. Weil ich wirklich ungern an die Sache ging, hoffte ich sie endlich dadurch abzuschrecken, wenn ich einen sehr hohen Preis auf meine Waare setzte. Ich erklärte mich also zuletzt: ich getraute mir allerdings ihnen alles, was ich in drei Jahren von Sokrates gelernt hätte, in eben so viel Dekaden vollständig mitzutheilen: aber ich könnte ihnen nicht verhalten, daß es jedem von ihnen wenigstens so hoch zu stehen kommen würde, als wenn er seinen Freunden ein prächtiges Gastmahl gäbe; denn die zwölf Discurse, in welche ich die ganze Philosophie des Sokrates zusammen zu fassen gedächte, würden den Mann nicht weniger als zwölf Dariken kosten. Dafür sollte jeder zugleich eine Abschrift dieser Discurse erhalten, jedoch unter der ausdrücklichen Bedingung, sie entweder gänzlich für sich zu behalten, oder nicht mehr, als ein einziges Exemplar um den Preis, den es ihn selbst gekostet, und unter der nämlichen Bedingung, irgend einer andern Person zukommen zu lassen. Was ich verlange (setzte ich hinzu) ist viel oder wenig, je nachdem ihr das, was ihr dafür bekommt, anwenden werdet. Als bloße Speculationssache gäbe ich selbst für die Philosophie des Sokrates, wie für jede andere, keine taube Nuß; in Ausübung gebracht, ist sie mehr als alles Gold des großen Königs werth. Ueberlegt also wohl was ihr thut, damit es euch nie gereue, eure Dariken nicht auf eine angenehmere Art verloren zu haben. – Mir däuchte als ob mehr als Einer von den Jüngern bei dieser Verwarnung eine etwas nachdenkliche Miene mache: aber da vermuthlich keiner für schlechter angesehen [204] seyn wollte als der andere, so wurde mein Antrag einhellig mit großer Freude angenommen. Kurz, die dreißig Fremden, größtentheils Böotier, Arkadier, Lokrier und Chalcidier (drei oder vier Abderiten nicht zu vergessen) legten dreihundert und sechzig blanke Dariken in einem Beutel von Cyrenischem vergoldetem Leder zu meinen Füßen, und erhielten dafür was ich ihnen versprochen hatte.

Du siehest also, lieber Kleonidas, daß der Vorwurf, den mir die Sokratiker machen, daß ich die Weisheit unsers Meisters um Geld verkaufe, nicht ungegründet ist: ob auch gerecht, ist eine andere Frage, die ich deinem eigenen Urtheil anheim stelle. Ich meines Orts, betrachte einen Gelehrten überhaupt – und warum denn nicht auch den, der von der Kunst zu denken, zu reden und zu leben Profession macht? – wie jeden an dern Virtuosen, in welcher Kunst es sey; und ich sehe nicht, warum ich, wenn es mir beliebt, und die Käufer sich mir von freien Stücken anbieten, ja sogar aufdringen, für meine philosophischen Discurse nicht eben so gut Geld nehmen sollte, als Pindar für seine Siegeslieder, Damon für seine Musik, ein Arzt für seine Curen, ein Maler für seine Gemälde, Aristophanes für seine Komödien, oder Isokrates für seinen Unterricht in der Philosophie der Beredsamkeit, wie er seine Rhetorik zu nennen pflegt. Nehmen doch die Bürger von Athen für die Ausübung ihrer Souveränetät ohne Bedenken – ihr Triobolon! Daß die Hetären von ihren guten Freunden Geld nehmen, fand sogar Sokrates billig; und wenn ihre Profession schändlich ist, was kann hieraus zum Nachtheil derer, die eine edlere treiben, gefolgert werden? Wie dem [205] auch sey, seit dieser Begebenheit hat mir mehr als Ein Athener angelegen, seinem Sohn in allem, was ein Kalos Kagathos (wie man jetzt zu sagen pflegt) besonders ein künftiger Staatsmann und Demagog zu wissen nöthig habe, Unterricht zu ertheilen; und um nicht mit Zumuthungen dieser Art zu sehr belästiget zu werden, habe ich ein für allemal fünfhundert Drachmen zu meinem festgesetzten Preise gemacht. Ein einziger, und zwar einer der reichsten Männer in ganz Attika, der mir (vermuthlich ohne recht zu wissen was er that) seinen einzigen Sohn übergeben wollte, fand den Preis zu hoch; dafür, meinte der Ehrenmann, könne er sich ja einen tüchtigen Sklaven kaufen. Das thue doch ja, sagte Antipater, der dabei stand, laut lachend, so hast du ihrer zwei, ohne daß es dich einen Heller mehr kostet. Dieß Wort lief sehr bald in ganz Athen herum, und wurde von vielen auf meine Rechnung gesetzt; aber Jedem das Seine! Du siehst daß Antipater nicht vergeblich so viel um den Spötter Diogenes ist.

Aus deinen Nachrichten von dem dermaligen Zustand unsrer Vaterstadt sehe ich, daß ein Mann, der unter glücklichen Menschen glücklich leben will, er sey auch zu Hause wo er wolle, nach Cyrene ziehen muß. Und ich – bin ein geborner Cyrener, habe alles was mir das Liebste ist in Cyrene, und lebe zu Athen! – Nur noch ein Jahr, Kleonidas, ein einziges Jahr längstens, trage Nachsicht mit meiner Thorheit – wenn ich mich wieder von diesem verführerischen Athen scheide, so ist's auf immer!

28. Hippias an Aristipp
[206] 28.
Hippias an Aristipp.

Ich höre mit vielem Vergnügen, Freund Aristipp, daß du dich wieder in Athen befindest, und eine Art von Schule eröffnet hast, worin du der Hellenischen Jugend die Philosophie des guten Sokrates, nach deiner eigenen Weise mit Geschmack zubereitet, und mit einigen feinen Schüsseln vermehrt, wieder aufzutischen beflissen bist. Während zwei seiner vornehmsten Anhänger, der eine die Philosophie, welche sein Meister aus den meteorischen Höhen der Ionischen Schule herabzusteigen genöthigt, und unter den Menschen lebend mit ihren Angelegenheiten sich zu beschäftigen gewöhnt hatte, nicht nur in den Himmel zurückführt, sondern sogar in überhimmlischen Gegenden, wovon sich bisher noch niemand etwas träumen ließ, umherschwärmen und von den unaussprechlichen – Undingen, die sie da gesehen und gehört haben will (unverständlich genug), reden läßt; der andere hingegen, aus Mißverstand der Lehren und mit Uebertreibung des Beispiels seines Meisters, das von diesem veredelte menschliche Leben, in der Meinung es zur Natur zurückzuführen, dem thierischen wieder so nah' als möglich zu bringen sucht – ist es löblich von dir, daß du ihr mit ihrer vorigen Popularität auch die Würde, die ihr Sokrates gab, wieder zu verschaffen beflissen bist. Ich bin gewiß, von den Grazien der schönen Lais ausgeschmückt, und mit der Peitho 97, die dir immer hold war, auf den Lippen, kann es ihr an Liebhabern nicht fehlen, und [207] es wird nur auf dich ankommen, der erste und einzige unter den Sokratikern zu seyn, der sich durch ihre Vermittelung auch den Plutus 98 günstig zu machen weiß.

Was mich betrifft, lieber Aristipp, ich habe nun unvermerkt die Jahre erreicht, wo es nicht mehr der Mühe werth ist, etwas anders zu thun, als sich an den Thorheiten der Sterblichen zu belustigen, und von einem Tage zum andern so sorgenfrei und angenehm zu leben, als es uns die Götter noch gönnen wollen. Wie Solon in einem ungleich höhern Alter als das meinige,


Lieb' ich die Gaben der Cyprogeneia, des Bacchus, der Musen,

völlig, wie er, überzeugt,

Alle Freuden der Welt kommen von ihnen allein. 99


Das schöne, volkreiche, so glücklich zum Seehandel gelegene und durch ihn mit allen Schätzen der Natur und Kunst bereicherte Milet ist (wie du aus eigener Erfahrung wissen mußt) außer allen diesen Vortheilen, noch besonders durch den geselligen Charakter seiner Einwohner und die Schönheit seiner Weiber, vor vielen andern Orten der Welt, einer solchen Lebensweise günstig; vorausgesetzt (versteht sich) daß man mit dem unentbehrlichsten aller Dinge, wofür die andern alle zu haben sind, hinlänglich versehen seyn muß.

Wie ich höre gibt der große Aërobat 100 Plato den Athenern und ihren Nachbarn mächtig viel von sich zu reden, und publicirt eine Menge philosophischer Possenspielchen, worin er den ehrlichen Sokrates (der jetzt alles ungestraft aus sich machen lassen muß, wozu man ihn brauchbar findet) bald mit [208] diesem bald mit jenem unsrer ehmaligen Sophisten in eine possierliche Art von dialektischen Zweikämpfen zusammen hetzt. Denn, damit sein Sokrates immer Recht behalte, oder doch wenigstens die Lacher auf seine Seite bekomme, begabt er ihn über seine gewohnte Ironie und die ihm eigene Art seine Gegner zu überraschen und in Verlegenheit zu setzen, noch mit aller nur ersinnlichen eristischen Spitzfindigkeit und Gewandtheit, die armen Schelme von Antagonisten hingegen mit einem so erbärmlichen Grade von Geistesschwäche und treuherziger Dummheit, daß sie immer ihr Aeußerstes thun, um jenem den Sieg recht leicht zu machen, und, weit entfernt zu merken daß er ihrer spotte, durch Paarung der lächerlichsten Aufblähung mit der schülerhaftesten Unwissenheit und dem blödsinnigsten Unverstand, ihm eine Gelegenheit nach der andern geben, sie mit der schmählichsten Art von Urbanität zum Besten zu haben. Auch mir Unwürdigen hat er zweimal diese Ehre erwiesen; vermuthlich weil er nicht weiß, daß ich allein die todten Löwen Protagoras, Prodikus, Gorgias u.s.f. mit welchen es ihm jetzt so leicht wird den Hercules zu spielen, überlebt habe. 101 Aber auch vor meiner Rache kann er sicher seyn; denn ich bin ihm zu viel Dank für die gute Digestion schuldig, die mir sein Hippias der Größere gestern Abends nach einem großen Gastmahle verschafft hat. In meinem Leben hab' ich nicht so viel gelacht, wie über die Rolle, die er mich in diesem schnakischen Ding von einer dialektischen Schulübung spielen läßt. Man sollte denken, er habe die Wolken des Aristophanes zum Muster genommen, wie man es anfangen müsse, um ein ordentliches Menschengesicht zu [209] einer fratzenhaften Larve zu verzerren. Das Lustigste ist indessen, daß der Leser immer im Zweifel bleibt, wen der philosophirende Spaßvogel eigentlich am lächerlichsten habe machen wollen: ob den guten Sokrates, der hier als das Ideal eines naseweisen Attischen Spitzkopfs erscheint, und meinen blödsinnigen Repräsentanten (den er bloß einem Arzt zu einer tüchtigen Portion Niesewurz hätte zuweisen sollen) lieber zur Kurzweil in einem aus Spinnenfäden gewebten Netze fangen will? oder den armen unbeholfenen Afterhippias, der sich aus einem so dünnfädigen Netze nicht heraus zu finden weiß. – Und mit solchen Schnurrpfeifereien hofft euer Plato den Homer aus den Schulen der Griechen zu verbannen!

Einem von Eigendünkel und Selbstgefälligkeit so stark berauschten Menschen darf man schon etwas mehr als gewöhnliche Narrheiten zutrauen: aber daß es schon so weit mit ihm gekommen seyn sollte, daß er sich (wie man sagt) geschmeichelt finde auf Kosten des ehrsamen Ariston, seines gesetzmäßigen Vaters, für einen leiblichen Sohn des Delphischen Gottes 102 gehalten zu werden, kann ich doch kaum glauben. So viel ist indessen gewiß, daß ein angesehener Milesier von meiner Bekanntschaft folgende Anekdoten aus des Platonischen Neffen Speusipps eigenem Munde gehört zu haben versichert.

Platons Mutter Periktione galt in ihrer Jugend für eine der schönsten Jungfrauen in Athen – was bekanntermaßen eben nicht sehr viel gesagt ist. Ariston, mit welchem sie verlobt war, unterlag an einem trüben Morgen der Versuchung, heimlich in ihre Kammer zu schleichen, und während [210] seine Braut noch schlief, sich einen kleinen Vorgriff in seine eigenen künftigen Rechte zu erlauben. Es war ihm aber, alles gebrauchten Ernstes ungeachtet, schlechterdings un möglich zum Ziel seiner Wünsche zu gelangen. Wie unbegreiflich ihm auch ein solches Unglück scheinen mußte, da er wenigstens sich selbst keine Schuld geben konnte, so ging es doch in der That ganz natürlich damit zu; denn, mit Einem Worte, der Platz war bereits von einem unsichtbaren Liebhaber eingenommen. Bei so bewandten Umständen blieb freilich dem armen Ariston nichts übrig, als sich mit gesenkten Ohren eben so heimlich, wie er gekommen war, wieder wegzuschleichen. Aber in diesem Augenblick wurde der Nebel von seinen Augen weggeblasen; er sah wie Apollo sich leibhaftig von der Schlummernden erhob, erkannte den eben so schnell wieder verschwindenden als sichtbar gewordenen Gott, und beschloß auf der Stelle, aus Beweggründen, woran seine Klugheit nicht weniger Antheil hatte, als seine Gottesfurcht, die Vermählung mit Periktione zwar zu beschleunigen, aber des ehlichen Rechts sich so lange zu entäußern, bis sie geboren haben würde. Im dritten Jahre der siebenundachtzigsten Olympiade, am siebenten Tage des Monats Thargelion 103 (welcher, wie die Delier sagen, auch der Geburtstag des Apollo ist) wurde sie von diesem nämlichen Plato, der jetzt seine göttliche Abkunft durch so wundervolle Werke zu Tage legt, entbunden, und Ariston rechnete sich's, wie billig, zur größten Ehre, als ein zweiter Amphitryon 104, für den Vater des Göttersohns zu gelten: wir aber wissen nun was wir zu glauben haben, und wundern uns nicht länger, daß ein Sohn des Pythischen Gottes uns [211] von den Mysterien der übersinnlichen Welt so viel Unerhörtes und Undenkbares zu erzählen weiß. Auch wird durch diese Anekdote eine andere, die aus eben derselben Quelle kommt, desto glaubwürdiger. Sokrates, sagt man, träumte einst, er habe einen noch unbefiederten jungen Schwan zwischen seinen Knieen, der aber (vermuthlich durch die Wunderkraft der in ihn übergehenden Sokratischen Wärme) so schnell Federn bekam, daß er auf Einmal die Flügel ausspannte und mit einem ungemein lieblichen Getöne sich in die Luft erhob. Tages darauf sey ihm der junge Plato vorgestellt worden, und Sokrates (dessen Glauben an seine Träume bekannt ist) habe sogleich bei seinem Anblick gesagt, dieß sey der junge Schwan, den er gestern im Traume gesehen habe.

Wenn du etwa mit dem Neffen des göttlichen Schwans bekannt genug seyn solltest, um eine Frage dieser Art an ihn zu thun, so erkundige dich doch bei ihm, ob der Freund, von welchem ich diese Anekdoten habe, sich mit Wahrheit auf sein Zeugniß berufe oder nicht. –

Nun von etwas anderm! Ich habe hier noch einige Schönen aus Aspasiens Schule gefunden, die zwar schon etwas lange aufgehört haben jung zu seyn, aber noch anziehend genug sind, um nicht wenig zu den Annehmlichkeiten von Milet beizutragen. Eine von ihnen hat (ich weiß selbst nicht wie?) Mittel gefunden, mich in eine Art Platonischer Liebe zu verstricken, die etwas so Neues für mich ist, daß ich mich dem Wundermann für seine Erfindung sehr verpflichtet erkennen würde, wenn die schöne Anthelia (so nennt sich meine Freundin) nicht unglücklicher Weise ein sehr weibliches Weib wäre, und [212] also, der Theorie des Erfinders zufolge, ohne Entweihung der Mysterien des Uranischen Eros nicht auf Platonisch geliebt werden darf.

Seit einiger Zeit hält sich unter andern nicht gemeinen Künstlern auch dein Freund Parrhasius zu Milet auf, und findet viele Ursache sich bei uns zu gefallen. Die Günstlinge des Plutus wetteifern mit einander, wer die meisten und schönsten Stücke von ihm aufzuweisen habe, und der Künstler befindet sich ungemein wohl bei dieser Eifersucht: ob sie aber der Kunst eben so zuträglich seyn werde, ist eine andere Frage. Wenigstens setzt sie jenen in eine starke Versuchung, sich eine dem Auge schmeichelnde geschwinde Manier anzugewöhnen, und künftig mehr für den schärmerischen Beifall des freigebig bezahlenden Liebhabers, als für das ruhige Wohlgefallen des streng urtheilenden Kenners zu arbeiten.

Eine unsrer schönsten Hetären hat sich indessen wohlfeil genug in den Besitz seiner Leda (die in ihrer Art über allen Preis ist) zu setzen gewußt, und ist dadurch auf Einmal die reichste ihres Standes geworden, indem sie das eben so leicht erworbene als leichtfertige Gemäldchen dem Satrapen Teribazus für eine unerhörte Summe wieder verkaufte.

Sage mir doch, Aristipp, was für ein Schwindel deine Kechenäer angewandelt hat, daß sie den König Artaxerxes, von welchem sie mit so großen Beweisen seines Wohlwollens und Vertrauens überhäuft worden, und dem sie es allein zu danken haben, daß sie wieder etwas unter den Griechen bedeuten, sich mit aller Gewalt zum Feinde machen wollen? Zwar an dem Athenischen Volke wird mich keine Thorheit, wie [213] ungeheuer sie auch seyn mag, jemals in Verwunderung setzen: aber wie Konon von seinem Glücke so sehr berauscht werden konnte, daß er sein eigenes Werk, die Frucht so vieler Gefahren und Arbeiten, mit eigenen Händen wieder vernichtet, das geht über meinen Begriff. Kannst du dir vorstellen, wie dieser um Athen so sehr verdiente Mann übermüthig und unklug genug seyn kann, das Vertrauen des Königs und des Satrapen Pharnabazus so unverschämt zu betrügen, daß er die Persische Kriegsflotte, die ihm zu gewissen Unternehmungen gegen Sparta untergeben worden war, dazu mißbraucht, die unter Persischer Oberherrschaft stehenden Ionischen Inseln und Städte, eine nach der andern, entweder geradezu den Athenern zu unterwerfen, oder zum Abfall zu reizen und in ein allgemeines Bündniß gegen den König zu verstricken? Daß es ihm auch bei den Milesiern gelingen werde, zweifle ich indessen sehr. Es fehlt zwar auch hier nicht an unruhigen und regiersüchtigen Köpfen, die durch Ergreifung der Athenischen Partei zu gewinnen und den Pöbel auf ihre Seite zu ziehen hoffen, indem sie ihm die unermeßlichen Vortheile der Demokratie vorspiegeln, und ihm weiß machen wollen, die vereinigte Macht von Athen und Milet allein sey mehr als hinlänglich, dem großen König die Unabhänglichkeit des Griechischen Asiens abzutrotzen. Aber die edeln und reichen Häuser, und überhaupt alle zum Handelsstande gehörigen Bürger befinden sich bei der gegenwärtigen Verfassung, unter der gelinden Persischen Regierung (die ihnen die wesentlichsten Vortheile der Freiheit willig zugesteht) viel zu wohl, und sind durch ehmalige Erfahrungen zu sehr gewitziget, um solchen[214] Lockungen Gehör zu geben. Inzwischen werden die Lacedämonier, die den Kechenäern von jeher an Staatsklugheit und Consequenz in ihren Maßregeln unendlich überlegen waren, sich den Unverstand der letztern bald genug beim Könige zu Nutze machen, und wir werden unversehens das Vergnügen haben, die luftigen Schwindler von ihrer Höhe eben so geschwinde wieder herabstürzen zu sehen, als sie sich in ihrer voreiligen Einbildung, die der Realität immer tausend Parasangen zuvorläuft, emporgeschwungen hatten. Antalcidas 105, einer der geschicktesten Staatsmänner und feinsten Unterhändler, welche Sparta besitzt, ist zu diesem Ende bereits an das königliche Hoflager abgegangen, und der Erfolg seiner Sendung kann um so weniger zweifelhaft seyn, da die Athener selbst ihm die stärksten Waffen gegen sich von freien Stücken in die Hände spielen, und ihr Möglichstes thun, dem so gröblich getäuschten Artaxerxes die Augen zu öffnen. Der große und entscheidende Vortheil, den das Aristokratische Sparta über die Athenische Demokratie immer behaupten wird, liegt darin: daß die gränzenlose Eitelkeit der letztern ihre Vergrößerungs-Projecte immer über alle Möglichkeit hinaustreibt, nichts berechnet, nichts vorhersieht, und sich ruhig auf das alte Orakel verläßt, daß die Götter ihre dummen Streiche immer wieder gut machen werden; da hingegen die wohlberechnete Staatsklugheit der erstern sich auf die Oberstelle unter den Griechischen Republiken einschränkt, und noch nie über diesen höchsten Punkt ihrer Ambition hinauszugehen begehrt hat. Diese Mäßigung wird den Persischen Hof, der die Griechen auf seine Kosten endlich kennen gelernt [215] haben muß, nothwendig auf den Gedanken bringen, sein eigenes Interesse erfordere, mit den Spartanern Friede zu machen, und die unzuverlässigen Athener, ohne darum ihre gänzliche Unterdrückung zuzugeben, sich selbst und ihrem Schicksal zu überlassen. Durch diese einzige Maßregel wird er es stets in seiner Gewalt haben, die Griechen in immerwährender innerlicher Gährung zu erhalten, und, ohne sehr großen Aufwand, durch seinen politischen Einfluß gerade so viel Gleichgewicht unter diese rastlos hin und her schwankenden Freistaaten zu bringen, als für das Interesse des Persischen Reichs und die allgemeine Ruhe der Welt nöthig ist. Denn es ist kaum möglich, daß das ewige Thema eurer Redekünstler, der Isokrates, Lysias, u.s.w. »Eintracht unter allen Griechen zu Vereinigung ihrer Kräfte gegen den gemeinschaftlichen Feind in Asien,« nicht endlich zu den Ohren des Königs kommen, und ihn überzeugen sollte, daß die Begünstigung des Spartanischen Systems das sicherste Mittel sey, einer so gefährlichen Coalition zuvorzukommen.

Wundre dich nicht, Aristipp, wie ich mit meiner oben angerühmten sorglosen Denkart und Lebensweise dazu komme, dich so unversehens mit einer so reichlichen politischen Ergießung zu beträufen. Seit etlichen Wochen hört man hier nichts anders. Alles was in der weitesten Bedeutung zur guten Gesellschaft gehört (die zahlreiche Innung der Hetären mitgerechnet) spricht Politik und ist Spartanisch gesinnt; und daß ich selbst, trotz meiner Weltbürgerschaft und Kaltblütigkeit, diese Partei ergriffen habe, wird dich, wenn ich auch den Nephelokokkygiern weniger abhold wäre als ich es immer [216] war, mein alter Haß gegen die Ochlokratie nicht bezweifeln lassen.

29. Aristipp an Hippias
29.
Aristipp an Hippias.

Ich werde es immer unter die glücklichsten Ereignisse meines Lebens zählen, daß ich den Sokrates gekannt, und während der drei bis vier Jahre, da ich freien Zutritt bei ihm hatte, seines Umgangs beinahe täglich genossen habe. Wie wenig auch das, was ich von ihm lernen konnte, in anderer Augen seyn mag, nach meiner Schätzung und für meinen eigenen Gebrauch ist es sehr viel, und mehr als genug um mir ein Recht auf den Namen eines Sokratikers zu geben, auf den ich stolz bin, und den ich nicht unwürdig zu führen hoffe.

Es war eine von den Meinungen des Sokrates, die ich ihn öfters in seiner eigenen genialischen Manier behaupten hörte, »Weisheit und Tugend könnten nicht auf die Art, wie man sich's gewöhnlich vorstelle, gelehrt,« d.i. nicht in unsre Seelen hineingeschoben werden, wie man Brod in den Backofen schiebt. Zuweilen sprach er, als betrachte er sich wie einen Gärtner, dessen Geschäft es ist, nützliche Pflanzen und Gewächse zu ziehen und zu warten. Alles was der Gärtner vermag (sagte er) besteht darin, daß er guten Samen in ein wohlzubereitetes Land lege, und die junge Pflanze, wenn sie [217] aufgegangen ist, vor Frost und schädlichen Winden sichere, vor aller Verletzung bewahre, und, so weit es in seiner Macht steht, dafür sorge, daß sie nicht zu viel noch zu wenig Sonne bekomme, nicht zu viel noch zu wenig genährt werde u.s.f. Aber eine schlechte Gattung in eine edle zu verwandeln, oder einer schwachen kränkelnden Pflanze das fröhliche Wachsthum einer gesunden und starken zu geben, steht nicht bei ihm; und wenn er sein Möglichstes gethan hat, kann er doch nicht verhindern, daß ein einziger unerwarteter Nachtfrost oder irgend ein anderer Zufall aller seiner Sorge und Pflege spottet. – Am meisten liebte er das Bild einer Geburtshelferin, und verglich sich mit seiner Mutter, die, wiewohl sie für eine große Meisterin in ihrer Kunst galt, ein ungestaltes Kind in kein wohlgebildetes verwandeln konnte, sondern zufrieden seyn mußte, wenn sie, was nun einmal da war, glücklich zur Welt gebracht hatte. Sokrates hat in diesem Sinne Kindern von sehr ungleicher Art ins Leben geholfen. Aber um diejenigen, die ihm täglich und mehrere Jahre zur Seite waren, machte er sich auch das Verdienst eines Pädagogen; und, wie die Erfahrung lehrt, daß Knaben sich, ohne es zu wollen oder zu merken, immer nach ihrem Erzieher bilden, und mehr oder weniger seine Weise sich zu gebärden, zu reden, zu gehen, den Kopf zu tragen u.s.w. annehmen: so findet sich auch, daß keiner von den Zöglingen des Sokrates ist, an dem man nicht diese oder jene Züge von ihm gewahr würde, so daß – wie man von Zeuxis sagt, er habe aus fünf der schönsten Agrigentischen Mädchen seine berühmte Helena zusammengesetzt – aus fünf oder sechs von uns ein ganz leidlicher [218] Sokrates zusammengesetzt werden könnte. So hat z.B. Plato sich seiner Ironie und eigenen feinen Manier zu scherzen, Xenophon seiner Grundbegriffe, Maximen und Ideale in Sittenlehre und Staatskunst, und seines Glaubens an Orakel, Träume und Opferlebern, Antisthenes seiner Geringschätzung aller Gemächlichkeiten und künstlichen Wollüste der Reichen, Cebes von Theben seines Talents die Philosophie in Fabeln und Allegorien einzukleiden, bemächtigt. Mir ist also kaum etwas andres übrig geblieben als seine Anspruchlosigkeit, sein Widerwille gegen alles Geschminkte und Unnatürliche, gegen Aufgeblasenheit, Eigendünkel und ungebührliche Anmaßungen, seine Geringschätzung aller spitzfindigen, im Leben unbrauchbaren und bloß zum Gepräng und zum Disputiren dienlichen Speculationen, seine Manier bei Erörterung problematischer Fragen immer zuerst auf das, was uns die Erfahrung davon sagt, Acht zu geben, nach der Entstehungsweise der Begriffe, in welche das Problem zerfällt, zu forschen, und überhaupt beim Suchen der Wahrheit immer vorauszusetzen, daß sie uns ganz nahe liege, und meistens nur durch den Wahn, daß man sie weit und mühsam suchen müsse, verfehlt werde, – und was sonst in dieses Fach gehört. In allem diesem, und (wenn ich mir nicht zu viel schmeichle) noch in manchen andern Stücken, finde ich mich ihm so ähnlich, daß ich mir zuweilen einbilde, ich würde, wofern ich in der siebenundsiebzigsten Olympiade in seinen Umständen auf die Welt gekommen wäre, Sokrates, oder er, vierzig Jahre später in den meinigen geboren, Aristipp gewesen seyn. Auf diese Weise erkläre ich mir das Verschiedene in den Aehnlichkeiten, [219] die ich mit ihm habe. Er kleidete sich z.B. schlecht, weil er arm war und sich dessen nicht schämte; aber er liebte die Reinlichkeit: wäre er reicher gewesen, würde er sich vermuthlich nicht schlechter gekleidet haben als ich; so wie ich mich nicht geringer dünkte, als ich im ersten Jahre meines Aufenthalts zu Athen in einem groben wollenen Tribonion unbeschuht hinter ihm hertrabte. – Seine Mahlzeit kostete selten mehr als drei bis vier Obolen; indessen schlug er nicht leicht eine Einladung zu den prächtigsten Gastmählern aus, wenn er gewiß war gute Gesellschaft anzutreffen; wär' er reicher gewesen, so hätt' er vermuthlich, wie ich, lieber andere eingeladen, als sich einladen lassen. Er kaufte weder Bildsäulen noch Gemälde, weil er kein Geld zu solchen Ausgaben hatte; aber er liebte darum die Kunst nicht weniger, und wußte die Werke der großen Meister sehr wohl zu würdigen: ich habe mir, weil mir das Glück besser wollte als ihm, eine feine Sammlung auserlesener Malereien angeschafft, und bin darum kein größerer Kenner. – Er trank gewöhnlich Wasser, konnte aber, wenn's darauf angelegt war, den stärksten Weinschläuchen die Stirne bieten, und streckte sie alle zu Boden, ohne daß man eine merkliche Veränderung an ihm spürte: ich trinke gewöhnlich Wein, und den besten der zu haben ist; aber sehr mäßig, weil ich viel nicht vertragen kann. – Ich liebe schöne Weiber ungefähr wie er schöne Knaben liebte, ohne daß Platons Eros Pandemos 106 jemals mehr Gewalt über mich gehabt hätte als über ihn: ich zweifle aber sehr, daß er zu seiner Zeit die schöne Aspasia von sich gestoßen hätte, wenn sie Lais für ihn hätte seyn wollen. Daß er sich übrigens [220] im Nothfall an seine Xantippe hielt, war eine löbliche, wiewohl, ihrer sauren Laune ungeachtet, eben nicht sehr verdienstliche Genügsamkeit; denn Xantippe war weder eine häßliche noch bösartige Frau. – Sokrates zog, weil er ein sehr starker Mann war, die mühsamern und heftigern Leibesübungen den sanftern und ruhigern vor: bei mir ist's gerade umgekehrt. – Bei ihm war der Weltbürger dem Bürger von Athen untergeordnet, bei Mir der Bürger von Cyrene dem Weltbürger: wäre Cyrene seine Vaterstadt gewesen, Athen die meinige, so würde vermuthlich das Gegentheil stattgefunden haben.

Ohne diese Parallele noch weiter zu verfolgen, will ich dir lieber geradezu sagen, was ich mit diesem ganzen Prolog haben will: nämlich nichts weiter als dich zu verständigen, warum und wie fern meine Philosophie weder mehr noch weniger die Sokratische ist, als ich selbst – Sokrates bin. Auch meinte es Sokrates nie anders. Er verlangte keinen Nachtreter und Nachsprecher. Er theilte uns und jedem der ihn hören mochte, unverhohlen mit, was er für wahr und recht, gut und anständig hielt, und wenn er jemanden belehren wollte, stellte er es immer so an, daß der Hörende das, was sie mit einander suchten, selbst gefunden zu haben glaubte. Oft war das was er gab nicht sowohl Lehre als guter Rath, der, zu einer allgemeinen Maxime gemacht, vielleicht viele Ausnahmen zuließ oder sogar erforderte. Kurz, er überließ es dem guten Verstand seiner Gesellschafter, wie viel oder wenig sie von dem Gehörten brauchen könnten oder wollten, und verlangte weder Pythagoräischen Glauben an seine Aussprüche, noch blinde [221] sklavische Befolgung seiner Vorschriften. In dieser Rücksicht verdenke ich es dem Plato eben so wenig, daß er in so vielen Stücken von Sokrates abweicht, als ich selbst Tadel zu verdienen glaube, daß meine Philosophie, wiewohl sie sehr leicht und ungezwungen mit der Sokratischen in Harmonie gesetzt werden kann, dennoch nicht eben dieselbe mit ihr ist. Was ich an Plato tadle ist, daß er den entschiedenen Feind aller Meteoroleschie 107 in vielen, wo nicht in den meisten seiner Dialogen die Rolle eines wahren Aristophanischen Phrontisten spielen läßt, und daß es immer der unschuldige Sokrates ist, den er vor den Riß stellt, und, weil er nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden kann, für Dinge verantwortlich macht, die er nie gesagt haben würde, und welche Plato selbst in eigener Person zu sagen vielleicht Bedenken trüge.

Ich glaube mich hiermit deutlich genug erklärt zu haben, Freund Hippias, in welchem Sinn ich ein Sokratiker zu seyn und zu heißen wünsche. Uebrigens kennst du die Welt zu gut, um dich zu verwundern, daß der Name und die Philosophie des in seinem Leben wenig geachteten und von den Meisten falsch beurtheilten Sokrates seit seinem Tod, und selbst durch die Art seines Todes, vielleicht auch durch das erst nachher bekannter gewordene Orakel des Delphischen Gottes, den Griechen so ehrwürdig geworden ist, daß viele von keiner andern Philosophie als der Sokratischen hören wollen. Da ich nun, ich weiß selbst nicht wie, in den Ruf gekommen bin, daß sie von mir ächter und reiner zu erlernen sey als von Plato oder Antisthenes, so ist es schon mehr als Einmal begegnet, daß geschlossene Gesellschaften von enthusiastischen Verehrern des [222] »weisesten aller Menschen« das Ansinnen, ihnen nicht meine eigene, sondern seine Philosophie in ihrer ganzen Lauterkeit vorzutragen, so ernstlich an mich gelangen ließen, daß ich mich nicht entbrechen konnte, ihr Verlangen zu befriedigen. Wenn dir also etwa zu Ohren kommt, daß Aristipp sich seinen Unterricht sehr theuer bezahlen lasse, so wisse, daß dieß bloß von diesen Vorträgen der Philosophie des Sokrates (die ich deßwegen in ein zusammenhangendes System zu bringen genöthigt war) zu verstehen ist. Denn ich glaube einen Unterricht dieser Art, wobei ich mich gewissermaßen als einen bloß mechanischen Arbeiter gebrauchen und zum bloßen Sprachwerkzeug eines andern machen lassen muß, mit Fug und Recht eben so gut zu Geld anschlagen zu können, als ein Steinhauer, der den Marmor zu einem Tempel oder Säulengang nach einem gegebenen Maß und Modell zu bearbeiten und zusammenzufügen übernommen hat, seine Zeit und Arbeit. Alles dieß, lieber Hippias, hielt ich für dienlich, dir über meinen Sokratism etwas ausführlich zu sagen, weil es ein für allemal gesagt seyn soll.

Daß du, mit aller deiner Dankbarkeit für das heilsame Lachen, so dir Plato durch seinen größern Hippias zubereitet hat, diesem Göttersohn nicht allzu hold bist, finde ich sehr natürlich. Insofern es für einen Trost gehalten wird, Gefährten im Leiden zu haben, laß es dir – in Augenblicken, wo es dir etwa nicht so ganz lustig däuchten möchte, von einem hochangesehenen und weitberühmten Manne allen Griechen der gegenwärtigen und künftigen Zeit als ein einfältiger Strohkopf vorgeführt zu werden – zu einigem Troste dienen, [223] daß der tapfre, weise und weltberühmte Befehlshaber und Geschichtschreiber des Rückzugs der zehntausend Griechen in seinen Sokratischen Denkwürdigkeiten mit deinem Freund Aristipp nicht glimpflicher zu Werke geht. Das Beste ist, daß beide bei denen, die dich und mich persönlich kennen, schwerlich in den Ruf großer Portraitmaler kommen werden.

Das zweideutige Mährchen von der hohen Abkunft des Sohnes der edeln Periktione geht wirklich schon seit einiger Zeit unter seinen Verehrern herum, so wie unter den Athenern überhaupt ein heimliches Gemurmel, es dürfte ihm schwer fallen, zu beweisen, daß er der Sohn eines Attischen Bürgers sey. Welches von diesen beiden Gerüchten das andere erzeugt haben mag, ist ungewiß. War das letztere das ältere; so begreift sich um so leichter, wie die Freunde Platons auf den Einfall kommen konnten, ihm einen Ursprung zu geben, der ihn mit den größten Männern der heroischen Zeit auf gleichen Fuß setzt. Speusipp erzählte das Mährchen, mit allen von dir erwähnten Umständen, in einem sehr religiösen Ton, wenn er mehr als Einen Zuhörer hat, und scherzte mit mir darüber sobald wir allein waren. Das Wahre an der Sache läßt sich leicht errathen, wenn man weiß, daß Ariston sehr wesentliche Ursachen hatte, die angesehene Familie seiner Braut und den goldlockigen Apollo, den er bei ihr überraschte, zu schonen; nichts davon zu sagen, daß die Athener überhaupt ziemlich bequeme und urbane Ehemänner sind. Der Traum des Sokrates scheint seine Richtigkeit zu haben, und, wie mehrere Träume dieses außerordentlichen Mannes, mit seinem Dämonion in einerlei Fach zu gehören.

[224] Was du mir von Konon meldest, hat mich nicht befremdet, wiewohl man hier nichts von einem Bruch mit dem großen König wissen will, und von Konons Unternehmungen gegen die Inseln als einer mit Pharnabaz abgeschlossenen Sache spricht. Was man indessen täglich an allen öffentlichen Orten zu Athen hören kann, ist die hoffärtige und undankbare Art, wie unsre Kechenäer von ihrem Verhältniß gegen den Persischen Monarchen reden. Sie vermeinen ihm so wenig Dank schuldig zu seyn, daß er selbst vielmehr, wenn man ihnen glaubt, tief in ihrer Schuld ist, und noch viel zu thun hat, wofern er die von ihnen empfangene Wohlthat einigermaßen wett machen will. Denn, sagen sie, haben ihn nicht die Siege unsrer Flotten von seinem furchtbarsten Feinde befreit? Würde nicht Agesilaus 108 jetzt vor Susa 109 stehen, wenn Konon die Spartanische Seemacht nicht bei Knidus vernichtet hätte? Es war des Königs Interesse sich um unsre Freundschaft zu bewerben, und sie gegen die Spartaner zu benutzen; das unsrige ist, den günstigen Augenblick, da die Spartaner uns nicht daran hindern können, zu Befreiung der Ionischen Colonien, unsrer Freunde, und zu Wiedererlangung der uns gebührenden Hegemonie 110 anzuwenden. Der König muß uns selbst dazu verhelfen; oder er ist der undankbarste aller Menschen. – Du wirst die Athener an dieser überhin fahrenden, raschen und einseitigen Art zu räsoniren leicht erkennen, mit welcher ihre Art zu handeln völlig aus Einem Stück ist. Nie haben sie es der Mühe werth gehalten, sich an eines andern Platz zu stellen, und zu überlegen, in welchem Licht oder von welcher Seite er eine Sache sehen müsse. Und woher sollten sie [225] die Geduld nehmen, einen Entwurf gelassen durchzudenken, die Mittel und Wege dazu in der Stille vorzubereiten, die Hindernisse vorsichtig wegzuräumen, und nicht eher zur wirklichen Ausführung zu schreiten, bis der Erfolg, gleich einer reifen Frucht, uns ohne große Mühe gleichsam von selbst in den Schooß fällt? Ich zweifle nicht, daß sie auch dießmal, wie du vorher siehest, durch ihre unbesonnene Voreiligkeit der Spartanischen Klugheit einen unblutigen Sieg in die Hände spielen werden, dessen Folgen schwerer auf ihnen liegen dürften, als die zu Athen so hoch gepriesenen Siege Konons auf den Lacedämoniern.

Daß deine Milesier weise genug sind, der Lockpfeife des Athenischen Vogelstellers kein Gehör zu geben, versichert dir, wie ich hoffe, noch auf lange Zeit die glückliche Ruhe, die du im Schooße der Musen und der übrigen freudengebenden Götter so gut zu genießen weißt. Mir ist zu Athen, wiewohl wir vor der Hand nichts zu befürchten haben, nicht selten zu Muthe, als ob ich in einem ohne Masten und Steuerruder auf einem unruhigen Meere herumtreibenden Schiffe hausete; und je mehr ich den dermaligen Wohlstand meiner Vaterstadt mit dem heillosen Zustande der Athenischen Ochlokratie vergleiche, desto mehr Stärke gewinnt der geheime Hang, der uns immer, auch wenn es uns unter Fremden wohl geht, nach dem Orte zieht, wo wir uns eigentlich zu Hause fühlen, wo unsre angebornen ältesten Freunde leben, und die Erde selbst uns näher als anderswo verwandt zu seyn scheint, und etwas so anziehend Heimisches für uns hat, daß wir wenigstens unsre Asche mit keiner andern Erde zu vermischen wünschen.

30. Lais an Aristipp
[226] 30.
Lais an Aristipp.

Ich bin nun einmal, wie es scheint, dazu geboren, lieber Aristipp, eine sonderbare Rolle in der Welt zu spielen, und am Ende ist es auch so übel nicht, in seiner Art einzig zu seyn: aber daß ich in Gefahr kommen könnte, von den Söhnen des Hippokrates in das Register ihrer Heilmittel gesetzt und als ein unfehlbares Specificum gegen die Nympholepsie verschrieben zu werden, das hättest du dir wohl nie einfallen lassen?

Im Grunde bin ich mit aller meiner eingebildeten Ueberlegenheit doch nur eine gutherzige Thörin, die ihr nur bei ihrer Großmuth zu fassen braucht, um alles was ihr wollt aus ihr zu machen. Das Unangenehmste dabei ist indessen die leidige Berühmtheit, die ich mir durch die bloße Gutartigkeit meiner Natur zuziehe; eine Tugend, welche unsre edeln Korinthischen Matronen sich schlechterdings nicht zu erklären wüßten, wenn sie ihr nicht die einzige Unterlage gäben, die ihnen (vermuthlich aus eigener Erfahrung) bekannt ist. Wirklich hat das seltsame Abenteuer, das mir in diesen Tagen zustieß, ein solches Aufsehen in dieser volkreichen und geschäftevollen Stadt erregt, daß in allen Gesellschaften, auf allen Marktplätzen und unter allen Hallen von nichts anderm, als von der Wundercur, die ich an einem edeln Aspendier verrichtet haben soll, geplaudert wird; aber wie, und mit welchen Beiwerken und Verzierungen, kannst du dir vorstellen. Daß eine Person, die sich einer beinahe zwölfjährigen Freundschaft mit dem weisen [227] Aristipp zu rühmen hat, das alles nicht voraussehen konnte! – Freilich! – Aber was zu thun? Die Thorheit, wofern es eine war, ist nun einmal begangen, und ich bin es so überdrüssig, überall wo ich mich blicken lasse, schon auf dreihundert Schritte weit, alle Zeigefinger und Spitznasen nach mir hingelüftet zu sehen, daß mich dieses Uebermaß von Celebrität (unter uns gesagt) ein paar Monate eher als gewöhnlich nach Aegina treiben wird. Doch es ist hohe Zeit, dir durch eine offenherzige Erzählung aus dem Wunder zu helfen, worin ich deine Einbildungskraft schon zu lange schweben lasse.

Du erinnerst dich ohne Zweifel der Venus von Skopas, welcher ich in der ersten Blüthe meiner Jugend zum Urbild dienen mußte. Skopas hatte mit meiner Bewilligung das Modell dieser Bildsäule behalten, aber (wie es zu gehen pflegt) durch die Zusage, keine Nachbilder davon zu machen, nicht so streng gebunden zu seyn vermeint, daß er sich nicht erlaubt hätte, deren mehrere zu verfertigen und als Ideale seiner eigenen Erfindung zu verhandeln. Zufälligerweise kam eines dieser Bilder nach Aspendus, einer ansehnlichen Stadt in Pamphylien (die du vielleicht auf deinen Wanderungen gesehen hast) und gerieth dort in die Hände eines reichen Mannes, der es unter andern von ihm gesammelten Kunstwerken in einer Halle seines Hauses aufstellte. Chariton, der einzige Sohn dieses Mannes, ein Jüngling von siebzehn Jahren, und der letzte Sprößling eines alten um Aspendus wohl verdienten Hauses, hatte das seltsame Unglück, in eine heftige Leidenschaft für die marmorne Göttin zu fallen. Trotz aller Gewalt, womit der junge Mensch diese lächerliche Liebe zu bekämpfen strebte, nahm[228] sie von Tag zu Tag zu; und er verfiel nach und nach in eine Schwermuth, welche durch die Unmöglichkeit, seine Sehnsucht nach Gegenliebe jemals befriedigt zu sehen, zuletzt in gänzlichem Wahnsinn und unheilbarer Tollheit endigte. Der hartnäckige aber sehr natürliche Eigensinn des verschämten Jünglings, die Ursache seiner Krankheit schlechterdings niemand entdecken zu wollen, hatte ohne Zweifel nicht wenig beigetragen, daß es so weit mit ihm kam. Man ward nur desto aufmerksamer auf ihn, sein trauriges Geheimniß wurde ihm abgelauscht, und die gefährliche Bildsäule auf die Seite gebracht, in Hoffnung daß eine so widersinnige Leidenschaft, wenn sie durch das Anschauen und Betasten ihres Gegenstandes nicht länger genährt würde, nach und nach von selbst erlöschen müßte. Aber gerade dieses Mittel vollendete das Unglück, und die Raserei des armen Chariton stieg endlich auf den höchsten Grad. Jahrelang war die Kunst aller Arzneymänner in Pamfylien, Lycien und Karien an ihm zu Schanden geworden, als endlich ein zufällig nach Aspendus verirrter Arzt von Kos 111 sich bewegen ließ, den letzten Versuch an ihm zu machen, und auf den Einfall gerieth, ob nicht vielleicht ein lebendes Urbild der fatalen Bildsäule vorhanden seyn möchte, zu welchem der unglückliche Jüngling durch die Gewalt einer geheimen Sympathie unwiderstehlich hingezogen würde. Denn man fand es unbegreiflich, daß ein bloßes Phantasiewerk des Künstlers eine so heftige Leidenschaft hätte bewirken können. Wiewohl nun die vermuthete Sympathie im Grunde nicht begreiflicher war, so ruhte doch der alte Charidemus (so nennt sich der Vater des Unglücklichen) nicht, bis er den Aufenthalt des Skopas entdeckt [229] und ihm die Eröffnung abgedrungen hatte, daß die Venus, die so viel Unheil in dem Gehirne seines Sohnes anrichtete, ein getreues Nachbild der schönen Lais zu Korinth sey, deren Ruf von Sardes aus durch ganz Asien erschollen war. Sogleich ist des Vaters Entschluß gefaßt; er miethet ein Schiff, läßt den Kranken und den Arzt an Bord bringen, und segelt mit dem ersten günstigen Winde der Pelopsinsel zu. Man hatte ihm schon in Rhodus, wo er unterwegs anlandete, nicht verhalten, daß er zu Korinth größere Schwierigkeiten finden würde als er sich einzubilden schien. Man schilderte ihm in der Schönen, auf deren Hülfe er so sichre Rechnung machte, eine eben so stolze als reiche Hetäre, deren Thür von der edelsten Jugend der ganzen Hellas vergeblich belagert werde; es wäre, sagte man, eben so leicht, den Wind in einem Fischernetze zu fangen, als ihr die kleinste Gunsterweisung mit allem Golde des Paktols abzukaufen. Aber der Aspendier, dem es seinen einzigen Sohn galt, ließ sich nicht abschrecken; kurz, er langte zu Ende des verwichnen Anthesterions 112 glücklich im Kenchräischen Hafen an. Stelle dir vor, Aristipp, wie ich überrascht wurde, als auf einmal ein unbekannter Fremder von ziemlich ehrwürdigem Ansehen vor mir erschien, mir unter vielen Entschuldigungen entdeckte wer er sey, und um Erlaubniß bat mir ein Anliegen zu eröffnen, von dessen Erfolg die Erhaltung seines einzigen Sohnes abhange. Aber als er mir nun vollends den kläglichen Fall selbst vortrug, und mich kniefällig bei allen Göttern beschwor, ihm meine Hülfe in dieser äußersten Noth nicht zu versagen – kannst du mich tadeln, daß ich mir Gewalt anthun mußte, um dem treuherzigen Aspendier, [230] der Thränen ungeachtet, die über seine eingefallenen Wangen herabrollten, nicht gerade ins Gesicht zu lachen? Ich raffte indessen doch in der Eile so viel Ernsthaftigkeit zusammen als nöthig war, das Lachen noch zu rechter Zeit in ein holdes Lächeln zu verschmelzen, womit ich meiner Antwort bloß das Herbliche benehmen zu wollen schien. Was für eine Hülfe, sagte ich, kannst du dir in einem so seltsamen Falle von mir versprechen? Ich verstehe mich nicht auf die Heilkunst; und besäße ich auch alle Kenntnisse eines Melampus 113, Machaon und Podalirius, so wäre noch immer die Frage, ob sie hinreichten das Wunder zu thun, das du von mir erwartest. – O gewiß, rief er, vermagst du mehr als Melampus, Machaon und Podalirius, ja als Chiron und Aesculap und der Wundarzt der Götter Päeon selbst. – Unbegreiflich! versetzte ich mit einer so unschuldigen Miene, daß ihm alles was er noch sagen wollte, aus Verwunderung oder Verlegenheit, in der Kehle stecken blieb. Der Arzt, den er mitgebracht hatte (ein sehr verständiger Mann, wie sich's in der Folge zeigte) eilte seinem Patron zu Hülfe, entschuldigte sehr ehrerbietig ihre Freiheit mich so unangekündigt zu überfallen mit der Besorgniß abgewiesen zu werden, und schränkte sich auf die bloße Bitte ein, daß ich ihm die Gunst erweisen möchte, zu einer mir gelegenen Stunde anzuhören, was er mir im Namen seines Patrons vorzutragen hätte. Bei dergleichen Anlässen pflegt meine Gutherzigkeit, oder wie du es sonst nennen willst, der Ueberlegung gewöhnlich einige Schritte zuvorzueilen. Ich ersuchte also die Fremden, wofern sie nichts Besseres zu versäumen hätten, sich sogleich eine Wohnung in meinem Hause [231] gefallen zu lassen, welches, wie du weißt, Raum und Bequemlichkeit genug hat, um zur Noth einen Persischen Satrapen zu beherbergen; und mein Erbieten wurde, nachdem sie sich so viel, als die Aspendische Urbanität erforderte, gesträubt hatten, mit dankbarem Entzücken angenommen.

Sobald meine Gäste von dem angewiesenen Flügel des Hauses Besitz genommen hatten und gehörig bewirthet worden waren, ließ der Arzt (der sich Praxagoras nennt, und ein Anverwandter und Schüler des berühmten Hippokrates ist) sich erkundigen, ob es mir jetzt gelegen wäre ihm ein geheimes Gehör zu verwilligen. Er wurde sogleich in mein Cabinet geführt, und, wiewohl er ein gesetzter und schon etwas bejahrter Mann ist, schien er doch, da er sich allein mit mir sah, in einige Verwirrung zu gerathen, wußte sich aber sehr bald mit einer Bescheidenheit und guten Art herauszuziehen, die ein sehr günstiges Vorurtheil für ihn erweckten. Ich läugne nicht, fing er an, daß wir mit einer Art von Plan und Erwartung hierher gekommen sind; aber es bedurfte auch nichts als deinen ersten Anblick, um zu sehen daß von allem dem nicht mehr die Rede seyn könne. Alles, warum ich dich also im Namen des unglücklichen Vaters zu bitten wage, ist, daß es mir erlaubt werde, dich durch eine ausführliche Darstellung unsers in seiner Art vielleicht einzigen Falles in den Stand zu setzen, den Grad des Mitleidens selbst zu bestimmen, den, wie ich nicht zweifle, die Güte deines Herzens uns nicht versagen wird.

Auf diesen hinterlistigen Eingang machte er mir nun, nachdem ich ihn mit aller geziemenden Holdseligkeit dazu aufgemuntert [232] hatte, eine umständliche und (lache nicht, Aristipp) wirklich rührende Erzählung von der ganzen Geschichte der seltsamen Krankheit des jungen Charitons, wovon ich, da es mir nicht um einen Angriff auf deine Mildherzigkeit zu thun ist, zu dem, was ich dir von ihrem Ursprung und Fortgang bereits berichtet habe, nur so viel hinzu thun will, als des Zusammenhangs wegen nöthig zu seyn scheint.

Nach mancherlei vergeblichen Versuchen, welche von verschiedenen Aerzten und Quacksalbern an dem zerrütteten Jüngling gemacht worden, war es endlich demjenigen, unter dessen Aufsicht er sich gegenwärtig befindet, gelungen, die Raserei, die ihm nur selten Ruhe ließ, zu einer stillern Art von Wahnsinn herabzustimmen: so daß man wieder zu hoffen anfing, er könnte durch eine behutsame und schonende Behandlung vielleicht wiederherzustellen seyn. Seine Phantasie wurde zwar noch immer von einer einzigen Vorstellung tyrannisch beherrscht; aber sie nahm unvermerkt einen weniger unordentlichen Gang, und bestrebte sich eine Art von scheinbarem Zusammenhang in ihre Fieberträume zu bringen. Das gewöhnlichste war jetzt, daß er die Bildsäule, die all dieß Unheil angerichtet hatte, mit einer wirklichen Person verwechselte, und in den hellern Augenblicken, die jetzt öfter als sonst kamen und länger dauerten, sich fest in den Kopf setzte, seine Geliebte sey ihm von einem feindseligen Dämon oder boshaften Zauberer geraubt, und durch magische Künste in ein Marmorbild verwandelt worden. Auf diesen Wahn hatte nun Praxagoras, nachdem einige andere Versuche, denselben zum Vortheil des Kranken zu benutzen, fehlgeschlagen, zuletzt den Plan gebaut, [233] bei dessen Ausführung ich Unschuldige (wie es scheint) die Hauptrolle spielen sollte. Er wußte unvermerkt die Einbildung in ihm zu erwecken, es lebe auf einer unbewohnten Insel des Griechischen Meeres eine mächtige und wohlthätige Nymphe und Zaubrerin, durch deren Beistand er wieder zum Besitz seiner Geliebten gelangen könne. In dieser Hoffnung hatte sich der arme Chariton ziemlich ruhig zu Schiffe bringen lassen; während der ganzen Reise war er meistens still und in sich selbst gekehrt geblieben, und nun, da er in dem Palast der magischen Nymphe angekommen zu seyn glaubte, schien er mit Ungeduld und argwöhnischem Mißtrauen, welche alle Augenblicke einen stürmischen Ausbruch besorgen ließen, des Erfolgs, worauf man ihn vertröstet hatte, gewärtig zu seyn.

Praxagoras beschloß seine Erzählung mit der nochmaligen Erklärung: daß sie alles, was in diesem so weit außer dem gewöhnlichen Wege liegenden Vorfall zu thun seyn möchte, meiner Weisheit und Großmuth unbedingt überließen. Die Weisheit war hier zu viel, wirst du denken; wenigstens mußte ich mich durch ein so feines Compliment aufgefordert fühlen, diese Weisheit nun auch zu behaupten, die man mir so uneigennützig geliehen hatte. Ich antwortete also nach einer kleinen Pause: wiewohl weder ich, noch mein Bild, noch der Bildhauer Skopas, von irgend einem Gerichtshof in der Welt für dieses ohne Zuthun unsers Willens veranlaßte Unglück verantwortlich gemacht, und zu irgend einer Art von Vergütung desselben verurtheilt werden könnten, so fühlte ich mich doch aus Menschlichkeit geneigt, und gewissermaßen sogar verpflichtet, alles, was billigerweise von mir erwartet werden [234] könnte, zum Troste des bedauernswürdigen Vaters beizutragen. Durch einen glücklichen Zufall (fuhr ich fort) befindet sich die Bildsäule, die wir nöthig haben werden, eben hier in diesem Hause, da sie sonst in einem Gartensaale meines Landguts zu Aegina zu stehen pflegt. Wie meinst du, wenn wir einen Versuch machten, was ihr unverhoffter Anblick – Aber beinahe hätte ich vergessen, daß ihr eine Zaubrerin mit ins Spiel gezogen habt, deren Erscheinung uns jetzt unentbehrlich ist, da der Kranke alle seine Hoffnung auf ihren Beistand baut. Auch diese ist gefunden. Es leben etliche junge Korinthierinnen unter meiner Aufsicht, von welchen eine ganz das ist, was wir nöthig haben; ein schönes Mädchen, von prächtiger Gestalt, und reichlich mit jedem heroischen Reiz begabt, der sie zur Darstellung einer Medea oder Circe geschickt machen kann. Ich werde sie, weil Gefahr im Verzug ist, ungesäumt in der Rolle, die sie zu spielen hat, unterrichten, und sie in einem so blendenden Costume vor unserm Nympholepten erscheinen lassen, daß wir unsre gute Absicht schwerlich verfehlen werden.

Praxagoras konnte nicht Worte genug finden, mir für meine edelmüthige Herablassung zu danken, und nachdem wir alles auf jeden Fall Nöthige verabredet hatten, wurde sofort Hand ans Werk gelegt. Einer der größten Säle des Hauses wurde zur Scene unsers Drama's eingerichtet, und eine Stunde der Nacht zur Aufführung angesetzt. Für den Vater und deine närrische Freundin wurde ein Platz abgesondert, wo sie, ohne selbst gesehen zu werden, alles wahrnehmen konnten. Die Stunde kam. Bleich und abgezehrt wankte der arme Chariton von seinem Arzt geführt heran; seine Gesichtsbildung [235] schien mir ziemlich unbedeutend, aber nicht unedel, und durch die stille Schwermuth, die um seine lockichte Stirne hing, sogar ansprechend. Er schien beim Eintritt in den Saal über die Scene, die ihm in einer künstlichen Beleuchtung entgegen schimmerte, mehr erstaunt als erschrocken zu seyn. Euphorion, in einem prächtigen Anzug, einen funkelnden Gürtel um den Busen, eine kleine Strahlenkrone auf dem Haupte, und von reichgeschmückten Nymphen umringt, auf einem erhöhten Thron sitzend, war das erste was ihm in die Augen fiel. Er blieb plötzlich stehen, schaute bald mit fragenden Blicken auf die schöne Zaubrerin, bald mit suchenden im Saal herum, wie im Zweifel ob er seinen Augen glauben dürfe, und als ob er sich nach etwas umsehe, das hier vorhanden seyn müsse. Tritt näher, Chariton, und sey ohne Furcht, sprach sie: ich habe dich in meinen Schutz genommen; der Räuber deiner Geliebten ist entwaffnet, ich gebe sie dir wieder. Siehe! – Mit diesem Worte that sich ein Vorhang auf, der die Bildsäule bisher verdeckt hatte, und vermittelst eines andern, der plötzlich und ohne Geräusch herabfiel, schwand die Zaubrerin mit ihren Nymphen aus seinen Augen. Soll ich dir gestehen, Aristipp, daß die Bewegungen, wodurch sich die Gefühle des bestürzten Jünglings bei Erblickung dieses Bildes ausdrückten, meiner Eitelkeit wirklich ein schmeichelhaftes Schauspiel gaben? Er blieb eine Weile wie in den Boden gewurzelt stehen, sah sich schüchtern und lauschend um, als ob er beobachtet zu werden fürchte, trat dann näher hinzu, und stutzte wieder zurück. Ein langer tiefer Seufzer schien ihm endlich Luft zu machen; zweifelhaft und nachsinnend [236] betrachtete er das geliebte Bild, schien es auf einmal zu erkennen, und stürzte freudetrunken mit ausgebreiteten Armen auf dasselbe hin. Bist du es wirklich? hab' ich dich endlich wieder? rief er aus, und umklammerte die frostige Geliebte, als ob er mit ihr zusammenwachsen wollte. – »Aber warum bist du so stumm? so kalt? so unempfindlich? – Fühlst du denn meine glühenden Küsse nicht? – Ach! sie haben mich betrogen! Du bist noch Marmor! Deine schönen Augen sind ohne Licht, kein Herz schlägt in diesem lieblichen Busen! Sie haben mich betrogen die Grausamen – aber es wird ihnen nichts helfen! Ich fühl' es, auch im Marmor liebst du mich – diese todte Hand hat mich berührt – dein Arm windet sich eiskalt um meine erstarrende Hüfte – o Dank, ihr Götter! ich werde zu Marmor mit ihr!«

Es war hohe Zeit daß Praxagoras sichtbar ward, um einem Rückfall in seine vorige Tollheit noch zuvorzukommen. Wir haben dich nicht betrogen, lieber Chariton, rief er ihm zu: noch eine kleine Geduld und du wirst glücklich seyn! – Der Jüngling stutzte, da er den Arzt, den er schon lange als seinen einzigen Freund anzusehen gewohnt war, mit offnen Armen auf ihn zu eilen sah, und schien in einigen Augenblicken wieder zu sich selbst zu kommen. Sey gutes Muths, fuhr Praxagoras fort, indem er einen Arm um ihn schlang, und ihn unvermerkt von der Bildsäule entfernte; ein so schweres Werk, wie die Entzauberung deiner Geliebten ist, kann nicht in einem Augenblick zu Stande kommen; genug daß die mächtige Alphesiböa, deine Beschützerin, mit Eifer daran arbeitet, und zur einzigen Bedingung des glücklichen Erfolges macht, [237] daß du dich noch eine kurze Zeit geduldest. – Durch diese und dergleichen Zureden ließ sich der junge Mensch nach und nach besänftigen; und so brachte ihn der Arzt mit guter Art wieder auf sein eigenes Zimmer, wo die Nacht zwar ohne Schlaf, aber doch unter ziemlich ruhigem Phantasiren vorüberging.

Die Frage war nun, in einer abermaligen Rücksprache zwischen dem Arzt und der weisen Lais, wie die mächtige Zaubrerin Alphesiböa in den Stand gesetzt werden könne, Wort zu halten. Daß die Bildsäule belebt werden müsse, wenn Chariton von seinem Wahnsinn gründlich geheilt werden sollte, schien beiden etwas Ausgemachtes. Der Arzt gestand, daß anfangs große Fehler in der Behandlung des Kranken begangen worden. Damals, meinte er, wäre durch ein paar geschickte Kunstgriffe leicht zu helfen gewesen. Aber nun, da es einmal so weit mit ihm gekommen – Was nun zu thun? – Ein dritter hätte eben dieselbe Antwort auf diese Frage in beiden Gesichtern lesen können. Es gab jetzt nur Einen Weg die Statue zu beleben, nur Eine Person die das Wunder verrichten konnte; ihr Name lag beiden auf der Zunge; aber er gehörte unter die unaussprechlichen Worte. Wer durfte der weisen Lais ansinnen, sich selbst zum Opfer der albernsten aller albernen Grillen des unartigen Bastards des Porus und der Penia 114 darzustellen? Und wie war zu hoffen, daß sie sich aus bloßer Menschlichkeit von freien Stücken zu einer so zweideutigen Heldenthat entschließen würde? Beide sahen einander mit einverstandenen Blicken an und schwiegen. Endlich lösete deine schnellbesonnene Freundin den Knoten mit[238] einem raschen Hieb – und wer sonst hätte es thun können, wenn sie es nicht that? Auf irgend eine Art muß die Sache zu einem Ausgang gebracht werden, sagte sie. Sey du ruhig, Praxagoras; bereite deinen Kranken mit der guten Art, die dir eigen ist, zu einer glücklichen Begebenheit vor, und mich laß für das Uebrige sorgen.

Mein erster Gedanke, als der Arzt sich wegbegeben hatte, war – rathe, was? mein scharfsinniger Herr! – Du wirst rathen: eine meiner Nymphen, etwa die schöne Zaubrerin selbst (die mir wirklich an Größe und Gestalt ziemlich ähnlich ist) in einem nur vom Monde schwach beleuchteten Zimmer unterzuschieben? – In der That hast du meinen ersten Gedanken errathen; aber – δευτεραι φροντιδες 115 – du weißt ja? – Oder könntest du dir im Ernst einbilden, deine Freundin Lais, bekanntermaßen eine Art von Philosoph und von allem, was Vorurtheil und Leidenschaft heißt, freier als Sokrates und Plato selbst, sollte, wenn auch das Wunderbare keinen Reiz für sie hätte, nicht wenigstens so viel Neugier haben, dem Spiele der Natur bei einer so außerordentlichen und schwerlich jemals wiederkommenden Gelegenheit in der Nähe zuzusehen? – Aber freilich! – Man muß gestehen – du hast Recht, Aristipp! – Die schöne Alphesiböa würde sich vielleicht ohne großen Zwang gefallen lassen – Wir wollen sehen.


Die Entzauberung ist glücklich zu Stande gekommen, mein Freund. Die freundliche Göttin, die sich in alten Zeiten [239] eines Cyprischen Bildners 116 in einem ähnlichen Fall erbarmte, war so gefällig das Wunder zum zweitenmale zu verrichten. Erwarte keinen umständlichen Bericht. Genug, das Marmorbild erwarmte, athmete, lebte auf, bekam eine Seele unter den Küssen des Glücklichen; und die Besorgniß, daß er vor lauter Entzücken über ihre wiedergekehrte Seele die seinige in ihren Armen ausathmen möchte, war das Einzige, was der Göttin den Trost, ein so seltsames Abenteuer zu einem fröhlichen Ausgang gebracht zu haben, beinahe verkümmert hätte. Glücklicherweise fiel der neue Pygmalion bei Zeiten in einen tiefen zehnstündigen Schlaf, und beim Erwachen fand ihn der Arzt (der schon ein paar Stunden, vor seinem Bette sitzend, an der Länge seines Schlummers, der frischen Farbe seiner Wangen und dem weichen ruhigen Schlag seines Pulses sich ergötzt hatte) wie in ein neues Leben geboren. Er schien wieder in vollem Besitz seines Verstandes, so viel er dessen je gehabt haben mochte, und erinnerte sich des Vergangenen nur überhaupt, wie eines schweren Traumes, dessen Umstände so übel zusammenhingen, daß er Mühe hatte sich das Ganze klar zu machen. Aber, sagte er, wenn auch das ein Traum war, was mir diese Nacht begegnete, so wünschte ich mir wohl, ewig wie Endymion zu schlafen, um ewig so zu träumen. – Zu größerer Sicherheit zapfte ihm Praxagoras noch etliche Unzen Blut ab, mit dem Vorbehalt, ihn nach und nach durch gute Nahrung und edeln Wein wieder so viel zu stärken, als ihm dienlich seyn möchte. Nicht wenig trugen vermuthlich zu Befestigung seiner Genesung auch die Grazien und Nymphen meines Hauses bei, welche (wie du bezeugen kannst) durch [240] Schönheit, Talente, gefälliges Wesen und ungezwungene Sittsamkeit so ausgezeichnet sind, daß keine Gesellschaft für sie zu gut und die ihrige für niemand zu schlecht ist. Der junge Aspendier gefiel sich so wohl unter ihnen, daß er unvermerkt selbst immer liebenswürdiger ward.

Zwey Tage nach seiner Wiederherstellung gab uns seine erste Zusammenkunft mit mir ein Schauspiel, das eines Beobachters wie du werth gewesen wäre. Ich hatte mich, um mit der Bildsäule des Skopas so wenig als möglich gemein zu haben, äußerst matronenmäßig angezogen; überdieß schien ich merklich größer und stämmiger und wenigstens zwanzig Jahre älter zu seyn, als das Ebenbild meines sechzehnten Jahres. Dem ungeachtet stutzte Chariton bei meinem Anblick, und eine mit Mühe zurückgehaltene Ausrufung blieb zwischen seinen Lippen stecken. Doch schien er seinen Augen nicht zu trauen, und mit dem Gefühl zu kämpfen, welches ihm sagte, daß er mich anderswo gesehen habe. Es war nicht mehr als billig, daß ich ihm die Mühe, dieß Gefühl durch Reflexion zu übertäuben, auf alle Weise erleichterte, und den Zauber meiner weltberühmten Reize durch den Anstand und Ernst einer Dame, welche schon neun Olympiaden überlebt hat, so viel nöthig seyn möchte, zu entkräften suchte. Dieß wirkte zusehends, und in kurzem sagte mir seine ehrerbietige Zurückhaltung, daß er die Ueberraschung des ersten Anblicks bloß einer zufälligen Aehnlichkeit beimesse. Die Richtigkeit dieser Vermuthung und die Vollständigkeit der Genesung des jungen Aspendiers bestätigte sich, sobald sich dieser mit seinem Vertrauten wieder allein befand. Kannst du dir vorstellen, sagte [241] er zum Arzt, daß mir beim ersten Anblick der Frau dieses Hauses beinahe etwas Albernes begegnet wäre? – Ich bemerkte wohl, erwiederte Praxagoras, daß du von einem Augenblick zum andern die Farbe verändertest. – Wirklich, fuhr jener fort, sieht sie in einer gewissen Entfernung der Bildsäule meines fatalen Traumes so ähnlich, daß ich beinahe die Besonnenheit darüber verloren hätte. – Dergleichen Aehnlichkeiten kommen häufig vor, versetzte der Arzt, und fallen immer zuerst in die Augen; aber bei genauerer Ansicht zeigt sich gemeiniglich eine so große Verschiedenheit, daß man sich wundert, sie nicht sogleich wahrgenommen zu haben. – So ging mir's auch, sagte Chariton; es dauerte nicht lange, so kam ich mir selbst mit meiner Einbildung lächerlich vor; hoffentlich hat die schöne Lais nichts davon gemerkt. – Wenigstens ist zu glauben, versetzte Praxagoras, daß sie sich deine Verwirrung bloß aus dem Eindruck erklärt hat, den sie gewöhnlich auf jeden, den sie zum erstenmal anredet, zu machen pflegt. – In der That, sagte der Jüngling, hab' ich nie so viel Majestät mit so viel Anmuth gepaart gesehen. – »Ich auch nicht, Chariton, wiewohl meine Augen dreißig Jahre älter sind als die deinigen.«

Mit Einem Wort, Aristipp, die Cur ist glücklich vollendet; und da man nicht weiß, oder aus gebührender Bescheidenheit nicht wissen will, welcher Mittelsperson das Wunder zuzuschreiben ist, so tragen die Götter (denen wir Sterblichen so häufig durch Dank oder Undank gleich viel Unrecht thun) unverdienter Weise den Dank allein davon.

Meine Gäste haben sich ohne Mühe bereden lassen, so viele [242] Tage bei mir zu verweilen, als Praxagoras zu Befestigung der Gesundheit seines Pfleglings für nöthig hielt. Der Alte, der ein mächtiger Kunstliebhaber ist, brachte seine meiste Zeit in der Werkstatt meines Freundes Euphranor zu, von dessen vielfachen Talenten er ganz bezaubert ist. Noch mehr ist es der Sohn von den Talenten der reizenden Euphorion, die sich ihm in kurzem so unentbehrlich zu machen gewußt hat, daß sie ihn mit Bewilligung des Vaters nach Aspendus begleiten wird. Sie ist zwar eine Waise und ohne Vermögen; aber sie stammt in gerader Linie von einem Schwestersohn des Tyrannen Kypselus 117 ab, und ich werde dafür sorgen, daß sie nicht mit leeren Händen in das Haus des edeln Aspendiers einziehen soll.

Sie sind nun wieder abgereist, und wenige Stunden, nachdem sie den Hafen von Kenchreä 118 verlassen hatten, wurde mir im Namen des Alten zu seinem Andenken eine schwere, zierlich gearbeitete goldne Schale, und, zum Austheilen unter meine jungen Freundinnen, verschiedene Stücke der schönsten Persischen und Phönicischen Zeuge zugestellt.

Meine Abreise nach Aegina ist auf einen der letzten Tage des Elaphebolions 119 festgesetzt. Außer einem Theil meiner Hausgenossen werde ich niemand mit mir nehmen als meinen Günstling unter den hiesigen Künstlern, Euphranor, welchen ich mit dir in Bekanntschaft zu bringen ungeduldig bin. Ich bin gewiß du wirst ihn lieb gewinnen, und den Vorzug billig finden, den ich ihm vor seinen Mitbürgern gebe.

Unter den Vergnügungen, die ich in meiner kleinen Zauberinsel mit dir zu theilen hoffe, ist keine der geringsten, daß [243] wir Platons Symposion zusammenlesen werden. Ich gestehe, daß die hohe Schönheit seines Geistes, und der Reichthum von Erfindungskraft und Witz, den er in diesem Drama von einer ganz neuen Art, mit der stolzen Freigebigkeit eines Krösus, der sich der Unerschöpflichkeit seiner Quellen bewußt ist, so üppig verschwendet hat, mich beim ersten Durchlesen dermaßen hinriß, daß ich es mehr verschlungen als gelesen habe. Wenn es ihm mit seiner Schwärmerei Ernst ist (woran ich fast zweifle), so ist er der liebenswürdigste Schwärmer, den ich mir denken kann; und ich würde hinzusetzen, auch der gefährlichste, für mich wenigstens, wofern seine Physiognomie wirklich so schön und geistvoll ist, als sein Neffe Speusippus sie mir angepriesen hat.

31. Aristipp an Lais
31.
Aristipp an Lais.

Wenn ich dir etwas Schmeichelhaftes deines jungen Aspendiers wegen sagen sollte, schöne Laiska, so würde mir die Krankheit, nicht die Cur, den Stoff dazu geben müssen. Die letztere wäre, aller Wahrscheinlichkeit nach, einer deiner Mägde eben so gut gelungen als der Zaubrerin Euphorion, oder – die Grazien mögen mir verzeihen daß ich sage – der Göttin selbst. Jene hingegen könnte unter den Wundern, die deine Schönheit bereits gethan hat, vielleicht das größte scheinen, wenn es wirklich ein größeres Wunder wäre, daß dein Bild [244] einen jungen Aspendischen Schwächling rasend machte, als daß du selbst schon mehr als Einen Kopf, mit dem es sonst ziemlich richtig stand, aus dem Gleichgewicht gerückt hast. Der gute Chariton hatte, wie es scheint, von dieser Seite wenig zu verlieren; und da ein im Grunde doch nur sehr gemeines Hausmittel gegen ein schon ziemlich eingewurzeltes Uebel so gut und schnell bei ihm anschlug, so ist nicht zu zweifeln, es würde, wenn man gleich Anfangs darauf verfallen wäre, dem alten Aspendier und seiner Familie viel Kummer, Plackerei und Ausgaben, dem jungen ein paar verlorne Jahre, und dir einen sehr entbehrlichen Zusatz zu deiner Celebrität erspart haben. – Aber was rede ich Undankbarer gegen die goldene Kette der menschlichen Thorheiten und Mißgriffe, an welcher doch zuletzt alle unsere Schicksale, die glücklichen wie die unglücklichen, hangen? Hätte Tyche 120 nicht in einer ihrer seltsamsten Launen die Kunstliebhaberei des alten Charidemus, den Zufall der eine Kopey der Skopassischen Venus in seine Hände spielte, die kränkelnde Reizbarkeit seines verzärtelten schwachsinnigen Sohns, die geringe Besonnenheit der ganzen Familie, den Unverstand der ersten Aerzte, und die auf bloßes Gerathewohl gewagte lange Reise von Aspendus nach Korinth, hätte, sage ich, die Göttin des Zufalls dieß alles nicht mit dem zarten Billigkeitssinn und dem philosophischen Vorwitz der schönen Lais so fein zusammengewebt, so würde – wahrlich so würde Aristipp das Vergnügen nicht gehabt haben, seine Freundin einen ganzen Monat früher zu sehen! – Aber womit hat denn Aristipp verdient, auf so vieler wackerer Leute Unkosten ganz allein und unentgeltlich die süße Frucht ihrer [245] Thorheiten einzuernten? – Antworte mir jemand auf diese Frage etwas Besseres als: so ist nun einmal die Weise der großen Weltregentin! Glück und Verdienst, Ausgabe und Gewinn, Genuß und Arbeit, scharf und gleich gegen einander abzuwägen, ist ihres Thuns nicht; und gegen einen, der die Früchte seines mühsamen Fleißes unverkümmert genießt, ernten nenne wo sie nicht gesäet haben.

Da ich einmal im Zug bin über die Geschichte deiner Aspendier zu moralisiren, so erlaube mir noch eine Bemerkung, die ich zwar schon hundertmal bei andern Gelegenheiten gemacht habe, die aber hier nöthig ist, um der vorbelobten Göttin nicht mehr Ehre zu geben als ihr gebührt. Es braucht gewöhnlich zu einer ungeheuern Masse von Narrheit und Albernheit nur ein einziges Körnchen Menschenverstand, und etwa noch, wenn du willst, ein kleines Tröpfchen Gutherzigkeit, um, wenn alles zusammengegohren hat, am Ende ein leidliches, ja wohl gar gutes Resultat herauszukriegen; dafür würde aber auch ohne diese wenigen Zuthaten ganz und gar nichts Taugliches herausgekommen seyn. So ist z.B. an dieser ganzen Aspendischen Geschichte nichts Verständiges als der Einfall des Arztes Praxagoras, die Ursache des Wahnsinns des jungen Menschen zum Mittel seiner Genesung zu machen. Ohne diesen gescheidten Einfall würde wahrscheinlich zuletzt die ganze wohlvornehme Sippschaft des ehrsamen Charidemus um ihr bißchen Verstand gekommen seyn. Aber gleichwohl, was hätte der gute Gedanke frommen können, wenn die schöne Lais sich nicht in einem raschen Anfall von Gutherzigkeit entschlossen hätte, dem Uebel abzuhelfen, [246] bevor sie noch das Mittel dazu in Ueberlegung genommen hatte.

Dem sey indessen wie ihm wolle, vergiß mir ja nicht, liebe Laiska, die prächtige Trinkschale des Aspendiers mit nach Aegina zu nehmen. Ich muß daraus auf die Gesundheit aller gescheidten Leute trinken, die durch schöne Weiber zu Narren, und aller Narren die durch kluge Weiber gescheidt werden. Wie groß wohl die Anzahl der letztern gegen die erstern seyn mag? – Das soll uns den Stoff zu einem Tischgespräch geben, woraus sich zur Noth ein Gegenstück zu Platons Symposion drechseln ließe.

Ernsthaft gesprochen, muß ich gestehen, daß dieser neue Zwitter von Philosophie und Poesie, von seiner glänzenden Seite betrachtet, die Lobsprüche verdient, die du ihm in der Entzückung des ersten Genusses ertheilt hast. Neuheit der Erfindung, Reichthum des Stoffs, Schönheit der Form, angenehm abwechselnde Mannichfaltigkeit der Unterhaltung, sinnreiche Allegorien, zum Theil (wie die vom Ursprung des Eros aus der verstohlnen Umarmung des Porus und der Penia) in Milesische Mährchen 121 eingekleidet, feiner Atticism des scherzenden und edle Würde des ernsten Tons; zu allem diesem (mit wenigen Ausnahmen) eine große Zierlichkeit der Sprache, und ein Rhythmus, den ich, in allem was nicht gesungen werden soll, dem Metrischen in mancherlei Rücksicht vorziehe, dieß alles ist bisher, wohl in keinem Werke dieser Art in einem so hohen Grade vereinigt gesehen worden, und Protagoras, Gorgias, ja Prodikus selbst, haben hier ihren Meister gefunden. Ob ich gleich nie glauben werde, daß Plato (wie [247] er von einigen beschuldigt wird) des lächerlichen Uebermuths fähig sey, durch seine Dialogen den alten Homer verdrängen zu wollen: so sehe ich doch, daß er, vom Geist einer edeln Ruhmbegier angeweht, der Welt in diesem Symposion zeigen wollte, daß er die Geheimnisse der Composition und Darstellung nicht weniger in seiner Gewalt habe, als die Kunstgriffe der Rhetorik und Dialektik; daß seine Phantasie fruchtbar genug sey, ihn mit einer Menge neuer Erfindungen, Bilder und Gedanken aller Art zu versehen; mit Einem Worte, daß es nur auf seinen Willen ankomme, ein eben so großer Redner und Dichter als scharfsinniger Sophist und subtiler Begriffespalter zu seyn. Auch kann ich nicht umhin, dich auf einen Umstand aufmerksam zu machen, der in meinen Augen einer der größten Vorzüge dieses Dialogs ist, nämlich daß Sokrates in keinem andern sich selbst so ähnlich sieht; wiewohl ich damit nicht gesagt haben will, daß er nicht noch immer zu viel platonisirt, um für den ächten unverfälschten Sohn des Sophroniskus, wie wir ihn beide gekannt haben, gelten zu können. Alles indessen, was an diesem Werke zu loben ist, zusammengerechnet, hat unsre Literatur, meines Bedünkens, dadurch wie der einen großen Schritt vorwärts gemacht, und wenn sie so fortführe, würde man dereinst auch von unsern prosaischen Schriftstellern, wie von unsern Dichtern, Bildnern und Architekten, sagen können, daß sie andern Völkern und künftigen Zeiten, wenigstens was die Form betrifft, nichts als das Bestreben ihre Werke, als die höchsten Modelle des Schönen in der Kunst, zu studiren und nachzuahmen übrig gelassen hätten. Ob aber auch die [248] Philosophie, insofern sie die Wissenschaft alles dessen ist, was der Mensch wissen soll und wissen kann, so viel dadurch gewonnen habe als seine Verehrer behaupten, und überhaupt wie das ganze Werk, wenn es Stück vor Stück einer strengen Prüfung unterworfen würde, vor dem ernsten unbestechlichen Richtstuhl der Wahrheit und Sittlichkeit bestehen würde, dieß, liebe Laiska, ist eine andere Frage, deren Erörterung uns in eine so langweilige Analyse verwickeln würde, daß ich die Entscheidung lieber bei einer zweiten ruhigern Lesung deinem eigenen Gefühl überlasse. – Doch du willst ja, daß wir das Symposion unter den Augen deiner Grazien zu Aegina mit einander lesen? Auch das, meine Freundin! wenn uns diese freundlichen Göttinnen ja so abhold seyn könnten, uns keine angenehmere Beschäftigung zu geben.

Lege mir es übrigens nicht zur Eifersucht aus, wenn ich dir sage, deine Phantasie schwärme, flattre und kreise so viel um diesen Plato herum, daß ich nicht dafür gut stehen möchte, daß er dir nicht, wie du jetzt scherzweise sagst, zuletzt noch in ganzem Ernste gefährlich werden könnte. Wirklich weiß ich dir zu Verhütung dieses Unglücks keinen bessern Rath, als wieder einmal nach Athen herüber zu kommen, und dich mit deinen eigenen Augen von der Schönheit seiner Physiognomie und der Liebenswürdigkeit seiner Schwärmerei zu überzeugen. Ich glaube selbst, wofern er sich's in den Kopf setzte, so artig und liebenswürdig gegen dich zu seyn als er könnte, eine Frau wie du würde an ihrer ganzen Stärke nicht zu viel haben, um sich seiner zu erwehren. Aber wenn die Gefahr aufs höchste gestiegen wäre, brauchtest du auch nichts [249] weiter als eine seiner Vorlesungen über seinen Parmenides, Protagoras, oder Kratylus zu hören, um – sogar den Cynischen Diogenes liebenswürdig zu finden, wiewohl seine Haare, seitdem er sie mit seinen Fingern kämmt, nicht in der besten Ordnung sind.

Der schöne Kleophron empfiehlt sich deinem Andenken. Er hat sich seit einiger Zeit so eifrig auf die Speusippische Philosophie gelegt, daß in wenigen Monaten eine kleine Luftveränderung in Aegina, wofern du die Güte hättest, ihn einzuladen, ihm ungemein zuträglich seyn dürfte.

32. Aristipp an Kleonidas
32.
Aristipp an Kleonidas.

Es wäre schwer, bester Kleonidas, dir zu beschreiben, wie mir zu Muthe ward, als ich mich am dritten des letztverwichnen Munychions 122 wieder in dem reizenden Landsitz unsrer Freundin befand, den ich seit dem Anfang des zweiten Jahres der fünfundneunzigsten Olympiade nicht wieder gesehen hatte. Die neun Jahre, um die ich indessen älter geworden bin, haben ihm nicht nur allen Reiz der Neuheit wieder gegeben, sondern die Wirkung seines eigenen Zaubers noch durch tausend verwandte Erinnerungen verstärkt. Als ich an ihrer Hand zum erstenmal wieder in den Garten trat, tauchten plötzlich die Bilder der schönsten Gegenden und Lustörter, die ich binnen dieser Zeit gesehen hatte, in meinem [250] Gedächtniß auf, und gewährten mir, indem sie sich an die vor mir liegenden Scenen anschlossen, einen unbeschreiblichen Augenblick. Aber fast eben so plötzlich wurden sie wieder, wie morgenröthliche Duftgestalten von der aufgehenden Sonne, von dem lebendigern Gefühl des Gegenwärtigen verschlungen. Weder Panionions liebliche Gefilde, noch die zauberischen Hügel und Thäler von Lesbos, noch das Elysische Tempe hatte ich an ihrem Arm gesehen; in keinem von jenen zweimal die schönste der Horen mit ihr gefeiert, in keinem den Bund ewiger Freundschaft am Altar der Grazien mit ihr beschworen. Welchen magischen Glanz gossen alle auf Einmal erwachenden Bilder der Vergangenheit über alles aus was ich sah, über jede Stelle, die ich betrat! über jede schattende Baumgruppe, unter welcher wir saßen, jede unter Blumengewinden hin schleichende Quelle, an deren Rande wir lustwandelten, jede dunkle Myrtenlaube, jede stille Grotte, die unsre glücklichsten Augenblicke unter den Zauberschleier des Geheimnisses bargen! – Könntest du dich wundern, daß dieß alles mein Gemüth in eine Stimmung setzte, die den Wunsch, mit welchem ich nach Aegina gekommen war, zu Hoffnung erhöhte, und, da Lais selbst durch eine gewisse, mir an ihr ungewohnte Innigkeit ihres ganzen Betragens gegen mich, ähnliche Gefühle zu verrathen schien, mich einige Tage lang glauben ließ, es könnte mir vielleicht gelingen, ihr meinen Plan für ihr künftiges Leben unvermerkt als ihr eigenes Werk in die Seele zu spielen? – Aristipp kann also auch schwärmen, wirst du denken? – Ich gesteh' es, und lasse mir's nicht leid seyn; im Gegentheil, da ich die Gabe [251] habe, daß eine getäuschte Hoffnung für mich nichts weiter ist als das Erwachen aus einem schönen Traum, so danke ich der Natur auch für jeden Genuß, den sie mir in Träumen schenkt. Aber wozu hier diese voreiligen Betrachtungen, da alles noch so lächelnde Anscheinungen hat?

Unsre Freundin hat sich in den drei Jahren, die seit unserer Zusammenkunft zu Rhodus verflossen sind, so wenig verändert, daß ihre Schönheit vielmehr noch immer im Zunehmen zu seyn, und sogar von dem frischen Glanz der ersten Jugend nichts verloren zu haben scheint. Doch auch dieß ist vielleicht nur ein täuschender Schluß von Gleichheit der Wirkung auf Gleichheit der Ursache; denn es ist nicht unmöglich, daß die größere Sicherheit immer zu gefallen, und die größere Vollkommenheit in der Kunst zu gefallen, das Wenige, was sie durch die Zeit verloren haben könnte, doppelt und dreifach ersetzt. Dem sey wie ihm wolle, gewiß ist daß ich sie noch nie so äußerst liebenswürdig, nie in einer so sanften, beinahe möcht' ich sagen zärtlichen Stimmung gesehen habe, als in den ersten Tagen unsrer Wiedervereinigung. Sie schien sich nur in dem einfachsten ländlichsten Anzug zu gefallen. Das Marmorbecken vor ihrem Schlafgemach, worein ein schelmisch lächelnder Amor das Wasser aus seiner umgekehrten Fackel gießt, vertrat diese ganze Zeit über die Dienste der krystallenen Näpfchen und Alabasterbüchsen, womit ihr Putztisch beladen zu seyn pflegt. Ein leichtes weißes Gewand, eine Rose in den kunstlos sich ringelnden Locken, ein Veilchenstrauß am Busen, waren ihr ganzer Putz. Kurz, sie spielte eine Art Arkadischer Schäferin aus der goldnen Zeit 123, mit so [252] viel Natur und Anmuth, als ob sie nie etwas anders gewesen wäre. Sie schien in diesen glücklichen Tagen beinahe für mich allein da zu seyn; und ich? – du kennst meine Weise – alles Gute (und wahrlich auch das Angenehme ist gut) dankbar anzunehmen und zu genießen, ohne zu fragen, oder mir Kummer darüber zu machen, wie lang' es dauern werde. Aber wenn ich sage, daß in einer einzigen Dekade wie diese mehr Lebensgenuß ist, als in neunzig Jahren, wie man gewöhnlich zu leben pflegt, so glaube ich keinen übermäßigen Werth auf sie gelegt zu haben.

Euphranor, der auf dem Fuß einer vertrauten Freundschaft mit ihr steht, und dieses Vorzugs in mehr als Einer Rücksicht würdig scheint, hat eine Arbeit mitgebracht, womit er so eifrig beschäftigt ist, daß man ihn, außer bei Tische, nur in seiner Werkstatt zu sehen bekommen kann. Vielleicht ist dieß zwischen Lais und ihm so verabredet worden: doch halte ich ihn für edel und bescheiden genug, aus eigner Bewegung die Rechte einer ältern Freundschaft ohne Schelsucht anzuerkennen. Ueberdieß scheint mir ein geheimes Verständniß zwischen ihm und einer von den Zöglingen unsrer Freundin vorzuwalten, wodurch ihm (wofern ich recht beobachtet hätte) die Tugend der Selbstüberwindung freilich so sehr erleichtert würde, daß sie beinahe aufhörte verdienstlich zu seyn.

Euphranor ist ein eben so gelehrter als geschickter Künstler; Bildner und Maler zugleich, beiden Künsten mit gleicher Liebe zugethan, und in beiden gleich stark; was vielleicht Ursache seyn könnte, daß er in keiner die hohe Stufe der Vortrefflichkeit [253] und des Ruhms erreichen wird, die ihm nicht fehlen könnte, wenn er sich einer von beiden allein widmete. Sein Kunstsinn will sich aber um so weniger auf ein einzelnes Fach einschränken lassen, da es ihm in allen gelingt, und die Abwechslung (wie es scheint) großen Reiz für ihn hat. Was er dermalen für Lais arbeitet, ist ein goldner Becher, dessen Deckel, ein einziger herrlicher Sardonyx aus der Persischen Beute, mit halb erhobenen Figuren von großer Schönheit von ihm geziert wird. Seit kurzem hat er angefangen, sich vorzüglich mit der Wachsmalerei zu beschäftigen, die er der lebhaftern Wirkung und größern Dauerhaftigkeit wegen der gewöhnlichen mit dem Pinsel vorzieht, und zu einem bisher noch nie gesehenen Grade von Vollkommenheit zu bringen hofft. Man tadelt an seinen Werken 124, daß er die Köpfe, vornehmlich an seinen heroischen Figuren, zu groß mache, worüber man sich, wenn der Tadel gegründet wäre, um so mehr verwundern müßte, da er ein Buch über die Symmetrie geschrieben hat, und sich mit dem Fleiß, womit er diesen Theil der Kunst studirt habe, nicht wenig weiß. »Daß man,« sagt er, »meine Köpfe zu groß findet, hat eine sehr natürliche Ursache: es kommt nicht daher, daß meine Köpfe zu groß, sondern daß der andern ihre zu klein sind. Uebermaß taugt in allen Dingen nichts: aber was an jedem Dinge zu viel und zu wenig ist, läßt sich nicht durch eine einzige allgemeine Formel bestimmen. Schwerlich wird man mir beweisen können, daß ich in der Proportion meiner Köpfe über die schöne Natur hinausgehe; von dem gemein angenommenen Maß hingegen entferne ich mich geflissentlich, weil der Kopf [254] unstreitig derjenige Theil ist, worin der Geist und Charakter an Menschen und Thieren sich am stärksten und deutlichsten ausspricht; wiewohl ich nie vergesse, daß alle, auch die kleinsten Gliedmaßen des menschlichen Körpers mehr oder weniger charakteristisch sind. Nur dann, wenn die Köpfe meiner Heroen durch das proportionelle größere Verhältniß, das ich ihnen gebe, nicht auch an Bedeutsamkeit und Energie gewinnen, verdiene ich Tadel, und dieß ist noch auszumachen.« Ob Euphranor Recht hat, überlasse ich deinem Urtheil. Mir sind die Köpfe in den wenigen Werken, die ich von ihm gesehen habe, nicht größer vorgekommen als sie seyn sollen. Aber das geübte und gelehrte Auge des Kenners mißt freilich schärfer, als der Blick eines bloßen Liebhabers.


Der junge Antipater, dem ich zur Belohnung seines Fleißes und guten Betragens das Glück ein paar Monate bei der schönsten Frau unsrer Zeit zu leben nicht versagen wollte, hat bereits, ohne es zu wissen oder wissen zu wollen, so viele Eroberungen gemacht, als weibliche Wesen in diesem Hause sind. Lais selbst begegnet ihm mit ausgezeichneter Achtung, und läßt ihm seit einigen Tagen sogar ziemlich deutlich merken, daß ihr die Art des Eindrucks, den sie auf ihn mache, nicht gleichgültig sey. Ich habe ihn auf nichts vorbereitet. Er soll alles mit eigenen Augen sehen, und sich in allem nach seinem eigenen Gefühl und Urtheil benehmen; und er sieht wirklich schärfer und beträgt sich männlicher, als man [255] von einem Jüngling seines Alters erwarten sollte. Ich verberge ihm so viel möglich, daß ich ihn beobachte, und erforsche nichts von ihm was er mir nicht von freien Stücken sagt. Bis jetzt habe ich noch keine merkliche Veränderung an ihm wahrnehmen können. Er spricht von dieser Frau, die noch alles, was in ihren Gesichtskreis gerieth, bezaubert hat, mit der ruhigen Bewunderung, womit er von einer schönen Bildsäule reden könnte, und scheint auch nicht mehr als für eine Bildsäule für sie zu fühlen. Er begegnet ihr mit einer Ehrerbietung, womit eine Göttin zufrieden seyn könnte; läßt sich aber dadurch nicht abhalten, bei allen Gelegenheiten herzhaft andrer Meinung zu seyn als sie, und scheint weder die mindeste Ahnung zu haben, daß er ihr durch seine kaltblütige Unbefangenheit mißfallen könnte, noch sich Kummer darüber zu machen, wofern dieß wirklich der Fall wäre.

Die Gewalt, welche die stärkste ihrer Leidenschaften, der Stolz, ihr über alle übrigen gibt, macht es schwer zu sagen, was sie bei einem ihr so ganz neuen Betragen wirklich fühlt; gewiß ist, daß man an dem ihrigen gegen ihn nicht das geringste Zeichen, daß sie sich dadurch beleidigt finde, bemerken kann. Je mehr sie sich ihm nähert, je vorsichtiger zieht er sich zurück, und je mehr er sich zurückzieht, desto eifriger verdoppelt sie ihre Bemühungen ihn anzuziehen. Keines von beiden scheint auf das Spiel des andern Acht zu geben, sondern bloß das seinige zu spielen, und es wäre seltsam genug, wenn eine so geübte Meisterin, mit so großen Vortheilen in der Hand, zuletzt doch das Spiel an einen so unerfahrnen [256] Gegner verlieren sollte. Dein junger Landsmann, sagte sie einsmals zu mir, ist in der That was du mich erwarten ließest; ich habe noch keinen Jüngling von zwanzig Jahren, mit einem Apollonskopf auf Schultern eines Meleagers 125, zugleich so trotzig und so schüchtern gesehen wie ihn. Er ist eine wahre Seltenheit. Nicht daß er mir darum weniger gefiele, fuhr sie lächelnd fort: aber meine närrische Phantasie hatte sich voreiligerweise auf etwas ganz anders eingerichtet – als ob alle jungen Cyrener so dreist und zuversichtlich seyn müßten, wie mein Freund Aristipp in diesem Alter war! – Du wirst ihn schon ein wenig aufmuntern müssen, sagte ich. – »Meinst du? Sey unbesorgt, Aristipp! Es wird sich wohl geben. Ist doch Omphale mit dem Löwen-und Drachenbezwinger Hercules fertig geworden.« – Aber dießmal hatte sie sich in ihrer Rechnung geirrt; es gab sich nicht. Antipater blieb kalt und zurückhaltend, und schien es, zu meiner Verwunderung, immer mehr zu werden. Die arme Lais, der doch wahrlich nicht zuzumuthen war, sich so leicht überwunden zu geben, sah sich, da es ihr weder im Costume einer Arkadischen Hirtin noch in ihrem gewöhnlichen gelingen wollte, zuletzt genöthigt, ihre reichsten Kleiderschränke und Juwelenkästchen aufzuschließen, das ganze Belagerungszeug des Putztisches in Bewegung zu setzen, und die schlauesten Dienste ihrer aufwartsamen Grazien zu Verstärkung ihrer angebornen Reize zu Hülfe zu rufen. Sie erschien nun alle Tage in einer neuen Gestalt, bald im Glanz einer morgenländischen Fürstin, bald in der künstlich nachlässigen üppigen Zierlichkeit einer gefälligen Milesierin; sie dramatisirte sich selbst in alle mögliche [257] mythische Personen, und entwickelte in prächtigen Tanzspielen ihre feinsten Verführungskünste als Selene und Aurora, Galatea und Ariadne, Leda und Io, kurz, zeigte sich unter allen Formen in allen Farben, in allen Arten von Licht und Helldunkel. – Und wofür das alles? um den gedemüthigten Stolz ihrer sieggewohnten Schönheit an einem rohen jungen Halbwilden zu rächen, der wofern er ihr, wie alle andern Sterblichen, gleich beim ersten Anblick gebührend gehuldiget, d.i. den Verstand ein wenig verloren hätte, ihre Aufmerksamkeit schwerlich drei Tage lang fest gehalten haben möchte. Denn daß ich glauben sollte, sie habe mit allen diesen Vorkehrungen etwas andres beabsichtiget, als den Widerspänstigen erst zu überwältigen, und ihn dann, zur Strafe daß er ihr den Sieg so schwer gemacht, das ganze Gewicht ihrer Gleichgültigkeit fühlen zu lassen, dazu kenne ich sie zu gut.

Damit es aber nicht das Ansehen habe, als ob das alles einem so unbedeutenden Menschen als Antipater, geschweige denn ihm allein gelte, hatte sie mehrere Tage vorher zu Argos, Trözene, Korinth, Megara und Athen, unter der Hand bekannt werden lassen, daß es ihr angenehm seyn würde, während ihres Aufenthalts auf dem Lande so viele gute Gesellschaft zu sehen, als die Schönheit der Jahreszeit und die Vergnügungen, womit sie sich und ihre Freunde zu unterhalten gedenke, nur immer nach Aegina zu locken vermöchten. Du kannst dir leicht einbilden, mit welchem Wetteifer eine solche Einladung angenommen wurde, und welche Schwärme von müßigen Phäaciern und Penelopensfreiern 126, deren Ansprüche oder Wünsche sie aufzumuntern schien, herbeigeflogen[258] kamen, in der Hoffnung die gefällige Laune der bisher so stolzen Schönen vielleicht dießmal zu ihrem Vortheil benutzen zu können. Antipater indessen schien an allen den Lustbarkeiten, die jetzt so rasch auf einander folgten, nur wenig Theil zu nehmen, und anstatt in einem so lebhaft unterhaltenen Feuer endlich zu schmelzen, vielmehr mit jedem Tage spröder und unempfindlicher zu werden. Ich gestehe, daß mir eine so hartnäckige Kälte oder Zurückhaltung an einem so kräftigen und ungeschwächten Jüngling zu wenig natürlich schien, um nicht verdächtig zu seyn. Aber wohin ich auch meine Vermuthungen richtete, nirgends zeigte sich eine Spur, die mich auf den Grund seines unerklärbaren Benehmens hätte leiten können. Er selbst zeigte sich bei allem was vorging so ruhig, und schien eine ihm so natürliche Rolle zu spielen, daß ich mich endlich gezwungen sah, entweder das seltsame Problem unaufgelöst zu lassen, oder anzunehmen, der junge Mensch besitze bereits so viel Stärke des Charakters, daß er sein Verhalten gegen Lais bloß nach reinsittlichen Grundsätzen bestimme, und die Würde unsers Geschlechts gegen die übermüthigen Anmaßungen einer von der Natur und dem Glücke allzu sehr verzärtelten Hetäre behaupten wolle, die ihr höchstes Vergnügen daran findet, so viel Sklaven als nur immer möglich vor ihren Triumphswagen zu spannen, und Begierden und Leidenschaften zu erregen, welche sie weder zu befriedigen gesonnen noch zu erwiedern fähig ist. Wahrscheinlich war eine solche Voraussetzung nicht; aber wenn ich irgend einem jungen Manne Stolz und Kaltblütigkeit genug, um so zu denken, und Stärke genug, um ein dieser Denkart angemessenes Betragen [259] sogar gegen eine Lais auszuhalten, zutrauen durfte, so war es Antipater.

Indessen hat sich's am Ende doch gezeigt, daß man in dergleichen Fällen am sichersten geht, wenn man zu ihrer Erklärung die natürlichste Ursache annimmt. Antipater hatte sie mir bisher verschwiegen, aus unnöthiger Furcht, die schöne Lais möchte Mittel finden mir sein Geheimniß abzulocken. Da ich ihm aber vor etlichen Tagen seines Heldenthums wegen eine kleine Lobrede hielt, konnte der wackere Jüngling den Gedanken nicht ertragen, mich durch sein Schweigen um eine Achtung, die er nicht verdiene, zu betrügen; und so that er mir ein Geständniß, wodurch mir nun freilich alles sehr begreiflich ward, und wovon ich nichts weiter sage, da er dir das Nähere selbst geschrieben zu haben versichert.

Lais belustigt sich inzwischen damit, sich durch eine ziemlich kostbare Selbsttäuschung nach Sardes in die Zeiten ihrer höchsten Glorie zu versetzen. Von drei oder vier Kreisen hoffender und betrogener Anbeter umgeben, lebt sie wie eine unumschränkt regierende Königin unter ihren Höflingen, verschwendet das Persische Gold wie eine ächte Griechin, und findet sich reichlich entschädiget, wenn sie sich in ihren Ruhestunden mit mir und Euphranor über die Unterhaltung lustig macht, die ihr so viele verzauberte Gecken, Thoren und Narren von allen Altern, Ständen, Charaktern und Figuren auf ihre eigenen Kosten verschaffen; während diese vielleicht über die Thörin lachen, die das eitle undankbare Vergnügen, ihre Liebhaber mit weit offnen Schnäbeln in die leere Luft schnappen zu sehen, theurer erkauft, als eine andere an ihrer [260] Stelle sich dafür bezahlen lassen würde jedermann zufrieden nach Hause zu schicken. Uebrigens muß ich ihr nachrühmen, daß sie in der Kunst kleine Gunsterweisungen zu vervielfältigen und weit über ihren wahren Werth auszubringen, eine unübertreffliche Meisterin ist. Wäre sie so gewinnsüchtig und raubgierig, als sie im Gegentheil freigebig und verschwenderisch ist, wahrlich mit diesem einzigen Talente könnte sie die reichste Person auf dem ganzen Erdboden seyn. Ueber den ungefügigen Antipater hat sie endlich ihre Partie wie eine weise Frau genommen. Sie bemerkt jetzt sein Daseyn nur selten; wenn es geschieht, beträgt sie sich eben so unbefangen und verbindlich gegen ihn wie gegen jeden andern, scheint sich aber, so oft sie ihm etwa ein paar Worte sagt, nicht zu erinnern, ihn jemals zuvor schon gekannt zu haben.

Nach allem, was du bisher gelesen hast, lieber Kleonidas, ist es wohl überflüssig, dir zu sagen was aus meinem Anschlag auf die schöne Lais geworden ist. Ich komme mir jetzt selbst mit meiner leichtgläubigen Treuherzigkeit gewaltig lächerlich vor, und gelobe der weitherrschenden Aphrodite Pandemos und allen ihren Grazien, mich in meinem Leben nie wieder so schwer an ihnen zu versündigen, um aus einer Lais, und wenn sie noch liebenswürdiger wäre als diese, eine – gute ehrliche Hausfrau machen zu wollen. Alles ist nun wieder zwischen uns wie es seyn soll, und wie es auf ihrer Seite immer war. Aber, wiewohl ich die Hoffnung, sie jemals nach meiner Idee glücklich zu sehen, auf ewig aufgebe, so erneuere ich doch zugleich den Schwur, so lange ich athmen werde ihr Freund zu bleiben. Da ihr mit dem Mehr, was [261] ich für sie zu thun fähig gewesen wäre, nicht gedient ist, so ist dieß das Wenigste was ich ihr schuldig bin.

Um dir eine Probe zu geben, wie wir uns in den zwei ersten Dekaden, so lange unsre Gesellschaft noch klein und auserlesen war, zu unterhalten pflegten, schicke ich dir die Abschrift eines großen Briefes an unsern Freund Eurybates, der in diesem Jahr einer von den sechs Thesmotheten 127 von Athen ist, und, dieser Würde wegen, des Vergnügens den schönsten Theil des Jahres in Aegina zuzubringen entbehren mußte. Dieser lege ich noch die Abschrift einer großen Epistel bei, die ich von Lais, kurz vor unsrer Zusammenkunft in Aegina, erhielt. Sie enthält die sonderbare Geschichte einer von ihr an einem jungen Aspendier verrichteten Wundercur; eines von den Abenteuern, die nur ihr begegnen, und woraus sich keine andere so wie sie zu ziehen wüßte.

In drei Tagen kehre ich nach Athen zurück, mit einer Art von dunkelm Vorgefühl, daß ich – zum letztenmal in Aegina gewesen bin.

33. Aristipp an Eurybates
33.
Aristipp an Eurybates.

Du verlangst, edler Eurybates, einen ausführlichen Bericht über ein symposisches Gespräch, welches vor einigen Tagen bei der schönen Lais vorfiel, und wovon dir, wie du sagst, dein Verwandter Neokles, der dabei gegenwärtig war, [262] gerade nur so viel habe sagen können, daß er dich nach einer vollständigern Erzählung lüstern gemacht. Da du selbst einer von den Unsrigen gewesen wärest, wenn die Pflichten der Würde, die du in diesem Jahre bekleidest, dich nicht an Athen gefesselt hätten, so ist es nicht mehr als billig, deinen Wünschen entgegen zu kommen, und ich freue mich, daß mir mein Gedächtniß treu genug ist, dir, was du ohne deine Schuld versäumtest, mit sehr wenigem Verlust ersetzen zu können.

Erwarte aber (was dir Neokles auch gesagt haben mag) nichts, was mit Platons berühmtem Symposion auch nur von fern in einige Vergleichung kommen, geschweige für ein Gegenstück zu diesem weitglänzenden Prachtwerke gelten könnte. Platons Symposion ist eine Art von Poem, wozu alle Musen beigetragen haben, und worin der Verfasser die ganze Fülle seiner Phantasie, seines Witzes und Attischen Salzes, seiner Wohlredenheit und Darstellungskunst, wie aus Amaltheens 128 unerschöpflichem Zauberhorn, auf seine Leser herabschüttet; ein bei nächtlicher Lampe mit größtem Fleiß ausgemeißeltes, polirtes und vollendetes Werk, womit er uns zeigen wollte, daß es nur auf ihn ankomme, ob er unter den Rednern oder Dichtern, Sophisten oder Sehern seiner Zeit der Erste seyn wolle. Was ich hingegen dir mitzutheilen habe, ist ein zufälliges Tischgespräch unter einer kleinen Anzahl anspruchloser Freunde, denen es bloß um eine angenehme Unterhaltung, und (was in Rücksicht einer Vergleichung mit Platons Gastmahl noch schlimmer ist) nicht um Witzspiele, ironische Parodien, Milesische Mährchen, und Offenbarungen aus der Geister-und Götterwelt, sondern lediglich um schlichte nackte Wahrheit [263] zu thun war. Du siehst also leicht, wie unermeßlich weit ich hinter dem begeisterten Dichter des Agathonischen Siegesmahls 129 zurückbleiben müßte, wenn ich der verwegenen Anmaßung fähig wäre, mich mit ihm in einen Wettstreit einzulassen. Ich werde, im eigentlichsten Sinn, ein bloßer Erzähler dessen seyn, was an der Tafel unsrer Freundin, während eines ziemlich frugalen Mahls und bei sehr kleinen, aber freilich desto öfter geleerten Bechern, gesprochen wurde. Nimm also vorlieb mit dem was ich zu geben habe, und ersetze dir selbst, indem du dich in Gedanken an den Platz deines Neokles nahe an die schöne Wirthin legst, das Einzige, was meiner Erzählung fehlt, um sie so anmuthig zu machen, als das Gespräch selbst, dieses kleinen Umstandes wegen, dem jungen Neokles vorkommen mußte.

Es traf sich damals eben glücklicherweise, daß die Gesellschaft viel kleiner war, als sie gewöhnlich bei unsrer gastfreien Freundin zu seyn pflegt. Außer ihr selbst und mir war niemand zugegen als Euphranor (den du kennst), dein Neokles, mein Landsmann Antipater, und der Arzt Praxagoras, der auf seiner Rückreise von Aspendus sich eine Pflicht daraus machte, zu Aegina anzulanden, und der schönen Lais von dem guten Fortgang ihrer an dem jungen Chariton verrichteten berühmten Wundercur Nachricht zu ertheilen. Lais hatte, um uns Stoff zu einem kurzweiligen Tischgespräch zu verschaffen, Platons Gastmahl von einem trefflichen Anagnosten 130, den sie in Diensten hat, vorlesen lassen. Sie hätte bei keiner andern Leserei ihre Absicht weniger verfehlen können. Neokles und Euphranor eiferten ordentlich in die Wette mit ihr, wer es [264] dem andern in Lobpreisung der Schönheiten dieses Meisterstücks zuvorthun könnte; und es wurden eine Menge feiner Sachen gesagt, die ich dir nicht vorenthalten würde, wenn sie nicht, durch den Verlust des lebendigen Vortrags im Moment, auch zugleich ihre Grazie, und mit dieser ihren größten Werth verlieren würden. Unter andern wollte Lais, daß jedes von uns auf einem kleinen Täfelchen bemerken sollte, welches von den Stücken, woraus das Ganze, gleich einer großen Tapezerei, zusammengesetzt ist, ihm in Rücksicht auf die Kunst der Ausarbeitung am besten gefalle. Euphranor erklärte sich für die Rede des Aristophanes, in welcher er alle Züge, die den eigenen Charakter der Muse dieses komischen Dichters ausmachen, mit der feinen Schalkheit einer allenthalben durchschimmernden Ironie, so meisterlich nachgeahmt zu finden glaubte, daß Aristophanes selbst es schwerlich besser hätte machen können. Praxagoras stimmte für die Rede des Agathon, als die urbanste und launigste Verspottung der Manier des berühmten Rhetors Gorgias, welchen Agathon zum Muster genommen zu haben schien. Neokles war für den Pausanias, Lais für die Hierophantin Diotima, Antipater für den Alcibiades. Ich, um sicher zu seyn, daß ich mit keinem andern zusammenträfe, gab meine Stimme dem Eryximachus; mit der Einschränkung, daß ich seine Rede, in Ansehung des reichhaltigern und solidern Stoffes allen übrigen vorziehe, wiewohl ich gestehen müßte, daß sie der gezwungen witzigen Einkleidung und des flachen Ausdrucks wegen die schlechteste von allen sey. Jedes von uns hatte dieß und das zu Behauptung seiner Meinung vorzubringen, bis wir uns endlich alle vereinigten [265] dem Antipater Recht zu geben, und den letzten Act, wo der Sohn des Klinias, mit einem lärmenden Gefolge von lockern Zechgesellen, trunken und mit Blumenkränzen und Bändern behangen in den Saal hereingestürmt kommt, und alles was darauf folgt, bei weitem für das Beste am ganzen Werke zu erklären.

Von dem Augenblick an, sagte Antipater, da Alcibiades auftritt, weht sein Genius durch den Rest des Dialogs; alles ist freie zwanglose Natur, Feuer, Jugendkraft und üppige Lebensfülle; auch halt' ich es für unmöglich, von diesem außerordentlichen Jüngling, wie er wirklich war, und (nach allem, was wir von ihm wissen) gewesen seyn muß, ein Bild aufzustellen, das mit so viel Freiheit und Leichtigkeit richtiger und fester gezeichnet, lebhafter gefärbt, zärter schattiert und leichter gehalten wäre; wenn ich anders in Gegenwart eines Künstlers mich so kunstmäßig ausdrücken darf.

Das darfst du, versetzte Euphranor, indem er ihm traulich die Hand schüttelte; und wenn du hinzusetztest: diese Darstellung des Alcibiades verdiene der Kanon aller künftigen Dichter zu seyn, welche die Menschen, wie sie sind, schildern, und doch dem Gesetz der Schönheit, das alle Künstler bindet, nichts dabei vergeben wollen; so würde ich ohne Bedenken behaupten, daß du die Wahrheit gesagt hättest.

Lais. Indessen ist nicht zu läugnen, daß die Alcibiades und ihresgleichen durch diese künstliche und aufs feinste in einander verflößte Mischung der auffallendsten Unarten und Untugenden mit den schimmerndsten Naturgaben, ja sogar mit allem was das liebenswürdigste und schätzbarste am Menschen [266] ist, und durch diese unwiderstehliche Grazie, die ihren Lastern selbst etwas Gefälliges und Liebreizendes gibt, zu den gefährlichsten aller Menschen würden. Wofern uns also jemand einwendete: wenn die Dichter durch das Gesetz der Schönheit verpflichtet wären, die lasterhaften und hassenswürdigen Personen, die sie uns darstellen, immer so zu schildern, daß es uns unmöglich wäre, ihnen nicht, mehr oder weniger, gut zu seyn – wie der Fall wirklich beim Alcibiades des Plato ist so würden ihre Werke, je vortrefflicher sie in Ansicht der Kunst wären, desto verderblicher für die Sitten, und also, in Rücksicht auf das allgemeine Beste, desto verwerflicher werden; was könnten wir ihm antworten?

Praxagoras. Ich sollte denken, es wäre eben so möglich als der Humanität gemäß, das Laster, als das allein Hassenswürdige, von der Person, die als Mensch immer liebenswürdig ist, so zu trennen, daß die Liebe zur Tugend nichts dabei verlöre, wenn wir gleich (was ehmals der Fall des Sokrates war) sogar einen Alcibiades liebten.

Aristipp. Diese Trennung mag in der Speculation leicht genug seyn; aber ich zweifle daß im wirklichen Leben die Liebe zur Person uns nicht immer geneigt machen werde, ihre Untugenden zu übersehen, oder, wenn wir sie auch gewahr werden, zu entschuldigen; bis wir nach und nach so weit kommen, sie mit ihren guten Eigenschaften zu vermengen, oder für bloße Schattirungen derselben anzusehen, und unter dem Schleier der Grazie zuletzt sogar liebenswürdig zu finden. Wenn dieß wirklich der Fall wäre, möchte es wohl kaum möglich seyn, daß unser Abscheu vor der Untugend selbst sich nicht [267] eben so allmählich verminderte, oder wenigstens daß die Nachsicht gegen die Untugenden der geliebten Person uns eben so duldsam gegen unsre eigenen machte.

Neokles. Die Liebe wäre also nicht immer, wie Plato sagt, Liebe des Schönen, wofern es möglich wäre, auch das Häßliche an der geliebten Person zu lieben?

Aristipp. So scheint es, und ich denke nicht daß Platons Ansehen hier in Betrachtung kommen kann; denn es herrscht durch sein ganzes Symposion eine so auffallende Vieldeutigkeit in dem Sinne, worin er die Wörter Liebe und lieben gebraucht, daß es schwer ist, sich seiner wahren Meinung gewiß zu machen.

Diese Rede schien allen Anwesenden aufzufallen, und sie brachte uns unvermerkt auf die Frage: was denn eigentlich der Zweck des philosophischen Dichters des Symposions bei diesem aus so seltsam contrastirenden Theilen zusammengesetzten Werke gewesen seyn könne?

Der Versuch diese Frage zu beantworten, führte eine etwas genauere Zergliederung desselben herbei, die uns beinahe das einhellige Geständniß abdrang: daß diese so allgemein bewunderte Composition mehr einem bunten morgenröthlichen Duftgebilde als einem festen und bewohnbaren Gebäude ähnlich sey.

Da wir das Symposion diesen Abend – (vermuthlich nicht zum erstenmale) gehört und also noch ganz frisch im Gedächtniß haben, sagte Praxagoras, so laßt uns, jedes sich selbst, ehrlich und offenherzig gestehen, wie viel oder wenig Wahres, eine schärfere Prüfung Bestehendes und im Leben [268] Brauchbares wir darin gefunden? Ob uns alle diese Lobreden, Hypothesen und Allegorien auf und über den vorgeblichen Gott oder Dämon Eros, die uns in diesem Gastmahl 131 in so mancherlei Tonarten vordeclamirt, vorgescherzt und vorprophetisirt werden, wirklich befriedigende Aufschlüsse über die Natur, die Eigenschaften und die Wirkungen der allgemeinsten und gewaltigsten, wohlthätigsten und verderblichsten, tragischsten und komischsten aller Leidenschaften geben? Ja, ob sich überall irgend ein aus dem Ganzen hervorgehendes Resultat, welches als der Zweck des Verfassers betrachtet werden könne, darin entdecken lasse? Laßt mich in dieser Rücksicht einen Versuch machen, ob ich diesen großen reich und zierlich gestickten Peplos 132 unter einen Gesichtspunkt bringen könne, aus welchem er sich, wo nicht auf Einen Blick übersehen, doch wenigstens in der Vorstellung leichter zusammenfassen und beurtheilen lasse. – Alle nickten ihm ihre Einstimmung zu, und er begann folgendermaßen:

»Eine bei dem Dichter Agathon versammelte Gesellschaft, in welcher Sokrates (wie in allen Platonischen Dialogen) die Hauptfigur vorstellt, ist übereingekommen, eine von Rednern und Dichtern bisher vernachlässigte Lücke auszufüllen, und dem Liebesgott, Mann vor Mann, nach Vermögen eine Lobrede zu halten.

Die Rede des schönen Phädrus, der den Reihen anführt, ist beim Tageslichte besehen, nichts als eine spielerhafte rhetorische Schulübung, deren Tendenz noch zum Ueberfluß unsittlich ist, da sie lediglich darauf ausgeht, die Päderastie nur nicht gar zum höchsten Gute des Menschen, und die Willfährigkeit[269] des Geliebten gegen den Liebhaber zu einer in den Augen der Götter selbst höchst verdienstlichen Sache zu machen.

Der auf Phädrus folgende Pausanias scheint durch Unterscheidung eines zwiefachen Amors etwas Vernünftigeres auf die Bahn bringen zu wollen als sein Vorgänger; aber seine Rede dreht sich größtentheils um schwankende Begriffe. Auch ihm ist die Päderastie so sehr die einzig rechtmäßige Art von Liebe, daß er es seinem gemeinen Amor (Eros Pandemos) sogar zum Vorwurf macht, daß die Verehrer desselben Weiber nicht weniger als Männer liebten; und wenn er gleich – zu Hebung des anscheinenden Widerspruchs zwischen dem Gesetz und Herkommen, welche bei den Athenern den Knabenliebhaber auf alle Weise begünstigen, und der Sitte, die es dem Geliebten zur Schande macht dem Liebhaber zu willfahren – mit gutem Fug behauptet, die Liebe sey an sich weder gut und ehrsam, noch bös' und schändlich, sondern werde jenes bloß durch eine edle, dieses durch eine schändliche Art zu lieben: so verderbt er doch alles wieder, indem er will, daß die geliebten Jünglinge zwar nur tugendhaften Liebhabern willfahren sollen, aber ihnen dafür dieses Willfahren zu einer ordentlichen Pflicht macht, und also einen an sich selbst verwerflichen Mißbrauch zu veredeln, und sogar zu einer Belohnung der Tugend oder des Verdienstes zu machen sucht.

Die hierauf folgende Rede, worin der Arzt Eryximachus die Theorie des Pausanias von dem zwiefachen Eros mit vieler Spitzfindigkeit generalisirt, und überall, sowohl in der Natur als in den Künsten, sogar in der Arzneikunst, den Kampf und Sieg des himmlischen Amors oder der Liebe der [270] Muse Urania über den gemeinen, oder die Liebe der Muse Polymnia, zur wirkenden Ursache alles Schönen und Guten macht, diese ganze Rede ist von Anfang bis zu Ende ein gezwungenes Witzspiel mit doppelsinnigen Worten und Metaphern, wodurch nichts weder klar gemacht noch bewiesen wird. Man sieht nicht, womit die arme Muse Polymnia (die er eigenmächtig mit der Aphrodite Pandemos verwechselt) es verschuldet hat, daß er sie ich weiß nicht ob zur Mutter oder zur Buhlin seines Allerweltamors herabwürdigt; und wiewohl der redselige Arzt eine Menge bunter Luftblasen zu Lob und Ehren seines Uranischen Eros platzen läßt, so trägt doch auch er kein Bedenken, die Lehre seines Vormanns von der schuldigen Willfährigkeit des Geliebten gegen einen artigen und wohlgesitteten Liebhaber zu einer moralischen Maxime zu erheben; ja die geliebten Jünglinge haben, seiner Meinung nach, ihrer Pflicht schon genug gethan, wenn sie nur die Absicht hegen, die Liebhaber durch ihre Gefälligkeit tugendhafter zu machen.

An dem possierlich läppischen und nicht sehr züchtigen Mährchen von den ursprünglichen Doppelmenschen einerlei und beiderlei Geschlechts, und ihrem Uebermuth gegen die Götter, und dem glücklichen Einfall Jupiters sie in der Mitte von einander zu spalten, mit der Bedrohung, wenn sie noch nicht gut thun wollten, sie noch einmal zu spalten, so daß sie alle nur auf Einem Beine herum hinken müßten u.s.w., an dieser Posse, sage ich, ist schwerlich etwas anders zu rühmen, als daß sie (nebst der daraus abgeleiteten witzelnden Erklärung der verschiedenen Phänomene der Liebe, in der niedrigsten [271] Bedeutung dieses Wortes) mit vieler Schicklichkeit dem Aristophanes in den Mund gelegt wird; wiewohl wir nicht die mindeste Ursache haben, dem Plato die Ehre der Erfindung abzusprechen. Jedes ernsthafte Wort, das ich über diesen symposischen Spaß verlieren wollte, wäre zu viel; als Spaß mag er indessen bei einem Trinkgelag und unter lauter Männern von Athen, d.i. (nach der Behauptung des Aristophanischen Adikos Logos 133) unter lauter Euryprokten 134, an seinen Ort gestellt bleiben.

Bei dem prosaischen Lobgesang, welchen der Dichter und Gastmahlgeber Agathon nunmehr dem Liebesgott zu Ehren anstimmt, kann Plato schwerlich eine andere Absicht gehabt haben, als den Sophisten Gorgias durch eine bis zur Carricatur (wiewohl von der feinern Art) getriebene Nachahmung seiner Manier lächerlich zu machen; und daß er diese Absicht wirklich hatte, läßt das ironische Lob, welches Sokrates der so zierlich gedrechselten und prächtig herausgeputzten Puppe ertheilt, nicht bezweifeln.

Dieser, nachdem er seine Bedingungen mit den übrigen Symposiasten gemacht hat, nimmt nun das Wort, und verwandelt den ganzen, mit so schwärmerischem Beifall aufgenommenen Agathonischen Päan auf einmal in Rauch und Dampf, indem er ihm beweist, daß an allen den Tugenden, die er seinem Eros, als dem schönsten, gerechtesten, tapfersten, weisesten und besten aller Götter, nachgerühmt habe, kein wahres Wort sey. Denn Eros sey weder schön, noch gut, noch tapfer, noch weise, noch ein Gott, sondern [272] ein bloßer Dämon, den seine Mutter Penia (eine von Plato erschaffene Göttin der Dürftigkeit) im Drang des Bedürfnisses von dem nektartrunknen Gott der Betriebsamkeit Poros im Göttergarten aufgelesen; der, vermöge dieser Abstammung, alle guten und schlimmen Eigenschaften seiner Erzeuger in sich vereinige, und an welchem noch das Beste sey, daß er, von einem unwiderstehlichen Trieb zum Schönen und Guten hingerissen, weder Rast noch Ruhe habe, bis er sich mit demselben vereinige, und dadurch hinwieder der Erzeuger von schönen und guten Kindern, nämlich edeln Gesinnungen, Thaten und Bestrebungen, werde. Plato scheint sehr gut gefühlt zu haben, daß es sich nicht wohl geziemt hätte, einen Mann wie Sokrates diese schönen Dinge, zu deren Kenntniß ein Sterblicher mit bloßer Hülfe seiner fünf Sinne und seiner Vernunft nicht gelangen kann, in seiner eigenen Person vorbringen zu lassen. Er machte also, mit eben dem feinen Sinn für das Schickliche, womit er die komische Hypothese von den Doppelmenschen dem Aristophanes beilegt, den Sokrates zum bloßen Erzähler einiger zwischen ihm und einer gewissen Seherin Diotima vorgefallener Gespräche über die wahre Natur der Liebe, und die Art und Weise, wie dieser Dämon die Seelen auf der Leiter des materiellen Schönen zum Wissenschaftlichen und Sittlichen, und von diesem zum bloß Intelligibeln emporführe; denn das Meiste, was er diese Diotima (als seine vorgebliche Lehrmeisterin in Erotischen Dingen) vorbringen läßt, konnte mit Wahrscheinlichkeit und Füglichkeit keiner andern Person als einer Enthusiastin, die an übernatürliche Kenntnisse der göttlichen [273] Dinge Anspruch machte, in den Mund gelegt werden. Schade nur, daß wir in dem Unterricht, den diese Mystagogin 135 ihrem gelehrigen Schüler ertheilt, eben denselben Doppelsinn wieder finden, worin (wie Aristipp bereits bemerkt hat) die Wörter Eros und erân in diesem ganzen Dialog zwischen den zwei sehr heterogenen Bedeutungen der reinen Liebe und des bloßen Begehrens immer hin und her schwanken; ein Doppelsinn, wodurch alles Wahre und Praktische, was sie uns zu lehren scheint, indem wir es erfassen wollen, uns unvermerkt wieder durch die Finger schlüpft. Das allerschlimmste indessen ist, daß nachdem die Seherin, die so viel sieht was sonst niemand sehen kann, uns zu Erwartung der herrlichsten Offenbarungen über das selbstständige Urschöne berechtigt hat, – zu welchem wir von einer ganz neuen Art von idealischer Päderastie, als der untersten Stufe, durch die ganze materielle und intellektuelle Welt emporsteigen sollen, – uns gleichwohl am Ende nichts geoffenbaret wird, als daß dieses Urschöne (welches Diotima doch für den eigentlichen Gegenstand und das höchste Ziel der Liebe ausgibt) weder mehr noch weniger als das Parmenideische Eins und All, das Platonische Wirklichwirkliche, der Hermetische Cirkel, dessen Mittelpunkt überall, und dessen Umkreis nirgends ist, mit Einem Worte, das Unendliche sey; welches aber erstens, da es keine Form hat, eben so wenig das Urschöne als der Urcirkel oder das Urdreieck seyn kann; und zweitens, da es (ihrem eigenen ehrlichen Geständniß nach) weder von den Sinnen erfaßt, noch von der Einbildungskraft dargestellt, noch vom Verstande begriffen werden kann, gänzlich außer unserm Gesichtskreise [274] liegt, und also für uns eben so viel ist als ob es gar nicht wäre.«

»Ich will es nun euerm eigenen Scharfsinn und Urtheil überlassen, setzte Praxagoras hinzu, was für einen Zweck der göttliche Plato mit diesem geistigen Gastmahl beabsichtigt haben könne, und ob ihm großes Unrecht geschähe, wenn man es mit einem Zaubermahl vergliche, wo die Gäste, nachdem sie ihre Kinnbacken ein paar Stunden lang weidlich spielen ließen, und von einer Menge der köstlichsten Schüsseln gesättigt zu seyn glaubten, am Ende die Entdeckung machen, daß sie nichts als Luft gegessen haben, und hungriger von der prächtigen Tafel aufstehen, als sie sich um dieselbe gelagert hatten.«

Wenn dem so ist, wie ich selbst zu besorgen anfange sagte Lais lächelnd, so hätte der Zauberer wohl verdient, daß wir eine kleine Rache an ihm nähmen. Wie wenn wir unser heutiges Symposion zu einem Gegenstück des seinigen machten, und anstatt dem leidigen Amor Lobreden zu halten, uns vereinigten, ihm der Reihe nach alles Böse nachzusagen, was sich, ohne ihm das kleinste Unrecht zu thun, von ihm sagen läßt? Was meinst du, Euphranor?

Euphranor. Es hieße, däucht mich, die Rache, anstatt an Plato, an dem armen Amor nehmen, der eine so unfreundliche Behandlung am Ende doch weder an dir, schöne Lais, noch (wie ich hoffen will) an irgend einem von uns andern verschuldet hat.

Lais. Wie, Euphranor? Wenn nun auch wir für unsre Person uns nicht über ihn zu beklagen hätten, sollen wir so [275] selbstsüchtig seyn, ihm alles tragische Unheil und Elend zu verzeihen, das er seit dem Trojanischen Kriege, und lange vorher, da wir arme sterbliche Weiber noch so viel von den Nachstellungen und Gewaltthätigkeiten der Götter auszustehen hatten, im Himmel und auf Erden angerichtet hat?

Neokles. Dafür legen wir alles Gute, Schöne, Angenehme, Fröhliche, Komische und Possierliche, wovon er ebenfalls von jeher der Urheber und Anstifter war, in die andere Wagschale, so wird sie, wenn auch das Uebergewicht nicht auf dieser Seite seyn sollte, allem Unheil, das die schöne Lais so sehr zu Herzen nimmt, wenigstens das Gegengewicht halten. Und rechnest du die vielen herrlichen Tragödien für nichts, die wir noch nebenher damit gewonnen haben?

Antipater. Auch ohne dieß ist ja schon Platons Pausanias allen fernern Beschwerden und Wehklagen über die Liebe durch die glückliche Entdeckung zuvorgekommen, daß es, so wie zweierlei Aphroditen, auch zweierlei Amorn gebe. Alles Tragische und Komische, was der Liebe nachgesagt werden kann, kommt auf Rechnung des Eros Pandemos und seiner Mutter der Muse Polymnia; beide hat uns Plato selbst schon preisgegeben, und das Böse, was sich von ihnen sagen läßt, würde weder neu noch angenehm zu hören, noch von irgend einem Nutzen seyn.

Lais. Das käme auf eine Probe an, mein junger Freund. Von dir selbst mag was du sagst immerhin gelten; denn in der That scheint dir weder der himmlische noch der Allerwelts-Amor, noch irgend ein anderer wofern es ihrer noch mehrere gibt, bisher weder eine Stunde von deinem [276] Schlaf, noch eine Rose von deinen Wangen gestohlen zu haben. – Antipater erröthete, und schien ein wenig verlegen; ich mußte ihm also zu Hülfe kommen.

Aristipp. Mich däucht, schöne Lais, du hast ein Wort gesprochen, das uns über die Liebe auf einmal ins Klare und dich selbst außer aller Gefahr setzt, für undankbar gehalten zu werden, wenn du etwa Lust hättest, eine Schmachrede auf sie zu halten.

Lais. Diese Lust hat mir dein junger Landsmann schon vertrieben, Aristipp; und ich bin ihm Dank dafür schuldig. Denn meine Schmachrede würde am Ende doch schwerlich viel anders ausgefallen seyn als Agathons Lobrede; und da hättest du mir im Namen deines Sokrates eben denselben Vorwurf machen können, den er dem Agathon macht; nämlich, daß wir beide, nach Art der Sophisten und Rhetorn, gelobt und gescholten hätten, ohne uns zu bekümmern, wie viel oder wenig Wahres an unsern Declamationen sey. – Aber, welches ist das glückliche Wort, das mir unversehens entwischt ist, und, wie du sagst, so viel Licht über den vielgestaltigen Stoff unsers Gespräches verbreitet?

Aristipp. »Wenn es noch mehrere Amorn gibt,« sagtest du, und konntest damit nichts anders sagen wollen, als daß es ihrer wirklich nicht nur viele, sondern unzählige gibt, für welche man, wenn jemals die Erotik 136 zu einer vollständigen Wissenschaft erwachsen sollte, eben so viele besondere Namen erfinden müßte.

Lais. Die gute Diotima käme also mit ihrem einzigen aus lauter Widersprüchen, Negationen und bloßen Tendenzen [277] zusammengesetzten Dämon-Amor übel zu kurz, – und das ist mir, die Wahrheit zu sagen, leid. Denn ich kann mich nicht erwehren, diesem Amor, der so leer wie eine zusammengeschrumpfte Blase, und so dünn wie eine verhungerte Cicade ist, wegen seiner allgemeinen Liebe zu allem Schönen, seiner beständigen Unbeständigkeit, und hauptsächlich seines unersättlichen Hungers wegen, gut zu seyn, den, nachdem er alles was auf und zwischen und in und über Erde und Himmel ist, verschlungen hat, nichts als das Unendliche selbst ersättigen kann. Es ist etwas so sublim Ungeheures in dieser Idee, daß man, in eben dem Augenblick, da man laut über sie auflachen möchte, sich ich weiß nicht wie zurückgehalten und gezwungen fühlt, Respect vor ihr zu haben.

Aristipp. Da hast du schon wieder ein herrliches Wort gesagt, schöne Lais.

Lais. Wundert dich das? Als ob es mir so selten begegnete, etwas zu sagen das ich selbst nicht recht verstehe.

Aristipp. Wenn in dem, was du sagtest, ein so tiefer Sinn liegt, als ich zu glauben versucht bin, so ist Plato auf einmal gerechtfertiget, und wir haben ihn durch die schmähliche Vermuthung, daß er keinen festen Zweck bei dem vollkommensten seiner Werke gehabt habe, großes Unrecht gethan. Alles in seinem Symposion wäre dann sehr verständig und absichtlich zusammengeordnet; die Reden des Phädrus, Pausanias, Eryximachus, Aristophanes und Agathon hätten dann, außer den bereits berührten Nebenzwecken, zur Absicht, die gemeinen Begriffe von der Liebe, die bei den Griechen von Alters her im Schwange gehen, in verschiedenem Lichte von [278] verschiedenen Seiten aufzustellen und zu berichtigen, und die gewöhnlichsten Erscheinungen und Wirkungen dieser Leidenschaft zu erklären; sie selbst aber dienten dem Gespräch des Sokrates und der Diotima bloß als heraushebende Schattenmassen, und der große Zweck des Symposions wäre, uns mit der Theorie einer von aller gröbern Sinnlichkeit und Leidenschaft gereinigten geistigen Liebe zu beschenken; einer Liebe, welche eben darum, weil sie bloß das vollkommenste Schöne zum Gegenstand hat, durch nichts Geringeres als das ewige, unwandelbare, unbegreifliche, unendliche Selbstständigschöne befriedigt werden kann.

Lais. Weißt du auch, daß ich dich wenn der leidige Tisch nicht zwischen uns stände, für diese großmüthige Rechtfertigung meines Lieblingsschriftstellers küssen möchte? Denn ich gestehe, daß ich es schmerzlich empfunden hätte, wenn der häßliche Vorwurf der Zwecklosigkeit auf ihm sitzen geblieben wäre.

Aristipp. Und doch darf ich mir noch nicht schmeicheln, die schöne Belohnung, die du mir in Gedanken geben wolltest, schon verdient zu haben. Denn wiewohl ich einen allerdings erheblichen Vorwurf von deinem Günstling abzulehnen suchte, so kann ich dir doch nicht verbergen, daß mir das Mährchen von Porus und Penia, und der Dämon-Eros, den die Bettelnymphe dem berauschten Gott hinter einer Hecke des Göttergartens im Schlaf abgeschlichen haben soll, und sein unersättlicher Heißhunger nach einem gestaltlosen Urschönen, das allenthalben und nirgend ist, ungeachtet der naiven Unbefangenheit, womit Diotima das alles vorbringt, um keinen Splitter eines [279] Strohhalms ehrwürdiger ist, als die Androgynen des muthwilligen Aristophanes. Lieber wollte ich mir noch die zweierlei Amorn des Pausanias gefallen lassen, wiewohl mich dünkt, daß der eine, den er Pandemos zubenennt, unter dem Namen Pothos (der seine Natur viel deutlicher bezeichnet) schon bekannt genug ist, um eine neue Benamsung überflüssig zu machen. Den eigentlichen Unterschied zwischen Eros und Pothos würde ich darein setzen: daß Pothos alles Schöne bloß des Genusses wegen begehrt, oder noch eigentlicher, daß die Schönheit einer Sache, von welcher er sich einen den Sinnen schmeichelnden Genuß verspricht, für ihn nur ein stärkerer Anreiz ist, sich in den Besitz derselben zu setzen: da hingegen Eros das Schöne oder Schöngute (was im Grund einerlei ist) ohne einen Blick auf sich selbst, bloß weil es schön ist, liebt, d.i. inniges Wohlgefallen daran hat, und daher im bloßen Anschauen desselben, ja sogar in dem bloßen Gedanken daß es ist, schon Nahrung genug findet, um ewig dabei ausdauern zu können; so wie die Götter ihre Unsterblichkeit zu unterhalten keiner andern Speise als Ambrosia bedürfen. Was uns Diotima von der Unersättlichkeit dieses Amors sagt, ist ein täuschendes Spiel mit den abgezogenen und daher unbestimmten formlosen Begriffen des Unendlichen, wobei die gute Seherin vergessen hat, daß ein abgezogener Begriff, als eine leere Hülse, kein Gegenstand der Liebe, und das Schöne, eben darum, weil es nur durch eine bestimmte Form schön ist, nicht unendlich seyn kann. Nicht wenig trägt auch zu dieser täuschenden Vorstellung bei, daß man gewohnt ist, die Unbeständigkeit der Menschen im Lieben auf Rechnung der Liebe [280] zu setzen, da sie doch bloß eine natürliche Folge theils der Unbeständigkeit der Dinge selbst, theils der organischen Einrichtung unsers Körpers ist; denn es ist so sehr Natur der Liebe durch das Anschauen oder den reinen geistigen Genuß des Schönen befriedigt zu werden, daß jeder einzelne schöne Gegenstand, wofern er immer derselbe bliebe, und die Seele im reinen Genuß desselben nicht von außen her gestört würde, hinlänglich wäre, sie ewig fest zu halten und völlig zu befriedigen.

Euphranor. Wenn ich als Künstler meine Meinung von der Sache sagen darf –

Lais. Das war es eben, warum ich dich in diesem Augenblick bitten wollte.

Euphranor. So sage ich, daß ich keinen Begriff davon habe, wie ein Maler oder Bildner es anfangen sollte, um den Platonischen Eros, den nichts als das selbstständige Urschöne befriedigen kann, symbolisch darzustellen: den Aristippischen hingegen getraue ich mir so gut zu malen, daß er keinen Zettel aus dem Munde nöthig haben soll, um für das, was er ist, erkannt zu werden. Ich würde ihn, fürs erste, als einen schönen, ewig jugendlichen Genius schildern: denn mit Platons Amor, der weder schön noch häßlich ist, mag ich als Maler nichts zu schaffen haben; hingegen finde ich sehr schicklich, daß der Liebhaber der Schönheit selbst schön sey. Nur würde ich ihn so darzustellen suchen, daß es dem sinnigen Anschauer sogleich bemerklich würde, er empfange seinen schönsten Glanz von dem geliebten Gegenstand, und verschönere sich selbst im Anschauen desselben. Um dieß, so weit die Schranken [281] der Kunst es verstatten, bewirken zu können, und zugleich anzudeuten, daß dieser Amor gleichsam vom bloßen Anschauen des Schönen lebe, und ohne alle Begierde sich völlig daran ersättige und darin ruhe, würde ich ihm die himmlische Venus nicht in einer mit mancherlei prächtigen und reizenden Gegenständen ausgeschmückten Gegend weder des Olympus noch der Erde, sondern in einem den ganzen Raum ausfüllenden leeren und dunkeln Gewölk erscheinen lassen; so daß alles Licht allein von der Göttin ausginge, und den in ihrem Anschauen verlornen oder vielmehr sich selig fühlenden Genius dergestalt anstrahlte und verklärte, daß seine Schönheit bloß ein Widerschein der ihrigen zu seyn schiene. Dieß ist alles (freilich wenig genug) was ich von der Idee, die jetzt vor meiner Seele schwebt, anzudeuten vermögend bin; ausgesprochen kann sie nur durch die wirkliche Darstellung werden –

Lais. Und du getrauest dich dessen, sagtest du? Ich werde dich beim Wort nehmen, Euphranor!

Euphranor. Und ich lasse mich dabei nehmen, wenn du mir dagegen dein Wort gibst, daß die schönste Sterbliche, die ich kenne, das Modell meiner Venus Urania seyn soll.

Lais. Alles was ich dir versprechen kann, ist, daß die Schuld nicht an mir liegen soll, wenn dein Bild nicht zu Stande kommt. – Und so hätten wir denn Hoffnung, durch die That bewiesen zu sehen, daß die Kunst sich mit Aristipps Amor besser behelfen könne als mit dem Platonischen. Aber was die Realität betrifft, möchten sie einander wohl wenig vorzuwerfen haben. Denn eine Liebe ohne Begierde, eine Liebe die vom bloßen Anschauen lebt, und der Gegenliebe rein entbehren [282] kann, möchte doch wohl in dieser untermondlichen Welt eben so gut ein Hirngespenst seyn, als die Liebe zu einem Urschönen, das weder in den Begriff noch in die Sinne fällt.

Praxagoras. Diesen Ausspruch, schöne Lais, erwartete ich billig von einem so hellen und richtigen Blick, wie der deinige, und unfehlbar hängt auch Aristipp nicht so fest an seinem idealischen Amor, daß er uns nicht ehrlich gestehen sollte, daß mit solchen, auf die Schneide einer mathematischen Linie getriebenen Abstractionen weiter nichts gewonnen wird, als die Gewißheit, daß es gar keine Liebe unter dem Monde gebe.

Aristipp. Der Vorwurf des Praxagoras würde mich treffen, wofern ich sagte, ich kenne einen Menschen, der ein schönes Weib, oder auch nur eine schöne Bildsäule, einen schönen Wagen mit zwei milchweißen Thracischen Pferden, oder irgend ein schönes Ding in der Welt, sein Lebenlang vor sich sehen könnte, ohne jemals von der leisesten Begierde es zu besitzen angewandelt zu werden. Gewiß gibt es schwerlich einen solchen Sterblichen. Aber darauf wird bei Unterscheidung der Liebe von der Begier keine Rücksicht genommen; denn da ist es bloß darum zu thun, jedem das Seinige zu geben, dem Eros was der Liebe, dem Pothos was der Begierde zukommt. Daß es etwas zwar nicht Unmögliches, aber gewiß sehr Seltenes unter den Sterblichen ist, jenen ohne diesen zu sehen, geb' ich nicht nur zu, sondern find' es der Natur sehr gemäß. Indessen ist doch eben so wenig zu läugnen, daß es von jeher unter Blutsverwandten, unter Freunden, ja sogar unter Liebenden in der engern Bedeutung des Worts, an Beispielen reiner uneigennütziger Liebe, selbst an [283] solchen, wo der Freund dem Freunde, der Liebende dem Geliebten die größten Opfer ohne alle Rücksicht auf eigenen Vortheil oder Lohn zu bringen willig ist, nie gefehlt hat noch künftig fehlen wird: und wer so weit gehen wollte, das innerliche Vergnügen, das von dergleichen Gesinnungen und Handlungen unzertrennlich ist, für das geheime eigennützige Triebrad derselben zu erklären, da es ihm doch ewig unmöglich wäre, sein Vorgeben nach der Schärfe zu beweisen, würde mit ungleich besserm Fug zu tadeln seyn, als Plato, wenn er die Begriffe des Schönen, Wahren, Rechten u.s.f. durch Abscheidung von allem Fremdartigen zum höchsten Grade der Feinheit zu treiben sucht.

Euphranor. Meine Kunstverwandten wußten bisher nur von Einem eigentlichen großen Amor, der Cyprischen Göttin Sohn, den sie gewöhnlich mit dem Bogen in der Hand, und einem Köcher voll starkbekielter Pfeile auf dem Rücken, bilden; aber dafür stehen uns der kleinen Amorinen, seiner jüngern Brüder, so viele zu Diensten als wir gelegentlich nöthig haben. Sollte nicht, nach diesem Beispiel und einem Wink, den uns Aristipp bereits gegeben, zufolge, zur Erklärung aller der unzähligen Abartungen, Widersprüche mit sich selbst, Verwandlungen, Thorheiten und losen Streiche, die man dem armen Amor zur Last legt, das Bequemste seyn, statt eines einzigen Eros Pandemos oder Pothos (der, um sich zu gleicher Zeit und an so vielen Orten in so mancherlei Gestalten zu zeigen, ein größerer Zauberer als der alte Proteus oder die Empuse unsrer Kinderwärterinnen seyn müßte), so viele kleine Liebesgötter anzunehmen, als es verschiedene [284] Arten und Abarten der Liebe gibt, so daß eigentlich jedermann seinen eigenen hätte, und keiner von ihnen für die Narrheiten und Ausschweifungen eines andern verantwortlich gemacht werden dürfte?

Neokles. Der Einfall scheint mir glücklich; nur möchte ich ohne Maßgabe vorschlagen, den Eros nie mit seinem Stiefbruder Pothos zu verwechseln, sondern ihm (da er doch nicht ohne Gegenliebe ausdauern kann) bloß seinen Zwillingsbruder Anteros zum Gespielen zu geben; die ganze Brut der Amorinen aber nicht für Brüder des Pothos, sondern für seine Kinder zu erklären, die er mit den Nymphen Aphrosyne 137, Aselgeia und andern ihres gleichen, zum Theil auch mit der Bettlerin Penia, welche von besonders fruchtbarer Natur seyn soll, in die Welt gesetzt haben könnte.

Praxagoras. Darf ich, ohne der Freiheit und Willkürlichkeit eines symposischen Gesprächs zu nahe zu treten, meine Gedanken von dem unsrigen sagen; so dünkt mich, Plato habe uns unvermerkt mit seinem Hang zum Symbolisiren und Allegorisiren angesteckt, und so sey es auch uns ergangen wie ihm, daß nämlich aus allen den schönen Sachen, die diesen Abend über die Liebe vorgebracht worden sind, zuletzt doch kein Resultat erfolgt, und wir aus einander gehen werden, ohne die wahre Auflösung des Problems gefunden zu haben. Wie, wenn mir erlaubt würde, die Sache bei einem andern Ende anzufassen, und – da wir doch alle wissen, daß die Liebe weder ein Gott noch ein Dämon, weder Uraniens, noch Polymniens noch Peniens Sohn, sondern eine menschliche Leidenschaft und die physische Wirkung gewisser Triebe und Neigungen unsrer [285] aus Thier und Geist sonderbar genug zusammengesetzten Natur ist – zu sehen, was es aus diesem Gesichtspunkt für eine Bewandtniß mit ihr habe? – Was von ihr auf Rechnung des sympathetischen Instincts der beiden Androgynischen Hälften zu setzen, was hingegen bloß aus dem unsrer edlern Natur wesentlichen reinen Wohlgefallen am materiellen, geistigen und sittlichen Schönen zu erklären sey; und endlich, welche von den Symptomen und Wirkungen, die ihr zugeschrieben werden, auf die Verantwortung andrer selbstsüchtiger Leidenschaften kommen, die sich öfters zu ihr gesellen, und (wie z.B. der Ehrgeiz oder die Eifersucht) nicht nur ihre eigene Energie verstärken, sondern sogar ihre Natur dergestalt überwältigen, daß sie, aus der sanftesten, geschmeidigsten und humansten, die unbändigste und grausamste aller Leidenschaften wird. Auf diesem Wege, däucht mich –

Lais (ihm lächelnd ins Wort fallend). Würdest du uns, lieber Praxagoras, unfehlbar zu einer sehr gründlichen und vollständigen Philosophie der Liebe verhelfen; aber für ein kleines anspruchloses Symposion, wie dieses, möchte, wie du selbst siehest, eine solche Operation fast zu ernsthaft und methodisch scheinen, zumal da die Nacht schon weit vorgerückt ist. Gefällt es euch, so will ich unsre bisherige Unterhaltung mit einem Milesischen Mährchen schließen, welches ich unmittelbar aus der Quelle selbst, nämlich aus dem Mund einer der mährenreichsten Ammen in Milet geschöpft habe, und woran ihr wenigstens – die Kürze sehr preiswürdig finden werdet. Mich ließ die Milesische Amme nicht so leicht davon kommen.

[286] Es war einmal ein König und eine Königin, ich weiß nicht in welchem Lande, weit von hier, die hatten eine Tochter, Psyche genannt, von so übermenschlicher Schönheit, daß Aphrodite selbst eifersüchtig auf sie ward, und, um einer so gefährlichen Rivalin je eher je lieber los zu werden, ihrem Sohn befahl, ihr mit dem giftigsten seiner Pfeile irgend eine hoffnungslose Liebe in die Leber zu schießen, von welcher sie in kurzer Zeit zu einem so hagern blaßgrünen Gespenst abgezehrt würde, daß ihr die Eitelkeit, sich mit der Göttin der Schönheit vergleichen zu lassen, wohl vergehen müßte. Amor schickte sich an, seiner Mutter Befehl zu vollziehen; aber kaum hatte er einen Blick auf die schöne Psyche geworfen, die er im Garten ihres Vaters an einer murmelnden Quelle eingeschlummert fand, so verliebte er sich so heftig in sie, daß er von Stund an beschloß sich auf ewig mit ihr zu verbinden. Weil er aber seine Leidenschaft vor seiner Mutter auf alle Weise zu verbergen suchen mußte, bewog er seinen Freund und Spielgesellen, den Zephyr, durch vieles Bitten, sich seiner anzunehmen, und (nachdem ihm dieser beim Styx zugeschworen hatte sich recht ehrbar aufzuführen) die schlafende Psyche sanft aufzuheben, und auf einem gewissen Berg in einer menschenleeren Wildniß am Ende der Welt, wo niemand sie suchen würde, eben so sanft wieder niederzulegen. Psyche, die, während dieß mit ihr vorging, immer ruhig fortgeschlummert hatte, er wacht endlich und erstaunt nicht wenig, sich, ohne zu wissen wie, an einem Ort zu finden, wo ihr alles was sie sieht, neu und fremd ist. Mitten in einem unermeßlichen Lustgarten, der schon dem ersten Anblick [287] alle Schönheiten der Natur in der reizendsten Vereinigung darstellt, erblickt sie einen herrlichen Palast, dessen offne Pforten sie einladen, hineinzugehen, wiewohl die tiefste Stille, die um und in demselben herrscht, sie vermuthen läßt, daß er ohne Bewohner sey. Amor ist ein so großer Zauberer, daß es ihn nur einen Wink gekostet hatte, diesen Palast aufzuführen, und mit allem nur Ersinnlichen zu versehen, was zur Einrichtung und Ausschmückung einer eben so bequemen als prachtvollen Wohnung gehört; und da er in eigner Person, wiewohl unsichtbar, um seine junge Geliebte schwebte, vergaß er nicht, eine Art von Zauber auf sie zu legen, der die Schüchternheit vertrieb, von welcher sie natürlicherweise befangen seyn mußte. Um ihr noch mehr Muth zu machen, rief ihr eine liebliche Stimme aus der Luft herunter zu: sey getrost, schöne Psyche, dieser Palast und alles was du siehest, ist dein; du bist hier unumschränkte Gebieterin; unsichtbare Hände werden dich bedienen, deinen leisesten Wünschen zuvorzukommen suchen, und jeden deiner Winke aufs schleunigste vollziehen. Durch einen so schmeichelnden Zuruf beherzt gemacht, ging sie in den Palast hinein, und gerieth ganz außer sich vor Erstaunen und Freude, indem sie in den prächtigen Sälen und Zimmern umher irrte, in welchen alles von Silber und Gold und kostbaren Steinen dermaßen glänzte und funkelte, daß ihr die Augen davon übergingen. Unvermerkt befand sie sich in einem runden, auf Säulen von Jaspis ruhenden und mit großen Blumengewinden behangenen Saal, wo so eben in einer mit Elfenbein ausgelegten goldnen Kufe ein warmes Bad für sie zubereitet worden war. Sogleich [288] wurde sie von schwanenweichen unsichtbaren Händen ausgekleidet, ins Bad gehoben, mit köstlichen Wassern begossen, mit Rosenöl eingerieben, abgetrocknet, wieder angekleidet und aufgeschmückt, alles mit einer Leichtigkeit und Zierlichkeit, daß sie von den Grazien selbst bedient zu seyn glaubte. Als sie aus dem Bade hervor ging, öffnete sich ihr ein Speisezimmer, wo ein wahres Göttermahl auf sie wartete. Sie setzte sich, und aß von den köstlich zubereiteten Speisen, die von den Unsichtbaren aufgesetzt und wieder abgetragen wurden, während die lieblichste Musik, von gleich unsichtbaren Sängerinnen und Saitenspielern aufgeführt, ihr Gemüth wechselsweise bald in eine fröhliche bald wollüstig schmachtende und unbekannte Freuden ahnende Stimmung setzte. Endlich da die Nacht hereingebrochen war, und ihre Augenlieder zu sinken begannen, wurde sie von den Unsichtbaren in ein anderes Gemach geleitet, ausgekleidet und in das weichste und prallste aller Betten gelegt, wozu jemals Schwanen ihren Flaum und Kolchische Lämmer ihre Wolle hergegeben. Sie war eben im Begriff einzuschlummern, als ein leises Getön die Furchtsame wieder aufschreckte; aber in eben demselben Augenblick verlosch die Lampe, die von der Decke herab einen dämmernden Schein über das Schlafzimmer verbreitet hatte, und bald darauf blieb ihr keine Möglichkeit zu zweifeln, daß ein unbekanntes Wesen an ihrer Seite lag, und durch die zartesten Liebkosungen ihr zugleich seine Zuneigung, wiewohl stillschweigend, zu entdecken, und um ihre Gegengunst zu bitten schien. Wir wissen ungefähr alle, wie viel Bescheidenheit und Zurückhaltung sich unter solchen Umständen dem [289] verwegensten aller Götter zutrauen läßt, und ob von der zitternden, zwischen Grauen und Erwartung wie an einem Haare schwebenden Psyche etwas anders als ein leidendes Verhalten zu erwarten war.

Als sie des folgenden Tages gegen die Mittagsstunde aus den angenehmen Träumen, die ihr Amor zur Gesellschaft zurückgelassen hatte, erwachte, fand sie sich wieder allein, in einem Labyrinth von Gedanken und Erinnerungen verloren, aus welchem sie sich nicht zu helfen wußte. Endlich stand sie auf, die Unsichtbaren stellten sich wieder ein, sie ins Bad zu führen, und alles was die sorgfältigste Bedienung der Geliebten ihres Herrn erforderte, mit ihrer gewöhnlichen Zierlichkeit und Gewandtheit zu verrichten – kurz, der Tag ging unter mancherlei abwechselnden Vergnügungen unvermerkt vorüber; die Nacht, die ihm folgte, glich in allem der vorigen; und eben so war es mit einer Reihe folgender Tage und Nächte. Die unsichtbaren Dienerinnen wußten den Unterhaltungen, die sie ihr verschafften, immer den Reiz der Neuheit zu geben; der unsichtbare Liebhaber wurde immer verliebter, und Psyche gewöhnte sich unvermerkt an das Wunderbare ihres Zustandes so gut, daß sie ihn mit keinem andern in der Welt vertauscht hätte. Und dennoch hatte sie kaum zehn Tage in diesem glücklichen Zustande zugebracht, als sie zu fühlen begann, es fehle ihr etwas, ohne welches sie nicht glücklich seyn könne. Mit jedem Tage, mit jeder Stunde wurde dieß Gefühl schmerzlicher; es verbreitete Unruhe und Unbehaglichkeit über ihr ganzes Wesen; die Unsichtbaren konnten ihr nichts mehr recht machen; [290] sie fand die artigsten kleinen Feste, die man ihr gab, geschmacklos und langweilig, und es währte nicht lange, so verriethen übel verhaltene Seufzer ihrem Gemahl selbst, sogar in den süßesten Augenblicken der Zärtlichkeit, daß ihr etwas schwer auf dem Herzen liege. Er sah sich genöthiget, sein bisheriges Schweigen zu unterbrechen, und, da er sie einsmals ungewöhnlich kalt und zurückhaltend fand, sagte er zu ihr: »Liebste Psyche, du bist mißmüthig, und fühlst dich unglücklich. Ich kenne die Ursache deiner Unzufriedenheit, denn ich lese in deiner Seele. Der Vorwitz zu wissen wer ich bin, plagt dich; aber wenn du wüßtest, in welche Verlegenheit du mich durch die unglückliche Wißbegierde setzest, und welche Schmerzen du mir, welches Elend du dir selbst dadurch bereitest, du würdest sie mit Entsetzen und Abscheu aus deinem Gemüthe verbannen. Wisse also von dem Augenblick an, da du erfährst wer ich bin, hast du mich auf immer verloren, dein bisheriges Glück ist dahin, und Jammer und Leiden ohne Maß sind dein Loos, bis du dein unglückseliges Daseyn in Verzweiflung endigest. Glaube mir, liebe Psyche, und habe Mitleiden mit dir selbst; denn wenn du mein Geheimniß entdeckt hast, so steht es nicht in meiner Macht, wie groß sie auch ist, dich zu retten. Du kannst nicht zweifeln, daß ich dich liebe; ich thue alles Mögliche dich glücklich zu machen; du würdest es seyn, wenn du dir genügen ließest, mich und alles was ich für dich thue ruhig zu genießen, ohne mehr wissen zu wollen als dir erlaubt ist; und vielleicht ist dir noch ein viel herrlicheres Loos in der Zukunft aufbehalten, wenn du die Probe, worauf ich[291] deine Mäßigung zu setzen genöthigt bin, weislich bestehest. Also nochmals, Geliebte, verbanne den Vorwitz mich genauer zu kennen, beruhige dich im Genuß meiner Liebe, und erspare mir den endlosen Schmerz, dich elend zu sehen, und dir nicht helfen zu können.« So sprach Amor mit einem leisen traurigen Vorgefühl, daß sein Zureden fruchtlos seyn würde. Die geschreckte Psyche fuhr ihm in die Arme und gelobte ihm heilig, seiner Warnung immer eingedenk zu seyn. Aber kaum sah sie sich wieder allein, so kehrte das unruhige Verlangen, sich durch ihre Augen nach der Beschaffenheit ihres Gemahls zu erkundigen, mit dreifacher Stärke in ihren Busen zurück. Sie hatte sich ihn bisher unter einer liebenswürdigen Gestalt vorgebildet; jetzt regten seine eigenen Worte und die schrecklichen Drohungen, womit er sein Verbot begleitet hatte, tausend Zweifel in ihrer Seele auf, und es war ihr unmöglich den Gedanken los zu werden, daß er vielleicht in seiner wahren Gestalt ein häßlicher Zauberer oder sonst ein mißgeschaffner Unhold sey, der sie durch seine Unsichtbarkeit um ihre Liebe betrüge. Kurz, die Unglückliche faßte den Entschluß, die Qualen dieser Ungewißheit nicht länger zu ertragen, sondern noch in dieser Nacht zu erfahren, wer der Unsichtbare sey, dem sie bisher die Vorrechte und die Zuneigung, die einem Gemahl gebühren, so unbesonnen zugestanden; und sie hielt sich selbst Wort. Um ihn desto sicherer zu machen, erwiederte sie in der nächsten Nacht seine Liebkosungen mit heuchlerischer Innigkeit: aber kaum merkte sie, daß er eingeschlafen war, so stand sie von seiner Seite auf, schlich sich mit bloßen Füßen in ein Vorzimmer, wo sie wußte, daß eine brennende Lampe [292] stand, kam mit der Lampe in der Hand zurück, näherte sich dem Bette, und erblickte – den schlafenden Liebesgott in seiner ganzen ewig jugendlichen Schönheit. Mitten in ihrer Entzückung bei diesem unverhofften Anblick überfällt sie die Angst daß er erwachen möchte; ihre Hand zittert, die Lampe schwankt, ein Tropfen heißes Oel fällt auf Amors schöne Brust; er erwacht, wirft einen schmerzlich zürnenden Blick auf Psyche, und fliegt davon. Und hiermit, lieben Freunde, ist mein Mährchen zu Ende. Der Milesischen Amme ihres fing hier erst recht an; aber was weiter folgt, gehört nicht zu meinem Zweck 138, und die Lehre aus meinem Mährchen zu ziehen, überlasse ich einem jeden selbst.

Mit diesen Worten erhob sie sich von ihren Polstern, und die ganze Gesellschaft stand auf, sagte ihr viel Schönes über ihr Milesisches Mährchen, und wünschte ihr gute Nacht.

Als die übrigen alle sich entfernten, blieb ich noch allein bei ihr zurück, um sie auf ihr Zimmer zu begleiten.

Wir waren kaum angelangt, so wandte sie sich mit einer unbeschreiblich reizenden Miene gegen mich, und sagte in einem leise spottenden Tone: du glaubst also im Ernst, daß Liebe ohne Begierde möglich ist?

Da ich sie sogleich errieth (was ich ohne Anspruch an eine große Scharfsinnigkeit oder Divinationsgabe gesagt haben will), so antwortete ich bescheiden aber zuversichtlich: allerdings, und desto gewisser, je schöner der Gegenstand ist.

Lais. Auch dann, wenn er unmittelbar vor uns steht?

Ich. Auch dann.

[293] Lais. Auch wenn Zeit und Ort und alle übrigen Umstände sich vereinigen den schlummernden Pothos zu wecken?

Ich. Allerdings.

Lais (schalkhaft lächelnd). Wir reden, denk' ich, im Ernst, Aristipp? Der arme Pothos könnte freilich auch aus Erschöpfung schlummern!

Ich. Es versteht sich, daß dieß nicht der Fall seyn darf.

Lais schwieg, und fing an eine Nadel, womit ein Theil ihres in kleine Zöpfe geflochtnen Haars zusammengesteckt war, heraus zu ziehen, die Perlenschnur um ihren Hals abzunehmen, und sich, so sorglos unbefangen als ob sie allein wäre, der Binde, die ihren Busen fesselte, zu entledigen; kehrte sich dann wieder zu mir und sagte: ich glaube wirklich, Sokrates hätte die Probe unfehlbar ausgehalten; meinst du nicht?

O Lais, Lais, rief ich in einer unfreiwilligen Bewegung aus, welch ein himmlischer Anblick würde dieser Busen einem einzigen Auserkornen seyn, wenn er die mütterliche Ruhestatt eines kleinen menschlichen Amorino wäre!

Grillenhafter Mensch! sagte sie, indem sie mir einen leichten Schlag auf die Schulter gab. Aber es ist Zeit zum Schlafengehen; gute Nacht, Aristipp! – und mit diesem Wort entschlüpfte sie in ihr Schlafgemach und zog die Thür sanft hinter sich nach. Ob sie auch den Riegel vorschob, weiß ich nicht; denn gleich darauf hörte ich etliche von ihren Mädchen, die zu ihr hereinkamen, und begab mich weg; unzufrieden mit mir selbst, daß es mir gleichwohl einige Anstrengung[294] kostete, mich von dieser allzu liebenswürdigen Sirene zu entfernen.

34. Antipater an Kleonidas
34.
Antipater an Kleonidas.

Ich befinde mich seit Anfang des Munychions mit Aristipp und dem schönen Kleophron, einem Schüler Platons und Geliebten seines Neffen Speusippus, zu Aegina: Kleophron auf einem Landgute des Eurybates von Athen, Aristipp und ich bei der berühmten Lais, deren prächtiger Landsitz dir ohne Zweifel noch wohl erinnerlich seyn wird. So klein diese Insel ist, so reich ist sie an Merkwürdigkeiten. Unter andern habe ich bereits sieben, an den großen Panegyrischen Spielen Griechenlands gekrönte Athleten gesehen, von welchen einer, dessen Rücken neunundachtzig Jahre nicht zu krümmen vermochten, sich rühmen kann, daß sein Sieg noch von Pindar selbst besungen wurde. Das Außerordentlichste indessen, was Aegina dermalen besitzt, ist unläugbar die Gebieterin des Hauses, worin ich als dein und Aristipps Freund aufgenommen bin, und mit ausgezeichnetem Wohlwollen behandelt werde. Ihre Schönheit ist so weit über alles, was man zu sehen gewohnt ist, erhoben, daß mir eine geraume Zeit lang bei ihrem Anblick nicht anders zu Muthe war, als mir (wie ich glaube) seyn müßte, wenn ich eine elfenbeinerne Liebesgöttin von Phidias oder Alkamenes wie lebendig vor meinen Augen herumwandeln [295] sähe. Ich betrachtete sie mit immer neuer Bewunderung, ich hätte sie anbeten mögen; aber wie ein Mensch sich unterfangen könne sie zu lieben, oder hoffen könne von ihr geliebt zu werden, war mir unbegreiflich. Dieses seltsame Gefühl war vielleicht die Ursache, warum die besondere Aufmerksamkeit und Herablassung, deren sie mich, nach den ersten acht oder zehn Tagen zu würdigen schien, eine wunderliche Art von Scheu, oder wie soll ich es nennen? bei mir erregte, die mir das Ansehen eines kalten gefühllosen Menschen geben mochte, und um so auffallender seyn mußte, weil sie in eben dem Verhältniß zunahm, wie Lais ihre Bemühung, mir Muth und Zutrauen einzuflößen, verdoppelte. Da ich mir selbst lächerlich gewesen wäre, wenn ich mir auch nur im Traume mit der Liebe dieser Königin der Weiber hätte schmeicheln wollen, so gebärdete ich mich nun desto seltsamer, je mehr ich zu fühlen anfing, daß ich von so verführerischen Anlockungen nur zu leicht getäuscht und unvermerkt in eine hoffnungslose Leidenschaft verstrickt werden könnte. Ich unterließ nichts, was sie in der Meinung bestärken mußte, daß der junge Antipater von Cyrene der einzige Sterbliche sey, an welchem ihre Reize die gewohnte Macht verlören. Ich glaubte zu meiner eigenen Sicherheit um so mehr dazu genöthiget zu seyn, weil ich in ihrem immer gefälligern und einnehmendern Betragen gegen mich nicht die mindeste Spur von Mißvergnügen oder Unwillen bemerken konnte: denn ich legte ihr dieß als einen planmäßigen Anschlag aus, der mit dem Vorsatz verbunden sey, wenn sie ihre Absicht erreicht haben würde, mich desto empfindlicher für meine Vermessenheit zu züchtigen.

[296] In dieser nicht sehr natürlichen, und, die Wahrheit zu sagen, peinvollen Lage befand ich mich, als gegen Ende des Monats mein Freund Speusippus in einen Sklaven verkleidet anlangte, um, seinem Vorgeben nach, den jungen Kleophron, den Sohn seines Herrn, eilends nach Sicyon abzuholen. Aber der wahre Zweck seiner Herüberkunft war, nachdem die nöthigen Vorkehrungen getroffen worden, daß die Sache allen andern, außer Lais, Aristipp, mir und den vertrautern Hausgenossen, ein Geheimniß bleiben mußte, den schönen Kleophron spät in der Nacht nach einer kleinen durch Gebüsche und Bäume verborgenen Wohnung abzuführen, die in einem abgesonderten Theil des an die Gärten der Lais stoßenden Lustwaldes liegt, und wozu sie allein den Schlüssel hat. Hier ereignete sich ein paar Tage darauf ein natürliches Wunder, wovon gleichwohl niemand von denen, die um die geheime Entführung wußten, überrascht zu werden schien; der schöne Kleophron beschenkte nämlich seinen Platonischen Liebhaber mit – einem wunderschönen Knäblein, dem zu einem kleinen Amor nichts als die Flügel fehlten, und verwandelte sich selbst, um die Rolle der Mutter mit desto besserm Anstand zu spielen, wieder in die zärtliche Lasthenia, eine von Lais erzogene junge Person, welche, vor geraumer Zeit, von einer gleich heftigen Leidenschaft für Platons Philosophie und für seinen Neffen nach Athen gezogen worden war, in männlicher Verkleidung die Akademie besucht hatte, und dort für den Sohn eines Sicyonischen Bildhauers galt. Lais, die sich mir bei dieser Gelegenheit von einer sehr liebenswürdigen Seite zeigte, übernahm die Vorsorge für Mutter und Kind, und [297] Speusipp kehrte, eben so geheimnißvoll als er gekommen war, nach Athen zurück, um von Zeit zu Zeit, bald in dieser bald in jener Gestalt wieder zu kommen, und im Genuß der Vaterfreuden die Beschämung zu ersticken, der Lehre seines Oheims und Meisters durch die Liebe zu – einem Mädchen ungetreu geworden zu seyn.

Diese Begebenheit hatte Folgen für mich, lieber Kleonidas, die ich dir nicht verhehlen kann noch will. Die Schönheit des kleinen Speusippides, und die Scenen des menschlichsten und süßesten aller natürlichen Gefühle, wovon ich mehr als einmal Zeuge war, weckten das Verlangen, auch Vater eines so holdseligen Geschöpfs zu werden, mit solcher Macht in mir auf, daß ich mich nicht entbrechen konnte, mein Anliegen einer jungen Dirne zu entdecken, die ich öfters auf einem an unsern Wald angelehnten Hügel, neben den Schafen die sie hütete, in mädchenhafter Träumerei den Gesang der Waldvögel belauschen sah. Sie gehört dem Eurybates, auf dessen Gute sie geboren ist, an, und schien mir von der Natur mit besonderm Wohlgefallen zur Mutter eines kleines Hercules gebildet zu seyn. – Es war wirklich hohe Zeit daß ich sie fand: denn ich kann nicht sagen, wie lange ich es noch gegen die Circe dieser Insel ausgehalten hätte, welcher, wenn sie ihre ganze Zaubermacht gebrauchen will, ohne eine solche Gegenanstalt, in die Länge schwerlich zu widerstehen ist. Ich vertraue dir hier etwas, das ich sogar vor Aristipp verberge, wiewohl nur so lange als es vor Lais ein Geheimniß bleiben muß. Du begreifst nun, daß ich unter diesen Umständen keiner außerordentlichen Weisheit noch Festigkeit [298] des Willens nöthig habe, um meine Hippolytus-Rolle, während der kurzen Zeit, da wir noch zu Aegina verweilen werden, glücklich fortzuspielen: aber ich will auch in Aristipps Augen, so wenig als in den deinigen, kein größerer Held scheinen als ich wirklich bin. Der Allherrscherin Lais kann diese kleine Demüthigung nicht schaden. Sie ist von einer so großen Menge von Sklaven und Anbetern aller Art umgeben, daß es für die Ehre unsers Geschlechts allerdings nöthig scheint, daß wenigstens Einer sie fühlen lasse, es sey nicht unmöglich die Berührung ihres Zauberstabs unverwandelt auszuhalten.


So eben ist Eurybates auf etliche wenige Tage herüber gekommen. Da er mir sehr gewogen ist, werde ich ihm mein kleines Abenteuer mit der ländlichen Deianira vertrauen, und wegen der Folgen das Nöthige mit ihm verabreden.

Aristipp scheint an dem allzugroßen und täglich zunehmenden Gedränge von Fremden, die unsre schöne Wirthin nach Aegina lockt, so wenig Gefallen zu haben, daß er mit Eurybates nach Athen zurückzukehren entschlossen ist. Daß ich ihn begleiten werde, versteht sich von selbst; ich habe die Freuden der Natur, der Jugend, und des geselligen Lebens diesen Frühling über lange und rein genug genossen, um mit freier Seele, und sogar mit einiger Ungeduld, zu meinen gewohnten Beschäftigungen zurückzukehren.

35. Lais an Aristipp
[299] 35.
Lais an Aristipp.

Veränderung ist die Seele des Lebens, lieber Aristipp. Ich habe mich entschlossen, nach deinem Beispiel ein wenig in der Welt herumzuschwärmen, und für den Anfang unter dem Geleit und Schutz eines mächtigen Thessalischen Zauberers eine Lustreise durch die nördlichen Theile von Griechenland zu machen. Mein Führer nennt sich Dioxippus, und könnte seiner Jugend und Schönheit wegen vielleicht sogar einer trotzigern Tugend, als die meinige ist, gefährlich scheinen, wenn mich nicht der Umstand beruhigte, daß er sein Geschlecht bis in die Zeiten von Deukalion und Pyrrha zurückführt, und da er also ohne Zweifel einen der menschgewordenen Steine, durch welche Thessalien nach der großen Fluth wieder bevölkert wurde, zum Stammvater hat, wahrscheinlich noch genug von der ursprünglichen Härte und Unempfindlichkeit desselben geerbt haben wird, um mir mit keiner übermäßigen Zärtlichkeit beschwerlich zu fallen. Uebrigens besitzt er, wie man sagt, große Güter in der Gegend von Larissa, und es wäre nicht unmöglich, daß es mir wohl genug dort gefiele, um mich zu einem längern Aufenthalt bei ihm zu entschließen; wär' es auch nur, um zu sehen, was ich von den berühmten Zauberkünstlerinnen dieses Landes in ihrem Fache etwa noch lernen könnte.

Mein Hauswesen zu Korinth und Aegina ist bestellt. Eine von meinen Korinthischen Pflegetöchtern hat Euphranor [300] von mir erschlichen; die stille freundliche Chariklea schwatzte mir ein begüterter Landmann von Epidaurus ab, der schon lang' ein Aug' auf sie geworfen hatte; die rüstige Melantho wird mein Haus zu Korinth regieren, und die kleine Eudora, die sich erklärt hat, daß nur der Tod sie von mir trennen könne, begleitet mich nach Thessalien.

Lebe indessen wohl, Aristipp, und sey versichert, wie unveränderlich auch meine Liebe zur Veränderung seyn mag, daß meine Freundschaft für dich noch unveränderlicher ist, und daß Lais dich nicht eher vergessen wird, als bis sie sich auf sich selbst nicht mehr besinnen kann.

36. Learchus von Korinth an Aristipp
36.
Learchus von Korinth an Aristipp.

Geschäfte, welche meine eigene Gegenwart forderten, lieber Aristipp, haben mich nach Aegina geführt, wo ich dich noch anzutreffen hoffte, aber erfahren mußte, daß du schon seit einiger Zeit nach Athen zurückgekehrt seyest. Unsre Freundin Lais, bei welcher ich so viele Abende zubrachte als ich in meiner Gewalt behielt, eilt beinahe zu sehr, die Beute, die sie unsern Erbfeinden abgenommen hat, unter die gesammten Griechen wieder zu vertheilen und in Umlauf zu setzen. Man wird es gewohnt, sich unter ihren eigenen Bedingungen bei ihr wohl zu befinden; aber man wird auch endlich ihrer Reizungen gewohnt, und da sie selbst keinen Werth auf sie zu [301] setzen scheint als insofern sie ihr zu Befriedigung ihrer Eitelkeit dienlich sind, so läuft sie Gefahr, endlich auch den zu verlieren, welchen andere darauf zu setzen bereit waren. So sprechen wenigstens diejenigen von ihren Liebhabern, die mit dem, was sie unentgeltlich gibt, nicht zufrieden sind; und das mögen leicht so viel als alle seyn, die, seitdem sie zu Aegina lebt, einen ziemlich glänzenden Hof um sie her gemacht haben. Ich meines Orts bin ziemlich geneigt zu glauben, daß sie, bei allem Anschein von Sorglosigkeit, ihren Stolz sehr gut mit ihrem Vortheil, so wie ihr Vergnügen mit ihrem Stolz zu vereinigen, und die Augenblicke, wo das Glück ihr irgend einen Fisch, der des Fangens werth ist, ins Garn treibt, mit aller möglichen Gewandtheit zu benutzen weiß. Wenigstens ist dieß dermalen der Fall mit einem der reichsten Thessalier, der vor kurzem in Aegina erschien, und in wenig Tagen schon Mittel fand, alle seine Mitwerber weit zurück zu drängen. Wirklich hat mir dieser Dioxippus (wie er sich nennt) die Miene, im Nothfall alle seine Güter, welche keinen unbeträchtlichen Theil der reichsten Gegenden Thessaliens einnehmen, daran zu setzen, um die schönste und stolzeste Hetäre, welche Griechenland je gesehen hat, auf seine Bedingungen zu haben. Ich zweifle nicht, daß sie ihm den Sieg schwer genug machen wird; aber ich zweifle eben so wenig, daß sie schon entschlossen ist sich besiegen zu lassen. Beide scheinen einander bereits auf den Wink zu verstehen. Dioxippus hat ihr den Einfall eine Reise nach Delphi, Larissa, Tempe u.s.f. zu machen, so fein beizubringen gewußt, daß sie sich mit guter Art gegen ihn stellen konnte, als ob es ihr eigener Gedanke[302] wäre. Die Reise ist also beschlossen, und die Anstalten dazu werden mit der größten Lebhaftigkeit betrieben. Dioxippus wird sie begleiten, und schmeichelt sich (wie er sich sehr bescheiden ausdrückt) sie werde ihm vielleicht die Gnade erweisen, eines seiner Güter in diesen Gegenden mit ihrer Gegenwart zu beglückseligen. Die getäuschten Raben sind indessen mit leeren Schnäbeln wieder aus einander geflogen, und in drei oder vier Tagen wird die Göttin, mit einem zahlreichen Gefolge von Nymphen, und, sobald sie zu Megara angelangt seyn wird von einem Schwarm Thessalischer Reiter umflogen, die Reise nach der heiligen Stadt Delphi antreten.

Ich will lieber gleich freiwillig gestehen, was ich dir doch nur halb verbergen konnte – daß ich etwas ungehalten auf unsre männerbeherrschende Schöne bin, wiewohl mein Aufenthalt zu Aegina dießmal keine absichtliche Beziehung auf sie hatte. Damit ich dir aber die Mühe erspare mich deßwegen auszuschalten, bekenne ich auch sogleich, daß mein Mißmuth ungerecht ist. Oder was für ein Recht könnten wir (ich meine mich und meinesgleichen) haben, Ansprüche an sie zu machen? Ist sie nicht Herr über ihre eigene Person? Und wenn ihr auch alle die herrlichen und seltnen Gaben, womit die Natur sie ausgestattet, bloß zur Mittheilung verliehen worden wären, wer ist berechtigt ihr vorzuschreiben, wen und wann und in welchem Maße sie durch diese Mittheilung zu begünstigen schuldig sey? Ist nicht das, was sie, durch Gestattung eines freien Zutritts zu ihr, für das gesellschaftliche Leben thut, schon allein unsers größten Dankes werth? Macht sie nicht einen schönen, edeln und bis zum Uebermaß freigebigen Gebrauch [303] von den Reichthümern, die ihr das Glück, das eben so verschwenderisch gegen sie war als die Natur, zugeworfen hat? Welche Vortheile zieht nicht Korinth, das durch sie gewissermaßen zur Hauptstadt von Griechenland wird, bloß davon, daß die schöne Lais es zu ihrem gewöhnlichsten Sitz erwählt hat? Und wie viel hat sie nur allein dadurch, daß sie sich Malern und Bildnern mit so vieler Gefälligkeit als Modell darstellt, zu Vervollkommnung der Kunst und zur Verschönerung unsrer Tempel und Galerien beigetragen? – Du siehst, Aristipp, daß meine selbstsüchtige üble Laune mich wenigstens nicht ungerecht und undankbar gegen ihre mannichfaltigen Verdienste macht, und du wirst die Großmuth, womit ich sie gegen mich selbst zu rechtfertigen suche, hoffentlich auch mir für ein kleines Verdienst gelten lassen.

Meine Verrichtungen führen mich von hier nach Salamin, von wo ich dir und der Akademie einen fliegenden Besuch zu machen gedenke. Im Vorübergehen hoff' ich auch den Sonderling Diogenes zu sehen, von welchem mir die hier anwesenden Athener so viel Seltsames erzählt haben, daß ich große Lust hätte, ihn den Korinthiern als ein neues Wunderthier aus Libyen zu zeigen, wenn ich ihn überreden könnte mich zu begleiten. Lebe wohl!

37. Kleonidas an Aristipp
[304] 37.
Kleonidas an Aristipp.

Ich danke dir für die Mittheilung deines Antiplatonischen Symposions, worin du ungefähr alles Gute und alles Böse, was sich von dem Meisterstück des Attischen Philosophen sagen läßt, mit nicht geringerer Beobachtung des Schicklichen als er selbst in Vertheilung der Rollen bewiesen hat, der damaligen Tischgesellschaft unserer Freundin in den Mund legst. Was du in deinem Brief an Eurybates bescheidener Weise für einen Nachtheil deines Gastmahls in Vergleichung mit dem Platonischen ausgibst, daß es nämlich durchaus das Ansehen eines freien, unvorbereiteten, kunst- und anspruchlosen Tischgespräches hat, scheint mir eher ein Vorzug zu seyn, auf welchen du, insofern die Kunst (wie ich nicht zweifle) auch an dem deinigen Antheil hat, dir vielmehr etwas zu gute thun könntest. Ausführliche methodische Behandlung und Erschöpfung des Stoffes der Unterredung schickt sich auf keine Weise für ein Gespräch dieser Art; aber desto lobenswürdiger ist es, wenn die redenden Personen, indem sie nur mit leichtem Fuß über den Gegenstand hinzuglitschen scheinen, dennoch alles sagen, was den Zuhörer auf den Grund der Sache blicken läßt, und in den Stand setzt, sich jede Frage, die noch zu thun seyn könnte, selbst zu beantworten.

Das Mährchen von Amor und Psyche, womit Lais die Unterredung so sinnig und anmuthig schließt, ist eines von den wenigen, wo die dichterische Darstellung mit der malerischen [305] in Einem Punkte zusammentrifft, und beide Künste, so zu sagen, herausgefordert werden, welche die andere zu Boden ringen könne. Ich habe der Versuchung nicht widerstehen wollen, die zwei auf einander folgenden Augenblicke, von welchen dieß vorzüglich gilt, in den zwei Gemälden darzustellen, die du zugleich mit diesem Brief erhalten wirst. Ich habe ihnen noch zwei andere beigelegt, wovon die Scene in meinem eigenen Hause liegt, und die, wie ich gewiß bin, eben dadurch desto mehr Anmuthendes für dich haben werden. Jene kannst du, deines Gefallens, entweder für deine kleine Galerie behalten, oder an Learchen abgeben, der (wie ich höre) etwas von mir zu haben wünschet.

In dem kleinen Familienstück ist die Figur, die mich selbst vorstellt, von der Hand meiner Schwester Kleone. Das Mädchen zeigte, nachdem sie einige Zeit in meinem Hause gelebt hatte, so viele Lust und Anlage zu meiner Lieblingskunst, daß ich nicht umhin konnte ihr einige Anleitung zu geben. Sie hat bereits ziemliche Fortschritte gemacht, und ist, wie du siehest, auf gutem Wege, ihrem Lehrmeister gerade darin, worin er sich etwas geleistet zu haben schmeichelt, den Rang abzugewinnen. Sie war eben in Musarions Kinderstube mit einer kleinen Arbeit beschäftigt, als mich der Zufall mit dem süßen Anblick begünstigte, den ich in diesem Gemälde, wenigstens so lange die Farben aushalten, zu verewigen gesucht habe. Als ich mit der Mutter und den Kindern fertig war, fand die kleine Hexe Gelegenheit sich in mein Arbeitszimmer zu schleichen, und, während ich auf ein paar Tage abwesend war, mich selbst der holdseligen Gruppe als einen sehr warmen [306] Antheil nehmenden Zuschauer beizufügen. Aber der Kreter kam an einen Aegineten 139, wie das Sprüchwort sagt. Ich überschlich sie dafür wieder, da sie in einer Laube unsers Gartens, allein zu seyn meinend, ein Bild, woran sie eben gearbeitet hatte, mit einem Ausdruck, den ich nicht beschreiben kann, den ich aber mit dem Pinsel zu erhaschen suchte, betrachtete. Sie weiß nichts von dem kleinen Streiche, den ich ihr gespielt habe. Ich gestehe dir meine Schwachheit, Aristipp; ich liebe das Mädchen so sehr, daß ich nicht ruhig bin, bis alle meine Freunde wissen, wie liebenswürdig sie ist.

38. Aristipp an Learchus
38.
Aristipp an Learchus.

Antipater kann dir's noch nicht vergessen, daß du ihm seinen Freund Diogenes entführt hast. Er besorgt, die Korinther möchten noch leichtfertiger seyn als die Athener, und das Schätzbare dieses genialischen Sonderlings vor dem Lächerlichen nicht gewahr werden. Ich hätte sagen sollen er wünscht es heimlich, weil er hofft, ihn desto eher nach Athen zurückkehren zu sehen. Ich glaube das Gegentheil. Die Einwohner großer Handelsplätze wie Korinth, sind so sehr gewohnt, Menschen von allen möglichen Gesichtern, Gestalten und Farben, Trachten, Sitten, Sprachen und Mundarten um sich zu sehen, daß auch der übertriebenste Sonderling ihnen weniger auffallen [307] muß als den Athenern, die alles, was nicht Attisch ist, schon aus diesem Grund allein lächerlich und verächtlich finden.

Du bezeugtest, als du vor einiger Zeit die Gemälde meiner kleinen Halle besahst, großes Verlangen ein paar Stücke von meinem Freunde Kleonidas (dem Maler des sterbenden Sokrates) um jeden Preis, den er darauf setzen wollte, zu besitzen. Ich übersende dir hier zwei, die ich so eben von ihm erhalten habe, und lege ihnen, zu besserm Verständniß ihres Sinnes, die Abschrift eines Milesischen Mährchens bei, welches die schöne Lais verwichnen Frühling einer kleinen bei ihr versammelten Gesellschaft, aus Gelegenheit eines Gesprächs über die Liebe, zu erzählen die Gefälligkeit hatte. Wenn du es gelesen hast, wirst du, in dem einen dieser Bilder, die von der Furie des Vorwitzes von der Seite ihres noch unbekannten Gemahls weggerissene Psyche – in dem Augenblick, da sie über ihn hergebückt den Gott der Liebe in ihm entdeckt, und vor Entzücken und Schrecken zitternd einen Oeltropfen aus der Lampe in ihrer Hand auf seinen Busen fallen läßt – so wahr und schön dargestellt finden, daß ihm nur das Seitenstück dazu – wo Amor, einen zugleich mitleidigen und zürnenden Blick auf die bestürzte und die Arme vergebens nach ihm ausstreckende Psyche werfend, davon fliegt – an Schönheit und Stärke der Wirkung zu vergleichen ist. Wenn diese Bilder dir nur halb so wohl gefallen wie mir (sonst hat sie noch niemand hier gesehen), so sind sie um jeden mäßigen Preis, den du selbst bestimmen willst, dein. Uebrigens gesteh' ich dir unverhohlen, daß ich mich so leicht nicht von ihnen trennen könnte, wenn ich nicht noch zwei [308] andere Stücke erhalten hätte, die als Kunstwerke jenen nicht nachstehen, aber noch außerdem einen Werth für mich haben, den sie für keinen andern haben können. Das eine stellt meinen Kleonidas in einem schönen Augenblicke seines häuslichen Glückes vor; das andere ist das Bildniß seiner Schwester, eines lieblichen talentvollen Mädchens von siebzehn Jahren. Sie sitzt unter einer Rosenlaube, mit einer Tafel auf den Knieen, worauf sie das Bild einer Person, an welcher sie warmen Antheil nimmt (vermuthlich ihres Bruders) zu zeichnen begriffen ist; wiewohl es eben so wohl eine geliebte Freundin seyn könnte; denn was es vorstellen soll, ist nur angedeutet als ob es in einem Nebel zerfließe. Ich habe nie etwas so sanft Anziehendes gesehen als dieses Mädchen; es ist eben so schwer die Augen wieder von ihr abzuwenden, als nicht zu wünschen, daß man derjenige seyn möchte, dessen Züge sie nach einem ihrer Seele vorschwebenden Bilde mit Liebe zu copiren scheint.

Wenn du Nachrichten von unsrer wandernden Freundin hast, so wirst du mich durch ihre Mittheilung verbinden. Ich müßte mich sehr irren, wenn sie es bei ihrem Thessalischen Zauberer so lange ausdauerte, als bei dem fürstlichen Perser, der so große Vorzüge in sich vereinigte, und sie doch nicht länger als zwei Jahre fest halten konnte. Ihr andern edeln Söhne von Korinth werdet ja auch noch an den Reihen kommen; wenigstens hat sie euch lange genug umsonst dienen lassen, oder doch nur mit Phasianischen Hühnern und Kopaischen Aalen 140 abgespeist, woran ihr ohnehin keinen Mangel habt.

[309]
39. Learchus an Aristipp
39.
Learchus an Aristipp.

Die Gemälde sind glücklich angelangt, und bereits in meinem großen Sahl mitten unter den Werken der berühmtesten Meister aufgestellt. Ich danke dir sehr, lieber Aristipp, daß du mir vor andern Liebhabern den Vorzug hast geben wollen; und auch das ist mir lieb, daß die Athener diese Juwelen der Kunst nur bei mir zu sehen bekommen können. Ich übermache dir eine in Cyrene zahlbare Anweisung auf dreitausend Drachmen; wär' ich ein König, so sollten's dreißigtausend seyn, und ich würde diese Bilder doch noch lange nicht nach ihrem wahren Werth bezahlt zu haben glauben. Unsre reichsten Kunstsammler erkundigen sich, nicht ohne Neid, nach dem Meister und dem Preise: ich sage ihnen, daß der Meister nicht genannt seyn wolle, und nicht auf den Kauf arbeite. Euphranor, der die Kunst zu sehr liebt, um einer andern Eifersucht als der edeln, schon von dem alten Hesiodus angerühmten 141, fähig zu seyn, findet, daß an beiden Stücken vieles höchlich zu loben, und wenig oder nichts zu tadeln sey; denn über das, was allenfalls getadelt werden könnte, lasse sich, sagt' er, noch lange streiten. So tadelte z.B. Jemand, daß von dem Entzücken über den unverhofften Anblick des Liebesgottes und der Angst vor seinem Erwachen, wovon das Mährchen spricht, nur das erste in Psychens Gesicht ausgedrückt sey; [310] aber Euphranor behauptet, es wäre unmöglich gewesen beides in eben demselben Augenblick ohne Verzerrung auszudrücken, und der Maler sey der Natur und dem Gesetz der Kunst gefolgt, indem er jenen Ausdruck vorgezogen habe; zumal da das Zittern der Hand, wovon der fallende Oeltropfen die Folge war, eben so gut von einer frohen Ueberraschung als einer Anwandelung von Furcht habe bewirkt werden können. Mehr zu verlangen, sagte er, wäre eben so viel als wenn man fordern wollte, der Maler hätte ihre Hand zittern lassen sollen. Vorzüglich bewundert Euphranor an dem zweiten Stücke den Gedanken, das Ganze bloß von dem Aufflackern der Lampe, die der Psyche (indem sie die Arme nach dem fliehenden Amor ausstreckt) aus der Hand fiel, und eben verlöschen wird, von unten auf beleuchtet werden zu lassen, welches eine eben so neue und auffallende Wirkung thut, als es schwer auszuführen war. Er hat nicht von mir abgelassen, bis ich ihm erlaubt habe, von beiden Gemälden eine Kopey in eingebrannten Wachsfarben zu machen; einer noch nicht lang' erfundenen Kunst, worin er es bereits zu einer großen Nettigkeit der Ausführung gebracht hat.

Lais (die mir vor ihrer Abreise die Oberaufsicht über ihre häuslichen Angelegenheiten auftrug) meldet mir von Larissa aus, wo sie den Winter sehr angenehm zugebracht zu haben versichert, daß sie im Begriff sey, nach Farsalia abzugehen, und sich in diesem dichterischen Lande, der Scene so vieler alter Wundersagen und heroischen Abenteuer, dem Lande wo Deukalion und Pyrrha das Menschengeschlecht wieder herstellten, und Apollo die Herden des Admet hütete, so wohl gefalle, daß sie noch nicht ans Wiederkehren denken könne. [311] Sie scheint sehr wohl mit den edeln Thessaliern, aber desto schlechter mit dem weiblichen Theile der Nation zufrieden zu seyn; sie findet die Weiber dieses Landes weder schön noch geistreich und gebildet genug, um ihre ausschließlichen Ansprüche an die Zauberkunst der Liebe behaupten zu können. Das Wahre ist, daß eine so gefährliche Fremde wie Lais, die in keiner andern Absicht gekommen scheint, als ihnen die reichsten und freigebigsten Männer des Landes vor ihren Augen wegzuangeln, eine allgemeine Empörung der Weiber gegen sich erregt, deren Folgen zu entgehen sie diesen Sommer unter dem Schutze des mächtigen Dioxippus auf einem seiner Güter in der Gegend von Pharsalia zuzubringen gedenkt. Ich zweifle nicht daß dieß das rechte Mittel ist, sie vor Anfang des Winters wieder in Korinth zu haben. Ich wünsch' es, bloß weil ich sehen möchte was sie mit meinem verrückten Sokrates anfangen wird, und ob sie sich des Versuchs wird enthalten können, auch ihn vor oder hinter ihren Siegeswagen spannen zu wollen. Dein Antipater wird sich in seiner Meinung von den Korinthern betrogen finden. Diogenes lebt hier noch freier und ungeneckter als zu Athen, und es gefällt ihm so wohl bei uns, daß er von der allgemeinen Einladung, die er von einigen unsrer besten Häuser erhalten hat, schon zwei oder dreimal Gebrauch gemacht, und wenn ihm die Laune dazu ankam, von freien Stücken bei großen Gastmählern erschienen ist; wo er zwar von seiner gewöhnlichen Diät so wenig als möglich abweicht, aber durch die Gewandtheit seines Witzes, die Freiheit seiner Zunge, und die seltsamen Einfälle, wovon er einen unerschöpflichen [312] Vorrath zu haben scheint, sich so angenehm macht, daß seine Erscheinung eine desto lebhaftere Freude unter den Gästen verursacht, je karger er mit dieser Gefälligkeit ist. Denn so weit hab' ich selbst (wiewohl er mich mehr als andere begünstigt) es nicht bei ihm bringen können, daß ich meine Freunde auf ihn zu Gaste bitten dürfte. Antipater wird hieraus ersehen, daß er sich so bald keine Hoffnung zu einer Schwimmpartie nach Psyttalia mit unserm neuen Schutzverwandten zu machen hat, und daß er selbst zu uns wird herüber schwimmen müssen, wenn er sehen will, wie gut die Isthmische Luft seinem Freunde zuschlägt.

40. Aristipp an Kleonidas
40.
Aristipp an Kleonidas.

Wenn deine Absicht war, mich mit den Gemälden, die ich durch den Schiffer Xanthus erhielt, wie mit unwiderstehlichen Zauberketten nach Cyrene zurück zu ziehen, so schwör' ich dir zu, daß du sie völlig erreicht hast. Sie haben die Erinnerungen an dich und deine Musarion so lebendig in mir aufgefrischt, daß alle meine andern Gedanken vor ihnen verlöschen, und alles, was ich um mich her sehe, mir schal und ungenießbar wird. Oft möcht' ich auf deine Kunst zürnen, daß die Zaubrerin, die dem bloßen gefärbten Schatten so viel Lebenähnliches geben konnte, ihnen nicht auch das, was zum Leben noch fehlt, zu geben vermochte; daß ich die [313] Rede, die auf den Lippen deines Bildes zu schweben scheint, nicht mit meinen Ohren höre, und der Freund, den ich an meine Brust drücken will, ein bloßes Blendwerk ist. Unwillig reiß' ich mich dann von diesen Bildern los, bei denen ich oft Stunden lang verweile, und kehre doch immer wieder zurück, als ob ich hoffte sie nun lebendiger zu finden. Kurz, lieber Kleonidas, dein Geschenk hat meine Weisheit aus dem Gleichgewicht, worauf ich sonst immer ein wenig groß zu thun pflegte, herausgehoben, und ich sehe wohl, mir ist nicht anders zu helfen, als daß ich meine hiesigen Geschäfte so schleunig als möglich zu Ende bringe, ein eigenes Jachtschiff miethe, und mit dem ersten besten Nordwestwind nach dem Lande zurückfliege, das meine Liebe zu euch, weit mehr als das Ungefähr der Geburt, zu meinem wahren Vaterlande macht.

Das holde Familienbild und die liebliche junge Malerin haben mich zwar nicht blind gegen die Reize deiner Psyche gemacht, aber doch so viel bewirkt, daß ich mich zu Gunsten meines Korinthischen Freundes Learchus leichter von ihr trennen konnte, der sie zu besitzen verdient, und ganz glücklich dadurch ist. Die dreitausend Drachmen, die du gegen seine Anweisung ausgezahlt erhalten wirst, sind der Preis, den er selbst dafür bestimmt hat. Da er die Bilder als Geschenk nie angenommen haben würde, so hielt ich für das schicklichste, ihm die Schätzung derselben anheimzustellen: und ich finde daß er sich, ohne zu viel zu thun, auf eine edle Art aus der Sache gezogen hat. Er hat wirklich Sinn für ächte Kunst; und überdieß schmeichelt es seinem Stolze, [314] daß er (Lais allein ausgenommen) der einzige in Griechenland ist, der etwas von deiner Hand aufweisen kann.

Daß mir die beiden Stücke, die ich für mich behalte, zu heilig sind um in meiner Galerie aufgestellt zu werden, trauest du mir zu ohne daß ich es sage. Antipater ist der einzige, der das Familienbild gesehen hat; aber ihm auch die Malerin sehen zu lassen, kann ich nicht über mich gewinnen. Sie steht in meinem Schlafzimmer, in einem Schranke verborgen, der, seitdem er dieses Kleinod verwahrt, täglich so oft aufgeschlossen wird, daß du über meine Kinderei lachen würdest, wenn ich dir sagte wie oft. Mich dünkt die Kunst hat noch nichts Vollendeter's hervorgebracht als dieses kleine Bild. Vollendet – ja, das ist es – aber ich habe dir doch nicht das rechte Wort gesagt; nichts Anziehender's, wollt' ich sagen – was hielt mich zurück? – Ist mein Vorwitz zu wissen, wer der Glückliche ist, mit dessen Zügen die liebenswürdige Kleone sich so theilnehmend beschäftigt, unbescheiden, so laß dein Stillschweigen meine Strafe seyn.

Ich lege diesem Brief eine Abschrift dessen bei, den ich von Learchen über die Gemälde erhalten habe; vornehmlich, weil er uns Nachricht von unsrer reisenden Circe gibt, die den Thessalischen Zaubrerinnen zeigt, daß sie in ihrer eigenen Kunst, gegen eine Meisterin wie sie, nur Pfuscherinnen sind.

41. Kleonidas an Aristipp
[315] 41.
Kleonidas an Aristipp.

Wenn unsre Freunde oder Verwandten in einem lebenssatten Alter ohne Reue, indem sie ins Vergangene, ohne Kummer, wenn sie vorwärts blicken, die Welt verlassen, so sollte der Gedanke, daß wir nie hoffen konnten sie von dem allgemeinen Loose der Menschheit ausgenommen zu sehen, billig zu unsrer Beruhigung hinreichend seyn.

Nach dieser kleinen Vorrede, lieber Aristipp, wirst du, wie ich hoffe, die Nachricht, daß dein achtzigjähriger Oheim zu leben aufgehört, und dich nebst deinem Bruder zu einzigen Erben seines ansehnlichen Vermögens eingesetzt hat, bloß als einen Ruf des Schicksals aufnehmen, dein Vorhaben, bald nach Cyrene zurückzukehren, desto bälder auszuführen. Vermöge seines letzten Willens ist dir sein schönes Haus in der Stadt und sein nur wenige Stadien von derselben entferntes Landgut zum voraus vermacht: und dein Bruder, der dich zu gut kennt, um deine Weigerung nicht voraus zu sehen, läßt dir wissen, daß er euerm Oheim sehr ernstlich angelegen habe, dir die ganze Erbschaft zu hinterlassen, und daß er also um so fester über dem Buchstaben des Testaments halten werde, da er durch das große Vermögen seiner Frau ohnehin reicher sey, als es einem Bürger eines kleinen Freistaats zustehe.

Nach dieser Erklärung, die dein Bruder bereits öffentlich gethan hat, würde es dir als eine bloße Ziererei aufgenommen [316] werden, wenn du dich nicht mit guter Art fügen wolltest; zumal da ganz Cyrene das Benehmen deines Bruders höchlich billiget, und sich darauf freut, dich künftig auf immer bei uns festgehalten zu sehen.

Das Gut wirft wegen seiner Nähe an der Stadt jährlich über zwei Talente ab, das Haus ist eines der besten in Cyrene, und, wie mir dein Bruder sagt, so kommen von dem übrigen Nachlaß wenigstens vierzig Talente auf deinen Antheil. Du wirst also auf einen hübschen Fuß in deiner Vaterstadt leben, und (was mir vorzüglich Freude macht) uns deine Sokratische Philosophie und deinen eigenen Geist unentgeltlich zum Besten geben können. Das Glück thut äußerst selten so viel für Männer deines Schlages; du bist weise genug, daß du es entbehren konntest; aber Sokrates selbst hätt' es schwerlich von sich gestoßen, wenn es ihm so ungesucht in die Arme gelaufen wäre.

Musarion ist beinahe ein wenig ausgelassen vor Freude, und wirkt und webt und stickt mit ihren Mägden über Hals und Kopf, um ihre kleinen Amorinen auf deine Ankunft recht herauszuputzen. Auch Kleone nimmt ihren Antheil an unserm Vergnügen, und scheint kaum der persönlichen Bekanntschaft zu bedürfen, um eine so gute Meinung von dir zu hegen, als einem viel eitleren Mann als du bist genügen könnte. In der That kennt sie dich, da sie alle deine Briefe an mich gelesen und wieder gelesen hat, bereits so gut, daß ihre Phantasie nur sehr wenig von der kleinen Parteilichkeit, für dich zu verantworten hat, deren sie zuweilen im Scherz von Musarion und mir beschuldiget wird.

[317] Deine Neugier, ob das Bildniß, woran sie in dem Gemälde zu arbeiten scheint, einen Freund oder eine Freundin vorstelle, hätte mich beinahe vergessen gemacht, daß Kleone nicht weiß daß ich sie gemalt habe, geschweige daß du im Besitz dieses Bildes bist. Du siehest leicht, daß beides ein Geheimniß vor ihr bleiben muß, wenn sie in ihrer ganzen holden Unbefangenheit vor dir erscheinen soll. Uebrigens muß ich dir sagen, daß die nachdenkliche und theilnehmende Miene, die dir an ihrem Bilde aufgefallen zu seyn scheint, der gewöhnliche Ausdruck ihres Gesichtes ist, und eigentlich nichts weiter sagt, als daß sie sich immer in einem Zustande von Besonnenheit und reiner Zusammenstimmung mit der ganzen Natur befindet. Sie ist immer in sich selbst ruhend, aber immer bereit sich mit andern zu freuen oder zu betrüben. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals weder gleichgültig noch in Leidenschaft gesehen zu haben. Sie ist nichts weniger als zurückhaltend, und ich bin ihres Zutrauens zu mir so gewiß, daß ich es für unmöglich halte, daß sie irgend eine Neigung in ihrem Herzen nähren sollte, die sie vor mir oder Musarion verheimlichen müßte. Auf alle Fälle rathe ich dir indessen auf deiner Hut zu seyn. Denn wenn du sie in einem spangenhohen Bilde schon so anziehend findest, was wird es erst seyn, wenn du sie selbst in Lebensgröße siehest, und die Musik der Peitho hörest die auf ihren Lippen sitzt?

Dein edler Bruder, dem es an Zeit fehlt, dir selbst zu schreiben, ersucht mich dir zu melden, er habe alle Verfügungen getroffen, daß du bei deiner Ankunft, wenn sie auch so bald erfolgt als wir wünschen, deine beiden [318] Häuser zu deinem Empfang bereit und ausgeschmückt finden werdest.

42. Antipater an Diogenes
42.
Antipater an Diogenes.

Anstatt Aristippen mit diesem Briefe an dich zu belästigen, würde ich ihn selbst nach Korinth begleitet haben, wenn meine rhetorischen Uebungen bei Isokrates mich nicht an die Minervenstadt fesselten.

Du wirst aus seinem eignen Munde vernehmen, daß er bloß nach Korinth gekommen ist, um von seinem und deinem Freund Learchus Abschied zu nehmen, und nach unsrer glücklichen Vaterstadt zurückzukehren, wohin ich mir nicht eher erlauben werde ihm zu folgen, bis ich mir bewußt bin, die Ausbildung unter den Griechen erhalten zu haben, die mich am geschicktesten machen kann, meinen Mitbürgern einst in öffentlichen Geschäften nützlich zu seyn. Diejenige Gattung von Beredsamkeit, worin Isokrates alle seine Mitwerber hinter sich läßt, die Kunst das Vertrauen und die Beistimmung der Zuhörenden mehr durch klare, leicht faßliche und zierliche Entwicklung der Sache zu gewinnen, als ihrer Einbildungskraft durch ein magisches Farbenspiel und eine künstlich verfälschende Beleuchtung nachzustellen, oder die Gemüther durch einen Strom von Bildern, Redefiguren und leidenschaftlichen Ergießungen mit sich fortzureißen – ich sage, [319] diese Gattung von Beredsamkeit, der es mehr um Wahrheit als Schein, mehr um Ueberredung als Ueberwältigung, aber weniger um Ueberredung als Ueberzeugung des Zuhörers zu thun ist, scheint für Republiken wie Cyrene ganz eigentlich gemacht, aber auch ein unnachläßliches Erforderniß zu einem Staatsmann in solchen Republiken zu seyn. In dieser Rücksicht ist vielleicht Isokrates selbst noch zu Attisch; ich meine damit, er läßt sich von der angebornen Redseligkeit der Athener und ihrem leidenschaftlichen Hang zum Schönsprechen, natürlicherweise also von der Begierde auf diesem Wege zu gefallen, und seine Mitbürger durch schöne Bilder, zierliche Gegensätze, ausgesuchte Worte, und künstlich gedrechselte, dem Ohr schmeichelnde Perioden zu bezaubern, vielleicht mehr beherrschen als er sollte. Wenigstens möcht' ich ihn, wie viel auch in der Kunst von ihm zu lernen ist, nicht ohne Einschränkung zu meinem Muster nehmen, wenn ich einst in Cyrene öffentlich zu reden haben werde. Aristipp hat mich daher aufgemuntert, auch Platons Schule fleißiger zu besuchen als ich bisher gethan habe. Er ist der Meinung, Platons Unterricht über Gesetzgebung und Staatsverwaltung – wiewohl er auch in diesem Fach alles auf idealische Vollkommenheit hinaufschraubt, könnte mir doch einen zwiefachen Nutzen schaffen: einmal, insofern es gut und sogar nöthig ist, das Höchste, wornach man streben soll, wenn man es gleich nie erreichen wird, wenigstens zu kennen, damit man den festen Punkt immer im Auge habe, dem man sich unverwandt zu nähern sucht; und dann, weil Aristipp die scharfen Begriffe und strengen Grundsätze, an welche man sich [320] bei Platon gewöhnt, für ein gutes Mittel hält, sich vor den willkürlichen Ansichten und bloß auf Meinung und Vortheil des Augenblicks gegründeten Vorstellungen, womit die Redner sich gewöhnlich behelfen, zu verwahren, die Redekunst in ihre wahren Gränzen einzuschließen, und zu verhüten, daß sie nicht in leeres Wortgepräng oder hinterlistige Sophistik ausarte. Ich finde dieß alles so einleuchtend, daß ich entschlossen bin, meinen gegen Platons Art zu philosophiren gefaßten Widerwillen zu überwinden, und den politischen Vorlesungen, die er seit kurzem angefangen hat, um so fleißiger beizuwohnen, da mir Isokrates selbst, vermuthlich aus ähnlichen Beweggründen, mit seinem Beispiel vorgeht. Du siehest hieraus, lieber Diogenes, daß diese Beschäftigungen mich noch eine geraume Zeit in Athen zurückhalten werden, ob es schon durch deine und Aristipps Entfernung seinen größten Reiz für mich verloren hat. Speusipp und Eurybates sind nun beinahe die einzigen, mit denen ich in näherer Verbindung stehe, und bei denen ich manchen angenehmen Abend zubringe. Aus einem Briefe von Learch an Aristipp hat dieser mich ersehen lassen, daß du dir in Korinth gefällst, und daß sich die Leute dort ganz artig gegen dich aufführen. Da du, mit aller deiner Misanthropie, im Grund' eine gute Seele bist, so zweifle ich nicht, diese Gastfreundlichkeit der Korinther gegen dich, die mir eine sehr gute Meinung von ihnen gibt, werde auch dich immer artiger gegen sie machen. Es käme vielleicht auf ein paar Raupenhäute an, die du noch abzustreifen hättest, so würde Plato selbst einen zweiten Sokrates, gerade so einen, wie wir ihn für unsre Zeit nöthig [321] haben, in dir erkennen müssen. Lebe wohl, und gedenke deines Antipaters, wenn dich einmal die Laune einen Brief zu schreiben anwandeln sollte.

43. Diogenes von Sinope an Antipater
43.
Diogenes von Sinope an Antipater.

Meiner Laune halben hättest du schon lang' einen großen Brief von mir, Antipater, wenn ich nur jedesmal, so oft sie mich ankam, etwas bei der Hand gehabt hätte, worauf und womit man schreiben kann. Endlich bin ich auf einer meiner Lustreisen nach dem Eselsberg so glücklich gewesen, ein ziemliches Stück glatter Baumrinde (die Oreaden mögen wissen von welchem Baume!) zu finden, und einen scharfen Kiesel, womit ich dir diesen Brief so leserlich auf die Rinde zu kratzen beflissen bin, daß du, mittelst einer mäßigen Gabe Räthsel zu errathen, so ziemlich mit meinem Geschreibe zu Rande kommen wirst.

Die Korinther haben mich bisher nach meiner Weise leben lassen, das muß ich ihnen nachrühmen; doch käm' es nur auf mich an, nach der ihrigen zu leben; d.i. mich alle Tage mit den leckersten Schüsseln anzufüllen und in den köstlichsten Weinen zu betrinken, wenn ich mich von allen begüterten Prassern dieser unermeßlich reichen Stadt der Reihe nach einladen lassen wollte, um ihnen die Ausgabe für die Lustigmacher zu ersparen, deren sie gewöhnlich einen oder [322] zwei bei ihren Schmäusen anstellen, um für baare Bezahlung durch witzige und unwitzige Possen den Gästen verdauen zu helfen. Wie lange sie oder ich es aushalten würden, ist ihr geringster Kummer.

Du wirst schon gehört haben, daß Lais, von ihrem Centauren bis an die Gränze des Isthmus begleitet, wohlbehalten aus Thessalien zurückgekommen ist. Aber was du schwerlich gehört hast – ich wollte dir's wohl ins Ohr sagen – wenn's nur nicht einer gar zu unglaublichen Prahlerei ähnlich sähe. Und doch geschehen Dinge in der Welt (sagen unsre alten Nestorn) die der tollste Poet nicht zu erdichten wagen würde, noch, ohne für einen Stümper in seiner Kunst gehalten zu werden, wagen dürfte. Bilde dir ein, daß mir so etwas mit der schönen Lais begegnet sey, 142 und laß übrigens diese Sache, so wie das sonderbare Briefchen der Dame, das ich dir hier zu meiner Rechtfertigung mittheile, ein so heiliges Geheimniß seyn, als ob es dir von dem Hierophanten zu Eleusis mitgetheilt wäre.

44. Lais an Diogenes von Sinope
44.
Lais an Diogenes von Sinope.

Das war ein wunderliches Ereigniß, das sich zwischen uns begeben hat, meinst du nicht, Diogenes? Eines von denen, die einen weisen Mann an seinen eigenen Sinnen irre machen, und das du hoffentlich nur geträumt zu haben [323] glaubst. – Wie? was unter allen diesen stolzen, reichen, schönen und schimmernden Abkömmlingen von Göttersöhnen, die du täglich bei mir ein- und ausgehen siehst, in mehreren Jahren auch nicht Einer um keinen Preis erhalten konnte, sollte Diogenes, der Cyniker, binnen wenigen Wochen, ohne alle Mühe und Arbeit, durch bloße Laune des Zufalls oder Gunst eines schwachen Augenblicks erschlichen haben? Welche Wahrscheinlichkeit? – Gleichwohl geschehen auch unwahrscheinliche Dinge, und da das Geschehene am Ende doch immer unter die natürlichen Dinge gehört, so laß uns wie ein Paar verständige Personen mit einander darüber philosophiren.

Du bist, mit aller deiner Unverschämtheit, ein Mann, der sich nicht mehr dünkt als er ist, und mich kennst du bereits genug, um dich nicht zu verwundern, daß ich unter deiner rauhen struppichten Hülle das feine Gefühl sehr bald ausfindig gemacht habe, das du darunter zu verbergen suchst. Du kannst von mir nicht schlecht denken. So wenig du dich für einen Nireus oder Phaon halten kannst, so wenig kann es dir einfallen, daß Lais von deinen breiten Schultern und phlagonischen Markknochen bezaubert worden sey. – Aber Lais (denkst du) und wenn sie eine Göttin wäre, ist am Ende doch – ein Weib, und ein Weib hat Augenblicke, wie selten und kurz sie auch seyn mögen, wo sie ohne zu wissen wie noch warum – schwach ist, und, bloß darum weil sie sich dessen nicht versah, ausglitschen kann.

Wenn du so denkst, Freund Diogenes, und die Rede wäre von zehntausend und zehnmalzehntausend andern Weibern, so hättest du Recht; aber wenn du es von Lais [324] denkst, so irrest du himmelweit. Ich habe in meinem Leben keinen schwachen Augenblick dieser Art gehabt. Die meinigen, wenn man sie so nennen könnte, haben mit jenen nichts gemein als – die Wirkung. Ich sagte mir selbst: was sind alle diese Menschen die an mich Ansprüche machen, ihrem innern Gehalt nach, gegen diesen armen Paphlagonier, auf den sie so vornehm herunter sehen! Und doch würde es Diogenes für die lächerlichste Anmaßung halten, wenn ihm einfiele, sich unter jene Uebermüthigen zu stellen, die ein Recht an mich zu haben wähnen, weil ich schön und reizend bin, und in zwangloser Freiheit lebe. Seine Bescheidenheit soll belohnt werden! Der Mann, der, um den Göttern ähnlich zu werden, ein elendes Leben führt, soll einen Augenblick in seinem Leben gehabt haben, wo er ihnen an Wonne ähnlich war. – Hier hast du das ganze Geheimniß, mein guter Cyniker! – Mache nun einen weisen Gebrauch davon, und, um deiner selbst willen, suche nie wieder mich allein zu finden.

45. Kleonidas an Antipater
45.
Kleonidas an Antipater.

Aristipp ist glücklich in Cyrene angekommen, und hat durch sein Widersehen und den Entschluß uns nie wieder zu verlassen, das Glück seiner Freunde verdoppelt. Die ganze Stadt nimmt Antheil an unsrer Freude; man drängt sich ihn zu sehen, zu begrüßen, zu Gaste zu bitten, und überall, wo [325] er zu finden ist, aufzusuchen; und er hat sich in Zeiten auf ein entfernteres Landgut seines Bruders flüchten müssen, um den allzulästigen Beweisen zu entgehen, welche ihm seine Mitbürger von ihrer Achtung und Zuneigung zu geben sich beeifern. Das alles wird sich in kurzer Zeit setzen; man wird nur zu bald gewohnt werden Aristippen unter uns zu sehen, und der nämliche Mann, den die öffentliche Meinung jetzt zum Abgott der Cyrener macht, wird ihnen in einigen Jahren ein Bürger seyn wie tausend andere, und vielleicht aller seiner Anspruchlosigkeit und Bescheidenheit nöthig haben, um für seine Vorzüge, und für alles wodurch er seinem Vaterlande Ehre macht, Verzeihung zu erhalten. So ist die große Mehrheit der Menschen, lieber Antipater! Wir wollen uns nicht darüber ärgern daß sie nicht anders sind als sie können.

Aristipp schickt sich trefflich in seinen neuen Hausstand, und wird uns, wie ich nicht zweifle, durch das Beispiel eines nach edeln Grundsätzen geführten und mit sich selbst übereinstimmenden Lebens mehr wahre Philosophie lehren, als wenn er eine Wissenschaftsbude auf dem großen Markt von Cyrene aufschlüge, und uns unsern schlichten Menschenverstand zu Platonischen Ideen verspinnen lehrte.

Er hat neun Leibeigenen seines alten Oheims, so viele ihrer über sechzig Jahre alt waren, die Freiheit geschenkt, und es in ihre Wahl gestellt, ob sie seine Hausgenossen bleiben, oder mit einem ihren geleisteten Diensten angemessenen Jahrgehalt sich auf ihre eigene Hand setzen wollten. Alle haben das erstere erwählt, und verdoppeln, seitdem sie ihm bloß durch ihren Willen angehören, ihren Diensteifer. Dafür aber[326] ist auch seine Art, alle von ihm abhangenden Menschen zu behandeln, so gütig und leutselig, daß, wofern sie nicht mit strenger Ordnung und gehöriger Zucht verbunden wäre, die Guten selbst sich unvermerkt versucht finden könnten lässig und schlecht zu werden. Sein Bestreben ist, alle, die für ihn arbeiten, so zufrieden mit ihrem Loose zu machen, daß sie sich nicht nur keinen andern Herrn wünschen, sondern seinen Dienst der Freiheit selbst vorziehen. Dieß ist leichter zu bewerkstelligen als man glaubt; denn diese Classe von Menschen fühlt den Werth der Freiheit nicht eher, als wenn ihnen die Dienstbarkeit ganz und gar unerträglich gemacht wird. In seinem Hause herrscht Ordnung ohne ängstlichen Zwang, Zierlichkeit ohne Pracht und Ueberfluß ohne Verschwendung. Nichts ist um Scheinens und Prunkens willen da; alles, vom größten bis zum kleinsten, trägt etwas zum angenehmern Lebensgenuß des Hausherrn und seiner Freunde bei, und man befindet sich nirgends besser als bei ihm. Mit Einem Wort, Aristipp stellt seine Philosophie in seinem Leben dar, und verdient nicht nur allen, denen das Glück so günstig war als ihm, zum Muster zu dienen, sondern kann, mit den gehörigen Einschränkungen, auch von solchen nachgeahmt werden, die in diesem Stück weit unter ihm sind. Denn so übel hat die Natur nicht für ihre Kinder gesorgt, daß man reich seyn müßte, um des Lebens froh zu werden.

Du bist, nach dem Antheil den du an uns nimmst, vielleicht neugierig, wie es mit Aristipp und Kleonen steht, von welchen leicht vorauszusehen war, daß die persönliche Bekanntschaft sie sehr bald in ein besonderes Verhältniß setzen [327] würde. Der erste Augenblick war wirklich so schön, daß ich ihn möchte malen können. Eine sichtbare Freude, einander gerade so zu finden wie jedes sich das andere gedacht hatte, strahlte aus seinen schwarzen Augen und glänzte im Himmelblau der ihrigen. Man hätte eher denken sollen, sie erkennten einander nach einer sehr langen Trennung wieder, als sie sähen sich zum erstenmale. Von dieser ersten Stunde an, scheint, oder ist vielmehr ohne Zweifel, ihr Verhältniß zu einander auf immer entschieden. Keine Spur von Leidenschaft, nichts dem Aehnliches, was man gewöhnlich Liebe oder Verliebtseyn nennt! Wer sie zum erstenmale beisammen sieht, hält sie für Zwillingsgeschwister, die mit einander aufgewachsen sind, und so natürlich zusammengehören, daß man sich keines ohne das andere denken kann. Bei allen Gelegenheiten zeigt sich eine so reine Zusammenstimmung ihrer Gemüther, ihres Geschmacks, ihrer Art die Dinge zu sehen und zu nehmen, daß sie ihre Seelen mit einander vertauschen könnten ohne es gewahr zu werden, oder daß wenigstens die Mannheit und Weibheit den einzigen Unterschied zwischen ihnen zu machen scheint. Natürlicherweise fühlen sie sich also für einander bestimmt, und ohne sich noch ein Wort davon gesagt zu haben, werden in aller Stille die Anstalten zu der Feierlichkeit getroffen, welche sie zu einem der glücklichsten Paare, die sich je zusammen gefunden haben, machen wird. Dieß, lieber Antipater, ist das Neueste von Cyrene.

Aristipp sagt uns so viel Gutes von dir, daß wir dich (der kleinen Schäfergeschichte zu Aegina ungeachtet) deiner eigenen Führung getrost überlassen sehen. Du läufst nach [328] einem schönen Ziel, Antipater. Dem Weisen ist nichts Einzelnes klein noch groß. Du bist, indem du dich deinem Vaterlande widmest, zu keiner schimmernden noch lärmenden Rolle berufen: aber wohl dem Staat, wohl den einzelnen Menschen, denen ihre Lage vergönnt, unbemerkt und unbeneidet glücklich zu seyn! Unsere Republik ist dermalen in dieser Lage, und sie darin erhalten zu helfen, ist ein Geschäft, wofür selbst ein Themistokles und Perikles nicht zu groß wäre.

46. Musarion an Lais
46.
Musarion an Lais.

Ich habe einen Augenblick, aber auch nur einen Augenblick, bei mir angestanden, liebste Freundin, ob ich diesen Brief an dich abgehen lassen sollte: denn wie könnt' ich besorgen, daß Lais in das Herz ihrer liebenden dankbaren Pflegetochter einen Zweifel setzen werde? Gewiß, gewiß macht es dir Freude, wenn ich dir melde, daß ich, die bisher durch meinen, aus deiner Hand erhaltenen Kleonidas die glücklichste der Weiber war, gleichwohl nahe daran bin, durch die Verbindung unsers Aristipps mit der einzigen Schwester meines Mannes, einem sehr liebenswürdigen, guten und talentvollen Mädchen, noch glücklicher zu werden.

Ich glaube nicht, daß außer Kleonidas und mir selbst jemals zwei so genau zusammenpassende Hälften einander gefunden haben, wie Aristipp und Kleone. Das Schönste [329] dabei ist, daß sie einander so herzlich gut sind und so inniges Wohlgefallen an einander haben, ohne daß man die geringste Spur der brausenden, schwärmerischen und (mit Aristipp zu reden) tragikomischen Leidenschaft, die man gewöhnlich Liebe nennt, an ihnen gewahr werden kann. Sie lieben ein ander, scheint es, wie Leib und Seele; durch ein stilles, tiefes, sympathetisches Gefühl, daß sie zusammen gehören, und nicht ohne einander bestehen können. Welch ein seliges Leben werden diese zwei mit so vielen Vorzügen, jedes in seiner Art, begabte, so edle, so gute Menschen in der günstigen Lage, worein das Glück sie gesetzt hat, zusammen leben! Meine Schwester Kleone besitzt ein sehr hübsches Vermögen, und Aristipp ist (wie du gehört haben wirst) durch die Erbschaft von seinem mütterlichen Oheim einer der wohlhabendsten Bürger von Cyrene geworden. Sie können, bei einer wohlgeordneten Wirthschaft, ohne sich mehr als recht ist einzuschränken, völlig nach ihrem Geschmack und Herzen leben, und werden, dem Genuß nach, reicher seyn, als manche andere mit dreimal größern Einkünften. Dieß, liebste Lais, gilt auch von mir und Kleonidas, ob wir schon nicht so reich sind als Aristipp.

Du weißt nur zu wohl, meine gütige Freundin, daß ich kein Talent zum Schreiben habe. Möchtest du doch, in Person gegenwärtig, dich an unserm Glück ergötzen können! Warum müssen Länder und Meere uns trennen, uns, die, dem Gemüthe nach, so nahe beisammen sind! Könnte denn das nicht anders seyn? – Doch, wenn du nur glücklich bist, sey es immerhin auf deine eigene Weise! Bist du es wirklich, Liebe, so sage mir ein Wort davon und ich bin zufrieden.

[330] Etwas sehr Artiges muß ich dir doch noch erzählen, woraus du dir selbst eine bessere Idee von Kleone zu machen wissen wirst, als eine so ungeübte Schreiberin, wie ich, dir geben könnte.

Kleone hat von ihrem Bruder in den vier bis fünf Jahren, seit sie bei uns gelebt hat, sehr artig malen gelernt. Kleonidas behauptet sogar, sie übertreffe ihn noch in der Kunst, einem Bilde gleichsam Seele zu geben, so daß es einen ordentlich anzusprechen scheint; aber das kann ich ihm unmöglich eingestehen. Genug sie malt sehr artig, das sagt jedermann; und so überschlich er sie einst, da sie in einer Gartenlaube allein zu seyn glaubte, und an einem kleinen Bilde arbeitete. Kleonidas machte sich unbemerkt wieder fort, ging in sein Arbeitszimmer und setzte sich auf der Stelle hin seine Schwester zu malen, wie er sie in der Gartenlaube gesehen hatte, mit einer kleinen Tafel auf den Knieen und einem Pinsel in der Hand, ein wenig mit dem Oberleib zurückgebogen, als ob sie das, was sie eben gemalt hatte, mit großem Vergnügen betrachtete. Kleone sollte nichts davon wissen; aber das schlaue Mädchen kam, ich weiß nicht wie, dahinter, stahl sich in Abwesenheit ihres Bruders in sein Zimmer, malte auf das Täfelchen, das sie im Bilde auf den Knieen hatte, den Kopf Aristipps (nach einer Zeichnung, die mein Mann ehmals von ihm gemacht hat) und überzog ihn, nachdem er trocken geworden war, mit einer leichten Kreidenfarbe, so daß Kleonidas keine Veränderung gewahr wurde, und das Gemälde mit zwei oder drei andern von seiner Arbeit an Aristippen nach Athen abgehen ließ. Dieses Gemälde hängt [331] jetzt in Aristipps Cabinet, einem Ruhebettchen gegenüber, und ist, weil es Kleonen zum Sprechen gleicht, sein Lieblingsstück. Drei oder vier Wochen nach ihrer Vermählung kommen sie von ungefähr vor diesem Bilde zusammen, und Aristipp hat seine Freude dran, es Zug vor Zug mit der gegenwärtigen Kleone zu vergleichen. Das vermuthest du wohl nicht, Aristipp, sagt sie lächelnd, daß dieses Bild eine Liebeserklärung ist? – »Wie so, Kleone?« – Statt der Antwort ging sie, holte einen wollenen Lappen, wischte die trocknen Farben auf dem Täfelchen, das sie auf den Knien hat, weg, und siehe! – da kommt Aristipps Kopf, so wohl getroffen daß er sich unmöglich mißkennen kann, zum Vorschein, und zeigt sich als den Gegenstand der gefühlvollen Miene, womit die junge Malerin ihn zu betrachten scheint. Hätte sie Aristippen auf eine angenehmere Art überraschen können als mit einem so schmeichelhaften Bekenntniß?


Vergib mir, beste Lais, eine Plauderhaftigkeit, worein man so leicht verfällt, wenn man von geliebten Personen spricht. Ich kann eben so wenig fertig werden, wenn ich Kleonen von dir spreche; von dir, in welcher Aristipp und Kleonidas, jener durch Beschreibung, dieser durch die Darstellung selbst, sie das herrlichste aller lebenden Bilder der Göttin der Schönheit und ihrer Grazien kennen und verehren gelehrt haben. Unter uns gesagt, liebe Lais, das einzige Bild in Kleonens Cabinet, ebenfalls dem Ruhebette gegen über, ist das deinige, ohne dein Wissen (denke ich) von Kleonidas nach der Bildsäule des Skopas (aber mit Farben, versteht sich) [332] gemalt. Sie hat sich's ausdrücklich von Aristippen ausgebeten.

47. Lais an Musarion
47.
Lais an Musarion.

Du schreibst schöner, liebe Musarion, als du dir's einbildest. Lysias und Isokrates hätten mich mit aller ihrer Beredsamkeit nicht so gut überzeugen können, daß du glücklich bist, als ich es fühle, indem ich deinen Brief lese, wiewohl darin beinahe gar nicht von dir selbst die Rede ist. Du, meine Musarion, du, die ich immer wie meine leibliche Schwester liebte, und, wie schmerzlich mir auch unsere Trennung war, nur darum bis nach Cyrene von mir ziehen ließ, weil ich glaubte, daß du mit keinem andern Manne glücklicher seyn könntest als mit Kleonidas, du bist was ich wollte daß du seyn solltest; Kleonidas und Aristipp sind es nicht weniger; und wohl mir, daß die Götter, die mich unfähig machten in mir selbst glücklich zu seyn, mir zum Ersatz die Freude an der Glückseligkeit meiner Freunde gaben!

Ich kenne keinen Mann, den ich mehr hätte lieben können als Aristippen, wenn ich dieser Liebe, die du so schön beschreibst, die nicht wie Liebe aussieht und doch so sehr Liebe ist, fähig genug wäre, um das für ihn zu seyn was ihm Kleone unfehlbar seyn wird. Es wäre eine lächerliche Demuth, wenn ich läugnen woll te, daß ich die Kunst, glücklich zu machen welchen[333] ich will, ziemlich gut verstehe, und daß die Natur mich an den meisten Gaben, die dazu nöthig sind, nicht verkürzt hat; auch gestehe ich, das Vergnügen einen Mann, der es werth ist, durch mich glücklich zu sehen, kann mich auf kurze Zeit in die angenehme Täuschung versetzen, als ob ich es gleichfalls sey. Aber daß beides, das Glück das ich gebe, und was ich dagegen zu empfangen scheine, im Grunde bloße Täuschung ist, davon sind die wenigen, mit denen ich bisher den Versuch gemacht habe, so gut überzeugt als ich selbst. Ich muß wohl niemands Hälfte seyn; wenigstens hab' ich den Mann noch nicht gesehen, mit dem ich mir eine Verbindung auf immer einzugehen getraute, ohne seine und meine Ruhe aufs Spiel zu setzen. Dieß wird und muß euch andern wackern Hausfrauen unnatürlich vorkommen; aber es ist nun einmal so mit mir, und ich kann nicht wünschen daß es anders sey. Die Natur, die wie eine gute Mutter dafür sorgt, daß keines ihrer Kinder gegen die andern gar zu sehr zu kurz komme, hat es so eingerichtet, daß, wiewohl die Menschen immer klagen und es gern besser hätten, doch niemand sein Ich mit dem eines andern vertauschen möchte. So geht es auch mir; da ich einmal Lais bin, so ergeb' ich mich mit guter Art darein, und danke Kleonen, daß sie mir die Sorge, in meinem Freund Aristipp den glücklichsten aller Männer zu sehen, abgenommen hat. Er verdient es zu seyn, er ist fähig es zu werden, und daß es ihr gelingen wird, hab' ich von der Stunde an nicht bezweifelt, da ich ihr Bildniß bei Learchen sah; denn ich erkannte auf den ersten Blick Aristipps Hälfte in ihr.

[334] Ich werde nicht von Learchen ablassen, bis er mir, um welchen Preis es sey, eine Copei von diesem Bilde schafft, die ich, dem Recht der Wiedervergeltung gemäß, in meinem Cabinet aufstellen kann. Indessen bitte ich sie und dich, liebe Musarion, das Kistchen, so dir mit diesem Briefe zukommen wird, und seinen Inhalt, aus der Hand einer Freundin mit Freundschaft anzunehmen. Ihr werdet ein wenig erschrecken; aber ich bin so reich an solchem Spielzeug, daß ihr euch des Werthes halben kein Bedenken machen müßt. Die Perlen sind an Wasser, Größe und Rundung eine wie die andere; ihr braucht sie also bloß zu zählen, um euch schwesterlich darein zu theilen. Wem das Kistchen bleiben soll, laßt gerad oder ungerad entscheiden.

48. Aristipp an Eurybates
48.
Aristipp an Eurybates.

Mir kommt wohl, lieber Eurybates, daß ich nicht so starkglaubig bin als der weise und tapfere Xenophon; denn, trotz meinem erklärten Unglauben an Zeichen und Wunderdinge, Dämonen, Empusen und an die Gottheit des Nordwindes, wandelt mich doch zuweilen eine Versuchung an, die Hälfte meiner Habe ins Meer zu werfen, um die griesgrämische Göttin Ate zu versöhnen, die nicht leiden kann wenn ein Sterblicher gar zu glücklich ist. Wirklich scheint es, die Götter wollen mich auf die Probe stellen, ob ich Stärke genug habe, [335] bei so vielen Versuchungen zu Ueppigkeit und Uebermuth der Sokratischen Sophrosyne getreu zu bleiben, und im Genuß des Guten, womit sie mich überschüttet haben, mein Gemüth frei genug zu erhalten, um nicht aus der gehörigen Fassung zu kommen, wenn sich's etwa einst an einem grauen Morgen finden sollte, daß alles, wie ein Zaubergastmahl, wieder verschwunden wäre. – Doch, dieser Gedanke selbst sieht mir so ziemlich einer Eingebung der schelsüchtigen Göttin gleich. Denn was für eine Weisheit wäre das, die ihr Gefühl für das gegenwärtige Gute abstumpfen müßte, um sich zum voraus gegen künftige Uebel unempfindlich zu machen! Die meinige ist die Kunst in guten und bösen Tagen meines Daseyns so froh zu werden, und so wenig zu leiden, als mir möglich ist. Ich betrachte Vergnügen und Schmerz als einen von der Natur gegebenen rohen Stoff, den ich zu bearbeiten habe; die Kunst ist, jenem die schönste, diesem die erträglichste Form zu geben; jenes zu reinigen, zu veredeln, zu erhöhen; diesen, wenn er nicht gänzlich zu stillen ist, wenigstens zu besänftigen, ja (was in manchen Fällen angeht) sogar zu Vergnügen umzuschaffen.

Antipater hat dich ohne Zweifel schon benachrichtigst, daß ich durch meine Vermählung mit der Schwester meines Freundes Kleonidas meinem neuen Bürgerleben in Cyrene die Krone aufgesetzt habe. Ich hätte große Lust dir recht viel davon zu sagen, wie glücklich mich diese Verbindung macht; aber mir ist, mein Dämonion zupfe mich beim Ohr und flüstre mir zu: ein Mann, der eine Art von Liebhaber seines Weibes ist, müsse der Versuchung von ihr zu reden mit allen Kräften [336] widerstehen, weil er immer Gefahr läuft, aus Furcht zu wenig zu sagen, mehr zu sagen als einem weisen Manne ziemt. Auf alle Fälle kann es niemand leichter seyn, sich an meinen Platz zu stellen, als dir, der so gut aus eigener Erfahrung weiß, was häusliche Glückseligkeit ist.

Ein Großes trägt zu Erhöhung der meinigen die schöne Harmonie und Herzlichkeit bei, die zwischen mir, meinen Brüdern Aristagoras und Kleonidas, und zwischen unsern Hausfrauen herrscht, welche letztern sämmtlich eine starke Ausnahme von dem harten Urtheil verdienen, das unsre Freundin Lais über die Griechischen Matronen zu fällen pflegt. In der That machen wir nur eine einzige Familie aus, und außer den Tagen, wo wir uns den Einladungen zu großen Gastmählern nicht entziehen können oder selbst dergleichen geben, bringen wir die Abende meistens unter uns, bald bei meinem Bruder, bald bei mir oder Kleonidas zu; und ein Fremder muß sehr hoch in unsrer Gunst stehen, der zu diesen traulichen Symposien zugelassen wird. Bei diesen letztern sind die Frauen immer gegenwärtig; ohne sie würden wir nur mit halbem Muthe fröhlich seyn können; denn sie sind uns so unentbehrlich als Pindars Grazien den Göttern; nichts däucht uns wohlgethan, was nicht durch ihre Hände geht, nichts angenehm, woran sie nicht Theil nehmen. Die Cyrenische Sitte, welche den Frauen mehr Freiheit zugesteht als die eurige, und sie von keiner Gesellschaft unter Verwandten und Freunden ausschließt, kommt uns zwar hierin zu Statten; wir würden es aber, wenigstens unter uns, zur Sitte machen, wenn es nicht schon etwas Gewöhnliches wäre.

[337] Ueberhaupt kenne ich, Milet vielleicht allein ausgenommen, keine Griechische Stadt, worin man so ruhig, zwangfrei und behäglich leben könnte als in Cyrene, seitdem die neue Verfassung Wurzel geschlagen, und alles Unkraut des Mißtrauens und des Parteigeistes, vor welchem ehmals nichts Gutes bei uns aufkommen konnte, in kurzer Zeit gänzlich erstickt hat. Die Cyrener, wenn sie nicht von irgend einem bösen Dämon aus ihrem natürlichen Charakter herausgeworfen werden, sind ein fröhliches, gutartiges Volk; und daß es ihnen an Kunstfleiß und Betriebsamkeit nicht fehlt, zeigt der blühende Zustand der Fabriken, der Handelschaft und Schifffahrt, welche seit einigen Jahren in immer steigendem Aufnehmen sind, wiewohl wir hierin immer hinter Korinth, Syrakus, Milet und Rhodus zurückbleiben werden. Meine Mitbürger scheinen diesen Nachstand ohne Eifersucht anzusehen; dafür aber würden sie sich sehr beschämt finden, wenn sie in der Kunst gut zu essen und überhaupt in allem, was zum Gemächlichleben und zur angenehmsten Befriedigung der Sinnlichkeit dient, von irgend einem Volke übertroffen würden. Sie nennen dieß gut leben, und gehen darin von dem Grundsatz aus: das menschliche Leben sey so kurz und ungewiß, daß es große Thorheit wäre, sich den gegenwärtigen möglichsten Genuß desselben zu entziehen, um desto mehr Vorrath für eine Zukunft aufzuhäufen, die der Sparer und Sammler vielleicht nie erleben werde. Diesem zufolge setzen sich die meisten, sobald sie durch Erwerb oder gutes Glück zu Vermögen gekommen sind, auf den Fuß von ihren Renten zu leben, oder doch ihr Gewerbe nur so weit fortzuführen, daß sie von dem Ertrag [338] gemächlich und angenehm leben können, und glauben alles gethan zu haben, wenn sie sich so weit einschränken daß sie nicht merklich ärmer werden. Häufige Erfahrungen sollten sie längst belehrt haben, daß dieß eben der geradeste Weg immer ärmer zu werden sey: aber der Cyrener (ich rede von den meisten) hat über diesen Punkt weder Augen noch Ohren, so stark scheint der Einfluß unsers üppigen, zu Trägheit und Wollust geneigt machenden Himmelsstrichs zu seyn, von welchem es schwer und vielleicht unmöglich ist, sich gänzlich frei zu erhalten. Ich finde daher an unsrer dermaligen Regierung lobenswürdig, daß sie diesen Temperamentsfehler unsers Volkes nicht bloß durch vielfältige Aufmunterungen des Fleißes und Unternehmungsgeistes zu verbessern sucht, sondern sich auch angelegen seyn läßt, den Geschmack unsrer Bürger zu veredeln, und ihnen neue und reinere Quellen des Vergnügens zu eröffnen, als sie bisher gekannt hatten. Ich wurde bei meiner Hierherkunft nicht wenig überrascht (denn Kleonidas hatte mir absichtlich ein Geheimniß daraus gemacht), ein Theater und ein Odeon in Cyrene zu finden, und beide schon so wohl eingerichtet, daß (mit deiner Erlaubniß, Eurybates!) Athen selbst kaum bessere Schauspieler, Sänger und andre Tonkünstler aufzuweisen hat. Das letztere haben wir dem Eifer zu danken, womit Kleonidas (dem die Aufsicht über diese neuen Stiftungen aufgetragen ist) seit einigen Jahren sich bemüht hat, geschickte Künstler in beiden Fächern aus dem Asiatischen Griechenlande nach Cyrene zu locken. Die Musik, in der weitesten Bedeutung des Wortes, ist nun auch bei uns ein wesentlicher Theil der Erziehung der Kinder, und unsre Cyrener [339] gewinnen unvermerkt allen Musenkünsten immer mehr Geschmack ab. Man hört schon in mehrern reichen Häusern bei großen Gastmählern, statt bezahlter Lustigmacher, einen geschickten Zögling des berühmten Ions Homerische Rhapsodien singen, und mein Bruder thut sich nicht wenig darauf zu gut, den besten Vorleser in ganz Cyrene in seinen Diensten zu haben.

Ich traue dir zu viel Weltbürgersinn zu, mein edler Freund, als daß ich besorgen sollte, du werdest ein »Attisches Gesicht« dazu machen, daß Cyrene, die an Größe und Bevölkerung der weltgepriesenen Minervenstadt wenig nachgibt, sich zu beeifern anfängt, ihr auch in der Liebe zu den Künsten die das Leben verschönern, wiewohl noch mit ungleichen Schritten, nachzufolgen. Unser Staat ist nicht so reich als der eurige; wir haben keine Inseln, die uns das eiserne Capital eines drückenden Schutzes mit zwölfhundert Talenten jährlich verzinsen müssen 143, und keinen Schatz zu Delos 144, den wir angreifen könnten, um unsre Stadt zu verschönern, und unsre Bürger durch prächtige Feste und kostbare Lustbarkeiten bei guter Laune zu erhalten. Unsre Republik hat sich also begnügt, die beiden öffentlichen Gebäude, worin die Musen ihr Wesen bei uns haben, aufführen zu lassen, und jährliche Preise für diejenigen zu stiften, denen die öffentliche Meinung in den Wettstreiten, wozu am Feste der Cyrene 145 die verschiedenen Musenkünstler zusammen kommen, den Sieg zuerkannt hat. Alle Unkosten unsrer Schauspiele hingegen werden mittelst einer mäßigen Abgabe, die von den Zuschauern erhoben wird, bestritten. Denn anstatt den Bürgern das Schauspielgeld aus dem öffentlichen [340] Schatze zu reichen, wie bei euch, finden wir billig, daß wer an dergleichen Unterhaltungen Antheil haben will, auch das Seinige zu ihrer Unterstützung beitrage.

Daß wir, seitdem wir ein Theater und ein Odeon besitzen, gute Hoffnung haben, auch Dichter und Dichterlinge aus unserm eigenen Grund und Boden aufschießen zu sehen, wirst du sehr natürlich finden. Die ersten Versuche, die von zwei oder drei jungen Cyrenern in der tragischen Kunst gemacht worden sind, haben freilich die Tragödien von Sophokles, Euripides und Agathon noch nicht entbehrlich machen können: aber in der Komödie hat sich Kleonidas mit gegründetem Beifall versucht, und (wenn mich meine Liebe zu ihm nicht sehr verblendet) Aristophanischen Witz mit der Sittlichkeit der Komödien des Epicharmus zu verbinden gewußt.

Die Komödien euers Kratinus, Eupolis und Aristophanes sind so sehr für Athen und die niedrigsten Classen euers suveränen Pöbels, und überdieß größtentheils für die Zeitpunkte ihrer Aufführung berechnet, daß sie, wofern auch sonst nichts Erhebliches gegen sie einzuwenden wäre, dennoch bloß aus der Ursache, weil sie unserm Volk unverständlich seyn würden, nicht auf unsern Schauplatz gebracht werden könnten. Jedes Volk, das Komödien haben will, muß seine eigenen haben. Die eurigen passen sehr gut für Athen, aber auch nur für Athen, und sogar nur für Athen wie es in den vierzig Jahren zwischen der sechsundachtzigsten und sechsundneunzigsten Olympiade war. Wir haben keinen Demos, keinen Senat, keine Volksredner und Kriegsobersten, die man lächerlich machen könnte; unser Volk nimmt keinen unmittelbaren Antheil an der Regierung, [341] und hat Ursache mit seinen Vorstehern zufrieden zu seyn; und wenn diese auch der satyrischen Geißel einige Blößen gäben, so würde keinem komischen Dichter gestattet werden, sich öffentlich und in Einer Person zu ihrem Ankläger, Richter und Büttel aufzuwerfen. Eine Demokratie, wie die eurige war, kann ihre Ursachen gehabt haben, den Komödienschreibern eine Art von stillschweigender Vollmacht zu Handhabung einer beinahe unumschränkten Censur zu ertheilen; und eure Regierung hatte die ihrigen, sich, so lange sie es nicht ändern konnte, leidentlich dabei zu verhalten; aber diese Ursachen konnten nur im Attischen Athen stattfinden, und haben auch dort zum Theil bereits aufgehört. Wir Cyrener werden also entweder ohne Komödie bleiben, oder uns, wie gesagt, eine eigene erschaffen müssen. Das letztere wird nicht schwer seyn; denn sobald man der Komödie, statt des Lachens und Spottens über die Regierung und über einzelne Personen, andere zu einer öffentlichen angenehmen Volksunterhaltung passende Zwecke gibt, so lassen sich zwischen der Tragödie des Sophokles und der Komödie des Aristophanes, zwischen dem Oedipus und Philoktet des erstern, und den Rittern und der Lysistrata des andern, mehrere Gattungen von Schauspielen denken; und wenn auch Scherz und Lachen die Hauptwirkung der Komödie bleiben soll, so braucht sie sich nur, mit Verzichtthuung auf alle persönliche Satyre, auf sinnreiche und lebhafte Darstellung allgemeiner lächerlicher Charaktere einzuschränken, um eine neue Gattung hervorzubringen, welche gewiß Beifall erlangen und vielleicht nicht ohne Nutzen seyn würde. Ich zweifle nicht, daß die Zeit im Anzug ist, wo Athen, die noch immer in allen Arten von [342] Kunstwerken die ersten und vollkommensten Muster aufgestellt hat, auch in dieser Gattung den Ton angeben, und die Scene mit lebendigen Sittengemälden beschenken wird, an welchen auch unsre Frauen Gefallen finden können. Denn in Cyrene sind die Frauen von Besuchung der Schauspiele nicht ausgeschlossen 146 wie bei euch; und dieß ist ein wesentlicher Grund mehr, warum unsre Komödie ohne Vergleichung bescheidener und anständiger als die eurige seyn muß; ja warum selbst die Tragödie sich unvermerkt in einen mildern Ton herabstimmen, und, ohne dem Wesentlichen ihres Charakters zu entsagen, mehr sanfte Rührungen, süße Wehmuth und zärtliches Mitgefühl als Schrecken, Entsetzen und peinliches Mitleiden zu erregen suchen wird.

Da dieser Brief bestimmt ist, dir einen genugthuenden Bericht über meine dermalige Lage und Lebensweise zu geben, so erwartest du vermuthlich, daß ich dir auch ein Wort von den staatsbürgerlichen Obliegenheiten sage, durch welche meine weltbürgerliche Freiheit vielleicht enger eingeschränkt werden könnte, als sie in die Länge zu ertragen geneigt seyn möchte. Zu gutem Glück kommt meiner politischen Trägheit ein altes Gesetz zu Statten, vermöge dessen zwei Brüder niemals weder im Senat noch andern höhern Stellen, zu gleicher Zeit Sitz haben können. Dagegen gibt es mancherlei mehr und weniger bedeutende, mit der innern Polizei der Stadt beschäftigte Aemter und Aemtchen, denen wohlhabende Bürger, wenn die Reihe an sie kommt, sich nicht entziehen dürfen, zumal da diese Ehrenstellen mit keinem Einkommen verbunden und von eingeschränkter Dauer sind. – Aemter dieser Art werde ich, [343] ihrer vielfältigen Unannehmlichkeiten ungeachtet, desto williger übernehmen, da sie, um wohl verwaltet zu werden, Uneigennützigkeit, Besonnenheit und Geschicklichkeit die Menschen verständig zu behandeln voraussetzen, und andern hierin ein Beispiel zu geben von gutem Nutzen seyn kann.

Uebrigens bin ich der Meinung, daß in jedem großen oder kleinen Staat ein Bürger aus derjenigen Classe, zu welcher ich in Cyrene gehöre, sich um das Gemeinwesen schon verdient genug mache, wenn er seinem Hause wohl vorsteht, seine Güter zu verbessern und zu verschönern sucht, Künste und Gewerbe durch einen nicht unbescheidenen, aber seinem Vermögen angemessenen Aufwand unterhalten und beleben hilft, und durch eine edle Gastfreiheit seiner Stadt auch im Auslande Ehre macht.

Noch ein kleines Verdienst hoffe ich mir um Cyrene dadurch erworben zu haben, daß ich ein zu meinem Gute gehöriges Lustwäldchen, das mit Schattengängen und Lauben, und einem Saal mit einer bedeckten Halle versehen ist, den Musen geheiligt, und zu einer Art von öffentlichem Versammlungsort für Gelehrte und Künstler bestimmt habe, wo auch bloße Liebhaber von Wissenschaft und Kunst, Fremde, und überhaupt alle rechtlichen Leute den Zutritt haben. Die Halle ist mit Gemälden und Bildsäulen, der Saal mit Bücherschränken versehen, wo keines der Werke der Griechischen Dichter, Geschichtschreiber und übrigen Schriftsteller, die in einigem Ruf stehen, leicht vermißt werden soll. Beide sind täglich zu gewissen Stunden offen, und einer meiner Hausgenossen ist immer gegenwärtig, um den Liebhabern die Bücher, worin sie lesen [344] wollen, hervorzulangen, und wenn der Saal geschlossen wird, wieder an ihren Ort zu legen. Dieses Museon kostet mich vielleicht den vierten Theil des baaren Geldes, das mein Oheim mir hinterlassen hat: aber wer mit so weniger Mühe zu einem beträchtlichen Vermögen kommt, hat, meiner Meinung nach, eine besondere Obliegenheit auf sich, es auf eine edle und gemeinnützliche Art zu verwenden.

Auf den Fall, lieber Eurybates, daß dir dieser vielleicht allzu weitläufige Bericht über einen so wenig bedeutenden Gegenstand, als mein kleines Cyrenisches Ich ist, etwas lange Weile gemacht haben sollte, ist es nicht mehr als billig, daß ich dich mit einer kurzweiligen Zugabe dafür entschädige.

Hättest du dir wohl einfallen lassen, daß der Abderit Onokradias (der zu unvergeßlich ist, als daß du dich nicht erinnern solltest, ihn mehrmals bei mir und bei dir selbst gesehen zu haben) meiner Person einen so großen Geschmack abgewonnen haben könnte, um mich bis in Cyrene aufzusuchen? Das Eigentliche an der Sache ist: daß er, da er jetzt auf seiner großen Reise begriffen ist, und, von Aegypten aus, den Tempel des Jupiter Ammon besucht hat, »nicht umhin konnte (wie er sagt) einen Abstecher nach Cyrene zu machen, um seinen Freund und Gönner Aristipp zu besuchen,« und ihm seine Dankbarkeit dafür zu bezeugen, daß er ihn zu Athen – seinen Tischgesellschaftern so oft zum Besten gab. Dem sey wie ihm wolle, genug, an einem schönen Morgen, da ich mich eher alles andern versehen hätte, kommt der hoffnungsvolle Sohn Onolaus des Zweiten auf mich zugerennt, und erdrückt mich beinahe in seinen Herculischen Armen. Es gab (wie du [345] denken kannst) eine rührende Erkennungsscene, die noch rührender gewesen wäre, wenn sie nicht so nah ans Lächerliche gegränzt hätte. Es versteht sich, daß ich ihn sogleich in mein Haus führte, und daß von Stund' an eine ewige Gastfreundschaft zwischen mir und meiner Nachkommenschaft und den edeln Sprößlingen des Onogelastischen Geschlechtes in allen seinen Aesten und Zweigen errichtet wurde. Der gute Mensch konnte sich, als ich ihn Kleonen vorstellte, nicht genug verwundern, wie ich zu einer so schönen Frau gekommen sey, und schwur bei Latona und Jasons goldnem Hammelsfell, daß er, wenn ihm ein Mädchen mit so blauen Augen und so schwarzen Wimpern in den Wurf kommen sollte, sie stehendes Fußes heirathen werde, wenn sie gleich nichts als das Hemd auf dem Leibe hätte. – Du glaubst nicht was für Glück die genialische Albernheit dieses jungen Abderiten in Cyrene macht. Er erhält so viele Einladungen, daß er kaum den zehnten Theil bestreiten kann; und ich glaube wir hätten ihn noch lang' am Halse, wenn er die Geschichte seines Stammvaters Onogelastes und des feigenschmausenden Esels nicht gar zu oft erzählen müßte. Uebrigens gefall' es ihm (sagt er) in Cyrene so wohl, daß er oft mitten in Abdera zu seyn glaube. Alles was er bei uns sieht, haben sie in Abdera auch; ein solches Odeon, ein solches Theater, solche Bäder, solche öffentliche Gesellschaftssäle; ihr Jasontempel hat sogar noch zwei Säulen auf der Giebelseite mehr als unser Tempel des Apollo. Nur ihr neues Theater, das muß er gestehen, ist nicht völlig so schön als das unsrige, und, die Sache rund herauszusagen, etwas eng und unbequem. Aber das Cyrenische, meint er,[346] müßte auch ohne Vergleichung mehr gekostet haben: das ihrige wäre der Republik nicht viel über hundertundzwanzig Talente zu stehen gekommen. Man sagte ihm: er hätte sich sehr geirrt; das unsrige koste kaum den dritten Theil dieser Summe; denn wir hätten die Steine dazu aus unsern eigenen Marmorbrüchen gezogen. – »Das ist freilich ein anders, versetzte der Abderit; die Pfeiler und Säulen des unsrigen sind nur von Backsteinen und wie bunter Marmor angestrichen; aber für das, was sie gekostet haben, könnten sie von Jaspis seyn. Ihr wundert euch wie das möglich war? Es ging ganz natürlich zu. Wir Abderiten haben's nun einmal in der Art, daß wir etwas rasch im Denken und Handeln zu Werke gehen; einem Dinge lange nachzusinnen, oder es auf alle Seiten herumzukehren, ist unsre Sache nicht. Der Entwurf wurde gemacht, dem Senat vorgelegt, angenommen, Hand angelegt; alles in Einem Zug. Wie das Werk nahezu halb fertig war, bemerkte jemand, daß es sich auf der einen Seite senke; die Sache wurde untersucht; es mußte ein neuer Grund gelegt werden. Die bisherige Arbeit war größtentheils vergeblich; aber wir dankten den Göttern, daß der Fehler noch in Zeiten entdeckt worden war, und das Werk ging wieder hurtig von der Hand. Nach einer Weile kam einem unsrer Ober-Bauherren ein Gedanke, wie dieß und jenes zierlicher und geschmackvoller seyn könnte. Flugs wurde wieder eingerissen und verändert. Aber andre Leute hatten auch Einfälle und Geschmack, und hatten zu Athen und Korinth und Syrakus und Milet und Samos und Mitylene und allenthalben Theater gesehen, und jeder wollte das Seinige zu einem Bau, [347] wovon Abdera Ehre haben sollte, beitragen. So war denn immer etwas zu tadeln und anders zu machen. Bald mußte die Orchestra erhöht, bald die Vorbühne erweitert werden; bald war der Raum für die Chöre zu klein, bald fehlte es an etwas anderm. Die Säulen waren erst Ionisch, und mußten nach Jahr und Tag mit großer Mühe und Arbeit in Korinthische verwandelt werden. Das alles förderte nun das Werk nicht sonderlich; indessen wer immer zwei Schritte vorwärts gegen Einen rückwärts macht, kommt zuletzt doch ans Ziel. Kurz und gut, der Bau wurde fertig, und es war großer Jubel in ganz Abdera, und anstatt zu klagen daß er so viel kostete, thaten sich unsre Bürger viel darauf zu gute; denn (ohne uns zu rühmen) was unsrer Stadt Ehre macht, ist uns nie zu theuer. Wir hatten für unsre hundertundzwanzig Talente ein neues Theater, das sich sehen lassen durfte; nur Schade, daß sich's erst bei der Einweihung zeigte, daß die Stufensitze um funfzehn bis zwanzig Ellen höher und weiter hätten seyn sollen; denn wir saßen so zusammengedrängt wie die Salzfische in einer Byzantinischen Tonne. Es kommt nur auf eine kleine Gewohnheit an, sagte der Nomophylax, der die Oberaufsicht über den Bau gehabt hatte; und so war es auch: in kurzem beklagte sich kein Mensch mehr, und wir saßen doch nicht bequemer als das erstemal.« – Der ehrliche Onokradias lachte herzlich mit, wie er sah, daß wir uns nicht länger halten konnten in ein lautes Lachen auszubersten. »Es ist wirklich lustig, fuhr er fort, zumal wenn man bedenkt, wie viele kluge Köpfe zur Sache zu reden hatten, und wie viele Sitzungen die armen Bauaufseher, in den sechs Jahren [348] daß am Theater gebaut wurde, halten mußten! Man kann sich vorstellen, ob die Herren fleißig genug zusammen kamen, da über dreihundert Eimer Thasierwein nach und nach dabei geleert wurden. Denn daß die Herren hätten trocken sitzen sollen, war ihnen doch nicht zuzumuthen. Aber freilich, wenn man's sagen dürfte, da liegt eben der Hund begraben! Viele Köche versalzen den Brei; um sich nicht zu zanken, trinkt man; da wird man denn bald einig, und der Ausführung halber verläßt sich einer auf den andern. Wir Abderiten haben das so in der Art; unser Gemeinwesen ist nie schlechter berathen als wenn wir alle Einer Meinung sind.«

Die treuherzige Unbefangenheit, womit der ehrliche Abderit sich selbst und seine Mitbürger auf diese Weise zum Besten gibt, macht daß man ihm mit aller seiner albernen Geschwätzigkeit gut seyn muß; denn er ist die wohlmeinendste Seele von der Welt. Zu allem Glück ist er reich, und so kann man sich unbedenklich an ihm belustigen; hätte das Glück weniger dafür gesorgt, daß er unsers Mitleidens nicht bedarf, so wär' es grausam über ihn zu lachen. Er hat nun in Cyrene die mittägliche Gränze der Griechischen Sprache erreicht, und ist im Begriff nach Sicilien abzusegeln, von da aus das südliche Italien zu bereisen, und dann in seine liebe Vaterstadt zurückzukehren; ungefähr so klug als er ausgezogen war, aber so reich an Dingen die er gesehen und gehört hat, daß er seinen Abderiten sechzig Jahre lang genug zu erzählen haben wird. Er verläßt sich darauf (und ich stehe ihm dafür) daß seine Mitbürger große Freude an ihm haben werden; »denn eine Reise wie die meinige (sagt er) hat, außer dem [349] närrischen Philosophen Demokritus, noch kein Abderit gemacht.« Sollt' ich ihm in drei oder vier Olympiaden seinen Besuch zurückgeben, so bin ich gewiß, ihn an der Spitze seiner Republik zu finden; und die Götter mögen wissen, ob ihre Sachen darum schlimmer oder besser gehen werden!

Speusipp schreibt mir: seitdem ich Athen auf immer verlassen zu haben scheine, spreche sein Oheim Plato in Gesellschaften, wenn meiner gedacht werde, sehr glimpflich von mir, als von einem feinen Weltmann und angenehmen Gesellschafter. Aristipp, sagt er, hat sich eine Art von Philosophie gemacht, womit er sich, wie ich glaube, für seinen eigenen Gebrauch gut genug behelfen mag; aber allgemein gemacht würde sie böse Früchte tragen. – Ist es mit der seinigen etwa anders? Zum Glück (wenn ja die Gefahr so groß seyn sollte) hat die Natur selbst dafür gesorgt, daß keine von beiden allgemein werden kann. Wäre dieß aber nicht, so würde meine Philosophie noch immer den Vorzug haben, daß sie nur durch Mißverstand und Mißbrauch schädlich werden kann; da hingegen die seinige geraden Weges zu einer Art von Schwärmerei führt, deren natürliche Folgen, außer seiner Wolkenkuckucksheimischen Republik, allenthalben verderblich seyn würden.

Lebe wohl, mein edler Freund, und lass' dir mein Andenken, und, wofern du es nöthig findest, auch meinen Ruf gegen den Muthwillen eurer witzelnden Müßiggänger und Spaßmacher empfohlen seyn, die von jedem Manne, dessen Name öfters genennt wird, so viele Geheimgeschichtchen zu erzählen wissen, alles gesehen haben wollen was er gethan, alles gehört [350] haben was er gesprochen hat, und, um die Wahrheit ihrer Mittheilungen unbekümmert, zufrieden sind, wenn sie nur ihren Platz an den Tafeln der Reichen durch irgend ein lächerliches Mährchen oder eine auffallende Albernheit auf Unkosten eines bekannten Namens bezahlen können.

49. Lais an Aristipp
49.
Lais an Aristipp.

Wenn du nicht gar zu sehr über mich lachen wolltest, Aristipp, so hätte ich große Lust dir einen Traum zu erzählen, den ich diesen Morgen geträumt habe.

Du erinnerst dich vielleicht noch der geflügelten Köpfe, von denen einst bei Gelegenheit des Platonischen Phädons zwischen uns die Rede war. Hättest du dir wohl einfallen lassen, daß diese Köpfe nach so vielen Jahren noch in dem meinigen zu spuken anfangen würden? Gleichwohl ist es geschehen, und (was ich wohl zu bemerken bitte) ohne daß ich mir irgend einer Veranlassung zu einer so seltsamen Träumerei bewußt bin. Die Sache ist so sonderbar, daß ich mich nicht erwehren kann ein wenig lächerlich in deinen Augen zu erscheinen, da du doch natürlicherweise denken mußt, ich würde dir meinen Traum nicht erzählen, wenn ich ihm nicht eine gewisse Wichtigkeit beilegte, die ein Traum, wie außerordentlich er auch seyn mag, bei keiner verständigen Person haben sollte. Sey es darum! – Hier ist der meinige mit allen seinen Umständen, [351] deren ich mich so lebhaft erinnere, als ob mir alles bei offnen Augen begegnet wäre.

Ich befand mich in einem von den anmuthigen, mit unzähligen schönen Bäumen besetzten Lustgärten, die man in dem Persischen Asien Paradiese 147 zu nennen pflegt. Noch nie hatte ich mich so heiter und leicht gefühlt; mich däuchte als ob ich wie eine Flaumfeder auf einem Wölkchen daher schwimme. Und so war es auch beinahe; denn wie ich mich genauer betrachtete, zeigte sich's, daß ich ein bloßer Kopf mit zwei prächtigen Goldfasanen-Flügeln war. Ohne mich diese Verwandlung im geringsten befremden zu lassen, flog ich, so frei und unbefangen, als hätte ich nie eine andere Art zu seyn gekannt, in dem reizenden Paradiese umher, und setzte mich endlich auf einen Granatbaum, um mich an den Farben und Wohlgerüchen einer unendlichen Menge der schönsten Blumen zu ergötzen, die dem Boden unter meinen Blicken zu entsprießen schienen. Plötzlich sah ich mich von mehr als tausend gelb- braun- und schwarzlockigen Flügelköpfen umringt, die von allen Seiten auf mich zugeflogen kamen, und über meinen Anblick ganz entzückt zu seyn schienen. Die meisten schlossen in einiger Entfernung einen Kreis um mich her, so groß und schimmernd wie ein Regenbogen, wenn die Sonne schon tief in Westen steht. Einige kamen näher herbei, redeten mich an und thaten ihr Möglichstes, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und meiner Eigenliebe zu schmeicheln. Die mannichfaltigen Physiognomien dieser Köpfe, ihre Redseligkeit, das Feuer, womit jeder sich durch das, worauf er sich am meisten einbildete, bei mir geltend zu machen suchte, kurz alle die [352] lächerlichen Gestalten, in welchen ihre Eitelkeit und Selbstgefälligkeit sich mir zum Besten gab, belustigten mich eine ziemliche Weile; zumal da immer neue Köpfe aus dem Kreise herbeiflatterten, und die zuvorgekommenen durch allerlei kleine Kunstgriffe zu verdrängen suchten. Nach und nach erkannte ich beinahe alle meine Bekannten unter ihnen; nur nach dir sah ich mich vergebens um. Des schalen Spiels mit so vielen leeren Köpfen endlich überdrüssig, machte ich mich von ihnen los, durchstöberte, dich aufsuchend, alle Gänge und Lauben des Lusthains, und glaubte endlich deinen Kopf aus einem dunkeln Busch hervorragen zu sehen; wie ich aber hinzuflog, war es Arasambes, der mich in diesem Hinterhalte belauert zu haben schien, und mir über die Gefälligkeit, womit ich seine Nebenbuhler anhöre, die bittersten Vorwürfe machte. Unwillig wandt' ich mich von ihm weg, und sah mich auf einmal in meine Gärten zu Aegina versetzt, in einen deiner ehmaligen Lieblingsplätze, wo die Nymphe von Skopas am Abhang eines mit Epheu und wilden Reben bewachs'nen Felsen den kleinen Silberbach aus ihrer Urne gießt, der sich durch das benachbarte Myrtenwäldchen nach dem Tempel der Grazien hinschlängelt. Hier werd' ich ihn unfehlbar finden, dacht' ich, und wie ich mich umsehe, erblick' ich – den kleinen Gott der Liebe, schlummernd auf die Moosbank hingegossen, über welche (wenn du dich noch erinnerst) der hohe Busch mit den glühenden Essigrosen herabnickt. Sein goldner Bogen und etliche Pfeile lagen neben ihm. Ein nie gefühlter Schauer fuhr bei seinem Anblick durch mein ganzes Wesen; ich kannte mich selbst nicht mehr; es war mir als ob eine unsichtbare [353] Hand alle Bilder der Vergangenheit aus meiner Seele wegwische und ich erst jetzt zu leben anfange. Meine Augen unverwandt auf den schönen Schläfer geheftet, flog ich leise und schüchtern näher hinzu, um den süßen Athem seiner Purpurlippen einzusaugen, in Gefühlen zerschmelzend, die mir zu neu waren, als daß ich sie dir beschreiben könnte. Möcht' er doch, dacht' ich, wie Endymion auf der Stirn des Latmos, 148 nie erwachen, damit ich ihn ewig ungestört anschauen könnte; aber indem ich es dachte, wacht' er auf. Ich fuhr zurück, aber mich zu entfernen war mir unmöglich. Unbeweglich blieb ich, wie eine in Elektron eingeschloss'ne Mücke, ihm gegen über in der Luft hangen. »Welch ein schöner Vogel! – rief er, mit einem schalkhaft lächelnden Blick einen Pfeil auf seinen Bogen legend – der soll mir nicht entgehen!« Indem er nach mir zielte, gab mir die Angst plötzlich die Bewegung wieder. Ich sank zu seinen Füßen und flehte ihm so rührend meiner zu schonen, daß er den Bogen von sich warf, und mich mit Blicken voll Zärtlichkeit betrachtete. Außer mir vor Entzücken flatterte ich mit ausgebreiteten Flügeln an seinem schönen Busen hinauf. Plötzlich verwandelte er sich in einen wunderschönen Jüngling, und ich selbst glaubte unter den Liebkosungen, womit er mich überhäufte, meine vorige Gestalt wieder zu erhalten. Aber der Grausame trieb nur sein Spiel mit mir. Wie ein Aal glitschte er aus meinen um ihn geschlungenen Armen, setzte sich in seiner ersten Amorsgestalt auf meinen Schooß, und begann die goldnen Schwingfedern eine nach der andern aus meinen Flügeln zu ziehen. Ich ließ es geschehen, weil ich sah, daß es ihm Vergnügen machte; denn [354] was hätte ich nicht für ihn gethan und gelitten? Aber sobald er die letzte ausgerupft hatte, spannte der Schalk seine Flügel aus, und flog lachend mit seiner Beute davon. Von unaussprechlichem Schmerz erdrückt, wollt' ich ihm nacheilen, aber fort waren meine Schwingen, ich sank zu Boden, und – erwachte, mit schrecklichem Herzklopfen, an dem ängstlichen Schrei womit ich dem Fliehenden nachgerufen hatte.

Was sagst du zu diesem Traum, Aristipp? Ist er nicht seltsam? Und wie komme ich zu einem solchen Traume? Bin ich abergläubig, wenn ich ihn für etwas mehr als ein bloßes Spiel der Phantasie halte? Ist es Ahnung oder Warnung von meinem guten Genius? Wenn das, was der Flügelkopf, der mir in diesem Traume mein Ich gestohlen hat, für den Sohn Cytherens fühlte, Liebe ist, so hab' ich nie geliebt; und wahrlich, nachdem ich mich meiner selbst wieder bemächtigt habe, wünsch' ich wachend nie etwas Aehnliches zu erfahren.

Aber bin ich nicht eine Thörin, daß ich mich von einem Traum beunruhigen lasse? – Seitdem wir uns zum erstenmale zu Korinth sahen, sind bereits über zwanzig Jahre verflossen – ich habe während dieser Zeit die auserlesensten Jünglinge und Männer Griechenlands gekannt, habe mit dir, habe mit dem schönen Arasambes gelebt, und mich immer von dieser heillosen Leidenschaft frei erhalten; und sollte noch einen Zweifel in mich selbst setzen? Sollte mich fähig wähnen, dem Alter der Weisheit so nahe, noch zum gemeinen Weibe herabzusinken? – Nein, Aristipp! Ich kann und will nicht glauben, was uns die Dichter überreden wollen, daß eine Phädra, eine Smyrna 149, eine Helena 150, im Zorn der Göttin, wider ihren [355] Willen mit einer unwiderstehlichen Leidenschaft gestraft worden sey! – Aber freilich, wenn so weise Männer wie Sokrates und Xenophon auf die Seite der Dichter treten, und von der Liebe als einer Leidenschaft reden, über welche die Vernunft keine Gewalt hat, und von welcher man eben so unversehens wie von einem Fieber überfallen werden kann, das könnte doch wohl einen Weiberkopf, der nie auf große Weisheit Anspruch gemacht hat, ein wenig aus der Fassung bringen? Ich weiß nicht, ob dir Xenophons Cyropädie bereits zu Gesichte gekommen, da es noch nicht lange ist, daß Abschriften davon bei den Bibliopolen zu haben sind. Auf alle Fälle schicke ich dir hier ein Exemplar, das ich von dem besten Schönschreiber in Korinth für dich habe abschreiben lassen; denn ich kann das Vergnügen, so mir dieses in seiner Art einzige Dichterwerk gemacht hat, nicht bald genug mit dir theilen. Unglücklicherweise wirst du einen gewissen Araspes 151 darin finden, der über die Macht der Liebe eben so profane Gedanken hegte wie wir, aber seinen Uebermuth durch eine schreckliche Erfahrung büßen mußte. Ich gestehe dir, nicht ohne Schamröthe, daß mir beim Lesen dieser Geschichte das Herz ein wenig pochte, und bald darauf kam mir der verhaßte Traum!

Ich bitte dich, Freund Aristipp, beruhige mich wenn du kannst; oder ist dir irgend ein Moly gegen den Zauber der Liebe bekannt, auf dessen Tugend man sich verlassen kann, so sage mir wo es zu finden ist, und ich gehe selbst es zu suchen, wenn ich es auch aus dem Schnee des Kaukasus hervorscharren müßte.

50. Aristipp an Lais
[356] 50.
Aristipp an Lais.

Dein Traum, schöne Freundin, und noch mehr deine Angst vor dem Gedanken, daß er in Erfüllung gehen könnte, hat mich nicht wenig belustiget. Wir wollen nichts verschwören, Laiska! Die Dichter sind die glaubwürdigsten aller Menschen, denn sie sagen uns ja nichts als was ihnen die Musen eingeben,


– die alles wissen was war, was ist, und was seyn wird.


Was den schönen Smyrnen, Phädren, Helenen u.s.w. begegnet ist, warum sollt' es der schönen Lais nicht eben so wohl begegnen können? Welche Sterbliche hat Aphroditens Eifersucht mehr gereizt, Amors Allmacht länger und verwegener getrotzt, als die schöne Lais? – Auf alle Fälle ist es glücklich für dich, daß du, der Ungnade ungeachtet, worein du bei den Göttern von Paphos gefallen bist, noch einen Freund unter den Unsterblichen hast, der dir diesen warnenden Traum zuschickte. Man hat zwar Beispiele, daß Träume (sogar eben so sinnreiche und vielbedeutende wie der deinige) ganz und gar nichts bedeutet haben. Aber freilich, daß dir das alles im Lande der Flügelköpfe begegnete, ist allerdings ein bedenklicher Umstand; und wenn du nicht (wie es scheint) kurz zuvor, ehe dir dieser Traum in der ambrosischen Nacht zugeschickt wurde, die Geschichte des Araspes und der schönen Panthea gelesen hättest, würde ich selbst vielleicht zweifelhaft seyn, was ich aus ihm machen sollte.

[357] Aber ernsthaft von einer so ernsthaften Sache zu reden, sollte denn das Beispiel eines Araspes, der (wie du mir zuversichtlich glauben kannst) außer der Einbildungskraft des Dichters der Cyropädie nirgends existirt hat, von so schwerem Gewichte seyn, daß es eine so weise, ihrer selbst so mächtige und durch eine Erfahrenheit von zwanzig Jahren zum ruhigsten Selbstvertrauen so sehr berechtigte Frau, wie meine Freundin Lais ist, furchtsam machen müßte? Nein, bei Artemis und Pallas Athene! das ist es nicht; ob ich ihm gleich das Verdienst, leichte, unerfahrne, jugendlich übermüthige Flügelköpfe vor Schaden zu warnen, nicht absprechen will. An solche, wahrlich nicht an unsers gleichen, dachte Xenophon, da er diese schöne Sokratische Episode in sein treffliches Buch einwebte. Der Kern, der diese Frucht hervorgebracht, ist vermuthlich eine Erinnerung aus seiner bei dem Attischen Weisen zugebrachten Jugend; denn die Moral, die er dem Cyrus in den Mund legt, ist die nämliche, womit Sokrates einst ihm selbst eine heilsame Furcht einzujagen suchte, da er sich gewundert hatte, wie jener einen bloßen Kuß, den der junge Kritobulus dem schönen Knaben des Alcibiades gegeben hatte, für eine so gefährliche Sache halten könne, daß nichts Tollkühnes sey, was sich nach einer so vermessenen That nicht von ihm erwarten lasse. Kurz, Xenophons Araspes und Panthea ist weder mehr noch weniger, als der Inhalt des bei jener Gelegenheit zwischen ihm und Sokrates vorgefallnen Gesprächs, zu einer vollständigen Geschichte ausgebildet. Diese schöne Dichtung ist geschrieben dich zu ergötzen, nicht zu ängstigen; und ich [358] weiß dir keinen bessern Rath, als sie so oft wieder zu lesen, bis du über deine unnöthige Furcht selber lachen mußt. Wahr ist es allerdings, daß allzu große Zuversichtlichkeit verwegen macht; aber, wenn Verwegenheit uns oft in Gefahr stürzt, so hilft sie uns noch öfter aus Gefahren heraus. Der Muthige trotzt der Gefahr und entgeht ihr; der Feige verliert mit der Kraft des Widerstehens zugleich die Kraft zu fliehen, und gegen Einen, der durch zu viel Muth umkommt, gehen zwanzig Furchtsame zu Grunde. Indessen weil auch dem Muthigen Vorsicht geziemt, laß uns annehmen, dein Traum sey das Werk eines warnenden Dämons: wovor warnt er die Träumerin? Vor einem verkappten Amor, der seiner Psyche die goldnen Schwingfedern ausrupft, um lachend mit seinem Raube davon zu fliegen. Wohl! du hättest also keine Entschuldigung gegen dich selbst, wenn dir jemals so etwas begegnete; du bist gewarnt!

Zwar, wofern die Liebe eine so gewaltsame und unbezwingbare Leidenschaft wäre, wie Xenophons Cyrus behauptet, was sollte die Warnung? Es hieße, dem Unglücklichen, der von der Gewalt des Stroms in eine Untiefe hinabgezogen wird, zurufen: nimm dich vor dem Strudel in Acht! Aber zum guten Glücke bestürmt uns der furchtbare Tyrann der Götter und der Menschen Eros nicht sogleich mit seiner ganzen Jünglingsstärke: er ist erst liebkosendes Kind und spielender Knabe; und so lange er dieß ist, gibt es ein Mittel ihm zu entgehen. Es ist eben nicht das ehrenvollste; aber es ist sicher, unfehlbar, und überdieß wie Xenophons Cyrus sagt, [359] das einzige. Also, liebe Laiska, sobald dir ein Adonis vor die Augen kommt, von dem du dich, wie in deinem Traume, mit einem nie zuvor gekannten Zauber angezogen fühlst, so schließe die Augen, und eile, eile was du kannst – zu deinen Freunden nach Cyrene. Vermöchten wir gleich nicht, dir alles zu ersetzen, was du zu Korinth und Aegina zurücklassen würdest, so könntest du doch schwerlich den allmählich herannahenden Abend deines schönen und glücklichen Lebens in besserer Gesellschaft zubringen, als in dem häuslichen Cirkel deiner Freunde Kleonidas und Aristipp, wo du deine Musarion, von kleinen ungefährlichen Amorinen umgeben, wieder finden, und dir aus der Schwester unsers Kleonidas eine neue Freundin machen würdest. Dein Herz wird dir bei ihrem ersten Anblick sagen, sie sey werth es zu seyn, und daß sie sich beeifert deinen Aristipp glücklich zu machen, wird ein Verdienst mehr in deinen Augen seyn. Ich gestehe dir, Laiska, ich bin in diesen meinen Traum verliebt, und wenn der deinige eine so schöne Frucht hervorbrächte, würde ich glauben, daß er dir unmittelbar von der holden Grazie Pasithea selber zugeschickt worden sey.

51. Antipater an Aristipp
51.
Antipater an Aristipp.

Nach einem vierjährigen Aufenthalt habe ich mich endlich nicht ohne ein seltsames Gemisch sehr ungleichartiger Gefühle [360] von der herrlichen Athenä, vermuthlich auf immer, losgerissen, um nun auch von den vorzüglichsten Städten der Pelopsinsel und Siciliens so viel Kundschaft durch mich selbst einzuziehen, als zu meinem dir bekannten Zweck nöthig ist, und als die mancherlei Verbindungen mir verschaffen können, zu welchen ich im Mittelpunkt der ganzen Hellas so viele Gelegenheit fand. Aber wo werde ich eine Stadt sehen, die jenem Lieblingssitze Minervens den Vorzug streitig machen könnte? Ich habe Bürger aus beinahe allen Griechischen Städten kennen gelernt, und keinen gefunden, der ihr die seinige ohne Schamröthe oder aus einem andern Grunde vorzuziehen vermocht hätte, als dem Zauber, der uns an den Ort fesselt, wo wir das goldne Alter des Menschenlebens zugebracht haben. Was muß Athen für den seyn, der das Glück hatte, in ihrem Schooß aufzublühen? Wie natürlich kommen mir alle jene weltgepriesenen Thaten vor, die jemals für eine solche Stadt von ihren Söhnen gethan wurden? – und wenn ich bedenke, was sie erst seyn könnte, wenn sie den Gesetzen und der Verfassung ihres eben so klugen als weisen Solons treu geblieben wäre! – Was sie jetzt noch werden könnte, wenn sie anstatt ihrer stürmischen Volksherrschaft sich eine wohlgeordnete Aristokratie gefallen lassen, und statt der gefährlichen Eitelkeit, auf ihre eigenen und der ganzen Hellas Kosten nach einer Obergewalt, die ihr nie gutwillig zugestanden wird, zu streben, sich an dem hohen Vorzug begnügen wollte, das zu seyn wozu ihr Name selbst sie bestimmt, der Hauptsitz aller Künste des Friedens und der Musen, das Muster der schönsten Ausbildung, die Besitzerin der weisesten [361] Gesetze, der mildesten Regierung, der menschlichsten Sitten, des feinsten Sinnes für alles Schöne und Große, der vollkommensten und zierlichsten Sprache, und der angenehmsten Art des Daseyns zu genießen, kurz, durch Vereinigung alles dessen, was des Menschen Leben veredelt und verschönert, die erste Stadt der Welt zu seyn: wer würde dann nicht das Glück in Athen zu leben allem andern vorziehen, und die Nothwendigkeit, sie zu verlassen, für das größte aller Uebel halten? – Platon und Isokrates haben wahrlich keine Schuld, wenn Athen nicht dieses Urbild einer vollkommenen und glücklichen Republik ist – Aber die Sterblichen scheinen weder aufgelegt noch geneigt zu seyn, den Idealen ihrer Weisen Wirklichkeit zu geben, und unter allen Erdebewohnern die Athener vielleicht am wenigsten. Indessen, wie sie sind, habe ich ihnen und ihrer Stadt viel zu danken; und dieses Gefühl war es auch, was alle übrigen verdrängte und verschlang, als ich von einer Anhöhe auf dem Wege nach Eleusis den letzten Blick auf den hellbesonnten Tempel der Athene Polias heftete.

Zu Korinth bin ich von deinem Freunde Learch auf die verbindlichste Art genöthiget worden, meine Wohnung in seinem gastfreundlichen Hause zu nehmen. Ich gedenke ungefähr einen Monat hier zu verweilen, und dann die übrigen Städte dieses schönen Hauptstückes von Griechenland, das an Merkwürdigkeiten aller Art so reich ist, der Reihe nach zu besuchen.

Die schöne Lais hat seit einiger Zeit ihre vormalige Lebensweise gänzlich abgeändert. Ihr Haus ist nur noch etlichen [362] ältern Freunden, und keinem Fremden, der nicht von einem derselben bei ihr eingeführt wird, offen. Sie erscheint gar nicht mehr öffentlich, gibt keine großen Gastmahle mehr, und zu den kleinen Symposien, woran sie einst so viel Belieben fand, werden selten mehr als zwei oder drei von ihren vertrautern Bekannten eingeladen. Learch scheint dermalen in vorzüglicher Gunst bei ihr zu stehen, und mit ihm und – meinem Freunde Diogenes habe ich schon einigemal den Abend bei ihr zugebracht. Man spricht viel zu Korinth von diesem so raschen und sonderbaren Sprung von der höchsten Pracht und Ueppigkeit einer Asiatischen Satrapin zu einer beinahe misanthropischen Eingezogenheit, und jedermann sucht sich das Wunder auf seine eigene Weise zu erklären. Die meisten halten es für eine traurige Folge des übermäßigen Aufwandes, den sie mehrere Jahre lang zu Korinth und Aegina gemacht: nach andern soll ein gewisser komischer Dichterling, Epikrates von Ambracien, Schuld daran seyn. Dieser, sagt man, hatte sich lange Zeit alle nur ersinnliche Mühe gegeben, sich in ihre Gunst einzuschmeicheln, und fiel ihr zuletzt mit seiner Zudringlichkeit so überlästig, daß sie sich, gegen ihre Gewohnheit, die Freiheit nahm, ihn mit Verachtung abzuweisen; was vermuthlich nicht geschehen wäre, wenn sie die mindeste Ahnung gehabt hätte, wie weit eine verboste poetische Wespe die Rache zu treiben fähig ist. Der wüthende Komiker rächte sich an ihr 152 durch eine sogenannte Anti-Lais, die an Bosheit und Bitterkeit selbst die berüchtigten Jamben des Archilochus übertrifft, und wirklich in ihrer Art für ein Meisterstück gelten kann. Indessen hat Lais gleichwohl [363] alle Ursache, eben so gleichgültig bei diesem Schmähgedichte zu seyn, als es Sokrates bei den Aristophanischen Wolken war: denn das schändliche Zerrbild, das der beleidigte Witzling von ihr aufgestellt hat, sieht ihr nicht ähnlicher, als der After-Sokrates des Attischen Satyrs dem Sohne des Sophroniskus. Auch habe ich sie selbst darüber ganz unbefangen scherzen gehört, und in Korinth wenigstens ist niemand, der, wenn er gleich die Verse mit Vergnügen las, von dem Verfasser nicht mit der größten Verachtung spräche. Ich müßte mich sehr irren, oder die wahre Ursache der Veränderung, die den Korinthiern so seltsam vorkommt, liegt viel tiefer als sie sich einbilden. Lais ist noch nicht vierzig Jahre alt; ihre Schönheit ist von der dauerhaftesten Art, und was sie vom Glanz der ersten Jugendblüthe verloren haben kann, wird durch die Kunst des Putztisches so leicht ersetzt, daß ihr niemand, der sie zum erstenmale sieht, über fünfundzwanzig geben wird. Eben so leicht würde es ihr seyn, die Erschöpfung ihrer Casse zu ersetzen, wofern diese der Grund ihrer veränderten Lebensart wäre; denn es hinge noch bloß von ihr ab, so viele freigebige Anbeter zu haben als sie wollte. Ich kenne sie vielleicht noch nicht genug, daß ich mir anmaßen dürfte, sie errathen zu haben: aber alles was mir, seitdem ich sie zu Aegina täglich zu sehen Gelegenheit hatte, eine ziemlich ruhige Beobachtung von ihrem Innern verrathen hat, überzeugt mich, daß sie mit sich selbst unzufrieden ist, und wider Willen gewahr wird, sie habe die Glückseligkeit auf dem unrechten Wege gesucht, aber von dem einzigen, worauf die Natur selbst ihr Geschlecht leitet, sich schon zu[364] weit entfernt, als daß sie nur daran denken könnte, ihn noch einzuschlagen. Ich bin gewiß, eine innerliche Stimme, die sich weder durch Vernünftelei noch Zerstreuung beschwichtigen lassen will, nöthigt sie, das Loos Musarions und Kleonens beneidenswerth zu finden, wiewohl ihr Stolz ihr nie erlauben wird es zu gestehen. Aber daß es Augenblicke gibt, worin sie es sich selbst gestehen muß, und daß diese Augenblicke immer häufiger kommen, das ist es vermuthlich, was sie mit sich selbst in Zwietracht setzt, und ihr zu einer Quelle peinlicher Empfindungen wird, welche sie wechselsweise bald unter einer reizend muthwilligen, bald witzelnden, bald philosophirenden Laune zu verbergen sucht, aber durch die Anstrengung, die es sie zuweilen kostet, nur zu sichtbar macht. Uebrigens scheint mir auch ohnedieß nichts natürlicher, als daß sie ihrer bisherigen Lebensart endlich überdrüssig werden mußte. Hat sie nicht von allem, was man auf dem Wege, den sie einschlug, genießen kann, das Höchste bis zur Uebersättigung genossen? Was bleibt ihr übrig? Die Anbetung der Männer und der Haß der Weiber kann ihr kein Vergnügen mehr machen. Die Täuschungen, wodurch die Eitelkeit, Unschuld, oder Schwäche eines schönen Weibes sich selbst über das, was die Männer Liebe nennen, verblenden kann, hat vermuthlich bei ihr nie stattgefunden; und das Spiel, das sie so lange mit ihnen getrieben hat, macht ihr so wenig Kurzweile mehr, als die ewigen Feste und lärmenden Lustbarkeiten, wo die Freude eben darum immer auszubleiben pflegt, weil sie so laut und gebieterisch herbeigerufen wird. Ihr prächtiges Haus, ihr zauberischer Landsitz zu Aegina, die [365] Juwelen und Kostbarkeiten aller Art, womit Arasambes sie überhäufte, ihre Gemälde und Statuen, die Umgebung von einer ganzen Schaar auserlesener talentvoller Mädchen, die sich in die Wette beeifern ihr Vergnügen zu machen, das alles besitzt sie schon zu lange, als daß es noch einigen Reiz für sie haben könnte. Die arme Frau hat alles, das Einzige ausgenommen was sie glücklich hätte machen können; und dieß Einzige ist nicht mehr in ihrer Gewalt, und ist es vielleicht nie gewesen!

Bei allem dem, solltest du wohl glauben daß sie mir in diesem Zustand von Verstimmung, oder vielmehr in dieser Abstimmung aller Saiten der Laute, die einst so bezaubernde Harmonien von sich gab, in einem gewissen Sinne gefährlicher ist, als vor drei Jahren, da sie noch Vergnügen daran fand, auf ihrem prunkenden Siegeswagen über die Köpfe und Herzen aller Männer wegzurasseln? Ich kann es mir selbst nicht erklären; aber ich halt' es für unmöglich, daß sie in der ersten Blume der Jugend so liebreizend gewesen seyn könne als jetzt; und (aufrichtig zu reden) wofern sie etwa in den nächsten zwanzig Tagen, die ich hier noch zuzubringen habe, in die Laune käme meine Weisheit wieder auf die Probe zu stellen – ich weiß nicht – aber wenigstens hab' ich mich selbst schon mehr als einmal über dem heimlichen Vorsatz ertappt, ihr das Vergnügen des Sieges nicht sehr theuer zu verkaufen.

Learch trägt mir auf, ihn in deinem Andenken zu erhalten, und gedenkt es selbst zu thun, sobald er dir etwas Interessantes zu schreiben haben werde. Die große Kunde, die [366] er von der innern Verfassung der Griechischen Staaten, von ihrer ältern und neuern Geschichte, ihrer Stärke und Schwäche, und dem verschiedenen Interesse, worauf ihre dermaligen Verbindungen und Mißhelligkeiten beruhen, besonders die genaue Kenntniß, die er von seiner eigenen Vaterstadt besitzt, macht den Aufenthalt bei ihm um so lehrreicher für mich, da er ein Vergnügen daran findet, mir so viel davon mitzutheilen als ich zu meinem Zwecke nöthig habe. Er lebt, wie du weißt, seiner Abstammung, seiner persönlichen Vorzüge, und seines Reichthums wegen, zu Korinth in großem Ansehen; aber er liebt die Ruhe, die Künste und den angenehmen Lebensgenuß, wozu ihn sein großes Vermögen berechtigt, zu sehr, um eine bedeutende Rolle unter den Griechen spielen zu wollen; zumal in dem gegenwärtigen Zeitpunkt, wo man zu Erhaltung des zweideutigen Friedens, womit der Spartaner Antalcidas die alte Zwietracht der Söhne Deukalions einzuschläfern gesucht hat, durch die möglichste politische Unthätigkeit noch am meisten beitragen kann.

Learch besitzt die reichste und auserlesenste Sammlung von Gemälden, die ich noch gesehen habe. Er hat, beinahe von den Windeln der Kunst an, von jedem Meister wenigstens Ein Stück aufzuweisen; und von Parrhasius, Zeuxis, Pauson und Euxenidas mehr als man (wie ich von vielgewanderten Personen gehört habe) bei irgend einem Privatmann antrifft. Er ist sehr stolz auf die beiden trefflichen Stücke von unserm Kleonidas; diese und ein Urtheil des Paris von Timanth, und die berühmte kleine Leda des Parrhasius (die er durch einen glücklichen Zufall in seine Gewalt bekommen [367] hat), sind die einzigen, die in einem zierlich gearbeiteten Schranke verwahrt stehen, und den Liebhabern erst, wenn sie sich an allem Uebrigen satt gesehen haben, aufgeschlossen werden.

Wenn es nicht gar zu unartig wäre, auf einen Mann, der mir unverdienter Weise so viel Gutes erzeigt, neidisch zu seyn, so hätte ich vermuthlich Ursache genug dazu; denn es ist mehr als wahrscheinlich, daß mein edler Wirth bei der schönen Lais dermalen den Platz einnimmt, den er durch die geduldigste Beharrlichkeit mehr als zu wohl verdient hat. Er bringt beinahe alle Abende bei ihr zu, und man kann das Glück, die dritte oder vierte Person an ihrer kleinen Tafel zu seyn, nur durch ihn erlangen. Ich werde also wohl meine Weisheit unversucht von Korinth nach Argos tragen müssen.

Learch hat sich erboten, deine Briefe an mich zu befördern, wenn du Zeit und Neigung haben solltest, mir zu schreiben. Ich grüße Kleonen, Musarion und Kleonidas und bitte sie, meiner eingedenk zu bleiben.

52. Aristipp an Antipater
52.
Aristipp an Antipater.

Die Gefühle womit du von Athen Abschied nahmst, lieber Antipater, haben mich sehr lebhaft erinnert, wie mir selbst vor einigen Jahren in ebendemselben Falle zu Muthe [368] war, und schwerlich wird jemand, der einen langen Aufenthalt in dieser von so vielen Seiten anziehenden und an sich fesselnden Stadt gehörig zu benutzen fähig war, sich mit andern Gefühlen auf immer von ihr losreißen können. Auch die politischen Betrachtungen, die du mir bei dieser Gelegenheit mittheilst, stimmen sehr mit meiner ehmaligen Meinung überein. Aber ich habe seitdem gefunden, daß wir uns fast immer irren, wenn wir meinen, die Dinge in der Welt würden, wofern sie anders gegangen wären, besser gegangen, oder das Gute, das uns recht ist, würde auch ohne das damit verbundene Schlimme, das uns nicht recht ist, erfolgt seyn.

Ich zweifle z.B. nicht, daß Athen bei der Solonischen Verfassung – wenn sie unverändert beibehalten worden wäre, und nichts von außen ihr Emporkommen verhindert hätte – eine wohlhabende, blühende, auf lange Zeit glückliche Stadt geworden wäre: aber was sie jetzt ist, was wir am meisten an ihr bewundern, was sie zur einzigen in ihrer Art und zur wahren Hauptstadt der Welt macht, hat sie durch zwei Männer von sehr ähnlichem Schlage, durch Pisistratus und Perikles erhalten, und diese hätten in der Solonischen Aristo-Demokratie nimmermehr das Ansehen, die Gewalt und die Mittel erlangen können, ohne welche das, was sie zu Verherrlichung und Verschönerung Athens gethan haben, nicht zu Stande gebracht werden konnte. Nur auf den Flügeln einer sehr großen Popularität konnte sich Pisistratus zur Alleinherrschaft emporschwingen, und trotz alles Widerstands der übrigen Aristokraten bis an seinen Tod darin erhalten; [369] und nur in einer Stadt, wo die höchste Gewalt in den Händen der Volksgemeine lag, konnte Perikles durch seine demagogischen Künste und Talente, indem er sich für einen bloßen Diener des Volks gab, zwanzig Jahre lang ruhiger und unbeschränkter regieren als Pisistratus. Es bedarf, um sich hiervon zu überzeugen, nur einen Blick auf das, was Athen vor der sogenannten Tyrannie des letztern war, und was es hundertundzwanzig Jahre später durch Perikles ward. Als die eigentliche Staatsverwaltung noch größtentheils in den Händen der alten Geschlechter lag, konnten sogar die Megarer den Athenern die Spitze bieten; konnten ihnen den Besitz der kleinen, beinahe an das Attische Ufer anstoßenden Insel Salamin nicht nur viele Jahre lang streitig machen, sondern sie sogar zu der schmählichen Maßregel treiben, daß sie die Todesstrafe darauf setzten, wenn sich jemand wieder unterstehen würde, den Athenern die Wiedereroberung von Salamin anzurathen. Als hingegen Perikles in dem rein demokratischen Athen alles vermochte, wuchs diese Republik zusehends zu einer Macht heran, die der ganzen Hellas und den Persischen Monarchen selbst furchtbar ward; und Alcibiades durfte ihnen sogar die Eroberung von Sicilien anrathen, ohne daß sie eine so mißliche Unternehmung über ihre Kräfte hielten. Erst durch Perikles ward Athen der Sitz der Künste und der Philosophie, und um es werden zu können, mußten Umstände sich vereinigen, die nur unter diesen Bedingungen zusammentreffen konnten, mußten eine Menge seltner Menschen, die nur unter diesen Umständen entstehen konnten, das Ihrige dazu beitragen; – wie du dich leicht überzeugen wirst, wenn [370] du die Geschichte der letzten achtzig Jahre in dieser Rücksicht unbefangen überdenken willst. Uebrigens gebe ich zu, daß es bloß ein glücklicher Zufall war, der dem demokratischen Athen einen so aufgeklärten und großherzigen Demagogen wie Perikles gab; und daß eben diese Freiheit, welche die natürlichen Anlagen des Attischen Volkes für Kunst und Wissenschaft so mächtig in die Höhe trieb, auch alle seine Unarten und Untugenden entwickelte, alle seine Leidenschaften entfesselte, und indem sie seiner Eitelkeit, Herrschbegier und Habsucht eine unabsehbare Rennbahn öffnete, die erste Ursache seiner Verderbniß, seiner theuer bezahlten Thorheiten und seines fortwährenden Sinkens wurde. Die Höhe, auf welche Perikles seine Republik erhob, machte sie schwindlicht; sie taumelte, sank und fiel, und wird nicht aufhören zu fallen, bis sie, mit allen ihren dermaligen Nebenbuhlerinnen, ihre politische Selbstständigkeit gänzlich verloren haben wird. Nicht wenn die Athener nach der Obergewalt zu streben aufhören werden 153, sondern wenn sie aufhören müssen, weil von dieser Seite nichts mehr zu erstreben seyn wird, mit Einem Worte, wenn die stolze Königin der Städte zu einer Municipalstadt irgend eines großen Reichs, das vielleicht jetzt schon im Werden ist, herabgekommen seyn wird, nur dann wird dein frommer Wunsch in Erfüllung gehen. Sie wird den Völkern der Erde durch das, was sie ehmals war, immer ehrwürdig bleiben; ihre Ruhmbegierde, sobald sie ihren dermaligen Ansprüchen auf ewig entsagen muß, wird eine andere und für sie selbst wohlthätigere Richtung nehmen; sie wird die erste Schule der Wissenschaften, des Geschmacks und der feinern Sitten, der allgemeine Tempel der Musen [371] und Grazien für alle Nationen seyn, und seine Bewohner werden im Schooß der goldnen Mittelmäßigkeit und Genügsamkeit eines unbeneideten Glücks genießen, für welches ihre Vorfahren zur Zeit ihres höchsten Glanzes keine Empfänglichkeit hatten, und woran sie sich auch nicht hätten genügen lassen, so lange sie sich noch mit der Möglichkeit schmeichelten, das Ziel ihrer ungezügelten Wünsche erringen zu können.

Es klingt vielleicht seltsam, aber meinem Begriff nach hat es mit der schönen und stolzen Lais so ziemlich eben dieselbe Bewandtniß wie mit der schönen und stolzen Athenä. Du glaubst Lais habe ihre Bestimmung verfehlt; sie fühle nun, da es zu spät sey, daß ein liebenswürdiges Weib nach keinem höheren Ziel trachten sollte als das häusliche Glück eines einzigen Mannes zu machen, und dieses ihr wider Willen sich aufdringende Gefühl sey die wahre Ursache des geheimen Mißmuths, den sie vergebens zu bekämpfen suche. Es ist sehr möglich, daß ihr in ihrer dermaligen Verstimmung (wie du ihren Zustand sehr treffend bezeichnest) dergleichen Gedanken zuweilen durch den Kopf laufen: aber sie hat einen zu hellen Blick und ein zu lebhaftes Selbstgefühl, um sich nicht bewußt zu seyn, daß sie niemals eine Hausfrau wie Musarion und Kleone abgegeben hätte. Und gesetzt, sie hätte sich die Pflicht auferlegt das Glück eines Einzigen zu machen, so würde sie gewesen seyn was tausend andere sind; die Welt hätte nichts von ihr gewußt, und sie hätte nicht Europen und Asien mit ihrem Ruf erfüllt; die Künstler hätten sich nicht in die Wette beeifert, sie zum Modell ihrer schönsten Werke nehmen zu dürfen, ihr Bild wäre nicht, in [372] so manchem Tempel aufgestellt, ein Gegenstand der öffentlichen Anbetung geworden; kein Neffe des Königs von Persien hätte seine Schätze für sie verschwendet, und kein Aspendier den Verstand durch sie verloren und wieder bekommen. Und was hätte nun die in ihr Frauengemach und ihre Kinderstube eingeschlossene, und in die Gesellschaft ihres Mannes und ihrer Verwandten gebannte Matrone Lais mit der überschwänglichen Lebhaftigkeit des Geistes, und der üppigen Einbildungskraft und dem reizend muthwilligen Witz, und mit allen den unerschöpflichen Gaben und Künsten zu gefallen und zu bezaubern, worin die Hetäre Lais nicht ihresgleichen hat, anfangen sollen? Oder vielmehr, hätte sie wohl auf einem andern Wege, als den sie gegangen ist, zu dieser vollendeten Ausbildung und höchsten Verfeinerung aller ihrer Naturgaben gelangen können? und wär' es nicht Schade, wenn sie nicht dazu gelangt wäre? Wahrlich nur auf diesem Wege konnte sie werden was sie ist, die einzige in ihrer Art, die liebenswürdigste und vollkommenste, so wie die schönste und reizendste, aller – Hetären; denn sie mit irgend einer Matrone vergleichen zu wollen, wäre gegen beide gleich ungerecht. Verlangen daß sie etwas anderes, wenn gleich in gewissem Sinne Besseres, hätte werden sollen, ist so viel als verlangen, Lais sollte gar nicht gewesen seyn; etwas, das wenigstens sie selbst niemals im Ernste wünschen kann. – »Aber sie fühlt sich nicht glücklich!« – Das ist nun einmal das Loos aller, die nach dem Höchsten trachten, was ihnen ein gränzenloser Stolz zum Ziel versteckt; denn über lang oder kurz kommt eine Zeit, wo sie fühlen, daß sie das nicht erreicht haben wornach [373] sie trachteten. Aber ohne diesen Stolz wäre sie auch mit allen ihren angebornen Reizen und Vorzügen nur ein gewöhnliches Weib geblieben. Wer Honig haben will, muß auch Bienen haben, sagt das Sprüchwort. Uebrigens hat sich wohl niemand weniger über das Maß von Glückseligkeit, das ihm zu Theil ward, zu beklagen als Lais; denn ich zweifle sehr, daß jemals eine Sterbliche zu einem so hohen Grad von Selbstgefühl und Selbstgenuß gelangt sey als sie. Wurden nicht zwanzig Jahre lang alle ihre Wünsche in vollestem Maße befriediget? Oder meinst du sie habe sich nicht sehr glücklich gefühlt, als sie sich überall wie die sichtbar erschienene Liebesgöttin angestaunt und angebetet sah, als alle Männer zu ihren Füßen lagen, und sie, ohne die mindeste Gefahr für sich selbst, mit Amors Bogen und Pfeilen das muthwilligste Spiel treiben konnte? Daß sie dessen endlich überdrüssig werden mußte; daß von allem, was das Glück ihr so verschwenderisch zugeworfen, ihr nichts mehr Vergnügen zu machen scheint; daß sie nichts Neues mehr zu genießen sieht, nachdem sie alles, wofür sie Empfänglichkeit hat, im höchsten Grad und Maß schon so lange genossen hat, – alles dieß ist zu natürlich, als daß sie verlangen dürfte, es sollte anders seyn. Auf Vollgenuß folgt Sättigung, auf Ueberfüllung Ekel. Vor dem letztern hat sie sich immer klüglich zu hüten gewußt; jener hilft Enthaltung ab. Im schlimmsten Fall müßte sie nun von der Erinnerung zehren; und ist auch dieß nicht am Ende das gemeine Loos der Menschheit?

Ich besinne mich noch sehr lebhaft der ersten traulichen Unterredung, die ich mit ihr zu Aegina hatte, da sie, wie [374] der junge Hercules des Prodikus, auf dem Scheideweg zu stehen schien, und von mir verlangte, daß ich ihr rathen sollte. Ich konnte deutlich genug sehen daß sie schon entschieden war, und rieth ihr also, zu thun was sie nicht lassen könne. Das Ideal eines Weibes, wie noch keines gewesen war, und vielleicht in tausend Jahren keines wieder kommt, schwebte ihr so reizend vor der Stirne, daß sie dem Verlangen nicht widerstehen konnte, es in ihrer Person darzustellen. In kurzem hatte sie sich dermaßen darein verliebt, daß Sokrates selbst, als sie sich (unerkannt, wie sie glaubte) unter dem alten Oelbaum der Athene Polias mit ihm unterhielt, aller seiner Ueberredungskunst vergebens aufbot, ihr ein anderes höheres Ideal an dessen Stelle in die Seele zu spielen. Sie fühlte sich geboren Lais zu seyn, wie sich einer zum Maler oder Flötenspieler, zum Dichter oder Heerführer geboren fühlt; und wenn man das, wozu eine Person alle möglichen Anlagen, die entschiedenste Lust und die größten Aufmunterungen von außen hat, – das, was sie am besten kann, was ihr am besten ansteht, und worin sie von niemand übertroffen wird, wenn man das ihre natürliche Bestimmung nennen kann, so sehe ich nicht, wie wir der schönen Lais absprechen können, die ihrige bisher erfüllt zu haben. Ueberhaupt ist es immer schwer, öfters mißlich und nicht selten unmöglich, einzelnen Personen, die über den Weg, den sie im Leben einschlagen sollen, noch ungewiß sind, mit Zuverlässigkeit zu sagen was ihre Bestimmung sey. Die Natur schickt uns, wie es scheint, mit lauter unbestimmten Anlagen in die Welt, und was daraus werden soll, hängt größtentheils von äußerlichen Umständen [375] ab, über welche wir, in den Jahren wo ihr Einfluß gerade am meisten entscheidet, die wenigste Gewalt haben. Indessen würde doch, glaube ich, ein Gott, der das ganze, uns unsichtbare Gewebe der innern Anlagen eines Menschen zu durchschauen vermöchte, das, wozu ihn diese Anlagen vor allem andern bestimmen, unfehlbar entdecken; denn in der Natur gibt es nichts wirklich Unbestimmtes. Je lebendiger also das Selbstgefühl bei einer Person ist, desto mehr ist zu vermuthen, daß sie, wenn die äußern Umstände ihr völlige Freiheit lassen, sich selbst für diejenige Lebensweise bestimmen werde, zu welcher sie durch ihre ganze Naturanlage vor allen andern geschickt gemacht ist. War dieß nicht ganz eigentlich der Fall mit Lais? Sie wurde von dem eigenen Wege ihrer freien Wahl durch die Umstände nicht nur nicht abgehalten, sondern im Gegentheil sehr verführerisch eingeladen keinen andern zu gehen. Die Art der Erziehung, welche sie, von ihrem achten Jahre an, im Hause des reichen und wollüstigen Leontides erhielt, dessen Liebling sie war, und von welchem sie auf alle mögliche Weise verzärtelt wurde, – das Bewußtseyn der seltensten Naturgaben, – eine frühzeitige Unabhängigkeit und die glänzenden Glücksumstände, worin ihr erster pflegeväterlicher Liebhaber sie hinterließ, – wie vieles kam nicht zusammen, um ihr einen Stolz einzuflößen, der sich mit den gewöhnlichen Einschränkungen ihres Geschlechtes nicht vertragen konnte, und durch Verbindung dieses Stolzes mit dem sittlichen Zartgefühl, womit die Natur sie beschenkt hatte, das vorhin erwähnte Ideal in ihr zu erzeugen, dessen Zauber um so unwiderstehlicher auf sie wirken mußte, da sie [376] sich im Bewußtseyn ihrer angebornen Kaltblütigkeit zutraute, den außerordentlichen Charakter, worin sie in der Welt auftreten wollte, immer behaupten zu können. Wie schmeichelhaft mußte ihr der Gedanke seyn, alle Vortheile der vollständigsten Freiheit mit der gehörigen Achtung gegen sich selbst, und jede Befriedigung der weiblichen Eitelkeit mit der entschiedensten Gleichgültigkeit gegen alle Arten von männlicher Versuchung zu verbinden; die ganze Welt in Flammen zu setzen, während sie selbst, gleich den Feuergeistern der Persischen Mythologie, unverletzt in diesen Flammen, als in ihrem Elemente, lebte; kurz, mit dem unvermeidlichen Namen und den unbestrittenen Vorrechten einer Hetäre, dem großen Haufen durch die Pracht ihrer Lebensart Ehrfurcht zu gebieten, und in den Augen derer, die ihres nähern Umgangs genossen, eine Achtung zu verdienen, die der Weise selbst der Schönheit nicht versagen kann, wenn sie sich nie anders, als von allen sittlichen Grazien geschmückt und umgeben, sehen läßt! – Daß dieses hohe und wahrscheinlich jeder andern unerreichbare Ideal auch für sie zu hoch stand, wer könnte ihr dieß zum Vorwurf machen? Wenn hier etwas zu tadeln ist, so ist es, daß sie sich die Geschicklichkeit zutraute, ihr ganzes Leben durch, so zu sagen, auf einem Spinnefaden fortzutanzen, ohne jemals aus dem Gleichgewicht zu kommen. Denn mit einer leichtern Kunst wüßte ich die Weisheit der Schönen nicht zu vergleichen, welche nie von der gefährlichen Linie abglitschte, auf der sie sich, im Aufstreben nach einem solchen Ideal, unverwandt bewegen müßte. Uebrigens können und wollen wir uns nicht verbergen, daß sie (wie es zu gehen pflegt, wenn man einmal zu glitschen [377] angefangen hat) unvermerkt weiter von ihrem Ziele abgekommen ist als sie wohl anfangs für möglich hielt. Vielleicht ist gerade das erwachte lebhaftere Gefühl der Mißtöne in der schönen Melodie ihres Lebens die wahre Ursache dieser Abstimmung, die du an ihr bemerkt hast. Wenn dieß, wie ich hoffe, der Fall ist, so möchte ich ihr dazu Glück wünschen. Denn die Scham vor unserm bessern Selbst ist bei edlern Naturen das wirksamste Mittel das gehemmte innere Leben wieder frei zu machen; und die Eingezogenheit, wozu sie sich, mit Verachtung der schiefen Urtheile der Welt, zu entschließen den Muth hatte, kann ihrer Wiederherstellung nicht anders als beförderlich seyn. Ein Freund wie Learch ist in dieser Lage wahres Bedürfniß für sie; aber auch alles, was sie bedarf; und, so wie ich sie kenne, würde ein Versuch, ihr Einverständniß mit ihm stören zu wollen (wofern du eines solchen Gedanken auch fähig wärest), nie zur ungelegenern Zeit gemacht werden können als jetzt, da sie der Achtung und des Zutrauens eines solchen Mannes nöthig hat, um sich wieder mit sich selbst auszusöhnen.

Lebe wohl, lieber Antipater. Ich brauche dir nicht zu sagen, wie angenehm uns deine Briefe immer seyn werden, und mit wie vielem Vergnügen deine hiesigen Freunde den Zeitpunkt deiner Wiederkunft näher rücken sehen.

53. Learch an Aristipp
[378] 53.
Learch an Aristipp.

Der Antheil, den du, mit Kleonidas und Musarion, vermuthlich nie aufhören wirst an den Schicksalen der schönen Lais zu nehmen, macht es mir als einem gemeinschaftlichen Freunde zur Pflicht, euch von ihrer dermaligen Lage ausführlich zu unterrichten, da euch vielleicht Gerüchte oder Nachrichten aus minder lautern Quellen zukommen möchten, die euch ihrentwegen mehr beunruhigen könnten, als, vor der Hand wenigstens, nöthig seyn möchte. Du kennst sie zu gut, lieber Aristipp, um dich nach diesem Eingang nicht auf einen von den wunderlichen Streichen gefaßt zu halten, deren ihre Phantasie und Laune ihr schon mehrere gespielt haben: aber des Abenteuers, worin sie dermalen verwickelt ist, dürftest du dich doch schwerlich versehen haben. Ich will euch mit keinem langen Vorbericht aufhalten; aber der Vollständigkeit wegen werde ich dennoch etwas weit ausholen müssen, und nicht vermeiden können, des Antheils, den ich selbst an dieser Geschichte habe, umständliche Erwähnung zu thun.

Antipater hat dir schon vor geraumer Zeit von der Veränderung Nachricht gegeben, welche sie bald nach ihrer Zurückkunft aus Thessalien in ihrer Lebensweise vorzunehmen nöthig fand. Es wurde in und außerhalb Korinth viel Schiefes darüber geschwatzt, vermuthet und gefabelt: das Wahre ist, daß diese Veränderung nicht plötzlich sondern stufenweise vorging, und daß die immer zunehmende Menge und die unbescheidene [379] Zudringlichkeit ihrer öffentlich erklärten Liebhaber diese Maßregel schlechterdings nöthig machte. Unter jenen Beschwerlichen befanden sich mehrere Auswärtige, welche die Reise nach Korinth nicht vergebens gemacht haben wollten, da sie bloß der schönen Lais wegen gekommen waren. Ueberhaupt schienen die Herren durch die letzte Wanderung unsrer Freundin sich berechtigt zu glauben, ihren Ansprüchen einen Nachdruck zu geben, der dem Stolz und dem Zartgefühl einer Frau von so seltnen Vorzügen gleich anstößig seyn mußte. Die Reichsten (meist Einheimische) glaubten sich durch die prächtigen Feste, die sie ihr gaben, ein Recht an ihre Dankbarkeit zu erwerben. Andere hingegen spielten geradezu die Freier der Penelope, und nahmen von ihrem nur allzu gastfreien Hause Besitz, als ob sie immer da zu bleiben gedächten; in Hoffnung, sie werde sich durch die unverschämte Art, wie sie darin schalteten, genöthiget sehen, sich desto bälder mit ihnen abzufinden. Die Sache hörte in der That bald genug auf kurzweilig für sie zu seyn; wie sie aber gewohnt ist alles mit guter Art zu thun, so fing sie damit an, sich den Festen und Aufwartungen meiner Korinthischen Mitbrüder nach und nach zu entziehen, und immer seltener große Gastmahle in ihrem eigenen Hause zu geben. Die Fremden, welche auf allerlei Wegen Mittel gefunden hatten Empfehlungen an sie zu erhalten, wurden zwar noch immerfort aufs beste bewirthet; aber sie selbst erschien, unter mancherlei Entschuldigungen, selten bei Tische und im Gesellschaftssale, und wurde zuletzt, einer vorgeblichen Unpäßlichkeit wegen, gänzlich unsichtbar: und weil die Herren auf den Einfall kommen konnten, die [380] Freier der Penelopeia auch in den Entschädigungen, welche diese sich zu verschaffen wußten, nachzuahmen, so wurde allen ihren Gesellschafterinnen und Sklavinnen aufs schärfste untersagt, sich vor keinem von ihnen sehen zu lassen, geschweige das Geringste zu ihrer Unterhaltung beizutragen. Dieses Mittel konnte seine Wirkung nicht verfehlen; und da sie sich vollends auf einige Zeit Geschäfte halber von Korinth entfernte, so mußten die Beschwerlichen endlich das Feld räumen, und Lais war nun nach ihrer Zurückkunft für niemand mehr zu Hause, als für etliche Freunde vom engeren Ausschuß, die durch einige persönliche Eigenschaften und ein gehöriges Betragen diese Unterscheidung verdienten.

Ich glaube nicht daß Lais einen ältern Bekannten hat als mich. Die vertraute Freundschaft, welche zwischen meinem Vater und dem Eupatriden Leontides statt hatte, gab mir schon in meiner frühen Jugend Gelegenheit, im Hause des letztern ein- und auszugehen, und ich erinnere mich noch sehr wohl, die kleine Lais als ein Mädchen von eilf oder zwölf Jahren gesehen zu haben. Der Alte fand großes Vergnügen daran, seinen kleinen Liebling loben zu hören, und seine Freunde zu Zeugen der außerordentlichen Anlagen zu machen, die sie in der Musik und Tanzkunst zeigte. Ich hatte damals etwa achtzehn Jahre, und natürlich konnte mir das schönste Mädchen, das ich noch gesehen hatte, nicht gleichgültig seyn; aber die angenehmen Eindrücke die sie auf mich machte, streiften nur leicht an mir hin; ich wußte daß Laiska nicht mein seyn konnte; es fehlte nicht an hübschen Mädchen in Korinth; überdieß war ich keiner von denen, die sich einbilden, sie müssen alles [381] Schöne, was ihnen zu Gesichte kommt, haben, es koste was es wolle; und es gab viele Dinge, die mir noch lieber waren als ein hübsches Mädchen. Eine Abwesenheit von mehreren Jahren brachte mir den kleinen Abgott des alten Leontides gänzlich aus dem Sinne. Als ich nach Korinth zurückkam, fand ich sie auf dem Punkt ihrer schönsten Blüthe, im Besitz der reichen Erbschaft ihres Patrons und einer gänzlichen Unabhängigkeit, von einer Menge Freier und Anbeter umgeben, mit denen sie sich auf einen solchen Fuß setzte, daß keiner ohne alle Hoffnung war, wenige sich eines merklichen Vorzugs, und niemand dessen, wornach sie alle trachteten, zu rühmen hatte.

Keinen Zutritt im Hause der schönen Lais zu haben, wurde damals in Korinth für ein unzweifelhaftes Zeichen eines schlecht erzogenen und von allen Grazien verabsäumten Menschen angesehen. Ich unterließ also nicht, von der allgemeinen Freiheit, die sie allen meinesgleichen zugestanden hatte, Gebrauch zu machen, zumal da ich nirgends bessere Gesellschaft, und mehr Gelegenheit mit interessanten Fremden bekannt zu werden, finden konnte als in ihrem Hause. Lais, die ihre eigentlichen Liebhaber so ziemlich auf dem nämlichen Fuß behandelte, wie andere Schönen ihre Schoßhündchen, Katzen, Wachteln und Sperlinge, ermangelte nicht diejenigen zu unterscheiden, deren Anhänglichkeit an sie mehr auf die seltnen Vorzüge ihres Geistes, als auf übel verhehlte Ansprüche an ihre Schönheit, gegründet war; und da ich das Glück hatte einer von jenen zu seyn, so fand sich unvermerkt, daß ich mich unter die wenigen zählen durfte, denen sie eine schmeichelhafte [382] Art von Achtung dadurch bewies, daß sie von ihren häuslichen Angelegenheiten mit ihnen sprach, sie mit kleinen Aufträgen beehrte, und bei wichtigern Vorfallenheiten sich ihres Rathes oder ihrer Dienste bediente. Dieß, Freund Aristipp, war ungefähr das Verhältniß, worin ich mit der schönen Lais stand, bis sie Milet zu ihrem Aufenthalt wählte, und dort mit dem vornehmen Perser bekannt wurde, der (wenn ich nicht irre) nach dir selbst der erste war, der sich ihres Besitzes rühmen konnte; mit dem kleinen Unterschied, daß du sie besaßest, er hingegen von ihr besessen war 154. Nach ihrer Zurückkunft von Sardes lebte sie eine Zeit lang mit dem Prunk einer morgenländischen Fürstin unter uns; und während sich jedermann zudrängte ihren Hof vergrößern zu helfen, hielt ich mich so lange in geziemender Entfernung, bis sie für gut fand, sich allmählich wieder auf einen bescheidenern Fuß zu setzen. Ohne den großen Gesellschaften gänzlich zu entsagen, oder ihr Haus vor irgend jemand zu verschließen, der sich berechtigt halten durfte jedes gute Haus offen zu finden, lebte sie jetzt am liebsten mit einer kleinen Zahl auserlesener und vertrauter Personen, und unter diesen fand dann auch dein Freund Learch seinen alten Platz wieder. Ich muß gestehen, daß bei dieser Erneuerung unsrer alten Verhältnisse auf meiner Seite unvermerkt einige Veränderung vorging. Mir war als hätte ich die schöne Lais, sogar in ihrer höchsten Blüthe selbst, nie so unwiderstehlich reizend und liebenswürdig gesehen als jetzt, und der Wunsch, ihr mehr zu seyn als andere, ward immer lebhafter: aber Euphranor hatte sich durch seine Kunst Verdienste um sie gemacht, und ich war zu [383] sehr sein Freund, um ihm den Vorzug, den sie ihm zu geben schien, zu mißgönnen.

Inzwischen warest du von deiner langen Wanderschaft nach Athen zurückgekommen. Sie begab sich, nach dem bekannten Abenteuer mit dem jungen Aspendier, auf ihr Gut zu Aegina, wo sie einen Besuch von dir erwartete, und wohin ich, wiewohl eingeladen, ihr nicht eher folgen wollte, als ich für nöthig hielt, um dich noch ein paar Tage dort zu sehen. Aber du hattest dich bereits wieder entfernt, und ich glaubte eine Veränderung an Lais wahrzunehmen, die ich mir nicht erklären konnte, bis ihre Vertraute (die schon lange auch die meinige ist) mir den Schlüssel zu dem Räthsel gab. Es brauchte also nichts als einen einzigen jungen Menschen, – der (wie er mir in der Folge selbst gestand) mehr aus Schüchternheit und Eigensinn, als aus einem mächtigen Drang den Hippolytus mit ihr zu machen 155, sich bei einer hartnäckigen Gleichgültigkeit gegen ihre Reizungen zu erhalten wußte, – es bedurfte nichts als diese kleine Demüthigung, um ihrer gekränkten Eitelkeit eine unumschränkte Gewalt über die bessere Seele zu verschaffen! Mit einem kaum verhehlbaren Unwillen war ich ein Augenzeuge der Thorheiten, wozu sie sich erniedrigte; und sie sank damals beinahe noch tiefer in meinen Augen, indem sie in den Anbetern, mit welchen sie sich umringt hatte, durch alle nur ersinnlichen Hetärenkünste eine Leidenschaft zu entzünden suchte, welche sie nicht zu erwiedern gesonnen war, als wenn sie sich, wie eine gemeine Priesterin der Pandemos, einem nach dem andern Preis gegeben hätte.

In dieser Stimmung war ich nicht sehr aufgelegt, ihr [384] Abenteuer mit dem Thessalier in dem mildesten Lichte zu betrachten, wie der Ton, worin ich dir darüber schrieb, nur zu sehr verrathen haben wird. Daß sie aber durch ihren letzten Aufenthalt in Aegina und die Thessalische Reise auch in der öffentlichen Meinung gesunken war, zeigte sich nach ihrer Wiederkunft, in der Art, wie unsre jungen Leute bei Erneuerung ihrer Bewerbungen zu Werke gingen. Sie konnte bald genug gewahr werden, daß man es als etwas Ausgemachtes voraussetze: nachdem sie dem Neffen des Darius einen Thessalischen Centaurensohn zum Nachfolger gegeben, dürfe sich jeder »hellumschiente Achäer« ohne Uebermuth berechtigt halten, Ansprüche an die Gunst einer Schönen zu machen, deren eigentliche Classe keinem Zweifel mehr unterworfen sey. Du kannst dir vorstellen, wie empfindlich ihr Stolz sich durch diese Wahrnehmung gekränkt fühlen mußte. Gleichwohl hielt sie noch eine Zeit lang Stand, in Hoffnung durch ein gewisses vornehmes Ansichhalten, und eine völlige Gleichheit ihres Betragens gegen alle ihre Liebhaber, die Sachen wieder auf den alten Fuß zu setzen. Als aber die Abnahme der hohen Achtung, an welche sie schon so lange gewöhnt war, täglich sichtbarer ward, blieb ihr kein anderer Ausweg, als sich auf die bereits erwähnte Art aus der Gesellschaft zurückzuziehen; eine Maßnehmung, worüber zwar anfangs ganz Korinth in Aufruhr gerieth, die man aber, da Lais von allem, was über sie geschwatzt, gewitzelt und geverselt wurde, keine Kunde nahm und fest bei ihrem neuen Lebensplan beharrete, sich endlich gefallen lassen mußte, und deren man bereits so gewohnt ist, daß von der weltberühmten Lais vielleicht nirgends weniger [385] die Rede ist als zu Korinth, wo sie lebt, aber schon seit mehr als Einem Jahre, außer dem Bezirk ihres Hauses und seiner Gärten, nirgends, und auch dort nur für wenige sichtbar ist.

Ich gestehe dir unverhohlen, lieber Aristipp, daß ich seit diesem Rückzug, mit dessen Beweggrunde ich es nicht gar zu genau nehmen möchte, mich nicht erwehren konnte, sie immer weniger schuldig zu finden, je mehr ich bedachte, wie wunderbar die Natur ihre Fehler mit dem, was das Liebenswürdigste an ihr ist, verwebt hat, und wie verzeihlich es überdieß seyn sollte, daß ein so lange von aller Welt vergöttertes Weib von dem vielen Weihrauch endlich schwindlicht ward, und in der Meinung, daß man ihr auch die Privilegien einer Göttin zugestehen werde, sich mehr herausnahm, als einer Sterblichen, die auf Achtung Anspruch macht, geziemt. Diese Betrachtungen bewogen mich, seit der Zeit, da sich beinahe ganz Korinth gegen sie erklärt hat, ihre Partei wieder mit aller Wärme eines alten Freundes zu nehmen. Was die natürliche Folge davon war, kannst du leicht errathen, und wirst hoffentlich nicht mehr als billig finden, daß dein Freund Learch eine Zeit lang der einzige Korinthier war, der das Vorrecht eines freien Zutritts bei ihr mit Euphranorn und dem Arzt Praxagoras (der sich vor kurzem bei uns niedergelassen hat) und mit dem kurzweiligen Sohn des Momus und der Penia, Diogenes von Sinope, nicht nur theilte, sondern vielleicht noch etwas voraus hatte, was ihre Dankbarkeit seiner so lange und vielfach bewährten Freundschaft nicht länger vorenthalten konnte.

Aber höre nun auch, was uns der Götter und Menschen [386] beherrschende Dämon Eros unversehens für einen verzweifelten Streich gespielt hat!

Vor ungefähr einem Monat läßt sich in meinem und Euphranors Beiseyn ein fremder Sklavenhändler bei Lais melden, und bietet ihr einen jungen Sklaven zum Verkauf an, den er (seinem Vorgeben nach) als Kind von Seeräubern gekauft und mit beträchtlichen Kosten so erzogen habe, daß man weit und breit wenige seinesgleichen finden werde. Der Mann machte so viel Rühmens von der Gestalt und Wohlerzogenheit seines Sklaven, und von seiner Geschicklichkeit im Vorlesen, Abschreiben, Rechnen und in der Musik, daß wir Lust bekamen, seine Waare in Augenschein zu nehmen. Dorylas (so nannte er den Sklaven) wurde also vorgeführt. Lais stutzte, glaube ich, nicht weniger als wir beide, da wir einen schlanken, zierlich gewachs'nen Jüngling mit einer edlen Gesichtsbildung, großen funkelnden Augen und goldgelbem dichtgelocktem Haupthaar, vor uns sahen, etwas bräunlich aber frisch und rosig von Farbe, kurz, einen jungen Menschen von neunzehn oder zwanzig Jahren, den Euphranor auf der Stelle zum Modell eines von den Mantineern bei ihm bestellten Hermes erwählte. Der junge Mensch schien beim Anblick seiner künftigen Gebieterin nicht weniger betroffen, als wir bei dem seinigen, und machte (unfreiwillig oder absichtlich) eine Bewegung, wie einer der unversehens von einem Blick in die Sonne geblendet wird. Ich beobachtete ihn von diesem Augenblick an scharf, und konnte mich kaum erwehren, den ganzen Handel verdächtig zu finden. Du nennst dich Dorylas? fragte ihn Lais, mit einem Blick, der mir ähnliche Zweifel [387] zu verrathen schien. Er bejahete es mit sittsam niedergeschlagenen Augen. – »Woher bist du gebürtig?« – Ich weiß es nicht; meine Erinnerungen reichen nicht so weit zurück. Ich war noch Kind, als ich meinen Eltern geraubt wurde. – »Du bist im Vorlesen geübt?« – Wenigstens hatte ich einen berühmten Lehrmeister. – »Und dieser Mann hier hat dich erzogen?« – Ich kaufte ihn (fiel der Sklavenhändler ein) bloß in der Absicht, ihn, wenn er erwachsen und gehörig ausgebildet seyn würde, mit einem ansehnlichen Gewinn an irgend eine Herrschaft, die einen solchen Sklaven zu schätzen wüßte, wieder zu verhandeln. – »Was forderst du für ihn?« fragte Lais mit ihrer gewöhnlichen Raschheit. – Einen sehr mäßigen Preis in Betracht dessen was er werth ist; nicht mehr als dreitausend Drachmen: aber davon geht auch kein Triobolon ab. – Der Handel wurde auf der Stelle geschlossen, der Verkäufer ausgezahlt, und der schöne Dorylas in das Amt eines Vorlesers seiner neuen Gebieterin eingesetzt. Aber, sagte sie lachend, indem sie sich gegen mich und Euphranor wandte, woher wissen wir daß er lesen kann? Billig hätten wir ihn vorher prüfen sollen. Ich glaube daß ich ihr mit einem unfreiwilligen Achselzucken antwortete. Auf alle Fälle, sagte Euphranor, bitte ich mir zur Gnade von dir aus, ihn zum Modell für eine Gruppe des jungen Achilles 156 und der schönen Tochter des Fürsten Lykomedes von Skyros zu nehmen, die ich eben in der Arbeit habe. – Sehr gern, wenn du ihn dazu gebrauchen kannst, versetzte sie lachend, vermuthlich um die plötzliche Röthe zu verhehlen, die über ihr ganzes Gesicht hin loderte. Zufällig lag ein Anakreon auf einem Tischchen.

[388] Ich schlug die Ode an den Maler seiner Freundin auf, und sagte zu Lais: gefällt es dir etwa, deinen Vorleser eine kleine Probe seiner Kunst machen zu lassen? – Wie du willst, erwiederte sie gleichgültig. Sobald Dorylas vernahm, wovon die Rede war, bat er sich eine gestimmte Cither aus, und sang uns das Lied mit einer ziemlich angenehmen Stimme, nach der bekannten Melodie von Antigenidas, indem er sich selbst auf der Cither begleitete. Lais schien mit den Talenten ihres neuen Hausgenossen sehr zufrieden zu seyn; sie empfahl ihn ihrem Hausverwalter und winkte ihm abzutreten. Es erfolgte eine kleine Stille. Da habe ich nun einmal wieder in der Laune des Augenblicks eine Thorheit begangen, sagte sie mit einer ziemlich merklichen Bemühung, ihrer Miene mehr Unbefangenheit zu geben als sie sich bewußt seyn mochte. Vielleicht ein gutes Werk, versetzte ich; der junge Mensch scheint mir nicht zu seyn wofür er dir gegeben wurde. »Wie so, Learch?« – Ich sollte denken es fiele sogleich in die Augen, daß er weder das Aussehen noch den Anstand eines Sklaven hat, sagte ich. – Ich kann eben nichts Besonder's an ihm sehen, erwiederte sie, abermals erröthend. – Du hast diesen Morgen vergessen Roth aufzulegen, liebe Lais; auch wär' es sehr überflüssig gewesen, da die schönsten Rosen freiwillig auf deinen Wangen blühen. – Learch ist heute sehr scherzhaft, sagte sie zu Euphranorn: aber findest du wirklich, daß Dorylas in Weiberkleidern einen leidlichen Achill zu Skyros abgeben könnte? Wir wollen auf der Stelle die Probe machen. Sie rief ihrer Vertrauten. Sorge gleich dafür, Eudora, daß der Sklave, den ich so eben gekauft habe, in ein [389] Mädchen verkleidet und so schön herausgeputzt werde, wie es das Costume der Fürstentöchter in der heroischen Zeit erfordert, und führe ihn dann in die große Rosenlaube. Das Mädchen eilte hinweg, Lais fing von andern Dingen zu reden an, und wir folgten ihr in den Garten. Nach einer Stunde erschien die Vertraute mit dem verweiblichten jungen Achill an der Hand, welcher seine Rolle für einen Anfänger nicht übel spielte, und sich seiner Vortheile in dieser Verkleidung sehr wohl bewußt zu seyn schien. Die Mädchen hatten ihn prächtig herausgeputzt, und Euphranor schwur bei allen Göttern, so müßten die Atalanten, Deianiren und Penthesileen der Heldenzeit ausgesehen haben. Da sagst du ihnen eben nichts sehr Schmeichelhaftes, versetzte Lais; aber die Frage ist, ob du ihn noch zum Modell deines verkleideten Achills nehmen willst? – Ich wünsche mir kein besseres, sagte der Künstler; und du, Dorylas, hast gar nicht nöthig so trotzige Gesichter zu schneiden; das Wahre ist, daß du wie Achill aussehen mußt ohne es zu wissen. – »Aufrichtig zu reden. Euphranor, wenn der junge Achill in Frauenkleidern einem Mädchen nicht ähnlicher sah, so hätte es des erfindungsreichen Odysseus nicht bedurft, um ihn aus den Gespielen der Deidamnia heraus zu wittern.« – Indem Lais dieß in einem spöttelnden Ton sagte, bemerkte ich sehr wohl, daß ihre großen Augen, mit einem Ausdruck den ich noch nie darin gesehen hatte, auf dem schönen Dorylas verweilten; und daß die vorgebliche Pyrrha nicht ermangelte, die ihrigen in einer Sprache antworten zu lassen, deren Sinn der scharfsichtigen Lais nichts weniger als unverständlich seyn konnte.

[390] Als Dorylas wieder entfernt worden war, konnt' ich mich nicht enthalten, ihr noch deutlicher als ich schon gethan hatte zu sagen, daß mir der Sklavenstand des jungen Menschen verdächtig vorkomme, und daß irgend ein sonderbares Geheimniß hinter dieser Sache stecken müsse. – Ich fange selbst zu vermuthen an, sagte Lais, daß ich für meine dreitausend Drachmen einen albernen Kauf gethan habe. Und doch seh' ich nicht, was der junge Mensch, wenn er etwas Besseres wäre, für ein Vergnügen daran finden könnte, sich mir für einen Sklaven verkaufen zu lassen. – Wenn es nicht eine Art von Liebeserklärung ist, sagte ich, so wüßte ich auch nicht, was ihn dazu hätte bewegen sollen. – Du könntest mir mit deinen Grillen den ganzen Spaß verderben, erwiederte sie. – Da hättest du Unrecht, schöne Lais, sagte Euphranor; gibt es denn nicht der schönen jungen Sklaven bei Tausenden in Griechenland? oder ist es so unerhört, daß man einem jungen Sklaven, den man zu etwas Besserm als gemeinen Knechtsdiensten bestimmt, eine Erziehung gibt, die ihn über andere seines Standes erhebt? – »Das Lustigste wäre, wenn mein Vorleser am Ende nicht lesen könnte. Da hätt' ich freilich seine gelben Locken und seine Achillesmiene ein wenig zu theuer bezahlt. Indessen, wenn Euphranor ihn als Modell gebrauchen kann, bleibt mir doch das Verdienst, etwas zum Wachsthum der Künste beigetragen zu haben. Der einzige Achill im Frauengemach der Tochter Lykomeds, den du aus ihm machen willst, wäre die Summe, die ich für das Modell gegeben habe, zwiefach werth.«

Sie lenkte nun das Gespräch auf etwas anders, und in [391] den nächstfolgenden Tagen war keine Rede mehr von Dorylas. Doch erfuhr ich von unsrer gemeinschaftlichen Vertrauten: Dorylas habe am dritten Morgen seiner Anstellung, während Lais sich unter den Händen ihrer Aufwärterinnen befand, zur Probe seiner Kunst ein Stück aus Xenophons Symposion vorlesen müssen; er habe sich aber, entweder aus Zerstreuung, oder Mangel an Sinn für die feinsten Schönheiten dieses Meisterstücks von Attischer und Sokratischer Urbanität, nicht zu seinem Vortheil aus der Sache gezogen. Es hätte ihr gedäucht, als ob Lais wenig auf die Vorlesung Acht gebe; und da sie, sobald sie sich mit ihrer Gebieterin allein gesehen, sich über die Ungeschicklichkeit des neuen Vorlesers ein wenig lustig gemacht, habe Lais etwas trocken versetzt: Dorylas scheine noch schüchtern zu seyn, und, anstatt unzeitigen Tadels, vielmehr Aufmunterung nöthig zu haben. Am folgenden Tage sey eine ziemlich lange Unterredung ohne Zeugen zwischen Lais und Dorylas vorgefallen. Ihre Gebieterin habe, wider ihre Gewohnheit, sich nichts davon gegen sie verlauten lassen, sey aber den ganzen Abend etwas finster und einsylbig gewesen, und habe sich eher als sonst in ihre Schlafkammer eingeschlossen.

Zufälligerweise mußte sich's treffen, daß mich um diese Zeit ein unverschiebliches Geschäft nach Argos rief, und beinah' einen ganzen Monat da zu verweilen nöthigte. Nach meiner Zurückkunft glaubte ich unsre Freundin sehr verändert zu finden. Es däuchte mich als ob sie in Verlegenheit sey, etwas vor mir zu verbergen, das sie mir gern entdeckt hätte, wenn sie nur mit sich selbst einig werden könnte, wie sie anfangen[392] und wie weit sie gehen wolle. Zwischen so vertrauten Freunden, wie wir seit geraumer Zeit waren, konnte ein solcher Zwang nicht anders als peinlich, und also von keiner langen Dauer seyn. Wiewohl sie sich geflissentlich hütete allein mit mir zu seyn, fand ich endlich doch Gelegenheit, sie in einem abgelegenen Plätzchen ihres Gartens zu überraschen, und sie dahin zu bringen, daß sie sich des Geheimnisses, wovon sie gedrückt zu werden schien, gegen mich entledigen mußte. Ich bin in der Kunst zu erzählen so wenig geübt, daß ich dir lieber den Dialog, der sich nun zwischen uns entspann, in seiner eigenen Form, so getreu als mir möglich ist, mittheilen will.

Lais. Ich habe dir seltsame Dinge zu entdecken, Learch. Du hast richtig vermuthet; Dorylas ist nicht, wofür er sich von dem Sklavenhändler ausgeben ließ. – Hier hielt sie inne, als ob sie erwarte daß ich ihr weiter fort helfen sollte.

Ich. Und wie machte sich diese Entdeckung?

Lais. Höre nur, wie es damit zuging. Ich hatte ihn an einem Morgen auf mein Zimmer rufen lassen, um mir, während meine Mädchen sich mit meinem Kopfputz und Anzug beschäftigten, Xenophons Gastmahl vorzulesen. Er las ziemlich schlecht, aber, wie mich dünkte, weniger aus Ungeschicklichkeit, als weil er sich nicht bezwingen konnte, statt auf sein Buch zu sehen, alle Augenblicke nach mir hinzuschielen, wiewohl dafür gesorgt war, ihm alle Versuchungen zu einer solchen Zerstreuung so viel möglich zu entziehen. Aber seine Ohren schienen eben so scharf zu hören als seine Blicke einzudringen, und die leiseste Bewegung irgend einer Falte an meinem [393] Gewand erregte seine Aufmerksamkeit. Dieß brachte mir deine Zweifel wieder in den Sinn, und ich beschloß, mich ohne Verzug ins Klare zu setzen. Ich ließ ihn unversehens zu mir in den kleinen Saal am Ende des Gartens holen, und befahl ihm sich mir gegen über zu setzen. Er gehorchte, erhob sich aber sogleich wieder als ob er sich plötzlich besonnen hätte, und blieb, die Arme über die Brust geschränkt, mit gesenktem Haupte vor mir stehen. Höre auf eine übel gelernte Rolle zu spielen, sagte ich: du bist nicht wofür du dich ausgegeben hast. – Er schien bestürzt. Wie kann meine Gebieterin glauben, stotterte er und hielt inne. – Die Rede ist nicht von dem was ich glaube, sondern was ich sehe. Noch einmal, wer bist du? und wie kommst du dazu, dich durch eine so unbesonnene List in mein Haus einzustehlen? – Ich weiß nicht, ob meine Augen die Härte und den strengen Ton meiner Worte Lügen straften; genug, er warf sich mir zu Füßen, umfaßte meine Kniee, und bat mit Thränen in den Augen, ihm einen jugendlichen, beinahe unfreiwilligen Frevel zu verzeihen, den er allzuschwer büßen müßte, wenn ich ihn mit meiner Ungnade bestrafen wollte. – Wer bist du also, wenn du nicht Dorylas bist, sagte ich in einem mildern Ton, indem ich ihm befahl aufzustehen, und den Platz zu nehmen, den ich ihm gewiesen hatte. Und nun erfolgte ein umständliches Bekenntniß, woraus ich zu vernehmen hatte: daß er der jüngste von sechs Brüdern aus einer edeln Thessalischen Familie sey; während meines Aufenthalts zu Larissa sey er außer Landes gewesen, habe aber bei seiner Zurückkunft ganz Thessalien meines Ruhmes so voll gefunden, daß er dem [394] Verlangen mich selbst zu sehen nicht habe widerstehen können. Er habe sich also, von einem einzigen Diener begleitet, zu Pferde auf den Weg gemacht, sey aber in einem Hohlwege des Berges Cithäron von Räubern überfallen worden, die ihn, nachdem sein Diener in seiner Vertheidigung das Leben verloren, beraubt und ausgezogen hätten. Da er nun in dem Aufzug eines Bettlers keinen Zutritt zu mir habe hoffen können, sey er auf den verzweifelten Entschluß gekommen, sich einem Thespischen Sklavenhändler unter der Bedingung anzubieten, daß er ihn unverzüglich nach Korinth führen und an die schöne Lais verkaufen sollte. Meine Absicht war (fuhr er fort) sobald ich in deine Gegenwart gekommen seyn würde, mich dir zu entdecken; aber es erfolgte was ich hätte vorher sehen sollen: dein erster Anblick machte mich auf ewig zu deinem Sklaven, wenn du mich auch nicht gekauft hättest; und der Gedanke, dir als wirklicher Sklave anzugehören, in deinem Hause zu leben und des Glücks dich anzuschauen vielleicht täglich gewürdiget zu werden, wirkte mit einem so unwiderstehlichen Reiz auf mein Gemüth, daß es mir schlechterdings unmöglich war meinen ersten Vorsatz auszuführen. Ich fühle nur zu sehr wie strafbar ich bin – und unterwerfe mich jeder Züchtigung die du mir auferlegen willst; nur die Verbannung aus deinen Augen würde eine unendlichemal grausamere Strafe seyn, als wenn du mir mit eigener Hand den Tod gäbest. – Ich sagte ihm: wie er hoffen könne, nach einem solchen Geständniß nur einen Tag länger in meinem Hause geduldet zu werden? – Das hoffe ich allerdings von deiner Großmuth, versetzte er in einem mehr zuversichtlichen [395] als bittenden Ton. Ich bitte nur so lange darum, bis die Unterstützung, die ich von meiner Familie bereits begehrt habe, angelangt seyn wird. Ich bin gewiß daß meine Brüder mich nicht verlassen werden. Warum solltest du mir auf so kurze Zeit deinen Schutz versagen? Mein Geständniß hab' ich nur dir gethan. In deinem Hause bin ich ein von dir erkaufter Sklave; deine Hausgenossen wissen nichts anders; und wofern du auch die Güte hättest mich täglich um dich zu dulden, so würde – So würde, fiel ich ihm in die Rede, da er das folgende Wort nicht gleich finden zu können schien, so würde jedermann es sehr natürlich finden, meinst du? du hegest eine sehr bescheidene Meinung von dir selbst. – Die schlechteste, erwiederte er, wenn ich das Unglück habe, der göttlichen Lais zu mißfallen; die größte, wofern mir die Grazien hold genug wären, ihr gütige Gesinnungen für mich einzugeben. – Was hätte ich nun mit diesem Menschen anfangen sollen, Learch?

Ich. Verlangst du im Ernst es zu wissen?

Lais. Deine Meinung wenigstens.

Ich. Es ist nicht unmöglich, daß dir der junge Dorylas oder Pausanias nichts von sich gesagt hat, was er im Nothfall nicht beweisen könnte; aber, aufrichtig zu reden, er sieht mir einem ziemlich gefährlichen Abenteurer ähnlich.

Lais. Gefährlich? Mir gefährlich, Learch?

Ich. Wahr ist's, wenn die schöne Lais nicht berechtigt wäre, sich über die Schwachheiten ihres Geschlechts erhaben zu glauben, welche andere dürfte es? Und doch, wäre sie [396] auch der Göttin der Weisheit eben so ähnlich, als sie es der Göttin der Schönheit ist, so –

Lais. Ich erlasse dir den Nachsatz, lieber Learch! Die ganze Gefahr, wenn ja Gefahr seyn sollte, bestände dann doch nur darin, daß mir Pausanias gefallen, daß ich ihn wohl gar lieben könnte; und wo wäre da das große Unglück?

Ich. Darüber kannst du in der That allein entscheiden. Verzeih, wenn mich die wohlmeinende Freundschaft unbescheiden gemacht hat.

Lais. Das wirst du nie seyn, Learch – Aber deine Meinung, was ich hätte thun sollen, bist du mir noch schuldig.

Ich. Wenn du, z.B. dem schönen Dorylas, weil du doch schon zwei oder drei sehr gute Vorleserinnen hast, die Freiheit und die dreitausend Drachmen, die er dich kostet, geschenkt, und ihm beim Abschied noch eine Handvoll Dariken zur Wegzehrung mitgegeben hättest: so hätte er damit wohl behalten nach Hause kommen können, und jedermann würde gesagt haben, du hättest eine sehr großmüthige That gethan.

Lais. Aber du scheinst zu vergessen, Learch, daß hier nicht die Rede davon seyn kann, was jedermann davon denken und sagen würde; denn außer meinen Leuten weiß niemand von der Sache, und niemand hat sich auch um das Innere meines Hauswesens zu bekümmern. Ueber die Urtheile der Korinthier bin ich ohnehin schon lange weg, wie du weißt.

Ich. Allerdings! Ich hätte sagen sollen: du würdest, wenn du so mit dem vorgeblichen Pausanias verfahren wärest, sicher auf den Beifall deines eigenen Herzens haben rechnen können.

[397] Lais. Das wäre denn doch vielleicht noch die Frage. Uebrigens kann ich dir zu deiner Beruhigung melden, daß Pausanias im Begriff ist, mein Haus zu verlassen.

Ich. Er geht wieder von Korinth ab?

Lais. Das nicht; er bezieht nur eine eigene Wohnung; denn er gedenkt sich noch einige Zeit hier aufzuhalten.

Ich. Die Unterstützung von seiner Familie ist also glücklich angelangt? –

Ich besorge, Aristipp, ich sagte dieß in einem ironischen Tone; denn die arme Lais verfärbte sich, schien verlegen, und hatte Mühe ein paar Thränen, die ihr in die Augen schossen, zurückzuhalten. Sie mußte sich etwas bewußt seyn, das ihren Stolz demüthigte, und sie fürchtete vermuthlich, daß ich sie errathen hätte. Ich sah daß es hohe Zeit sey, einer Unterredung, welche beiden Theilen peinlich zu werden anfing, ein Ende zu machen. Mir ist lieb (sagte ich mit der unbefangensten Miene, und im gutmüthigsten Tone der mir möglich war), daß ich mich, wie es scheint, in meiner Meinung von diesem jungen Menschen geirrt habe; und in der That hätte ich besser gethan, mich auf den feinen Ahnungssinn, der deinem Geschlecht eigen ist, zu verlassen, und dem Sokratischen Glauben, daß ein schöner Leib für eine schöne Seele bürge, mehr Gehör zu geben, als meinem Argwohn. Da der junge Pausanias sich hier zu verweilen gedenkt, so wird es mir nicht an Gelegenheit fehlen, besser mit ihm bekannt zu werden, und ich will nicht zweifeln, er werde sich der Nachsicht, die du mit seiner jugendlichen Unbesonnenheit getragen hast, durch seine Aufführung würdig zu zeigen suchen.

[398] »Wir sind (erwiederte sie mit einem erzwungenen Lächeln) ich weiß nicht recht wie, in einen ernsthaftern Ton gerathen als die Sache zuläßt, und du kannst mir nicht übel nehmen, guter Learch, wenn ich dich bitte, die allzu ängstlichen Besorgnisse, worin ich dich meinetwegen sehe, auf den Fall zu sparen, wo etwa ein Mädchen von sechzehn Jahren vor Schaden gewarnt zu werden nöthig hat.«

Und hiermit endigte sich die letzte vertrauliche Unterredung, die ich mit der schönen Lais zu pflegen Gelegenheit gehabt habe. Wir schieden zwar, dem Ansehen nach, als gute Freunde von einander; aber ich habe sie, von diesem Tag an, immer seltner und nie wieder allein gesehen.

Inzwischen erfuhr ich von ihrer Vertrauten: Lais habe, wenige Tage nach ihrer ersten Unterredung mit dem vorgeblichen Dorylas, diesen unter seinem wahren Namen für frei erklärt, und zugleich in ihrem Hause bekannt werden lassen, daß er aus einem der vornehmsten Thessalischen Geschlechter stamme, von welchem sie, während ihres Aufenthalts in diesem Lande, mit so vielen Verbindlichkeiten überhäuft worden sey, daß sie nicht umhin könne, sich derselben bei dieser Gelegenheit zu entledigen. Seit dieser Zeit komme Pausanias (die Morgenstunden des Putztisches ausgenommen) den ganzen Tag nicht von ihrer Seite, speise mit ihr, und sey bereits allen, mit welchen sie noch in einiger Verbindung steht, von ihr vorgestellt worden. Sie gebe vor, ihn schon zu Larissa gekannt und mit seinen Verwandten in freundschaftlichen Verhältnissen gestanden zu haben; woraus sich dann von selbst erkläre, warum Pausanias, nach dem Unfall der ihn auf dem Cithäron [399] betroffen, seine Zuflucht zu ihr genommen habe. Uebrigens werde der junge Thessalier unvermerkt immer lebhafter, freier und zuversichtlicher, und entfalte tagtäglich irgend ein neues Talent; denn er sey ein großer Reiter, Springer, Tänzer, Jäger, Vogelsteller, Fischer, und Lustigmacher oben drein, und Lais scheine von der Gewandtheit und Artigkeit, die er bei allen diesen Uebungen zeige, und überhaupt von seiner ganzen Person so bezaubert zu seyn, daß sie sich zusehends erheitere und verjünge, ja wohl gar (ohne sich's vermuthlich bewußt zu seyn) nicht selten, wiewohl immer mit aller ihr eigenen Grazie, in die naive Fröhlichkeit eines Mädchens von sechzehn zurückfalle. Bei allem dem scheine sie ihren jungen Freund, der ganz öffentlich den feurigsten und hoffnungsvollsten Liebhaber mit ihr spiele, so kurz als möglich zu halten, und jede Gelegenheit mit ihm allein zu seyn, oder von ihm überrascht zu werden, aufs sorgfältigste zu vermeiden; und daher habe sie auch geeilt, ihm ohne Aufschub ein eigenes schönes Haus, in der Nähe des ihrigen, aussuchen, miethen und prächtig einrichten zu lassen. Daß alles auf Kosten ihrer Gebieterin gehe, daran sey kein Zweifel; denn man wisse bereits zuverlässig, daß seine Familie von keiner Bedeutung in Thessalien sey, und daß er sein kleines Erbtheil schon zu Athen, wo er sich zuletzt aufgehalten, mit Rennpferden, Banketten und Hetären, bis auf den letzten Heller aufgezehrt habe.

Dieß, lieber Aristipp, ist alles (und für einen so warmen Freund der schönen Lais schon zu viel) was ich dir bis jetzt von diesem neuen Abenteuer berichten kann. Ich überlasse [400] dir selbst was davon zu denken ist. Immer ist es seltsam genug, daß diese allgewaltige Männerbeherrscherin, welche, während sie zwanzig Jahre lang alle Welt bezauberte, ihrer selbst immer mächtig blieb, eine so lange behauptete Freiheit noch in ihrem vierzigsten an einen jungen Thessalischen Glücksritter 157 verlieren soll, der unter allen, die jemals Anspruch an sie machten, gerade der unwürdigste ist, und (wie ich sehr besorge) nicht sowohl nach ihrem Herzen als nach ihrem Geldkasten trachtet. Sollte sich nicht sogar, wer nie an etwas Dämonisches geglaubt hat, von einem solchen Beispiele genöthigt fühlen, zu glauben daß es unholde schadenfrohe Dämonen gebe, die uns zwingen auf den Köpfen zu tanzen und wider Willen tausend Thorheiten zu begehen, bloß um sich selbst Stoff zum Lachen zu verschaffen? – Es wäre denn, daß Xenophons zweierlei Seelen in einer und eben derselben Person hinlänglich wären, uns solche widersinnische Erscheinungen begreiflich zu machen. Doch was kann es uns nützen, die Ursache eines Uebels zu wissen, dem nicht zu helfen ist? Die unwürdige Leidenschaft, worin sich unsre arme Freundin verfangen hat, ist, wie ich fürchte, ein Uebel dieser Art; – wiewohl ich dich damit nicht abgeschreckt haben will einen Versuch zu machen, da du billig mehr über sie vermögen solltest als ich. Auf alle Fälle werde ich nicht ermangeln, dir vom weitern Verlauf dieses sonderbaren Liebeshandels mit der ersten Gelegenheit Nachricht zu geben.

54. Learch an Aristipp
[401] 54.
Learch an Aristipp.

Ich erledige mich, wiewohl mit zögernder Hand, meines Versprechens, dir die weitern Nachrichten mitzutheilen, die ich mir über die Leidenschaft unsrer unglücklichen Freundin für den jungen Thessalier, den die strenge Nemesis zum Werkzeug ihrer Züchtigung ausersehen zu haben scheint, theils durch mich selbst, theils durch die wohlmeinende kleine Verrätherin Eudora zu verschaffen Gelegenheit gefunden habe.

Was den jungen Menschen betrifft – der, wiewohl kaum zwanzig Jahre alt, schon mancherlei Abenteuer bestanden und sich an mehrern Orten unter verschiedenen Namen einen sehr zweideutigen Ruf erworben hat – so stimmen alle meine eingezogenen Erkundigungen darin überein, daß er aus dem Thessalischen Kanton Pharsalia gebürtig, und weder reicher noch von edlerer Herkunft ist, als jeder andere Abkömmling von Pyrrha und Deukalion. Indessen kann man ihm nicht absprechen, daß er vornehme Leidenschaften und Liebhabereien hat, und den kleinen Thessalischen Fürsten auf Unkosten der verblendeten Lais meisterlich zu spielen weiß. Er lebt, seitdem er eine eigene Wohnung bezogen hat, unter dem Namen Pausanias auf einem großen Fuß; hat sich eine Menge Bediente, die schönsten Pferde, und Jagdhunde, wie sie Xenophon selbst nicht besser hat, angeschafft; erscheint beinahe täglich auf der Rennbahn, und steht bereits mit den ausschweifendsten und [402] übel berüchtigtsten unter unsern jungen Eupatriden in enger Verbindung. Die arme Lais, die ihm nichts versagen kann, ist genöthigt, ihr schon so lange besserer Gesellschaft verschlossenes Haus allen diesen Wildfängen offen zu halten, und du kannst dir vorstellen, daß der Unfug, den die Homerischen Freier im Palaste des Odysseus treiben, nur Kinderspiel gegen die Orgien dieser ungezügelten Schwärmer, und das fette Schwein nebst dem auserlesenen Geißbock, so jene täglich verzehrten, eine Kleinigkeit gegen den ungeheuern Aufwand ist, welchen Lais durch ihre gränzenlose Gefälligkeit gegen alle Einfälle und Launen ihres eben so unbesonnenen als unbescheidenen Geliebten, sich auf den Hals geladen hat.

Alles dieß ging nun freilich stufenweise. In den ersten Tagen schien er bloß an ihren Winken zu hangen, und von ihrem Anschauen und ihren Blicken zu leben. Aber mit einem verwundernswürdigen Spürsinn machte der Schlaue gar bald ihre schwache Seite und die Rolle ausfindig, die er zu spielen habe, um sich unvermerkt ihres ganzen Herzens zu bemächtigen. Wechselsweise feurig und kalt, schwärmerisch und muthwillig, ehrfurchtsvoll und zudringlich, geschmeidig und widerspänstig, unterwürfig und gebieterisch, zeigte er sich ihr unter so vielerlei Gestalten, und wußte immer so behend und mit so ungezwungener Leichtigkeit diejenige anzunehmen, die zur gegenwärtigen Stimmung oder Laune der wandelbarsten und vielgestaltigsten aller Weiber am besten paßte, daß er schon dadurch allein, daß er sie so stark beschäftigte, und ihr so viele Gelegenheiten gab, sich ihm von allen Seiten mit immer neuen Reizungen zu zeigen, eine Gewalt über sie erhalten [403] mußte, die noch keiner ihrer Freunde oder Liebhaber sich zu verschaffen – gesucht oder vermocht hatte.

Indessen, dieß alles, und wenn man auch die Eindrücke, die seine Gestalt und Jugend auf eine Frau wie die schöne Lais machen konnte, in der möglichsten Stärke noch dazu rechnet, alles dieß wäre doch nicht hinreichend, die Leidenschaft, womit sie an diesem Menschen hängt, und die Gewalt, die er über sie ausübt, begreiflich zu machen: man ist schlechterdings genöthigt, entweder die unwiderstehliche Sympathie der Aristophanischen Menschen-Hälften in Platons Gastmahl, oder den alten Glauben, daß es Leidenschaften gebe, die uns von einer ergrimmten Gottheit aus Rache über den Kopf geworfen und gleichsam angezaubert werden, zu Hülfe zu nehmen, um sich von einer so wunderbaren Erscheinung eine – eben so wunderbare Ursache anzugeben.

Lais hatte vorher nie leidenschaftlich geliebt. Auch wenn sie sich herabließ, unter den unzähligen, die sich um sie bewarben, einen von den Göttern begünstigten glücklich zu machen, geschah es immer ohne daß ihre Freiheit die mindeste Gefahr dabei lief. Schwärmerische Liebe, die sich dem Geliebten gänzlich hingibt, keinen Willen als den seinigen hat, ihm alles aufopfert, nur in ihm lebt und da ist, kurz, eine Liebe, die man nicht in seiner Gewalt hat, und deren Wirkungen im Gegentheil unsrer eigenen Selbstständigkeit Gewalt anthun, und eine Art von Bezauberung sind, war in ihren Augen eine lächerliche Schwachheit, deren sie sich gänzlich unfähig hielt. Eine späte Erfahrung hat sie nun, zu ihrem eigenen Erstaunen, des Gegentheils überführt; und wer jemals [404] selbst geliebt hat, begreift, wie die mächtigste aller Leidenschaften, sobald sie einmal Besitz von ihr genommen hatte, eine so gänzliche Verwandlung ihrer Sinnesart bewirkte, daß sie andern und sich selbst ein völlig neues Wesen scheinen muß. Aber wie diese Anlage zu der höchsten Art von tragischer Liebe vierzig Jahre lang, wie von einem magischen Schlaf gebunden, in ihrem Busen schlummern konnte, und daß gerade dieser Thessalische Taugenichts der einzige seyn mußte, der sie zu wecken vermochte, das ist es, was allen, die sie zuvor kannten, unbegreiflich ist, und was man kaum seinen eigenen Augen glauben kann.

Ich würde mich nicht so sehr verwundern, wenn der Zaubervogel, womit er sie an sich gezogen hat, keine andern als die gewöhnlichen Zufälle der leidenschaftlichen Liebe in ihr hervorbrächte, wie heftig sie auch immer seyn möchte, mit Einem Worte, wenn sie den schönen Thessalier liebte wie etwa Sappho ihren Phaon; auch würden, wenn dieß der Fall wäre, ihre Freunde sich ihrentwegen noch eher beruhigen können. Denn, da der schöne Pausanias weit entfernt ist den Grausamen gegen sie zu machen, so wäre gute Hoffnung, daß der Genuß das Feuer dämpfen und die verliebte Raserei von kurzer Dauer seyn würde. Aber, zu ihrem Unglück, hat die Phantasie ungleich mehr Antheil an ihrer Leidenschaft als die Sinnlichkeit. Ihre Liebe ist das Ideal der reinsten, höchsten, treuesten und beständigsten Anhänglichkeit, und so wie sie selbst liebt, will sie auch wieder geliebt seyn. Sie verlangt von ihm was er ihr nicht geben kann, ein Herz das nur für sie schlägt, eine ganz von ihr ausgefüllte Seele. Alle seine Begierden [405] sollen in ihrem bloßen Anschauen sich ersättigen; die zarteste ihrer Liebkosungen, die leiseste Berührung ihrer Hand soll ihn schon zum Gott machen. Aber Pausanias, wiewohl er anfangs einige Tage lang den Schüchternen und Ehrfurchtsvollen spielte, hat keine Lust sich in den Mysterien der himmlischen Aphrodite und des Platonischen Eros einweihen zu lassen; und daher entsprangen ziemlich bald kleine Mißhelligkeiten und Zänkereien zwischen ihnen, wobei Lais den Sieg allemal durch Gefälligkeiten anderer Art theuer genug erkaufen mußte. Ihre Furcht ihn erkalten zu sehen, wenn sie das, was er mit einem mildernden Namen seine Liebe nannte, befriedigte, war so groß, daß sie lange Kraft genug in sich fand ihm zu widerstehen; aber dafür glaubte sie, ihm auf einer andern Seite einen verhältnißmäßigen, d.i. nach ihrer eigenen Schätzung, einen sehr großen Ersatz schuldig zu seyn; und so erhielt er (das Einzige, was sie immer noch zu geben haben wollte, und was wahre Liebe am längsten zurückhält, ausgenommen) alles andere von ihr, was er sich nur zu wünschen einfallen ließ. Allein kaum hatte der Undankbare den Schlüssel zu ihrer Schatzkammer in seiner Gewalt, so trug er auch kein Bedenken, sich für dieß einzige Opfer, worauf sie einen so hohen Werth setzte, auf die unzärtlichste Art zu entschädigen, indem er öfters ganze Nächte mit etlichen seiner Vertrautesten bei der schönen Phryne durchschwärmte, einer jungen Hetäre, die sich seit einiger Zeit hier niedergelassen hat, und dermalen die berühmteste und theuerste unter den eilf oder zwölfhundert Priesterinnen ist, die sich dem Dienste der Aphrodite Pandemos in dieser üppigen Stadt [406] gewidmet haben. Du kannst dir die Ungewitter vorstellen, die eine Beleidigung dieser Art in einer so stolzen Schönen erregen mußte, die auch an allem Aeußerlichen, was die Männer anziehen und fesseln kann, noch immer keine über sich sieht; zumal, da der übermüthige Mensch, anstatt sie durch Reue und Demüthigung zu besänftigen, ihrer Empfindlichkeit anfangs einen kaltblütigen Trotz entgegensetzte, der ihm unfehlbar seinen Abschied zugezogen hätte, wenn nicht eine einzige zu ihren Füßen geweinte, wahre oder geheuchelte Thräne hinreichend gewesen wäre, ihren Zorn zu löschen und eine Aussöhnung zu bewirken, deren erste Bedingung seinen Triumph über ihre Schwäche vollständig machte.

Die Unglückliche sieht nun selbst, daß ein längerer Aufenthalt zu Korinth ihr in jeder Rücksicht nachtheilig wäre, und sie hat ihrem Geliebten – der seit der letzten Aussöhnung die leidenschaftlichste Anhänglichkeit an sie zeigt – den Vorschlag gethan, mit ihm nach Thessalien zu ziehen, und, mit dem Rest ihrer durch seine Verschwendungen ziemlich zusammengeschmolzenen Reichthümer, sich in einer der anmuthigsten Gegenden dieses Zauberlandes anzukaufen. Sie ist, zum Behuf dieses Vorhabens, bereits über den Verkauf ihres schönen Landgutes zu Aegina mit Eurybates in Unterhandlungen getreten, welche durch meine Hände gehen; denn ihr in Geschäften dieser Art zu rathen und zu dienen, ist das Einzige, wodurch mir noch erlaubt ist ihr meine Freundschaft zu beweisen. Da Eurybates seine unmittelbar an dieses Gut gränzenden Besitzungen beträchtlich dadurch erweitern und verschönern kann, und es daher schwerlich aus den Händen lassen wird, so habe [407] ich gute Hoffnung, vortheilhaftere Bedingungen von ihm zu erhalten, als von irgend einem andern Käufer zu erwarten seyn dürften.

Das Schlimmste bei allem diesem ist ohne Zweifel, daß die arme Lais – wie ich, aller ihrer Bemühungen es mir zu verbergen ungeachtet, nur gar zu deutlich sehe – nicht glücklich ist. – Sollte dir nicht auch schon begegnet seyn, was mir mehr als Einmal geschah, daß du im Traum zu träumen wähntest? Ich weiß den Zustand, worin Lais sich dermalen befindet, durch kein passenderes Bild zu bezeichnen. Sie sieht zu hell, um nicht zu sehen, daß sie ihr ganzes Glück in eine bloße Täuschung setzt: aber sie will getäuscht seyn, und so ist sie es denn auch wirklich, und träumt, es träume ihr daß sie glücklich sey. Möge nur das völlige Erwachen nicht gar zu schmerzhaft seyn!

Ob noch ein Mittel sie zu retten übrig ist, weiß ich nicht; mir wenigstens sind alle Versuche, die ich gemacht habe, fehlgeschlagen.

55. Aristipp an Learch
55.
Aristipp an Learch.

Lais ist dazu gemacht, in allem groß und außerordentlich zu seyn. Von ihrer ersten Jugend an, mit der unbeschränktesten Macht, sich ihren Neigungen zu überlassen und immer von ganzen Schwärmen von Anbetern umgeben, unter welchen [408] gewiß nicht wenige sehr liebenswürdig waren, sogar im vertrautesten Umgang mit einigen von diesen eine so lange Zeit sich immer frei erhalten zu haben, war vielleicht ohne Beispiel. Als aber diese Leidenschaft, deren sie selbst sich immer für unfähig gehalten hatte, endlich doch noch Meister über die Widerspänstige ward, war nichts anders zu erwarten, als daß das Seelenfieber (wenn ich es so nennen kann) wovon sie begleitet ist, von der heftigsten Art seyn würde. Es scheint es sey mit der Liebe wie mit gewissen Krankheiten, die jeder Mensch Einmal in seinem Leben gehabt haben muß, und die desto unschädlicher sind, je früher man davon befallen wird. Ich erinnere mich noch sehr wohl, daß ich in meinem fünften oder sechsten Jahre in eine meiner Basen, ein Kind von drei bis vier Jahren, sterblich verliebt war, und daß man, da sie im fünften starb, die größte Mühe hatte, meiner Verzweiflung Einhalt zu thun und mich mit dem Leben wieder auszusöhnen. Vermuthlich habe ich es dieser voreiligen Liebschaft zu danken, daß ich bis auf den heutigen Tag von dieser Art von Fieber nie wieder, wenigstens nicht gefährlich noch auf lange Zeit, befallen worden bin.

Wenn denn also die gute Lais einmal wenigstens in ihrem Leben sich in ganzem Ernst verlieben mußte, so sehe ich nicht, warum der schöne und schlaue junge Thessalier nicht eben so gut dazu hätte taugen sollen als ein anderer; im Gegentheil, mich dünkt ich begreife vermittelst der bekannten Aristophanischen Hypothese recht wohl, warum gerade er und kein anderer, der Einzige war, welcher den so lange in ihrem Busen verborgenen Krankheitsstoff entwickeln konnte. Ich glaube wahrgenommen [409] zu haben, daß die heftigste Art von Liebe diejenige ist, da man, ohne es sich deutlich bewußt zu seyn, sich selbst, oder gleichsam ein zweites aus dem Gegenstand in das unsrige hinein gespiegeltes und mit ihm zusammenfließendes Ich, in dem Geliebten anbetet. Sollte dieß nicht nahezu der Fall mit unsrer, immer ein wenig zu viel in sich selbst verliebt gewesenen, Freundin seyn? Wenn ich alle charakteristischen Züge des jungen Pausanias aus deiner Erzählung zusammen nehme, so scheint mir eine sehr entschiedene Aehnlichkeit der Naturen zwischen ihr und ihm vorzuwalten. Ich finde an beiden ungefähr dieselben Naturgaben, eine lebhafte Einbildungskraft, Witz, Gewandtheit und Geschmeidigkeit des Geistes, mit einer seltnen Schönheit und allem übrigen was beim ersten Anblick die Augen verblendet und die Neigung besticht; aber auch dieselben Leidenschaften, Fehler und Unarten: denn beide sind eitel, flüchtig, rasch, leichtsinnig, stolz, eigenwillig, prachtliebend und verschwenderisch, und in beiden bringen diese Eigenschaften ziemlich gleiche Wirkungen hervor. Den ganzen Unterschied (außer dem, was auf Rechnung der Verschiedenheit des Geschlechtes kommt) machte die Erziehung und das Glück. In ihr wurden alle Naturanlagen von früher Jugend an entwickelt, bearbeitet, und durch einen seltnen Zusammenfluß glücklicher Umstände ausgebildet, abgeglättet, und gleichsam mit einem glänzenden Firniß überzogen: da die seinigen hingegen, aus Mangel an gehöriger Cultur und günstigen Glücksumständen, einen großen Theil von der Centaurischen Rohheit behalten mußten, wodurch sich die Thessalier, im Durchschnitt genommen, von andern feiner gebildeten [410] Griechen nicht zu ihrem Vortheil auszeichnen. Aber diese zufällige Verschiedenheit konnte die natürliche Wirkung des sympathetischen Instincts nicht aufhalten; die schöne Lais spürte ihre Hälfte auf den ersten Anblick aus; und nun erfolgte alles, wie es uns Plato, im Namen des Aristophanes (als des ersten Erfinders der Doppelmenschen), so unverschleiert beschrieben hat, daß Diogenes der Cyniker selbst nicht natürlicher von der Sache hätte sprechen können.

Aber wozu diese Erörterung? Du erinnerst sehr wohl, bester Learch, daß es hier nicht um eine begreifliche Erklärung des Geschehenen zu thun ist, sondern um ein Mittel größeres Unheil zu verhüten. Noch ist nicht alles verloren; und wofern auch Lais (wie ich ihr's zutraue) sich in den Kopf setzen sollte, ihrer ersten Liebe bis in den Tod getreu zu bleiben: so bin ich nicht ohne Hoffnung, daß Pausanias, in einen Kreis von edeln und guten Menschen versetzt, selbst noch ein besserer Mensch, und dessen, was sie für ihn thut, würdiger werden könnte. Der beigelegte kleine Brief, um dessen Uebergabe ich dich bitte, enthält den einzig möglichen Versuch, den ich machen kann; wiewohl mir ich weiß nicht was für eine Ahnung sagt – was ich weder denken noch aussprechen mag.

Es wird dir zugleich, nebst einem kleinen Xenion 158 für dich selbst, ein mit Gold beschlagenes Kistchen von Ebenholz für die schöne Lais zugestellt werden. Es enthält einen Halsschmuck von rundgeschliffenen Granaten und Hyacinthen, und ein daran hängendes mit Sapphieren und Rubinen besetztes goldnes Bruststück, worauf Kleone den Amor Anakreons gemalt hat, wie er von drei Musen mit Rosenkränzen gebunden [411] der Schönheitsgöttin ausgeliefert wird. Du wirst, wenn mich meine Vorliebe für alles, was aus Kleonens Händen kommt, nicht sehr verblendet, finden, daß sie in solchen kleinen Gemälden mit Parrhasius selbst um den Preis streiten könnte. Das Ganze ist ein Gegengeschenk von Musarion und Kleone für ein beinahe zu kostbares Geschenk, das Lais ihnen vor einiger Zeit zum Andenken überschickte, und das, wenn wir es annehmen sollten, mit keinem geringern erwiedert werden konnte.

56. Aristipp an Lais
56.
Aristipp an Lais.

Ich vernehme von unserm Freund Learch, liebe Lais, daß du Anstalten machest, Korinth zu verlassen und deinen künftigen Wohnsitz in dem reizenden Thessalien aufzuschlagen.

Auch mir schweben noch so angenehme Erinnerungen von dem zauberischen Tempe und andern anmuthigen Ufergegenden des Peneus vor, daß ich deine Vorliebe zu dem Vaterlande der ältesten und schönsten Mythen der Griechen nicht mißbilligen kann.

Aber, wenn die Wünsche deiner Freunde Kleonidas und Aristipp, von den freundlichsten Einladungen deiner Musarion und ihrer Schwester Kleone unterstützt, etwas bei dir vermöchten; wenn du bedenken wolltest, wie glücklich du uns [412] alle durch deinen Besuch machen, und wie vergnügte Tage du selbst (wie wir uns schmeicheln) in unsrer Mitte leben könntest: so wirst du es für keine Zudringlichkeit halten, wenn wir dich bitten, die Reise nach Thessalien – nicht aufzugeben, nur ein einziges Jahr aufzuschieben, und dieses Jahr deinen Freunden in Cyrene zu schenken, die sich beeifern würden, dich für das Opfer, das du ihnen dadurch brächtest, so viel ihnen nur immer möglich wäre zu entschädigen. Cyrene ist seit einigen Jahren eine Art von Athen geworden, friedsamer, ruhiger, und vielleicht sogar gastfreundlicher als jenes Attische; und es hätte dir, um nicht zu viel zu sagen, wenigstens für ein Jahr Stoff und Gelegenheit zu den angenehmsten Unterhaltungen überflüssig anzubieten. Du würdest, nach deinem Gefallen, entweder in meinem Hause in der Stadt oder auf meinem nahe bei Cyrene gelegenen Landsitze, oder wechselsweise bald in dem einen bald in dem andern wohnen, und in jenem einen kleinen Tempel der Kunst, in diesem sogar eine Art von Akademie zu deinem Gebrauch haben. In beiden ist alles schon zu deinem Empfang bereit; und wer es auch sey, den du zum Begleiter wählen wirst, er soll die Aufnahme eines Bruders finden, und uns desto werther seyn, je näher er dem Herzen unsrer Freundin ist.

Laß mich den Schmerz nicht erfahren, beste Lais, mein Vertrauen auf deine Freundschaft getäuscht zu sehen, und nimm inzwischen, als ein Unterpfand unsrer Gesinnungen für dich, das kleine Xenion freundlich an, wodurch Musarion und Kleone dir ihre Dankbarkeit zu zeigen wünschen, und womit [413] sie dich (wenn du ihre Freude vollkommen machen willst) bei deiner Ankunft in Cyrene geschmückt zu sehen hoffen.

Du siehst wir rechnen so sehr auf deine Großmuth, daß wir es gar nicht für möglich halten, eine Fehlbitte bei dir gethan zu haben.

57. Lais an Aristipp
57.
Lais an Aristipp.

Mein Traum ist nur zu bald in Erfüllung gegangen, lieber Aristipp! Die höhern Mächte haben eine strenge Rache an mir ausgeübt: Adrasteia, daß ich vierundzwanzig Jahre lang gar zu glücklich war; die Götter der Liebe, daß ich ihnen so lange Trotz zu bieten wagte. Xenophons Cyrus hat Recht behalten; nur darin irrt er sich, wenn er glaubt, das was er für das einzige Rettungsmittel gegen den furchtbarsten aller Dämonen hält, die Flucht, stehe immer in unsrer Macht.

Aber, gesetzt er hätte auch in diesem Stücke Recht, so verzeiht mir, lieben Freunde, daß ich euch sagen muß, ihr habt nicht bedacht was ihr mir ansinnt. Nein, gute Musarion, nein, liebenswürdige Kleone! – Lais kann nie die Dritte unter euch seyn! – Ueberlaßt sie ihrem Schicksal, und bittet die Götter, daß es erträglich ausfalle.

Euer schönes Geschenk, dem die Hand der glücklichen Kleone einen unschätzbaren Werth gegeben hat, nehme ich unter der einzigen Bedingung an, daß es nach meinem Tode durch Learchs Besorgung wieder an die holden Geberinnen zurückkehre.

[414] Lebet wohl, Aristipp und Kleonidas – meine Freunde – lebet wohl! Verachtet diese zwei kleinen Myrtenzweige nicht, die ich euch zum Andenken schicke – sie welkten an meinem Herzen, und sind mit meinen Thränen für euch eingeweiht.

Wenn ich an den Ufern des Peneus die Ruhe wieder finde, so werdet ihr mehr von mir hören; – wo nicht, so laßt mich in eurer Erinnerung leben, und seyd glücklich!

[415][327]
Anmerkungen zum zweiten Band
Anmerkungen zum zweiten Band.
1. Brief.

1 Hauptstadt von Lydien in Kleinasien.


2 (Unbezwingbare) Ketten (II.) sind nicht diamantene, sondern stählerne Ketten. Der Diamant war zu Aristipps Zeiten den Griechen noch unbekannt, und erhielt erst viel später, seiner Härte wegen, den Namen adamas. W.


3 Das gemeine oder kleinere Attische Talent enthielt 60 Minen oder 6000 Drachmen, und ist also ungefähr 1000 Conventionsthalern unsers Geldes gleich. W.


4 S. Anm. z. Bd. 22, Br. 25.

3. Brief.
5 Persische Benennung einer Art von wohlthätigen Genien und Feen. W.

6 Die Griechen.


7 Abkömmlinge des Achämenes. So nennen die Griechischen Geschichtschreiber eine Dynastie der Könige von Persien, deren Stifter Achämenes (nach Phreret) [327] ungefähr 800 Jahre vor unsrer gemeinen Zeitrechnung gelebt haben soll. Seine Abkömmlinge theilten sich in zwei Linien, wovon die ältere von Achämenes bis auf Kambyses, den Sohn des großen Cyrus, dauerte, und die jüngere, von Darius Hystaspes Sohn angefangene, mit Darius Kodoman ein Ende nahm. Arasambes wird also (als ein vorausgesetzter Sohn einer Schwester des Darius Nothus) von Lais scherzweise (II. 29.) ein Achämenide genennt. W.


[327] 8 S. Anm. z. Bd. 22. Br. 4.


9 Die Dinge über uns, die Luft- und Himmels-Erscheinungen. Das Komische dieser ganzen Stelle liegt in Anspielungen auf Aristophanische Komödien. Die zwei letzten erklären die Anmerkungen zum 69sten Briefe; bei dieser ersten mus man sich der Scene aus den Wolken erinnern, wo Strepsiades zu dem Hause des Sokrates kommt, und dieser in einem aufgehangenen Korbe erscheint. Von jenem angerufen, sagt er:


Was hast du mir zu rufen, Erdensohn?


Strepsiades.

Vor allem sage mir, ich bitte dich,
Was machst du denn da oben?
Sokrates.

Ich wandle in der Luft,
Und übersehe hier die Sonne.
Strepsiades.

Vermuthlich,
Weil du aus deinem Korbe über die Götter wegsiehst,
Und das hier unten nicht so angeht? Oder –
Sokrates.

Wahr ist's, ich kann die Dinge über uns
Nicht recht erfassen, wofern ich meinen Geist
Nicht exaltire, bis der Gedanke so verfeinert
Und verdünnet ist, daß er gleichartig mit
Der Luft sich mischt. Sobald ich von unten auf
Die Dinge über uns erspähen will,
Erkenn' ich nichts. Es ist nun einmal so;
Die Erde zieht den feinen Duft des Gedankens
Zu mächtig in sich ein.

5. Brief.

10 Eine den bösen Feen in den Mährchen der Dame d'Aulnoy ähnliche Göttin, die nicht leiden konnte, wenn es einem [328] Menschen gar zu wohl ging. Hesiodus macht sie zu einer Tochter der Nacht, Homer aber zu einer Tochter Jupiters, in der sonderbaren Stelle des 19ten Gesangs der Ilias, wo Agamemnon die Schuld seiner dem Sohne der Thetis zugefügten Beleidigung auf die Ate schiebt, und, bei dieser Gelegenheit ihre ganze Legende (wie er sie vermuthlich ehemals von seiner Amme erzählen gehört hatte) den versammelten Fürsten der Griechen vorträgt. W.

6. Brief.

11 Beschreibung des Feldzugs des jüngeren Kyros gegen seinen Bruder Artaxerxes Mnemon. Dieser Feldzug, dem Xenophon als Feldherr der Griechischen Hülfstruppen beiwohnte, und wobei er seinen berühmten Rückzug machte, wird ein Hinaufzug (Anabasis) genannt, weil der Zug nach Oberasien aufwärts ging. – Von dem, was Xenophon dabei that, wird er auch der Rückzug der Zehntausend (Griechischen Hülfstruppen nämlich) genannt. Ich erinnere hiebei an Halbkarts Uebersetzung. Mit dem von Wieland hier und im folgenden Briefe gefällten Urtheil darüber ist zu vergleichen Creuzers Abhandlung de Xenophonte Historico Leipz. 1799.


12 Bibliokapelen hießen um diese Zeit, da der Autoren und der Bücher immer mehr wurden, Leute, welche Profession davon machten, von alten und neuen Büchern immer eine Anzahl schön geschriebener Exemplarien zum Verkauf bereit zu halten, und vermuthlich auch die öffentlichen Märkte mit dieser Waare bezogen, nach welcher, so wie die Literatur bei den Griechen immer mehr Zuwachs und Ausbreitung bekam, auch die Nachfrage immer stärker wurde. W.


13 Einer der etwas, wozu gewöhnlich Kunst, Wissenschaft und große Uebung erfordert wird, ohne Vorbereitung, aus dem Stegreif (wie wir zu sagen pflegen) oder auch obne Unterricht, aus bloßem instinctmäßigen innern Antrieb, unternimmt. Sokrates beschuldigt dessen den größten Theil der damaligen Athenischen Feldherren in seiner Unterredung mit dem Sohne des Perikles. (Memorab. III. 5–20)

7. Brief.
14 Herabzug, Rückzug.
15 Jupiter der Sanftmüthige, der Versöhner, Anab. B. 7. K. 8.

[329] 16 Der Anführer. Anab. B. 6. K. 2.


17 Die Kunst und das Geschäft derjenigen Art von Wahrsagern, die nach sorgfältiger Beschauung der Eingeweide eines Opferthiers aus gewissen Beschaffenheiten derselben den glücklichen oder unglücklichen Erfolg eines Unternehmens vorhersagten. W.


18 Abergläubische Dämonenfurcht. W.

19 Ein Fluß in Lydien, welcher, wie der Ganges in Indien, Gold führt.
20 König von Lydien, berühmt seines Reichthums wegen.
21 Der Bettler in Homers Odyssee.
8. Brief.

22 Der Philosoph Leucipp (Leukippos) war der erste unter den Griechen, welcher Arome, untheilbare Körperchen, als Elemente der Welt annahm, und es ist wohl nicht zu bezweifeln, daß die Sonnenstäubchen ihn auf seine Atome gebracht hatten.


23 Eine Pflanze, von welcher die Alten sowohl für die Küche als für die Pharmacie starken Gebrauch machten. Vornehmlich wurde aus dem verdickten Safte des Stengels und der Wurzel eine Art von Gummiharz bereitet, welches unter die beliebtesten Gewürze gerechnet wurde. Die Anhöhen um Cyrene waren mit dieser Pflanze bedeckt, und die aus ihr gewonnene Specerei, von ihnen Sirfi, oder Silfi, von den Römern laser undlaserpitium genannt, machte ein beträchtliches Handelsobject der Cyrener aus. Die gemeinste Meinung der Neuern ist, daß sie mit unsrer asa foetida einerlei gewesen sey. W.


24 Diese romantische Insel ist den Lesern der Odyssee hinlänglich bekannt.


25 Der bei den Römern gebräuchliche Ausdruck für Hausfrauen, Hausmütter.


S. 31. Medeenkessel der Phantasie – Wie aus Medea's Zauberkessel das Alte in neuer Jugend hervorging, so zaubert die Phantasie aus der Vergangenheit eine neue reizendere Gegenwart in der – Erinnerung.


[330] 26 Eine ansehnliche Insel an der Südküste Kleinasiens. Die gleichnamige Hauptstadt wurde während des Peloponnesischen Krieges erbaut.


27 Der eilfte Monat im Attischen Kalender, welcher größtentheils unserm Mai entspricht. W.

9. Brief.

28 Früherhin Halbinsel von Akarnanien, nachmals, als man die Landenge durchstochen hatte, Insel, berühmt wegen ihres Vorgebirgs, von dem die Sage ging, daß ein Sprung von ihm das beste Mittel sey, alle Qualen der Liebe zu enden. Dieser berühmte Leukadische Sprung hieß daher auch der Sprung der Liebenden (ἁλμα των ἐρωντων) durch welchen auch Sappho endete.

10. Brief.

29 d.i. eine der größten Seltenheiten, denn ein fabelhafter, nur alle 500 Jahre erscheinender Vogel (Herodot. 2,73) und ein fabelhaftes, von Eubemeros erdichtetes Land (vergl. die Anm. zu der Reise des Priesters Abulfauaris Bd. 29) sind hier zusammengestellt.

11. Brief.

30 Der letzte Assyrische König Sardanapalos war seiner Schwelgerei wegen berüchtigt.


31 Korbträgerin – S. oben Kanephoren. 32 Hygron (το ὑγρον του βλεμματος) Ein gewissen feuchter Glanz des Auges, worin der Blick gleichsam zu schwimmen scheint; Petrons oculorum mobilis petulantia und die oculi udi et tremuli der Photis in Apulejus goldenem Esel bezeichnen ohne Zweifel dieseshygron, welches Anakreon (Od. 28) zu einem Charakter der Augen der Venus macht, und der Bildhauer Praxiteles an seiner Knidischen Venus sogar im Marmor anzudeuten wußte, wenn Lucian (Imagin. o. 6) nicht mehr zu sehen glaubte als er wirklich sah; wiewohl auch dieß schon dem Künstler Ehre machen würde. W.

[331] 13. Brief.

33 Anspielung auf die Aristophanische Erklärung über die Liebe in Platons Gastmahl, wovon oben ausführlicher die Rede war.

15. Brief.

34 Anubis, der Mercur der Aegyptischen Mythologie, mit einem Hundskopfe dargestellt; hier eine scherzhafte Anspielung auf Sokrates, der beim Anubis oder dem Hunde zu schwören pflegte.


35 S. Anm. z. Bd. 22. Br. 13.

36 Insel im Ionischen Meere, des Odysseus Heimath und Ziel seiner Irrfahrten.
37 Das schwarze Meer.

17. Brief.


38 S. Anm. z. Bd. 22. Br. 6.


39 (Venus vulgivaga) – Die gemeine Liebesgöttin, im Gegensatz von Platons himmlischer Aphrodite Urania.


40 Orgien, heißen alle religiösen Feste, besonders die bakchischen, die mit kriegerischem Tanz, lärmender Musik und einer dabei gesetzlichen Art von Raserei begangen wurden, und hievon – von ὀργη Zorn, Leidenschaft, Affect – haben sie den Namen. Oesters werden sie gleichbedeutend mit Mysterien gebraucht.


41 Speusippos, von Athen, war seines Oheims Nachfolger als Lehrer der Philosophie in der Akademie, von dem ersten Jahre der 108ten bis zum zweiten der 110ten Olympiade. Kränklichkeit halter gab er erst das Lehren, und dann auch das Leben freiwillig[332] auf. In der Hauptsache blieb er zwar seines Oheims Lehre treu, wich jedoch in einzelnen Punkten von ihm ab.


42 Dieser ist kein anderer als der des in seiner Art vollkommen Zweckmäßigen. Man hat hiebei besonders zu berücksichtigen Buch 3. Kap. 8. der Sokratischen Denkwürdigkeiten.


43 Der wilde Esel.


44 (die Schamlosigkeit) – Eine Göttin oder weiblicher Dämon, der die Athener, auf Anrathen des Epimenides einen Tempel erbauten. (Cicero de Legg. II. 11.) W.


45 Einführer in die Mysterien.

46 S. die Anm. zu Agathodämon 5. Buch, 4. Abschnitt. Bd. 18.
47 Uebermuth, übermächtige Gewaltthätigkeit.

48 Mitleid und Scham.


49 Aus Mantinea in Arkadien gebürtig, wird als Schülerin Platons aufgeführt, die nachher auch selbst Unterricht ertheilte, so wie Axiothea von Phlius. Sie wird auch eine Schülerin des Speusippos genannt, und Wieland hat unstreitig zu der Schilderung seines Verhältnisses mit ihr folgende Punkte zusammengenommen, 1) daß Speusippos als verliebt geschildert, 2) daß von Athenäus Lasthenia eine Hetäre genannt, und 3) daß Speusippos in einem Briefe des Tyrannen Dionysius mit seiner Liebe zu ihr aufgezogen wird.


50 Platons Lehre wird mit den Mysterien verglichen in denen den Geweihten gewisse Lehren unter der Verpflichtung zur heiligsten Verschwiegenheit mitgetheilt wurden, und worin auch gewisse Namen vorkamen, welche man durch das Aussprechen außerhalb des Heiligthums entweiht haben würde.


51 Theseiden, werden von den Dichtern (und in diesen Briefen scherzweise) die Athener nach ihrem zweiten Stifter, Theseus, genannt. W.


52 Der gemeinen Meinung nach eine Art von sehr kleinen Sardellen, die in großer Menge an der Attischen Küste gesangen wurden, und zu den gewöhnlichsten Nahrungsmitteln der ärmern Volksclasse in Athen gehörten. Weil sie sehr klein und zart waren, sagte man im Sprüchwort: die Aphyen brauchen das Feuer nur zu sehen, um gekocht zu seyn. W.

[333] 18. Brief.

53 Indem Aristipp hier zwei, aus der Geschichte der Griechischen Musik bekannte, Tonarten nennt, spielt er zugleich auf der Lais frühere und spätere Lebensweise an. Die dorische ist ihre frühere, der den Peloponnes bewohnten Dorier, die lydische die, woran sie sich zu Sardes in Lydien gewöhnt hatte.


54 (Luftwandler) – Ein Uebername, welchen Aristophanes in seinen Wolken denjenigen anhängt, die sich ihrer spitzfindigen windigen Grübeleien wegen für weiser als andere dünken. Daß es nach einem Paar Jahrtausenden Aërobaten im eigentlichen Wortverstande geben würde, ließ sich damals niemand träumen. W.


55 Regel, Musterbild. Eine gewisse Bildsäule Polyklets wurde als Muster der richtigsten und in der schönsten Eurhythmie und Harmonie stehenden Verhältnisse aller Theile des menschlichen Körpers von den Bildhauern der Kanon genannt. W.


56 Mit dieser Stelle, worin wenigstens der Absicht Platons nicht Gerechtigkeit widerfährt, vergleiche man was in den Anm. zu den Briefen von Verstorbenen Br. 4. Bd. 2 6. als Vorbereitung zu späterem gesagt ist. Aristipp bat hier, so wie Platon – halb Recht. Platon wird man so lange Unrecht thun, bis man eingesehen bat, daß er nach dem ästhetischen Ideal hinstrebte, ohne den Weg dahin finden zu können, was ihm kein Billiger, der es weiß, was die Philosophie damals alles noch erst zu suchen hatte, und zum Theil noch jetzt nicht gefunden hat, zur Last legen wird.

19. Brief.

57 Eine Gegend nahe bei Athen, mit einem Tempel des Hercules, einem dazu gehörigen Hain, einem Gymnasion u.s.w. Antisthenes, der Stifter der sogenannten Eynischen Secte der Sokratiker, pflegte sich meistens hier aufzuhalten, und erhielt vermuthlich daher seinen Beinamen. W.


58 Pompeion, hieß zu Athen ein öffentliches Gebäude, aus welchem an den großen Festen die Processionen ausgingen, welche [334] einen wesentlichen Theil der Feierlichkeiten, womit sie begangen wurden, ausmachten. W.


59 Eine kleine Stadt in Böotien an der Gränze von Attika. Sie war vornehmlich wegen der Größe, Stärke und Streitbarkeit ihrer zum Kämpfen abgerichteten Hähne berühmt. W.

20. Brief.

60 S. darüber die Briefe über das Thal Tempe (in Thessalien, des eigentlichen Griechenlands nördlicher Gränze) im ersten Bande von Bartholdy's Bruchstücken zur nähern Kenntniß des heutigen Griechenlands, ein Buch, welches in den jetzigen Zeitumständen neues Interesse hat.


61 Ein unzüchtiger Tanz. Aristophanes in den Wolken rühmt sich, daß er seine Komödie nie diesen Tanz habe tanzen lassen, und Theophrast führt in seiner Charakterschilderung des Ehrlosen als einen der stärksten Züge an, daß er fähig sey den Kordax nüchtern und ohne Maske zu tanzen.


62 Wörtlich Weibertollheit, ist ein so unartiges Wort, und bezeichnet etwas so Widerliches, daß man es nur auf Griechisch sagen sollte. W.


63 Sardonisches Lachen, ist so viel als ein lautes übermäßiges Lachen, das man nicht zurückzuhalten vermag. Dieses Beiwort bezieht sich auf ein gewisses giftiges Kraut, Sardonion (auch apiastrum) genannt, welches bei dem, der es gegessen hat, heftige dem Lachen ähnliche Zuckungen erregen soll. W.


64 Ein in Holz arbeitender Bildner. W.


65 Wer den Unterschied dieser Juno von der Homerischen will kennen lernen, der findet genaue Belehrung darüber in Böttigers Kunst-Mythologie S. 85. fgg. Ihr Bild, heißt es, hat eine sehr alterthümliche Gestalt. Man möchte es den Kirchenstyl der Griechischen Vorwelt nennen. Alles geht indeß dabei von der Enthüllung und Verschleierung der Vermählten aus.


66 Der angeführte Preisgesang der Grazien von Pindar ist auf Asopichos gedichtet, der aus Orchomenos in Böotien gebürtig war, wo am Kephissos [335] der älteste Sitz und Dienst der Grazien war, auf die darum Pindar, als auf die heimathlichen Göttinnen des Asopichos, kommt.


67 Ueber die Widersprüche in den Sagen von diesem Philosophen, der erst eben so abergläubig als nachher nicht bloß ungläubig, sondern gotteslästerisch gewesen seyn soll, s. die Literarischen Miscellaneen.


68 Sichtbare Erscheinungen einer Gottheit; ein erst in viel spätern Zeiten in Gebrauch gekommenes Wort, welches, wenn diese Briefe eine Griechische Urschrift hätten, sich sicher nicht darin vorfinden würde; wiewohl eben nicht unmöglich wäre, daß Diagoras es entweder selbst gestempelt oder in den Mysterien gehört haben könnte. W.


69 Wem über alles Folgende an den gehörigen Erläuterungen liegt, die uns hier zu weit führen würden, der lese die Alterthumswissenschaft von Kanngießer und Mosers Auszug aus Ereuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker. – Wie es scheint, hat Wieland in der Schilderung jener Zeit den wichtigen Punkt nicht übergehen wollen, wie bei immer tiefer eindringender Philosophie die Volksreligion mehr und mehr in Verfall gerieth, und dazu schien ihm Diagoras der brauchbarste Mann, denn kaum einem andern hätte er diese Lucianische Quintessenz mit größerer Schicklichkeit in den Mund legen können. Er gibt in diesem Briefe gewissermaßen das Vorspiel zu dem, was sich im Peregrinus Proteus und Agathodämon vollendet.


70 Glaube an gute und böse Dämone. W.

71 S. Anm. zu Bd. 22. Br. 9.
72 Ein Beiname Jupiters, insofern der Eidschwur unter seiner besondern Aufsicht und Rüge stand. W.
73 S. Anm. zu Bd. 22. Br. 25.
74 Als die ältesten und ehrwürdigsten dieses Namens in Griechenland.

75 Weil sein Heiligthum ein höchst wichtiges politisches Institut war.


76 Theils weil sich an ihn viele gesetzliche und die Cultur befördernde Einrichtungen knüpften, theils weil man Zeus immer mehr der Idee der reinen Gottheit annäherte.


[336] 77 S. Böttigers Abhandlung Aristophanes impunitus deorum gentilium irrisor. Leipz. 1790.


78 In seinen Anmerkungen zu den Wolken des Aristophanes sagt Wieland: die Melier waren eine alte Colonie der Spartaner, und hatten immer, besonders auch in dem Peloponnesischen Kriege, ihrer vorgeblichen Neutralität ungeachtet, eine warme Anhänglichkeit an Sparta bewiesen. Sie waren daher schon allein aus diesem Grunde zu Athen übel angeschrieben; mehrere fehlgeschlagene Versuche sie zu einer freiwilligen Unterwerfung unter das nicht allzusanfte Joch der Athener zu bewegen, unterhielten den gegen sie gefaßten Groll. – Nach Eroberung ihrer Hauptstadt und Insel ließ daher auch Athen den armen Meliern seine Uebermacht auf die grausamste Weise fühlen. – S. hierüber die Anmerkung zu dem vorigen Bande.


79 S. die Anm. zu Agathodämon 5. Buch, 4. Absch, Bd. 18.


80 Ein mit Reihen von spitzigen und scharfen Eisenstäben besetzter Abgrund, worein man zu Athen zum Tode verurtheilte Verbrecher stürzte.


81 Spitzfindigkeit oder übertriebene Subtilität in unnützen und außerhalb des menschlichen Gesichtskreises liegenden Speculationen. W.

22. Brief.

82 Themistokles, der Retter Athens als Besieger der Persischen Uebermacht, ward erst aus Athen verwiesen, dann abwesend des Hochverrates angeklagt, und fand nur bei dem Persischen König Artiaxerxes Langhand Schutz und Beistand. – Konon, der Wiederhersteller Athens, der den Persern gegen die Spartaner Beistand geleistet hatte, wurde zuletzt den Persern verdächtig und, wie es scheint, von ihnen heimlich hingerichtet.


83 Für die Attische Komödie unterscheidet man bald zwei, bald drei Perioden, die alte, mittlere und neue. Die erste, ein politisch-ksitisches Tribunal, voll Personal-Satyre, blühte und verfiel mit der Demokratie. Als die Staatsgewalt durch Hülfe der siegreichen Spartaner an die Aristokraten gekommen war, mußte der freimüthige politische Tadel verstummen; und weil [337] der durch den Peloponnesischen Krieg gesunkene Wohlstand auch den vorigen Aufwand nicht mehr gestattete, so verlor sich auch der Chor und alle mit ihm verbundene Pracht. Selbst als Konon die Mauern der Stadt und des Hafens hergestellt und die Macht des Staates wieder etwas gehoben hatte, blieb diese Veränderung; Aristophanes brachte einige seiner alteren Stücke ohne Chor auf die Bühne. Da auf diese Weise die ehemalige Hauptsache jetzt Nebensache, was sonst aber Nebensache gewesen, Hauptsache geworden war, so war allerdings eine gänzliche Umbildung nöthig, und es entwickelte sich die Gattung der Komödie, die unserm Lustspiele gleicht und deren Reihen des Aristophanes Plutos eröffnet. Daß über diese neue Gattung nicht alle so günstig urtheilen als hier Aristipp, ist auch aus der neuesten ästhetischen Kritik bekannt.


84 (Ekklesiazusai) – Von Voß im dritten Band seines Aristophanes übersetzt unter dem Titel die Weiberherrschaft. Im dritten Jahre der 96sten Olympiade (393 v. Chr.) siegte Konon bei Knidos und erbaute dann mit Persischem Golde die Mauern Athens wieder. Zu Ende dieser oder zu Anfange der folgenden Olympiade wurden des Aristophanes Ekklesiazusen aufgeführt, in denen auch die Platonische Republik, von welcher im folgenden Bande gehandelt wird, nach Morgensterns sehr wahrscheinlicher Vermuthung parodirt ist.


85 Eselskopf. Alle nachfolgenden Zusammensetzungen sind mit Onos, Esel, gemacht.

23. Brief.
86 Anspielung auf eine Stelle in Pindars dreizehntem Olympischen Siegesgesange.

87 Homerisches Beiwort für Poseidon, Neptun.


88 Mannweib; die letzte Bezeichnung als Anspielung auf die von Aristophanes in Platons Gastmahl vorgetragene Theorie der Liebe.


89 Wohllautendes Wort für eine garstige Sache, jedoch dem Sinne nach nicht verschieden.


[338] 25. Brief.


90 Diogenes von Laërta nennt unter denen, welche die Philosophie Aristipps aus der Quelle zu schöpfen vorzügliche Gelegenheit hatten, einen Antipater von Cyrene; der Name ist aber alles, was er von ihm zu wissen scheint. Ob es eben derselbe ist, den wir aus diesen Briefen kennen lernen, oder nicht, kann uns gleichgültig seyn, wenn der unsrige nur gekannt zu werden verdient. W.


91 Milon von Krotona, der berühmteste Athlet seiner Zeit (er wurde sechsmal zu Delphi und eben so oft zu Olympia gekrönt, und da er zum siebentenmal in die Schranken trat, sogar ohne Kampf, weil sich niemand fand, der es mit ihm aufnehmen wollte), soll auch ein Zuhörer und Freund des Philosophen Pythagoras gewesen seyn. W.

26. Brief.

92 Die bunte Halle in Athen, hatte diesen Namen von den vielen und merkwürdigen Gemälden erhalten, womit sie geschmückt war. Aristipp gibt seiner Gemälde-Galerie darum denselben Namen.


93 »Die Fahrt nach Korinth ist nicht jedermanns Sache.« Dieses Sprüchwort scheint schon lange vor der schönen Lais im Munde der Griechen gewesen zu seyn, wurde aber scherzweise auf diejenigen angewandt, die um ihrentwillen nach Korinth reiseten. W.

27. Brief.

94 Bathyll hieß der Liebling Anakreons, dessen einzelne Schönheiten der Dichter einem Maler schildert, damit er sie zum Ganzen eines Bildes zusammensetzte.


95 Zwei Gebirge in Attika, berühmt wegen ihrer Marmorbrüche und ihres Honigs.


96 Zu Elea in Unter-Italien geboren, ein weiser Gesetzgeber für seine Lansleute, gleich ruhmwürdig durch seinen Charakter als seinen Tiefsinn, blühte um die 79ste Olympiade (464 v. Chr.), und so konnte Platon in dem Dialoge, dem er des [339] Parmenides Namen vorsetzte, diesen als Greis mit Sokrates als Jüngling redend einführen. Parmenides gehörte zu denen Philosophen, welche man, nach der Stadt Elea, Eleatische nennt, und deren Streben dahin ging, auf dem Wege des Pythagoras fortschreitend, im Philosophiren die Speculation oder Vernunfterkenntniß an die Stelle der bisherigen Beobachtung oder Sinnenerkenntniß zu setzen. Jene, ein Denken mittelst der Begriffe, gibt Erkenntniß des Allgemeinen (rationale), diese, ein Denken mittelst der Vorstellungen, gibt Erkenntniß des Besondern (empirische, Erfahrungs-Erkenntniß). Jenes Allgemeine nannte die philosophische Kunstsprache der Griechen das Eins, und dieses Besondere das Viele, so daß Erkenntniß des Eins gleichbedeutend ist mit rationaler, und Erkenntniß des Vielen mit empirischer Erkenntniß. Beide Arten von Erkenntniß sind sich gewissermaßen entgegengesetzt, und die Philosophen waren dadurch in zwei Parteien getheilt, in Anhänger des Einen (speculative Philosophen, Rationalisten), und in Anhänger des Vielen (empirische Philosophen). Diese suchten das Werden zu erklären (die in einem ewigen Wechsel zwischen Entstehen und Vergehen schwebenden Veränderungen der Gegenstände der Sinnenwelt), jene hergegen das Seyn (das bei allem Wechsel beharrliche Wesen), denn so war es dem Standpunkt eines jeden angemessen. Ehe man einsah, daß beide die Lösung desselben Problems, nur auf verschiedene Weise, versuchten, entstand zwischen beiden philosophischen Parteien Entzweiung, und bei dem Unbefangenen mußte die Frage entstehen, an welche von beiden Parteien man sich wohl zu halten habe, um die Wahrheit zu finden. Die Entscheidung war zu einer Zeit, wo man nach einer Psychologie, einer Logik, einer Wissenschaftslehre eben erst strebte, weder im Allgemeinen, noch in besonderer Hinsicht auf Parmenides zu erwarten. Gab es aber irgend einen Philosophen, der, von innerem Gefühl gedrängt und von einer dunklen Ahnung des Wahren geleitet, mit unablässigem Eifer nach jener Entscheidung strebte, so war es Platon, und wenn er, wie anderwärts, so auch in seinem Dialog Parmenides – einem, wie Schleiermacher sagt, für Viele von vielen Seiten abschreckenden Gespräch – sich durch alle Labyrinthe der Dialektik, wie sie damals zu Gebote stand, nach diesem Ziele hin arbeitet, so kann er nur unsern Dank, aber nicht unsre Vorwürfe verdienen. Man darf, um ihn richtig zu beurtheilen, nicht aus den Augen lassen, daß er von Parmenides und den Eleaten überhaupt ausgeht, und daß deren Hauptsätze, mit Hauptsätzen der Pythagoräer zusammenfließend, ihn auf die damit verbundenen Schwierigkeiten führen. Mag [340] nun der Weg, den er führt, noch so dornig seyn, mag er noch so oft geirrt haben, dem Ziele näher hat er doch geführt. Wer davon eine größere Ueberzeugung gewinnen will, der lese in Fülleborns Beiträgen zur Geschichte der Philosophie (Stück 6) dessen Erläuterungen zu den Fragmenten des Parmenides, und Schleiermachers Einleitung zu Platons Parmenides in der Uebersetzung von Platons Werken (Theil 1. Bd. 2). Antipater und Aristipp haben diesemnach hier kein Urtheil gefällt, das einen tieferen Blick verriethe; Wieland aber – gesetzt auch, daß sein Urtheil von dem ihrigen verschieden gewesen wäre – hätte ihnen doch kein anderes in den Mund legen können, denn sie beide gehörten zu der entgegengesetzten Partei, die gegen die eleatische Speculation das Zeugniß der Sinne und den gesunden Menschenverstand auf ihrer Seite hat. Wenn sie sich also auf beide beriefen, urtheilten sie im Geist ihrer Philosophie, in besonderer Beziehung auf Platon aber ihrer Individualität gemäß, d.i. über seine Untersuchungen dieser Art etwas zu voreilig absprechend, weil sie von Natur keine Neigung hatten, sich damit zu befassen. Wieland läßt sich den Aristipp hierüber auf die befriedigendeste Weise aussprechen.

28. Brief.
97 Göttin der Ueberredung.

98 Gott des Reichthums.


99 Plutarch führt in seinem Solon dieses Distichon von ihm an, welches aus den kleinen Gedichten genommen scheint, womit Solon sich in seinem hohen Alter die Zeit vertrieb, und die vermuthlich zu Plutarch Zeiten noch vorhanden waren:


Εργα δε Κυπρογενους νυν μοι φιλα και Διονυσου
Και Μουσεων, ἁ τιϑησ᾽ ἀνδρασιν ἐυφροσυνας

100 Luftwandler. Anspielung auf den Aristophanischen Sokrates.


101 Bekanntlich sind mehrere Platonische Dialogen mit Namen von Sophisten bezeichnet: Protagoras, Gorgias, Hippias. Den letzten Namen führen als Aufschrift zwei Dialogen, die man als den größeren (über das Schöne) und den kleineren zu unterscheiden pflegt.


102 Was Hippias hier in seiner Manier, und in dem Tone, [341] worin er von Plato zu reden gewohnt ist, erzählt, stimmt, der Hauptsache nach, völlig mit der Erzählung des Diogenes Laërtius überein, der sich deßhalb auf den Speusipp (in einer Schrift, Platons Begräbnißschmaus betitelt), auf den Klearch (in dessen Lobrede auf Plato) und auf den Anaxilides (im zweiten Buche seines, vermuthlich historischen, Werks von den Philosophen) beruft. W.


103 Entspricht meist unserm Monat Mai. – Der siebente Tag jedes Monats war dem Apollon geweiht, und dieser hieß Hebdomagetas, weil er an einem Siebenten geboren worden (Callim. H. in Del. 251), worüber der Platonischer Proklos sehr tiefsinnige Untersuchungen angestellt hat. – Der seine Spott in dieser Anführung des Hippias kann Keinem entgehen.


104 Amphitryon, galt für den Vater des Hercules, den aber Zeus mit der Gemahlin von jenem erzeugt hatte.


105 Antalcidas, ist bekannt durch den Frieden, den er im Namen von ganz Griechenland mit dem Perserkönig im J. 587 v. Chr. abschloß, der Friede des Antalcidas genannt. Für Sparta politisch nicht fehlerhaft, war er für ganz Griechenland verderblich, und brachte in der Folge Sparta und seinen Unterhändler ins Verderben. Dieser raubte sich im Verdruß sein Leben durch Hunger. Nichtsdestoweniger konnte Hippias hier nicht anders urtheilen als er geurtheilt hat.

29. Brief.

106 Irdische, sinnliche Liebe.


107 Ein Aristiphanisches Wort, um der Sophisten (Pseudo-Philosophen) zu spotten, welche von den Dingen über uns, die man damals Meteoren hieß, mehr schwatzten als sie wußten. W.


108 König von Sparta, über welchen wir noch eine dem Xenophon zugeschriebene eigne Schrift besitzen, hatte den Ioniern gegen Persien mit Glück beigestanden, und würde allerdings späterhin wieder dagegen aufgetreten seyn, wenn ihn der Friede des Antalcidas nicht gebunden hätte.


109 Eine Residenz der Persischen Könige in der Provinz Susiana.


110 Führung des Oberbefehls, verbunden mit dem Vorrange über die übrigen Griechischen Staaten, Vorsteherschaft, [342] ein Hauptgrund der Eifersucht zwischen Athen und Sparta, und endlich des Untergangs der Griechischen Freiheit.

30. Brief.

111 Die Insel Kos an der Küste von Karien war berühmt wegen ihrer medicinischen Schule, aus welcher selbst Hippokrates hervorging. Diese Schule zeichnete sich besonders dadurch aus, daß sie auf die bisherigen einzelnen Erfahrungen eine Theorie gründete.


112 Der achte Monat des Attischen Jahres, wovon ein Drittel mit unserm Februar, und zwei Drittel mit unserm März zusammentreffen. W.


113 Melampus, berühmt durch seine Heilung der wahnsinnigen Töchter des Prötos. – Machaon und Podelirius, als Aerzte aus der Ilias bekannt, so wie Päeon (der Heilende), den man späterhin mit Apollon verschmolz. – Auch der Centaur Chiron war Wundarzt, und ein Heilkraut wurde sogar nach ihm benannt.


114 Porus, der Gott der Betriebsamkeit, des Erwerbs und des daher entspringenden Reichthums, erzeugte mit Penia, der Göttin der Dürftigkeit, zufolge einer der Dichtungen in Platons Gastmahl, den Gott der Liebe. Bastard wird dieser hier genannt mit einer losen Anspielung auf die dort erzählte Art seiner Entstehung. S. Brief 10 und 12.


115 Δευτεραι φροντιδες (σοφωτεραι) – Die zweiten Gedanken (d.i. diejenigen, die aus Ueberlegung entspringen) sind die weiseren. Ein nicht immer wahres Sprüchwort.


116 Pygmalions, der sich in eine von ihm verfertigte Bildsäule verliebt hatte, welche von der Venus belebt wurde.


117 Ein Korinthischer Eupatride, welcher, nach der wahrscheinlichen Berechnung des de la Nauze, in der einundvierzigsten Olympiade sich der Alleinherrschaft über Korinth bemächtigte, und sie nach einer dreißigjährigen Regierung seinem Sohne Periander hinterließ. Dieser Kypselus war es, der den sieben weisesten Männern unter seinen Griechischen Zeitgenossen das Gastmahl gab, welches Plutarch irrig seinem Sohne zuschreibt, wenn anders der von Diogenes Laërtius angezogene alte Geschichtschreiber Archetimus von Syrakus [343] Glauben verdient, welcher bei diesem Gastmahle selbst zugegen gewesen zu seyn versicherte. Noch bekannter ist dieser Name in der Geschichte der Griechischen Kunst durch einen Kasten geworden, der im Tempel der Juno zu Olympia zu sehen war; ein von den Kypseliden zu Korinth zum Andenken ihres Ahnherrn dahin gestiftetes Weihgeschenk, dessen Kenntniß wir einer sehr genauen, aber ohne allen Kunstsinn und daher auch ohne Rücksicht auf die Kunst abgefaßten Beschreibung des Pausanias zu danken haben, die von einem der gelehrtesten und scharfsinnigsten Alterthumsforscher unsrer Zeit in einer eigenen Abhandlung über den Kasten des Kypselus u.s.w. (Göttingen, 1770) mit dem Fleiß, den ein so altes Kunstwerk verdiente, erläutert worden ist. W.


118 Korinth hatte zwei Häfen, wovon der eine Lechäum, der andere Kenchreä hieß. In diesen am Saronischen Meerbusen liefen die Schiffe aus Asien und Nordafrika ein.


119 Der neunte Monat der Athener, dessen erstes Drittel in unsern März, und der Rest in unsern April fällt. W.


31. Brief.


120 Göttin des Glücks.


121 Milet, vielleicht die üppigste Stadt Kleinasiens, war reich an Liebesgeschichten, und den Anfang aller Romane machen die Millesiaka, d.i. Milesische Geschichten oder Mährchen eines gewissen Aristides aus Milet. Unter Milesischen Mährchen verstand man daher das, was man späterhin Romane nannte. Da Aristides um vieles später lebte als Aristipp, so kann dieser freilich den Namen nicht von jenem entlehnt haben.

32. Brief.

122 Der zehnte Monat der Athener, der dem letzten Drittel des Aprils, und den zwei ersten des Mai's entspricht. W.


123 Vermuthlich dachte Wieland hier mehr an Geßner als an Theokrit; aber auch an diesen, später als er Lebenden, hätte Aristipp nicht denken können. Zu seiner Zeit gab es noch keine Idyllen in unsern Sinne, und als es welche gab, würde sich doch wohl Lais durch die Vergleichung mit einer Arkadischen Schäferin wenig geschmeichelt gefühlt haben.


[344] 124 S. Plinii Hist. Natur. L. 35. c. 11. Euphranor – fecit et Colossos, et marmora, ac scyphos scalpsit; docilis et laboriosus ante omnes et in quocunque genere excellens atque sibi aequalis. Hic primus videtur expressisse dignitates Heroum et usurpasse symmetriam; sed fuit universitate corporum exilior, capitibus articulisque grandior. Volumina quoque composuit de Symmetria et coloribus. Alles dieß hängt nicht sonderlich zusammen, scheint aber durch das, was Aristipp in diesem Briefe von Euphranorn sagt, und diesen selbst sagen läßt, wenigstens was den ihm gemachten Vorwurf betrifft, ein ziemlich befriedigendes Licht zu erhalten. W.


125 Einer der streitbarsten Helden der Griechischen Heroenzeit, bekannt durch seine Theilnahme an der Argonautenfahrt und der Jagd gegen den furchtbaren Kalydonischen Eber.


126 Als wackere Schmauser und Freunde von Lustbarkeiten aus der Odyssee bekannt.


127 Thesmotheten, hießen zu Athen unter den neun jährlichen Archonten die sechs letztern, denen die Oberaufsicht über die Vollziehung der Gesetze anvertraut war. W.


33. Brief.


128 Von diesem Horne wissen die Alten vielerlei zu erzählen. Es hatte einer Ziege gehört, und Zeus schenkte es den Nymphen, die ihn auferzogen hatten, und gab ihm die Kraft ihnen alles, wessen sie bedurften, zu spenden. Dadurch wurde es zu dem berühmten Horn des Ueberflusses.


129 Platons berühmtes Gastmahl, denn dieses veranstaltete der tragische Dichter Agathon nach einem Siege, den er über seine Mitbewerber um den poetischen Kranz errungen hatte.


130 Anagnosten, hießen die Sklaven, deren Geschäft war, während der Tafel vorzulesen, wozu sie theils mit der schönen Literatur bekannt, theils im Declamiren geübt seyn mußten.


131 Wer diese näher kennen zu lernen wünscht, der wird in Wolfs Einleitung [345] zu seiner Ausgabe dieses Platonischen Dialogs volle Befriedigung finden.


132 Eine Art von weiblichem Staatsgewand. Besonders wurde die große prächtig gestickte Tapezerei so genannt, welche alle 5 Jahre an den großen Panathenäen (einem Feste der Schutzgöttin von Athen) in einem feierlichen Aufzuge aus dem Pompeion nach dem Tempel der Minerva geführt und daselbst aufgehangen wurde. S. Voyage du jeune Anacharsis Vol. 2. pag. 491. W.


133 Der ungerechte Vortrag, der in den Wolken des Aristophanes als Streithahn auftritt.


134 Ευρυπροκτως ist ein schmähliches Beiwort, womit Aristophanes in seinen Wolken die sämmtlichen Athener beschmitzt, und welches ich unter die unübersetzlichen gezählt hätte, wenn die Lexikographen in diesem Stücke die Maxime der Cyniker, naturalia non sunt turpia, nicht so weit ausdehnten, daß sogar der berühmte Professor Schneider in Frankfurt kein Bedenken getragen hat, es in seinem trefflichen Griechisch-deutschen Wörterbuch mit der möglichsten Treue und Energie durch das neugestempelte Wort Weitarsch in unsre (ihrer Züchtigkeit wegen mit Recht gepriesene) Sprache einzuführen. W.

Voß hat, wie billig, da er einmal den Aristophanes übersetzte, keine Ansprüche darauf gemacht, züchtiger zu seyn als der Lexikograph und – der Dichter. Wieland selbst bei Uebersetzung dieser Stelle sagt: »Billige Leser werden, ohne mein Erinnern, von selbst einsehen, daß hier keine Möglichkeit war, das, was nun doch einmal gesagt werden mußte, auf eine anständigere Art zu sagen. Die gute Dame Dacier befand sich bei dieser Stelle, wie man denken kann, in einer schrecklichen Verlegenheit, und ihre beinahe schwärmerische Liebhaberei für dieses Stück läßt mich nicht zweifeln, daß sie sich nicht ohne einen harten Kampf endlich entschlossen habe, sich so schwer an den Aristophanischen Grazien zu versündigen, und den Vers 1079 fg. so zu dolmetschen – daß sie sich nun genöthigt sah, den Dikäologos auf alle die folgenden Fragen seines Gegners eine Antwort geben zu lassen, die den Witz ihres Lieblings bei ihren des Griechischen unkundigen Lesern um allen Eredit bringen mußte.« – Da nun aber einmal hier auf eine so kitzliche Stelle Bezug genommen ist (S. die Anm. zum Peregrinus Proteus 1. Thl. Bd. 16), so muß doch noch hinzugefügt werden, daß unter den Euryprokten zu verstehen sind Ehebrecher, wegen des Rettigs, und Mannspersonen, die [346] man in dem Sinne Weiber nennen kann, in welchem Julius Cäsar Königin gescholten wurde. (Suet. c. 49)


135 Mystagog wurde bei den Eleusintschen und andern Mysterien derjenige Priester genannt, der die Aspiranten in das Heiligthum zum Anschauen Geheimnisse einführte, und ihnen das, was sie hörten und sahen, erklärte. Man begreift hieraus, in welchem Sinne Platons Diotima in Aristipps Symposion scherzweise die Mystagogin der Liebe genennt wird. W.


136 Die Wissenschaft der Liebe (bis jetzt noch nicht aufs reine gebracht). W.


137 Thorheit, Unsinn. – Aselgeia – Ueppigkeit, Wollust, Geilheit.


138 Lais sagt selbst, daß sie das Mährchen von Amor und Psyche kaum zur Hälfte erzählte, und allerdings würde das Weitere zu den Folgerungen, die hier daraus gezogen werden sollen, nicht gepaßt haben. Desto besser aber dürfte es zu der Platonischen Theorie gepaßt, und würde vielleicht über diese noch andere, als die hier mitgetheilten, Ansichten verschafft haben. Auf jeden Fall wird man wohl thun, vor dem Endurtheil, auch hier Schleiermachers Einleitung zu dem Platonischen Gastmahl zu vergleichen.

37. Brief.

139 Κρης προς Ἀιγινητην, wurde von solchen gesagt, die gegenseitig um den Vorrang in Schalkheit und Betrug mit einander wettelferten, denn Kreter und Aegineten standen in dem gleich schlimmen Rufe sehr betrügerisch zu seyn. Erasmi Adagia p. 72. Bei uns: es ist ein Fuchs an den andern gerathen.


38. Brief.


140 Die Argonauten sollen zuerst von der Mündung des Kolchischen Flusses Phasis jene bis dahin in Europa noch unbekannte Art von Hühnern gebracht haben, welche nachmals von jenem Flusse den Namen der Fasanen erhielten. Sie waren ihrer Schmackhaftigkeit wegen so beliebt [347] wie die Aale aus dem See Kopais in Böotien, welche Aristophanes die leckersten Fische der Lecker nennt.

39. Brief.

141 Dieser unterscheidet gleich im Eingange seines Lehrgedichts eine tadelhafte und eine löbliche Eifersucht, und sagt von dieser letzten:


Sey unthätig ein Mann, sie erweckt ihn dennoch zur Arbeit,
Denn so den andern etwa ein Arbeitloser im Wohlstand
Schauete, flugs dann strebt er, den Acker zu baun, und zu pflanzen,
Wohl auch zu ordnen sein Haus; mit dem Nachbar eifert der Nachbar
Um den Ertrag: gut ist den Sterblichen solche Beeifrung.
43. Brief.

142 Die Anekdote, auf welche Diogenes hier, mit so vieler Bescheidenheit als man von einem Cyniker nur immer verlangen kann, deutet, hat ihre Richtigkeit, wenn Athenäus, wenigstens was den Hauptpunkt betrifft, Glauben verdient. Wie sich dieß mit dem Charakter unsrer Lais zusammenreimen lasse, macht uns der folgende Brief begreiflich. W.

48. Brief.

143 Für Athen hatten anfangs die mit ihm verbündeten Inseln ihre Land- und Seemacht selbst gestellt, Kimon aber schlug vor, daß sie fortan nur Geldbeiträge liefern sollten, wodurch Athen nicht nur seine Staats-Einkünfte erhöhte, sondern es auch in seine Gewalt bekam, Verbündete in Abhängige zu verwandeln, denn die Inseln verloren ihre Seemacht. Was nun erst Kriegssteuer gewesen war, wurde fortwährend eingetreiben, und stieg immer höher, von 460 Talenten unter Aristides, auf 600 unter Perikles, auf 800 unter Kleon, und in der Mitte des Peloponnesischen Krieges auf 12–1300. Auf dieses eiserne Capital wird hier ziemlich beißend angespielt.


144 Zur Unterhaltung des Krieges gegen die Perser trugen die Griechischen Städte jährlich eine Geldsumme [348] bei, die in dem Tempel Apollons auf der diesem Gotte geweihten Insel in Delos niedergelegt wurde. Diesen Schatz brachte man, um größerer Sicherheit willen, nach Athen, und Perikles bediente sich seiner, die Kosten der Baue zu bestreiten, wodurch er Athen verschönerte. Seine Vertheidigung, als man über solche Verwendung Rechenschaft von ihm forderte, kann man bei Plutarch nachlesen.


145 Eine alte Sage leitete den Namen der Stadt Cyrene von einer Nymphe dieses Namens, des Hypseus Tochter, ab. Daß diese späterhin zu Cyrene als Göttin verehrt ward, ist nicht zu bezweifeln, und auf Münzen dieses Staates finden wir noch ihr Bildniß. Eben so wenig läßt sich eine hohe literarische und künstlerische Bildung der Cyrener bezweifeln, und vielleicht behauptete nur Athen in dieser Hinsicht den Vorrang. Es ist wohl nicht überflüssig, hiebei aufmerksam zu machen auf Joh. Pet. Thrige's Historia Cyrenes inde a tempore, quo condita urbs est, usque ad aetatem, qua in provinciae formam a Romanis est redacta. Kopenhagen 1819.


146 Daß in Athen die Frauen das Schauspiel nicht besucht haben, ist in neuerer Zeit von den Meisten als ausgemacht angenommen. Eine scharfsinnige Untersuchung darüber findet man im Teutschen Merkur vom J. 1796 St. 1. Waren die Frauen in Athen Zuschauerinnen bei den dramatischen Vorstellungen? Indeß scheint die Untersuchung doch noch nicht als geschlossen betrachtet werden zu dürfen.

49. Brief.

147 Das Wort Paradeisos haben wenigstens die Griechen von den Persern, bei denen es Firdevss lautet, und einen Park im eigentlichen Sinne bedeutet, d.i. einen Thiergarten. Die Perser haben es wahrscheinlich aus Indien.


148 S. Bd. 10


149 Smyrna, bei andern Myrrha genannt – Ihre Mutter hatte sich gerühmt, schöner als Venus zu seyn, und die Göttin rächte das Verbrechen der Mutter an der Tochter dadurch, daß sie dieser eine leidenschaftliche Liebe zu ihrem eigenen Vater einflößte. Vergebens sucht sie die unnatürliche Leidenschaft zu unterdrücken, täglich mehr wächst ihre Sehnsucht, welken ihre Relze, und sie ist schon im [349] Begriff ihr Leben zu enden, als die mitleidige Amme ihr das schreckliche Geheimniß abpreßt. Nächtliche Zusammenkünfte werden veranstaltet, und der Vater kennt nicht die, die ihn beglückt. Als er endlich in ihr seine Tochter entdeckt, ergreift ihn Wuth, und mit dem Schwert in der Hand verfolgt er die Unglückliche. In Ermüdung und Angst ruft sie endlich der Götter Mitleid an, und sie wird in eine Stande ihres Namens verwandelt (Myrrhe), aus deren Rinde ein wunderschöner Knabe, Adonis, hervorgeht.


150 Vermuthlich dachte Lais hiebei an die Helena des Euripides in den Troerinnen, die zu ihrem beleidigten Gemahl sagt: die Göttin strafe, die auch die Götter beherrscht; mir gebührt Verzeihung.


151 S. Bd. 27.

51. Brief.

152 Athenäus hat uns ein ziemlich großes Bruchstück aus der Anti-Lais dieses sonst unbekannten Dichters im dreizehnten Buch seines beinahe aus lauter Fragmenten zusammengesetzten Gelehrtenschmauses aufbehalten, welches zum Belege alles dessen, was hier von ihm gesagt wird, dienen kann, und wovon eine meisterhafte Uebersetzung in der Abhandlung meines gelehrten Freundes J. über die Griechischen Hetären, im zweiten Hefte des dritten Bandes des Attischen Museums zu finden ist. W.

52. Brief.

153 Wie diese prophetische Vermuthung Aristipps vornehmlich in dem goldnen Zeitalter der nie genug zu preisenden Kaiser Hadrian und beider Antonine in Erfüllung gegangen, davon finden sich, unter andern, in Lucians Nigrinus, wo er das damalige Athen mit dem damaligen Rom so treffend contrastiren läßt, sehr schöne Beweisstellen. W.

53. Brief.

154 Anspielung auf eine Anekdote, welche Diogenes der Laërter [350] und Athenäus von Aristipp erzählen, und worüber Cicero in einem Briefe an Pätus (in Wielands Uebersetzung Bd. 5 S. 205) so schreibt: »erröthete doch auch der berühmte Sokratiker Aristippus nicht, als ihm vorgeworfen wurde, er habe die Lais. Wahr ist's, sagte er, ich habe sie, aber sie hat mich nicht. Auf Griechisch läßt sich das artiger sagen: versuche du einmal es besser zu übersetzen, wenn du Lust hast.« Man hält schon darum diese Replik für unübersetzbar, weil sie im Griechischen nur aus drei Worten besteht: ἐχω, ὀυκ ἐχομαι (habeo, non habeor bei Cicero). Außer dieser Kürze aber liegt ein noch weniger übersetzbarer Doppelsinn in dem Worte ἐχομαι (s. die Anm. von Schütz zu dieser Stelle Cicero's Epp. 4, 435). Dieser Doppelsinn wäre nun hier glücklicher als irgendwo erreicht, aber nicht die Kürze.


155 D.i. gleichgültig gegen ihre Liebe zu bleiben. Hippolytus ist bekannt aus des Euripides Tragödie dieses Namens und aus Racine's, von Schiller übersetzter, Phädra.


156 Von diesem Haupthelden der Ilias wird erzählt, daß wegen einer Weissagung, er werde vor Troja seinen Tod finden, seine besorgte Mutter ihn dem Lykomedes übergeben habe, der ihn, um ihn desto sicherer zu verbergen, in Frauentracht unter seine Töchter mischte. Im Griechischen Lager hatte man indeß die Weissagung, daß ohne Achilles Troja nicht erobert werden könnte. Man kundschaftete daher, erfuhr, und sendete Odysseus nach Skyros. Der Listige brachte unter weiblichen Geschenken für die Töchter auch Waffen mit, und bei deren Anblick verrieth sich der junge Held.


157 Pausanias wird er im folgenden Briefe nach Athenäus, bei Plutarch Hippolochus, bei andern Eurylochus, Aristonikus und Hippostratus genannt.

55. Brief.

158 Gastgeschenk. Nach Griechischer Sitte wurde jedem Gaste, wenn er sich wieder entfernte, noch irgend ein kleines Geschenk gegeben.

[351]

Dritter Band

1. Aristipp an Eurybates
[1] 1.
Aristipp an Eurybates.

Ich habe mich gewöhnt mir einzubilden daß es meinen Freunden sehr wohl ergehe, wenn sie mich lange nichts von sich hören lassen, und es wäre mir lieb, wenn sie sich eben dasselbe von mir vorstellen wollten. In der That hat die Zeit für niemand schnellere Flügel als für die Glücklichen; und wenn man auch vielbeschäftigte Personen sagen hört, daß ihnen Tage zu Stunden werden, so geschieht dieß doch meistens nur, wenn sie sich aus eigener Wahl und mit Dingen, die ihnen in einem hohen Grade wichtig oder angenehm sind, beschäftigen; denn bei Arbeiten dieser Art fühlt man sich nicht minder glücklich, ja vielmehr noch glücklicher als im Genuß eines nicht mit Arbeit erkauften Vergnügens. Bei allem dem gestehe ich, lieber Eurybates, wir haben uns beinahe zu viel darauf verlassen, daß wir einander nicht unentbehrlich sind, und wenn wir es noch lange so forttrieben, könnt' es, wiewohl gegen unsre Meinung, doch so weit mit uns kommen, daß wir einander vor lauter Wohlbefinden endlich ganz vergäßen. Denke indessen nicht, daß ich mir ein Verdienst daraus machen wolle, dir in Erneuerung unsers [1] Briefwechsels zuvorgekommen zu seyn. Du weißt, es ist meine Sache nicht, meinen Handlungen einen gleißenden Anstrich zu geben, und für weiser oder uneigennütziger angesehen seyn zu wollen, als wir andern anspruchlosen Leute gewöhnlich zu seyn pflegen. Kurz, ich habe zwei sehr eigennützige Ursachen dir zu schreiben: die erste, daß mir das Verlangen nach zuverlässigen Nachrichten von dir selbst und allem was zu dir gehört, und von der schönen Athenä überhaupt durch so lange Nichtbefriedigung peinlich zu werden anfängt; die andere, daß ich vielleicht durch dich aus meiner Ungewißheit über das Schicksal unsrer Freundin Lais gezogen zu werden hoffe. Zwei Jahre sind bereits vorüber, seitdem sie, im Begriff Korinth und das südliche Griechenland auf immer zu verlassen, mit den ahnungsschweren Worten von mir und Kleonidas Abschied nahm: »wenn ich an den Ufern des Peneus die Ruhe wieder finde, werdet ihr mehr von mir hören: wo nicht, so laßt mich in euerm Andenken leben und seyd glücklich.« – Sie hat in dieser langen Zeit nichts von sich hören lassen, und ich kann mich nicht erwehren ihrentwegen in Sorgen zu seyn; denn wofern es ihr nicht ginge wie wir wünschen, so bin ich nur allzu gewiß, daß sie zu stolz ist Hülfe von ihren Freunden anzunehmen, geschweige bei ihnen zu suchen.

Wir genügsamen Cyrener befinden uns bei unsrer goldnen Mittelmäßigkeit so wohl, daß wir uns wenig um die besondern Umstände der ewigen Zwistigkeiten und Fehden bekümmern, welche Eifersucht, Ehrgeiz und Begierde immer mehr zu haben zwischen Athen und Sparta, und überhaupt [2] zwischen dem Dorischen und Ionischen Stamm der Hellenen niemals ausgehen lassen werden. Alles was ich seit einiger Zeit von dem Uebermuth, womit die Spartaner sich der ihnen aufgetragenen Vollziehung des Friedens des Antalcidas überheben, vernommen habe, läßt mich einen nahe bevorstehenden neuen Ausbruch des allgemeinen Mißvergnügens der Städte vom zweiten und dritten Rang vermuthen, wovon die Athener ohne Zweifel Gelegenheit nehmen werden, sich der Herrschaft des Meers wieder zu bemächtigen, auf deren langen Besitz sie ein vermeintes Zwangsrecht gründen, welches ihnen von den übrigen Seestädten freiwillig niemals zugestanden werden wird.

Inzwischen erheben sich im nördlichen Griechenlande, wie uns neuerlich ein reisender Byzantiner berichtet, zwei neue Mächte; eine seit ungefähr vierzig Jahren unvermerkt heran gewachsene Republik, und ein vor kurzem noch unbedeutender Fürst; welche, wenn man ihren raschen Fortschritten noch einige Zeit so gleichgültig wie bisher zusehen würde, beide der bisherigen Verfassung der Hellenen eine große Veränderung drohen. Du siehest daß ich von Olynthus in der Chalcidice 1 und von dem Thessalischen Fürsten Jason 2 rede, der, nach allem was der Byzantiner von ihm erzählt, den Unternehmungsgeist seines alten Namensverwandten in der Heldenzeit mit der Tapferkeit Achills und der Besonnenheit des erfindungsreichen Ulysses verbindet, und kein Geheimniß mehr daraus macht, daß er nichts Geringeres vorhabe, als das alte Mutterland der Hellenen wieder in sein schon so lange her verscherztes vormaliges Ansehen zu setzen, und die Macht [3] des gesammten Griechenlands darin zusammen zu drängen, um sodann, an der Spitze aller Abkömmlinge Deukalions, das Griechische Asien auf immer vom Joche der Perser zu befreien. Meiner Meinung nach könnte euern übelberathenen, die wahre Freiheit und ihr wahres Interesse ewig verkennenden Freistaaten nichts Glücklicheres begegnen, als wenn es diesem edeln Thessalier gelänge seinen großen Gedanken auszuführen.

Aergere dich nicht, lieber Eurybates, mich so philotyrannisch reden zu hören; meine Vorliebe zur Monarchie dauert gewöhnlich nur so lange, als ich in einem demokratischen oder oligarchischen Staat lebe, und ich bin der Freiheit nie wärmer zugethan, als da wo ein Einziger alle Gewalt in Händen hat. Ein weiser und edel gesinnter Monarch weiß jedoch beides sehr gut mit einander zu vereinigen; nur Schade, daß die weisen und guten Monarchen ein eben so seltnes Geschenk des Zufalls sind als die weisen und guten Demagogen. Ist es nicht ein niederschlagender Gedanke, daß noch kein Volk auf dem Erdboden Verstand genug gehabt hat, das, was bisher bloß Sache des Zufalls war, zu einem Werke seiner Verfassung und seiner Gesetze zu machen? Und wo ist das Volk, von welchem ein solches Kunstwerk (vielleicht das größte, dessen der menschliche Verstand fähig ist) zu erwarten wäre, da das sinnreichste und gebildetste von allen, die Griechen, in so vielen Jahrhunderten noch nicht so weit gekommen ist, sich den Unterschied zwischen Regierung und Herrschaft deutlich zu machen, und einzusehen, daß wohl regieren eine Kunst, und in der Ausübung zwar eine der schwersten, aber[4] doch, so gut wie jede andre, zu erlernen und auf feste Grundsätze zurückzuführen ist? Das schlimmste ist nur, daß die Kunst wohl zu regieren, wenn sie auch gefunden wäre, ohne die Kunst zu gehorchen wenig helfen könnte; oder mit andern Worten: daß das Volk zum Gehorchen eben so wohl erzogen und gebildet werden müßte, als seine Obern zum Regieren. Der Gesetzgeber der Lacedämonier ist meines Wissens der einzige, der dieß eingesehen hat; und daß die Verfassung, die er ihnen gab, der Natur zum Trotz länger als irgend eine andere gedauert hat, ist, denke ich, hauptsächlich der sonderbaren Erziehung beizumessen, an welche alle Bürger von Sparta durch seine Gesetze gebunden sind.

Ich für meine Person werde immer und überall frei gestehen, daß mir die Wörter Herr und Herrschaft eben so herzlich zuwider sind als Knecht und Knechtschaft; ich will regiert seyn, nicht beherrscht; wenn ich aber doch ja einen Herrn über mich dulden muß, so sey es ein einziger Agamemnon, nicht alle Heerführer – und am allerwenigsten das ganze Heer der Achaier 3. Da jedoch die Wahl nicht immer in meiner Willkür steht, so werde ich mich, im Nothfall wenigstens bis uns Plato mit seiner Republik beschenken wird, mit meiner Philosophie zu behelfen wissen, die mich allenthalben unter leidlichen Umständen so glücklich zu seyn lehrt als ich billigerweise verlangen kann; und leidlich sollte sie mir sogar den Schnappsack und Stecken unsers Freundes Diogenes machen, wenn der einzige Herr, den ich gutwillig über mich erkenne, die allmächtige Göttin Anangke 4 jemals Belieben tragen sollte, mich auf so wenig Eigenthum herabzusetzen; [5] ein Fall, wovor der große König zu Persepolis am Ende nicht sicherer ist als ich.

2. Eurybates an Aristipp
2.
Eurybates an Aristipp.

Das zweideutige Mittelding von Knabe und Jüngling, aus dessen Händen du diesen Brief erhalten wirst, lieber Aristipp, trägt so deutliche Merkmale seiner Abkunft in seinem Gesichte, daß er euch hoffentlich beim ersten Anblick lebhaft genug an Droso und Eurybates erinnern wird, um ihn ohne schärfere Untersuchung für den, wofür er sich ausgibt, gelten zu lassen, und als solchen gastfreundlich aufzunehmen. Ich glaubte dir nicht besser beweisen zu können, daß Zeit und Entfernung meine dir längst bekannten Gesinnungen nicht geschwächt haben, als indem ich dir meinen Sohn Lysanias unangemeldet zuschickte, in voller Zuversicht, daß du ihn für einige Zeit unter deine Hausgenossen aufnehmen, und des Glückes unter deinen Augen zu leben würdigen werdest. Es ist nun seine eigene Sache, sich euch durch sich selbst zu empfehlen. Ihr werdet wenigstens finden, daß er euch, wie billig, nicht als ein roher Marmorblock zugefertiget worden ist. Er hat drei Jahre lang die Schule unsers berühmten Isokrates, und in dem letzt verfloss'nen sogar die Akademie besucht; und da sein noch grünes Alter ihm [6] den Zutritt zu den Geheimnissen der Philosophie verwehrte, welche der göttliche Plato in ein beinahe noch dichteres Dunkel einhüllt als jenes, das die heiligen Mysterien zu Eleusis umgibt, so hat er wenigstens von dem exoterischen Unterricht unsers Attischen Pythagoras so viel mit genommen als er aufpacken konnte.

Die Wahrheit zu sagen wünsche ich auch nicht, daß mein Sohn und Erbe sich jemals so hoch versteige, um unter die Dinge über uns zu gerathen, oder gar bis zu den Ideen unsers großen Sehers empor zu dringen, und bis zu der hehren »Göttin Anangke und ihrem vom Gipfel des Lichthimmels herabhangenden, unermeßlichen stählernen Spinnrocken und ihrer wundervollen Spindel mit den acht in einander steckenden Wirteln, auf deren jedem eine Sirene sitzt, die ihren eigenen aber immer eben denselben Ton von sich gibt, wozu die Moiren, Lachesis, Klotho und Atropos, während sie unsre Schicksale spinnen, sich die Zeit damit kürzen, alle drei zugleich, Lachesis das Vergangene, Klotho das Gegenwärtige, und Atropos das Künftige zu singen;« – wie du aus dem zehnten Buch der wundervollen Republik mit mehrerem vernehmen wirst, von welcher, als einer der neuesten überirdischen Erscheinungen aus der Akademie, Lysanias dir eine von unserm Freunde Speusipp selbst berichtigte Abschrift überbringt. Wenn du mir gelegentlich dein Urtheil über dieses sonderbare Kunstwerk, so ausführlich als Lust und Muße dir's gestatten werden, mittheilen wolltest, würdest du mir keine geringe Gefälligkeit erweisen: denn mein eigenes macht mit den dithyrambischen Lobgesängen seiner Bewunderer[7] einen so häßlichen Mißklang, daß es unbescheiden wäre, wenn ich nicht einiges Mißtrauen in seine Vollgültigkeit setzte. Aufrichtig zu reden, Aristipp, ich hab' es noch nicht über mich gewinnen können, das ganze Werk von Anfang bis zu Ende zu durchlesen; ich kenn' es nur aus einigen Bruchstücken, und würde dir daher desto mehr Dank wissen, wenn du mich durch einen umständlichen Bericht, wie du das Ganze gefunden hast (einen vollständigen Auszug darf ich dir nicht zumuthen), in den Stand setzen wolltest, mir einen hinlänglichen Begriff davon zu machen.

Es wird dir nicht entgehen, daß mein Lysanias mit einer gewissen natürlichen Anmuthung zu den Spindeln, Wirteln, Sirenen und singenden Spinnerinnen des göttlichen Platons auf die Welt gekommen ist. Um so nöthiger fand ich, ihn bei Zeiten in einen gesellschaftlichen Kreis feingebildeter aber unverkünstelter und unverschrobener, vorzüglicher aber anspruchloser, mit Einem Wort, unverfälschter und (wenn ich dir eine deiner Redensarten abborgen darf) menschlicher Menschen zu bringen, unter welchen er sich an eine natürliche Ansicht der Dinge gewöhnen, für alles Menschliche das rechte Maß finden, und sich in allem auf der Mittellinie zwischen zu wenig und zu viel mit Sicherheit und Leichtigkeit sein ganzes Leben durch fort bewegen lernen könne.

Ich würde einen meiner angelegensten Wünsche erfüllt sehen, wenn Lysanias bei euch den Beschäftigungen und Freuden des Landlebens Geschmack abgewinnen, und bei täglichem Anblick der Glückseligkeit etlicher durch Uebereinstimmung der Gemüther und wechselseitiges Wohlwollen noch enger als durch [8] die Bande der Anverwandtschaft und Verschwägerung vereinigter Familien, den hohen Werth des häuslichen Glückes schätzen lernte. Er ist mein einziger Sohn; ich möchte ihn einst als einen glücklichen Menschen hinter mir lassen, und ich habe keine Lust ihn einer Republik aufzuopfern, in welcher der Uebermuth und thörichte Dünkel des zu herrschen wähnenden, aber jedem kecken Schwätzer zu Gebote stehenden Pöbels täglich ausschweifender, die Unredlichkeit der Demagogen, die ihm den Ring durch die Nase gezogen haben, immer schreiender, die Maximen, nach welchen man handelt, immer widersinnischer, der gegenwärtige Zustand immer heilloser, und die Aussicht in die Zukunft immer trüber werden. Der gute Plato hat uns mit seiner erhabenen, aber nur gar zu hoch hinauf geschraubten Philosophie, die er zur bösen Stunde der schlichten Sokratischen untergeschoben hat, im Ganzen nicht um einen Schritt vorwärts gebracht; und wie sollt' er auch? Wahrlich, die Behauptung in seinem Menon 5, daß die Tugend keine Frucht des Unterrichts und der Erziehung seyn könne, ist nicht sehr geschickt eine bessere Erziehung unsrer immer mehr verwildernden Jugend zu befördern; und was ein noch so fein und zierlich ausgearbeitetes Modell einer Republik idealischer Menschen, die von lauter leibhaften Platonen nach idealischen Gesetzen zu einem idealischen Zweck regiert werden, uns Athenern und allen übrigen eben so unplatonischen Hellenen helfen soll – wenn du es ausfindig machen kannst, lieber Aristipp, so wirst du mich durch die Mittheilung sehr verbinden. Was ich täglich sehe ist, daß die um uns her aufschießende neue Generation (vermuthlich zu großem Trost unsers [9] Philosophen) alle mögliche Hoffnung gibt, noch schlechter als ihre schon so sehr ausgearteten Väter zu werden, und also für die Wahrheit seiner Behauptung, daß außer einer Republik von Philosophen seines Schlags kein Heil sey, noch handgreiflicher beweisen wird als wir.

So wie die Sachen dermalen bei uns stehen, kann ein ehrlicher Mann, der nicht das Opfer eines vergeblichen und lächerlichen Heldenthums zu werden Lust hat, keine bessere Partei ergreifen, als nach dem Beispiel unsrer wackern Großväter sich auf seine Hufe zurückzuziehen, seiner Oelbäume und Knoblauchfelder zu warten, seinem Hauswesen vorzustehen, und sich von allen Versuchungen der unter der schönen Larve der Vaterlandsliebe sich verbergenden Ruhmsucht und Begierde den Meister zu spielen so rein als möglich zu erhalten.

Bei allem dem können doch in Zeitläufen, wie die unsrigen, Fälle eintreten, wo man schlechterdings zwischen zwei Uebeln wählen muß, und, um nicht durch die Untüchtigkeit oder Treulosigkeit des Schiffers, auf dessen Fahrzeug man sich befindet, zu Grunde zu gehen, genöthigt ist selbst Hand anzulegen, und zu Erhaltung des Ganzen mit Rath und That beizutragen. In dieser Rücksicht wird es dann freilich nöthig seyn, daß Lysanias, außer den gewöhnlichen gymnastischen und andern Leibesübungen, sich hauptsächlich in den beiden Künsten, die einem hellenischen Staatsmann und Kriegsbefehlshaber die unentbehrlichsten sind, der Redekunst und der Kunst die Menschen recht zu behandeln, so geschickt zu machen suche als nur immer möglich seyn wird. In der letztern kann ihn niemand weiter bringen als du selbst; zur erstern hat er unter [10] Isokrates einen so festen Grund gelegt, daß es bloß einer fleißig fortgesetzten Uebung unter den Augen eines guten Meisters bedarf. Ich habe ihn deßwegen noch besonders an deinen Freund und ehmaligen Zögling Antipater empfohlen, der, nach einem langen Aufenthalt unter uns, mit allen Schätzen der Griechischen Musen beladen zu euch zurückgekehrt ist, und auch durch die genaue Kenntniß, die er sich von dem Innern unsrer zahllosen Republiken und ihren Verhältnissen gegen einander erworben hat, dem jungen Menschen nützlich werden könnte. In allem diesem, Aristipp, wird, wie ich zuversichtlich hoffe, deine Gesinnung für den Vater auch dem Sohne zu Statten kommen, und ich werde dir und deinen Freunden in seiner mit eurer Hülfe vollendeten Bildung die größte aller Wohlthaten zu danken haben.

Nun noch ein Wort von unsrer Freundin Lais. Auch ich nehme an der schönsten und liebreizendsten aller Weiber, die seit der schönen Helena die Männerwelt in Flammen gesetzt haben, zu warmen Antheil, um nicht zu wünschen, daß ich dir die angenehmsten Nachrichten von ihr zu geben haben möchte: aber mit allen möglichen Nachforschungen ist von ihrem dermaligen Aufenthalt und Zustand nichts Zuverlässiges zu erhalten gewesen, wiewohl es an allerlei einander widersprechenden und mehr oder weniger ungereimten Gerüchten nicht fehlt. Ich besorge sehr, die Moiren 6 spinnen ihr nicht viel Gutes. So viel scheint gewiß, daß ihr Vorsatz, sich in Thessalien anzusiedeln, nicht zu Stande gekommen ist. Der heillose Mensch, der ihr ganzes Wesen auf eine so unbegreifliche Art überwältiget hat, scheint ihr nicht Zeit dazu gelassen zu [11] haben. Er führte sie wie im Triumph von einer Thessalischen und Epirotischen Stadt zur andern, machte überall großen Aufwand, und verließ sie endlich (sagt man) wie Theseus die arme Ariadne auf Naxos, ohne sich zu bekümmern was aus ihr werden könnte. Sobald ich diese Nachricht aus einer ziemlich sichern Hand erhielt, schickte ich einen meiner Freigelass'nen, auf dessen Verstand und Treue ich rechnen darf, mit dem Auftrag ab, wofern es nöthig wäre ganz Thessalien, Epirus und Akarnanien zu durchwandern, um sie aufzusuchen und Nachrichten von ihr einzuziehen. Learch zu Korinth that eben dasselbe, und unser Vorsatz war, sie, sobald sie gefunden wäre, mit möglichster Schonung ihres Zartgefühls zu bewegen, überall wo sie künftig zu leben gedächte, uns die Sorge für ihre Haushaltung zu überlassen. Aber, wie gesagt, bis itzt ist es unmöglich gewesen auf ihre Spur zu kommen. Wir geben indessen noch nicht alle Hoffnung auf, und sobald wir etwas entdecken, soll es dir unverzüglich mitgetheilt werden. Wenigstens haben wir so viel mit unsern Nachforschungen gewonnen, daß alle über ihren Tod und die Art ihres Todes herumlaufenden Gerüchte bei genauerer Untersuchung falsch befunden worden sind. Mit wie vielem Vergnügen würde ich sie in den Besitz des schönen Witthums wieder einsetzen, wo der edle Leontides ihr auf alle Fälle eine ruhige und angenehme Freistätte gegen alle Zufälle des Lebens zu hinterlassen glaubte!


[12] Was euch der Byzantiner von dem schnellen Wachsthum der neuen Chalcidischen Republik Olynthus und von den weit aussehenden Entwürfen des Thessalischen Fürsten Jason berichtet hat, bestätigt sich alle Tage mehr. Der letztere ist wirklich ein Mann von seltnen und glänzenden Eigenschaften, ganz dazu gemacht sein Vaterland aus dem politischen Nichts, worin es beinahe seit der Heroenzeit gelegen, hervorzuziehen, und ihm die ganze Wichtigkeit zu verschaffen, die es vermöge seiner Lage, Fruchtbarkeit und starken Bevölkerung schon längst hätte behaupten können, wenn seine Kräfte in einen einzigen Punkt zusammengedrängt gewirkt hätten. Was Olynthus betrifft, so hat sie sich nicht nur zum Haupt einer beinahe allgemeinen Bundesvereinigung aller Städte der Chalcidice erhoben, sie hat sogar einen ansehnlichen Theil der Macedonischen Provinz Pierien an sich gebracht, den unmächtigen Amyntas aus seinem Königssitz zu Pella 7 vertrieben, und sich unter den benachbarten Thracischen Völkerschaften einen bedeutenden Anhang zu verschaffen gewußt; kurz sie ist bereits mächtig genug, eine gänzliche Unabhängigkeit von Athen und Sparta behaupten zu können; zumal da Jason (der einzige im nördlichen Griechenland, der ihrer Vergrößerungssucht Gränzen zu setzen vermöchte) es natürlicher Weise seinem Interesse gemäßer findet, mit dieser neuen Republik in gutem Vernehmen zu stehen. Daß beide unsrer Aufmerksamkeit nicht entgangen sind, kannst du dir leicht vorstellen. Beide, vorzüglich aber der Held des Tages Jason, versehen unsre Versammlungsplätze, Märkte und Hallen reichlich mit immer frischen Neuigkeiten, und wenn du uns reden hören könntest, [13] müßtest du glauben, die Athener hielten sich dem letztern noch sehr verbunden, daß er nicht müde wird, ihnen so viel Stoff zu zeitkürzenden Unterhaltungen zu geben. Denn daß wir von den Fortschritten, die er in Thessalien und den angränzenden Landschaften macht, etwas für uns selbst befürchten sollten, dazu ist er noch zu weit von uns entfernt; und sollte die Gefahr wider Vermuthen größer werden, »so sind wir ja auch da, und im Nothfall findet sich wohl immer, mit oder ohne unser Zuthun, ein Dolch, der den luftigen Entwürfen eines kleinen Thessalischen Parteigängers auf einmal ein Ziel setzt.« Mit den Olynthiern, deren täglich zunehmende Seemacht billig unsre Eifersucht reizen sollte, scheint es zwar eine andre Bewandtniß zu haben: aber »was ist denn am Ende das Olynth, das wie ein Pilz seit gestern aus dem Boden auftauchte, gegen die uralte, weltberühmte, von Pallas und Poseidon und allen andern Göttern begünstigte Athenä? und was werden diese Chalcidier gegen die Abkömmlinge der unüberwindlichen Männer von Marathon und Salamis ausrichten? Lass' sie sich doch vergrößern und ausbreiten so gut sie können, sie arbeiten doch nur für uns! Wir können der Zeitigung dieser schönen saftreichen Frucht ruhig zusehen, sicher daß wir sie pflücken werden, sobald sie uns reif genug zu seyn dünken wird.« – So, mein Freund, denkt und spricht man in Athen, und sieht daher mit der größten Gleichgültigkeit den Anstalten zu, welche die herrschlustigen Spartaner, als Vollzieher und Schirmherren des Friedens des Antalcidas, zu machen im Begriff sind, um etliche kleine, von ihnen selbst aufgehetzte Städte gegen die Olynthier in Schutz zu nehmen, und sich [14] mit diesen in eine Fehde einzulassen, »von welcher wir, wie sie auch ausfallen mag, immer den Vortheil haben werden im Trüben zu fischen, und uns um so leichter wieder zu Herren des Meers zu machen, da, allem Ansehen nach, entweder Sparta oder Olynth in den Fall kommen wird, unsern Beistand suchen zu müssen.«

Diese eben so unkluge als unedle Art von Politik ist nun einmal unter uns Griechen herrschend geworden, und wird (wie du sehr richtig voraussiehst) über lang oder kurz den Verlust unsrer Freiheit zur Folge haben. Ein Staat, der von seiner Unabhängigkeit keinen weisern Gebrauch macht als wir, und es immer nur darauf anlegt, alles rings um sich her zu unterdrücken und seiner Willkür zu unterwerfen, ist eben so unfähig als unwürdig seine eigene Freiheit zu behaupten, und bereitet thörichter Weise die Fesseln sich selbst, die er unaufhörlich für alle andern schmiedet. Aber wie weit sind wir Athener noch entfernt, uns eine solche Katastrophe der ewigen Tragödie, die wir in Griechenland spielen, träumen zu lassen? Wir sehen mit hämischer Schadenfreude zu, wie das stolze, gewaltthätige und unersättliche Sparta sich allen Griechen täglich verhaßter und unerträglicher macht, und kein warnender Dämon flüstert uns zu, daß die Spartaner nichts thun, als was wir selbst an ihrer Stelle so lange gethan haben und mit Freuden wieder thun werden, sobald das Uebergewicht wieder auf unsrer Seite seyn wird.

Wie hoch haben die Stifter von Cyrene sich um ihre Nachkommen verdient gemacht, da sie euch jenseits des libyschen Meeres, unter dem heitersten Himmel und auf dem [15] fruchtbarsten Boden, eine so schöne und sichere Freistätte bereiteten; weit genug von der stürmischen Hellas entfernt, um weder mit Gewalt in den Wirbel unsrer Händel hinein gerissen zu werden, noch in Versuchung zu gerathen, euch freiwillig darein zu mischen. Wohl euch bei eurer goldnen Mittelmäßigkeit! Cyrene wird vermuthlich niemals eine bedeutende Rolle in der Geschichte spielen; aber in Hinsicht auf Glückseligkeit ist es mit Völkern und Staaten wie mit einzelnen Menschen: man wird immer unter denen, die sich still und unbekannt durchs Leben schleichen, mehr glückliche finden, als unter denen, die am meisten Aufsehen, Geräusch und Staub um sich her machen.

3. Aristipp an Eurybates
3.
Aristipp an Eurybates.

Der schöne Lysanias hat sich durch sein sittsames, anmuthiges und gefälliges Wesen bereits nicht weniger Freunde in Cyrene erworben als Personen sind, mit welchen er bekannt zu werden Gelegenheit hatte. An einem jungen Cekropiden sind dieß so seltene Tugenden, daß man beinahe, wo nicht an seiner Attischen Autochthonie, wenigstens an seiner Erziehung in Athen zweifeln müßte, wenn er nicht von so vielen andern Seiten eine Bildung zeigte, die man in seinem Alter nur zu Athen erhalten haben kann. Mit Einem Worte, Freund Eurybates, die Grazien haben ihm bei seiner Geburt zugelächelt [16] und ihn mit der Gabe zu gefallen beschenkt, der köstlichsten aller Göttergaben, die ihrem Besitzer in allen Verhältnissen des Lebens unzählige Vortheile bringt, und nur dann gefährlich wird, wenn er sich selbst zu sehr gefällt. Bis itzt scheint unser junger Freund von dieser Untugend völlig frei zu seyn; nichts an ihm verräth daß er sich seiner Liebenswürdigkeit bewußt sey; im Gegentheil beweiset die Art, wie er das Wohlgefallen, so wir alle an ihm haben, aufnimmt, daß er, weit entfernt es für einen schuldigen Tribut zu halten, uns vielmehr dafür, als für eine ganz freiwillige Aeußerung unserer Gutherzigkeit und Wohlmeinung mit ihm, verbunden zu seyn glaubt. Daß er in dieser schönen Unbefangenheit erhalten, und weder durch zu vieles Liebkosen verzärtelt, noch durch Schmeichelei eitel und einbildisch gemacht werde, soll eine der angelegensten Sorgen aller derer seyn, denen du dieses edle Gewächs zu pflegen anvertraut hast. Wir fühlen den ganzen Werth deines Zutrauens, und werden uns beeifern es zu rechtfertigen. Inzwischen vereinigen sich Musarion und Kleone mit Kleonidas und mir, der schönen Droso zu danken, daß sie unsern Freund Eurybates mit einem so liebenswürdigen Erben beschenkt hat, und bitten sie versichert zu seyn, daß es nicht an ihrem guten Willen liegen soll, wenn er seine geliebte Mutter in Cyrene nicht doppelt wieder gefunden zu haben glauben wird.

Du siehest ohne mein Erinnern, daß sechzehn Jahre das Alter nicht sind, wo das Landleben für einen in Athen aufgewachsenen Abkömmling von Kodrus einen überwiegenden Reiz haben könnte. Es wird aber auch zu deiner Absicht genug seyn, wenn er nur, durch öftere Abwechslung des städtischen [17] Lebens mit dem ländlichen, das Nützliche sowohl als das Angenehme des letztern immer besser kennen und schätzen lernt. Der Werth, den er uns auf die Arbeiten des Landmanns, auf Feldbau, Baumzucht und alle Arten von Anpflanzungen, legen sieht, wird ihn immer aufmerksamer auf diese Gegenstände machen; er wird sehen, bemerken, fragen, auch wohl zuweilen selbst Hand anlegen, und so unvermerkt zu Kenntnissen kommen, die er, sobald der Anfang einmal gemacht ist, bei jeder Gelegenheit zu vermehren suchen wird. Ich sehe mit Vergnügen, daß sich zwischen ihm und Kratippus, dem ältesten Sohn meines Bruders, eine gegenseitige Zuneigung entspinnt, die zu einer dauerhaften Freundschaft zu erwachsen verspricht. Mein Neffe hat fünf oder sechs Jahre mehr als dein Sohn, und weiß sich des kleinen Ansehens, so ihm dieser Vorsprung gibt, mit so guter Art zu bedienen, daß er wirklich mehr über ihn vermag als wir andern alle. Lysanias zeigt eine Anhänglichkeit an seinen ältern Freund, von welcher sich viel Gutes um so gewisser erwarten läßt, weil Kratippus nichts Liebkosendes in seinem Betragen hat, und für die Lebhaftigkeit eines jungen Atheners eher zu trocken scheinen könnte. Wahrscheinlich wird diese Vorliebe zu meinem Neffen deinen Absichten förderlicher seyn, als alles was wir Aeltern dazu beitragen können. Mein Bruder besitzt große und einträgliche Ländereien in allen Gegenden der Cyrenaika, und Kratippus hat sich aus angebornem Hang zum thätigen Landleben der Verwaltung der väterlichen Güter gänzlich gewidmet. Dieß veranlaßt häufige kleine Reisen und einen längern oder kürzern Aufenthalt bald auf diesem bald auf jenem Gute. Lysanias, [18] der nicht lange ohne seinen Freund leben kann, hat ihn also schon mehrmals begleitet, und findet an diesen landwirthschaftlichen Reisen, die ihm in einem der fruchtbarsten und angebautesten Striche des Erdbodens immer neue und anziehende Gegenstände, Ansichten und Genüsse verschaffen, so viel Belieben, daß wir eher auf Mittel denken müssen, ihn in der Stadt zurückzuhalten als ihm Neigung zum Landleben einzuflößen. Indessen, da es bei diesen Landpartien weniger um Ergötzlichkeiten als um Geschäfte zu thun ist, und unser junger Gastfreund jedesmal gelehrter, verständiger und gesetzter zurückkommt, ohne einen andern Nachtheil davon zu haben, als daß die etwas mädchenhafte Gesichtsfarbe, die er nach Cyrene brachte, unvermerkt eine bräunliche Schattirung gewinnt; so halten wir es für besser ihn hierin seiner eigenen Willkür zu überlassen, und werden dennoch alles so einzurichten wissen, daß die übrigen Zwecke seines Hierseyns nicht vernachlässiget werden sollen.

Seit kurzem, lieber Eurybates, habe ich auch von Learch einen Brief erhalten, der mir über das Schicksal unsrer armen Lais nicht mehr Licht noch Trost gibt als der deinige. Wenn sie nirgends gefunden werden kann, und niemand etwas Zuverlässigeres von ihr zu sagen hat, als daß sie aus Pandasia, ihrem letzten Aufenthalt, plötzlich verschwunden sey; wenn der Taugenichts, dem sie sich aufgeopfert, sie in einer Lage verlassen hat, wo ihr keine andere Wahl blieb, als entweder die Hülfe ihrer Freunde anzunehmen – oder zur Schmach einer gewöhnlichen Hetäre herabzusinken – oder zu sterben – so weiß ich was sie gewählt hat. O mein Freund, der [19] Stolz dieses so hochbegabten außerordentlichen Weibes hatte keine Gränzen; er mußte ihr in einer solchen Lage das Herz brechen, und – es brach! Das meinige sagt es mir – sie hat gelebt! 8 – Und wohl hat sie, in der schönsten Hora des Lebens, gelebt, wie nur wenigen von Göttern Gezeugten oder ohne Maß Begünstigten zu leben vergönnt wird; und was auch das Loos ihrer letzten Tage war, über die Natur und das Glück hatte sie sich nicht zu beklagen; denn schwerlich haben beide jemals zugleich so viel für eine Sterbliche gethan als für sie. Ob sie nicht mit den Geschenken von beiden besser hätte haushalten können? – ist eine Frage, welcher die Freundschaft itzt, da ihr Schicksal entschieden ist, auszuweichen strebt. – Vielleicht hätten wir weniger schonend mit ihr umgehen sollen, da sie noch glücklich war? – Diesen Vorwurf habe ich mir selbst schon mehr als Einmal gemacht, und kann jedesmal nicht umhin, mir selbst zu antworten: es würde vergebens gewesen seyn; denn schwerlich hat man je ein Weib gesehen, die mit einer so zauberischen Sanftheit und Geschmeidigkeit eine so eisenfeste Beharrlichkeit auf ihrer Meinung, und mit einem so hellen Blick und scharfen Urtheil eine so unerschöpfliche Gabe sich selbst zu täuschen und ihre eigene Vernunft (wenn ich so sagen kann) zu überlisten, vereinigt hätte.

Ob wir gleich wohl thun, uns unaufhörlich zu sagen, es hange immer von unserm Willen ab, recht zu handeln oder nicht: so scheint doch – wenn wir den Menschen betrachten, so wie er, in unzähligen, ihm selbst größtentheils unsichtbaren Ketten und Fäden an Platons großer Spindel der Anangke [20] hangend, von eben so unsichtbaren Händen in das unermeßliche und unauflösliche Gewebe der Natur eingewoben wird – so scheint, sage ich, nichts gewisser zu seyn, als »daß ein jedes ist was es seyn kann, und daß es unter allen den Bedingungen, unter welchen es ist, nicht anders hätte seyn können.« Lais selbst hielt sich nur zu gut hiervon überzeugt. »Da ich nun einmal Lais bin (schrieb sie in ihrem letzten Brief an Musarion), so ergebe ich mich mit guter Art darein, und kann nicht wünschen, daß ich eine andere seyn möchte.« – Auch mir, lieber Eurybates, wird es, je mehr ich alles erwäge was hier zu erwägen ist, immer einleuchtender, daß der Ausgang, den das genialisch fröhliche, schimmernde und vielgestaltige Drama ihres Lebens nahm, dazu gehörte, wenn sie bis ans Ende Lais seyn sollte. Ich möchte sagen, das Schicksal war es gewissermaßen der Menschheit schuldig; sie mußte fallen; aber ich bin gewiß sie fiel wie die Polyxena des Euripides, »selbst im Fallen noch besorgt keine Blöße zu zeigen.« Nichts wäre ihr unerträglicher gewesen als vor irgend einem Auge, das einst Zeuge ihrer Glorie war, als ein Gegenstand des Mitleidens zu erscheinen. Die Art, wie sie verschwand, war die letzte Befriedigung ihres Stolzes: wir werden nichts mehr von ihr hören.

Du siehest, guter Eurybates, wie ich bei diesem traurigen Ereigniß mein Gefühl zu beschwichtigen suche. Aber die Natur behauptet ihr Recht darum nicht weniger; es kommen Augenblicke, da ich, wenig stärker als Musarion (deren Thränen um ihre geliebte Freundin und Wohlthäterin so bald nicht versiegen werden) eine Art von Trost darin finde meinem Schmerz [21] nachzuhängen; Augenblicke, da die schöne Unglückliche in aller ihrer Liebenswürdigkeit vor mir steht, und einen Glanz um sich her wirft, worin jede Schuld verschwindet und Flecken selbst zu Reizen werden. In solchen Augenblicken möcht' ich mit dem Schicksal hadern, daß es einen so düstern Schatten auf das herrliche Götterbild fallen ließ; und die vom Herzen bestochne Einbildungskraft spiegelt mir eine trügerische Möglichkeit vor, wie alles anders hätte gehen können; bis endlich die Vernunft das gefällige Duftgebilde wieder zerstreut, und mich, wiewohl ungern, zu gestehen nöthigt: es habe dennoch so gehen müssen, und, wie unbegreiflich uns auch die Verkettung unsrer Freiheit mit dem allgemeinen Zusammenhange der Ursachen und Erfolge seyn möge, immer bleibe das Gewisseste, daß das ewige, mit der schärfsten Genauigkeit in die Natur der Dinge eingreifende Räderwerk des Schicksals nie unrichtig gehen kann.

4. An Ebendenselben
4.
An Ebendenselben.

Ueber Platons Dialog von der Republik.


In Lagen, wo das Gefühl mit der Vernunft ins Gedränge kommt, ist uns alles willkommen, was uns in einen andern Zusammenhang von Vorstellungen versetzt, die entweder durch Neuheit, Schönheit und Wichtigkeit anziehen, oder durch einen Anstrich von sinnreichem Unsinn und Räthselhaftigkeit [22] zum Nachdenken reizen, und sich unvermerkt unsrer ganzen Aufmerksamkeit bemächtigen. In dieser Rücksicht, lieber Eurybates, hätte mir der neue Platonische Dialog, womit du mich beschenkt hast, zu keiner gelegenern Zeit kommen können. Ich habe ihn, unter häufig abwechselnden Uebergängen von Beifall, Interesse, Bewunderung und Vergnügen – zu Mißbilligung, Kopfschütteln, Langeweile und Ungeduld, bereits zum zweitenmale durchgelesen; was wenigstens so viel beweiset, daß, meinem Gefühle nach, das Lobenswürdige in diesem seltsamen Werke mit dem Tadelhaften um das Uebergewicht kämpfe, und es daher keine leichte Sache sey, über den innern Werth oder Unwerth desselben ein unbefangenes Urtheil auszusprechen. Wirklich scheint mir Plato alle Kräfte seines Geistes und den ganzen Reichthum seiner Phantasie, seines Witzes und seiner Beredsamkeit aufgeboten zu haben, um das Vollkommenste, was er vermag, hervorzubringen; und ich müßte mich sehr irren, oder es ist ihm gelungen, nicht nur alle seine Vorgänger und Mitbewerber, so viele ich deren kenne, sondern, in gewissem Sinne, auch sich selber zu übertreffen. Denn unstreitig muß sogar sein Phädon, Phädrus, und das allgemein bewunderte Symposion selbst, vor diesem neuen Prachtwerke zurückweichen. Da man über diesen Punkt (wie mir Lysanias sagt) zu Athen nur Eine Stimme hört, und die meinige zu unbedeutend ist, um das allgemeine Koax Koax der Aristophanischen Frösche merklich zu verstärken, so wäre wohl das Bescheidenste und auf alle Fälle das Klügste, was ich thun könnte, wenn ich es bei dem bisher Gesagten bewenden ließe. Aber du verlangst meine Meinung von dieser [23] neuen Dichtung unsers erklärten Dichterfeindes ausführlich zu lesen, und hast mich gewissermaßen in die Nothwendigkeit gesetzt dir zu Willen zu seyn, da ich nicht umhin kann, ihn gegen einen Vorwurf zu vertheidigen, den du ihm machst, und der, neben so vielen andern, die er nur zu sehr verdient, mit deiner Erlaubniß, gerade der einzige ist, von welchem ich ihn frei gesprochen wissen möchte. Bei so bewandten Dingen will ich denn (nach andächtiger Anrufung aller Musen und Grazien die Freiheiten, die ich mir mit ihrem Günstling nehmen werde, nicht in Ungnaden zu vermerken) mich dem Wagestück unterziehen, und dir meine Gedanken sowohl von Platons Republik als von diesem Dialog überhaupt ungescheut eröffnen; ohne mich jedoch zu einer vollständigen Beurtheilung anheischig zu machen, welche leicht zu einem zweimal so dicken Buch als das beurtheilte Werk selbst, erwachsen könnte.

Vor allem laß uns bei der Form dieses Dialogs, als dem ersten was daran in die Augen fällt, eine Weile stehen bleiben.

Ich setze als etwas Ausgemachtes voraus, was wenigstens Plato selbst willig zugeben wird: daß ein Dialog in Rücksicht auf Erfindung, Anordnung, Nachahmung der Natur u.s.f. in seiner Art eben so gut ein dichterisches Kunstwerk ist und seyn soll, als eine Tragödie oder Komödie; und ist er dieß, so muß er allen Gesetzen, die ihren Grund in der Natur eines aus vielen Theilen zusammengesetzten Ganzen haben, und überhaupt den Regeln des Wahrscheinlichen und Schicklichen in Ansehung der Personen sowohl als der Zeit, des [24] Ortes und anderer Umstände, eben so wohl unterworfen seyn als diese. Laß uns sehen, wie der Werkmeister dieses Dialogs gegen die verschiedenen Klagepunkte bestehen wird, die ich ihm zum Theil von etlichen strengen Kunstrichtern aus meiner Bekanntschaft machen höre, zum Theil (ohne selbst ein sehr strenger Kunstrichter zu seyn) meinem eigenen Gefühle nach, zu machen habe.

Ich übergehe den allgemeinen Vorwurf, der beinahe alle seine Dialogen, aber den gegenwärtigen noch viel stärker als die meisten andern, trifft: daß er dem guten Sokrates unaufhörlich seine eigenen Eier auszubrüten gibt, und ihm ein System von Philosophie oder Mystosophie unterschiebt, womit der schlichte Verstand des Sohns des Sophroniskus wenig oder nichts gemein hatte; kurz, daß er ihn nicht nur zu einem ganz andern Mann, sondern in gewissen Stücken sogar zum Gegentheil dessen macht was er war. Wir wissen was er hierüber zu seiner Rechtfertigung zu sagen pflegt, und lassen es dabei bewenden. Aber auf die sehr natürliche Frage: »Woher uns dieser Dialog komme?« sollte er doch die Antwort nicht schuldig bleiben. Das Ganze ist die Erzählung eines im Peiräon 9 am Feste der Thracischen Göttin Bendis 10 im Hause des reichen alten Cephalus vorgefallenen philosophischen Gesprächs zwischen Sokrates, Glaukon und Adimanthus; denn die übrigen im Eingang vorkommenden Personen nehmen an dem Hauptgespräche bloß mit den Ohren Antheil. Diese Erzählung legt Plato dem Sokrates selbst in den Mund; aber an wen die Erzählung gerichtet sey, und aus welcher Veranlassung? Wo und wann sie vorgefallen? davon sagt er uns [25] kein Wort. Was müssen wir also anders glauben, als Sokrates habe dieses Gespräch allen, die es zu lesen Lust haben, schriftlich erzählt, d.i. er habe ein Buch daraus gemacht? Wir wissen aber daß Sokrates in seinem ganzen Leben nichts geschrieben hat, das einem Buche gleich sieht. Plato verstößt also gegen alle Wahrscheinlichkeit, da er ihn auf einmal zum Urheber eines Buches macht, das kaum um den sechsten Theil kleiner ist als die ganze Ilias.

Doch wir wollen ihm die Freiheit zugestehen, die man einem Dichter von Profession nicht versagen würde, den Sokrates zum Schriftsteller zu machen, was dieser wenigstens hätte seyn können, wenn er gewollt hätte: aber wie kann er verlangen, wir sollen es für möglich halten, daß ein Gespräch, welches von einem nicht langsamen Leser in sechzehn vollen Stunden schwerlich mit einigem Bedacht gelesen werden kann, an Einem Tage gehalten worden sey, wenn gleich (was doch keineswegs der Fall war) sein redseliger Sokrates von Sonnenaufgang bis in die sinkende Nacht in Einem fort gesprochen hätte? Adimanth und Glaukon, welche bei weitem in dem größten Theile des Gesprächs bloße Wiederhaller sind, brauchten sich zwar auf ihre ewigen, »ja freilich, allerdings, nicht anders, warum nicht? so scheint's, ich sollte meinen,« und wie die kopfnickenden Formeln alle lauten, eben nicht lange zu bedenken; aber man muß doch wenigstens Athem holen, und da in diesen vollen sechzehn Stunden, die das Gespräch dauert, weder gegessen noch getrunken wurde, so kann man ohne Uebertreibung annehmen, der gute Sokrates müßte sich, trotz seiner kräftigen Leibesbeschaffenheit, dennoch zuletzt so ausgetrocknet [26] und verlechzt gefühlt haben, daß es ihm unmöglich gewesen wäre, das wundervolle Ammenmährchen von dem Armenier Er, womit Plato seinem Werke die Krone aufsetzt, in hörbaren Lauten hervorzubringen.

Laß uns indessen aus Gefälligkeit gegen den philosophischen Dichter über alle diese Unwahrscheinlichkeiten hinausgehen: aber wer kann uns zumuthen (höre ich einige meiner kunstliebenden Freunde sagen), daß wir die Urbanität so weit treiben, die Augen mit Gewalt vor einem andern Fehler zuzuschließen, der ganz allein hinreichend ist, jedes Kunstwerk, wie schön auch dieser oder jener einzelne Theil desselben seyn möchte, insofern es ein Ganzes seyn soll, verwerflich zu machen? Was würden wir von einem Baumeister sagen, der sich um die Richtigkeit und Schönheit der Verhältnisse der Seiten, Hallen, Säle, Kammern, Thüren und andrer einzelner Theile seines Gebäudes so wenig bekümmerte, daß er ohne Bedenken die rechte Seite kürzer als die linke, oder das Vorhaus größer machte als das Wohnhaus; einem hohen geräumigen Speisezimmer kleine Fenster und ungleiche Thüren gäbe, und den Gesellschaftssaal neben die Küche setzte? Oder wie würden wir den Maler loben, der, wenn er z.B. den Kampf des Hercules mit dem Achelous zum Hauptgegenstand eines Gemäldes genommen hätte, uns auf derselben Tafel die schöne Deianira unter einem Gewimmel von Mägden mit Trocknen ihrer Wäsche beschäftigt zeigte, und, zu mehrerer Unterhaltung der Liebhaber, auf beiden Seiten noch eine Aesopische Fabel, eine Gluckhenne mit ihren Küchlein neben einem sich stolz in der Sonne spiegelnden Pfauhahn anbringen, [27] und das alles so genau und zierlich auspinseln wollte, daß der Zuschauer, zweifelhaft ob der Fuchs und der Rabe, oder Deianira mit ihren Mägden, oder Hercules und Achelous, oder die Gluckhenne und der Pfau die Hauptfiguren des Stücks vorstellen sollten, über dem Betrachten der Nebendinge den eigentlichen Gegenstand immer aus den Augen verlöre? Wiewohl dieser Tadel sich auf eine, meiner Meinung nach, etwas schiefe Ansicht des Dialogs, als Kunstwerk betrachtet, gründet, und daher um vieles übertrieben ist, wie ich in der Folge zu zeigen Gelegenheit finden werde: so muß ich doch gestehen, daß das vor uns liegende Werk von einem auffallenden Mißverhältniß der Theile zum Ganzen, und von Ueberladung mit Nebensachen, welche die Aufmerksamkeit von der Hauptsache abziehen und nöthigern Untersuchungen den Weg versperren, nicht ganz frei gesprochen werden könne. Das Problem, warum es dem angeblichen Sokrates eigentlich zu thun ist, nämlich den wahren Begriff eines gerechten Mannes durch das Ideal eines vollkommenen Staats zu finden, macht kaum den vierten Theil des Ganzen aus; und ob ich schon nicht in Abrede bin, daß der Verfasser die häufigen Abschweifungen und Episoden mit der Hauptsache in Verbindung zu setzen gesucht hat, so ist doch unläugbar, daß einige derselben wahre Auswüchse und üppige Wasserschößlinge sind, andere hingegen ohne alle Noth so ausführlich behandelt werden, daß der Verfasser selbst das Hauptwerk darüber gänzlich zu vergessen scheint.

Indessen werden alle diese Fehler in meinen Augen zu Kleinigkeiten, sobald gefragt wird: wie dieses Platonische Machwerk in Ansehung dessen, worin die wesentlichste Schönheit [28] eines Dialogs besteht, beschaffen sey? – Vorausgesetzt, daß die Rede nicht von Unterweisung eines Knäbleins durch Frage und Antwort, sondern von einem Gespräch unter Männern, über irgend einen wichtigen, noch nicht hinlänglich aufgeklärten, oder verschiedene Ansichten und Auflösungen zulassenden Gegenstand ist, so läßt sich doch wohl als etwas Ausgemachtes annehmen: ein erdichteter Dialog sey desto vollkommener, je mehr er einem unter geistreichen und gebildeten Personen wirklich vorgefallenen Gespräch ähnlich sieht. In einer solchen gesellschaftlichen Unterhaltung stellt jeder seinen Mann; jeder hat seinen eigenen Kopf mitgebracht, hat seine Meinung, und weiß sie, wenn sie angefochten wird, mit starken oder schwachen, aber doch wenigstens mit scheinbaren, Gründen zu unterstützen. Wird gestritten, so wehrt sich jeder seiner Haut so gut er kann; oder sucht man einen Punkt, welcher allen noch dunkel ist, ruhig und gemeinschaftlich aufzuhellen, so trägt jeder nach Vermögen dazu bei. Glaubt einer die Wahrheit, welche gesucht wird, gefunden zu haben, so hört er die Zweifel, die ihm dagegen gemacht werden, gelassen an, und die daraus entstehende Erörterung dient entweder die gefundene Wahrheit zu bestätigen und anerkennen zu machen, oder den vermeinten Finder zu überführen, daß er sich geirret habe; und wäre auch einer in der Gesellschaft allen übrigen an Scharfsinn und Sachkenntniß merklich überlegen, so ist dieser so weit entfernt sich dessen zu überheben, das Wort allein führen zu wollen, und den andern nichts übrig zu lassen als immer Ja zu sagen, daß er ihnen sogar, falls sie ihre Zweifel und Einwürfe nicht in ihrer ganzen Stärke vorzutragen wissen, mit guter Art zu [29] Hülfe kommt, ihre Partei gegen sich selbst nimmt, und nicht eher Recht behalten will, bis alle Waffen, womit seine Meinung bestritten werden kann, stumpf oder zerbrochen sind. Unterhaltungen dieser Art sind es, die der Dialogendichter zu Mustern nehmen muß; aber auch dadurch hat er den Forderungen der Kunst noch kein Genüge gethan. Denn da er, als Künstler, sich nicht auf das Gemeine und Alltägliche beschränken, sondern das Schönste und Vollkommenste in jeder Art, oder genauer zu reden, ein in seinem Geiste sich erzeugendes Bild desselben, zum Vorbilde seines Werkes nehmen und dieses eben dadurch zum wahren Kunstwerk erheben soll: so kann mit dem größten Rechte von ihm erwartet werden, daß die gelungene Bestrebung, dem Ideal eines vollkommenen Dialogs so nahe als möglich zu kommen, in seinem ganzen Werke sichtbar sey. Ich darf nicht besorgen einer Ungerechtigkeit gegen unsern Dialogendichter beschuldiget zu werden, wenn ich sage, daß er bei der Ausarbeitung des Gespräches, wovon wir reden, eher an alles andere als an diese Pflicht gedacht habe; denn statt eines Gemäldes, worin Sokrates als die Hauptfigur in einer Gesellschaft, in welcher es ehrenvoll ist der erste zu seyn, erschiene, glauben wir den Homerischen Tiresias unter den Todten zu sehen.


»Er allein hat Verstand, die andern sind flatternde Schatten.«


In der That sind von der letzten Hälfte des zweiten Buchs an alle übrigen eine Art von stummen Personen; selbst Glaukon und Adimanth, an welche Sokrates seine Fragen richtet, haben größtentheils wenig mehr zu sagen, als was [30] sie, ohne den Mund zu öffnen, durch bloßes Kopfnicken, oder ohne sichtbar zu seyn, wie die körperlose Nymphe Echo, durch bloßes Widerhallen hätten verrichten können; und so ist nicht zu läugnen, daß dieser sogenannte Dialog eben so gut und mit noch besserm Recht ein Sokratischen Monolog heißen könnte.

Daß das erste und zweite Buch hiervon eine Ausnahme macht brachte die Natur der Sache mit sich. In einer Gesellschaft von mehr als zwölf Personen, will sich's nicht wohl schicken, daß einer sich der Rede sogleich ausschließlich bemächtige; und Plato benutzt diesen Umstand, seine Leser gleich anfangs durch das Gespräch zwischen Sokrates und dem alten Cephalus (dem Herrn des Hauses) über die Vortheile und Nachtheile des hohen Alters (die kleinste und schönste Episode dieses Werks) in Erwartung einer angenehmen und interessanten Unterhaltung zu setzen. Aber lange kann der Platonische Sokrates ein Gespräch dieser Art nicht ausdauern. Er muß etwas zu disputiren haben; und da ihm Cephalus keine Gelegenheit dazu gibt, macht er sie selbst, indem er ihn, man sieht nicht recht warum, durch eine verfängliche Frage in einen Streit über den richtigen Begriff der Gerechtigkeit zu ziehen sucht, und dadurch den eigentlichen Gegenstand dieses Dialogs, wiewohl ein wenig bei den Haaren, herbeizieht. Der schlaue Alte, der die Falle sogleich gewahr wird, macht sich, mit der Entschuldigung, daß seine Gegenwart beim Opfer nöthig sey, in Zeiten aus dem Staube; seinem Sohne Polemarchus auftragend, die Sache mit dem kampflustigen Herrn auszufechten. Der junge Mann zeigt sich dazu bereitwillig, und der Streit beginnt über den Spruch des Simonides, [31] »jedem das Seine geben ist gerecht,« welchen Polemarch behauptet, Sokrates hingegen mit verstellter Bescheidenheit und Ehrfurcht »vor einem so weisen und göttlichen Manne wie Simonides,« unter dem ironischen Vorwand er verstehe die Meinung dieser Worte nicht recht, nach seiner gewohnten Art bestreitet, indem er jenen durch unerwartete Fragen und Inductionen in die Enge zu treiben und zum Widerspruch mit sich selbst zu bringen sucht. Polemarch wehrt sich zwar eine Weile, sieht sich aber, da er zu rasch und hitzig dabei zu Werke geht und seinem Gegner an Spitzfindigkeit nicht gewachsen ist, ziemlich bald genöthigt, seine Meinung zurück zu nehmen. Ich gestehe, daß ich es, an Platons Stelle, nicht über mich hätte gewinnen können, weder den Sokrates mit so ströhernen Waffen fechten, noch den Sohn des Cephalus sich so unrühmlich überwunden geben zu lassen. Man könnte zwar zu seiner Entschuldigung sagen: bekanntermaßen habe Sokrates sich gegen die Sophisten und ihre Schüler aus Verachtung keiner schwerern Waffen bedient; da es ihm nicht darum zu thun gewesen sey, sie zu belehren, sondern ihrer zu spotten, sie in Widersprüche mit sich selbst zu verwickeln, und eben dadurch, daß sie sich so leicht verwirren und in Verlegenheit setzen ließen, sie selbst und die Zuhörer ihrer Unwissenheit und Geistesschwäche zu überweisen. Ich antworte aber: sobald Plato, der Schriftsteller, sich die Freiheit herausnahm, den nicht mehr lebenden Sokrates zum Helden seiner philosophischen Dramen und dialektischen Kampfspiele zu wählen, und ihm zu diesem Ende eine subtile, schwärmerische, die Gränzen des Menschenverstandes überfliegende Philosophie, die nichts [32] weniger als die seinige war, in den Busen zu schieben; mit Einem Wort, sobald er sich erlaubte aus dem wirklichen Sokrates einen idealischen zu machen, würde es ihm sehr wohl angestanden haben, auch die einzigen Züge, die er ihm lassen mußte, wenn er sich selbst noch ähnlich sehen sollte, die Art wie er die Ironie und die Induction zu handhaben pflegte, zu idealisiren; ich will sagen, sie mit aller der Feinheit und Kunst zu behandeln, deren sie bedarf, wenn sie für eine Methode gelten soll, dem gemeinen Menschenverstand den Sieg über sophistische Spitzfindigkeit und täuschende Gaukelei mit Aehnlichkeiten, Wortspielen und Trugschlüssen zu verschaffen. Dieß, denke ich, müßte ihm Pflicht seyn, wenn er das An denken seines ehrwürdigen Lehrers wirklich in Ehren hielte, und ich sehe nicht, womit er zu entschuldigen wäre, daß er in diesem Wortgefechte mit Polemarch gerade das Gegentheil thut. Oder muß es nicht dem blödesten Leser in die Augen springen, daß sein vorgeblicher Sokrates den Spruch des Simonides auf eine Art bestreitet, die den Leser ungewiß läßt, ob der Sophist Sokrates den ehrlichen Polemarch, oder der Sophist Plato den ehrlichen Sokrates zum Besten haben wolle? Denn (was wohl zu bemerken ist) Polemarch erscheint in diesem Streit zwar als ein ziemlich kurzsinniger und im Denken wenig geübter Mann, aber nichts an ihm läßt uns argwohnen, daß es ihm nicht um Wahrheit zu thun sey; und der Satz des Simonides, wenn er gleich den höchsten und reinsten Begriff dessen was gerecht ist nicht erreicht, drückt doch eine so allgemein für Wahrheit anerkannte Maxime aus, daß man nicht begreift, wie Platons Sokrates sich erlauben [33] kann, einen so platten langweiligen Scherz damit zu treiben. Oder sollte Plato im Ernst glauben, die Erklärung des Simonides werde dadurch der Unrichtigkeit überwiesen, »daß einer z.B. Unrecht hätte, wenn er ein bei ihm hinterlegtes Schwert dem Eigenthümer auf Verlangen wieder gäbe, falls dieser wahnsinnig wäre, oder der Depositor gewiß wüßte, daß er seinen Vater damit ermorden wolle?« Denn wer sieht nicht, daß hier bloß mit den verschiedenen Bedeutungen, die das Wort gerecht im gemeinen Leben hat, gespielt wird; daß die Fälle, worin es nicht recht, d.i. weder gesetzmäßig noch klug, schicklich und rathsam ist, das Anvertraute dem Eigenthümer wieder zu geben, Ausnahmen sind, die aus dem Zusammenstoß verschiedener gleich heiliger Pflichten entstehen; und daß daher unter verschiedenen Umständen und in verschiedener Ansicht eben dasselbe recht und unrecht seyn kann? Daß Sokrates dieß nicht zu wissen scheint – und daß der gute Polemarch, sobald ihm die Ausnahme als ein Einwurf vorgehalten wird, gleich so erschrocken, als würde ihm der Kopf der Gorgone vor die Augen gehalten, zurückspringt, und den Worten des Simonides flugs eine andere Deutung gibt, die er gleichwohl eben so wenig gegen die Sophistereien und Ironien des großen dialektischen Kampfhahns zu behaupten weiß, – alle diese Antinomien 11 gegen die Gesetze der gesunden Vernunft sind, ich muß es gestehen, etwas hart zu verdauen, wiewohl sie aufhören in Erstaunen zu setzen, wenn man gesehen hat, daß das ganze Buch von ihres gleichen wimmelt. Und gleichwohl dürft' es jedem Leser, der gerade keinen besondern Sinn für die Reize dieser Art [34] von Spaßmacherei hat, schwer fallen, an dem göttlichen Plato nicht irre zu werden, wenn er auf die platten, und in eine Menge kleiner, zum Theil ganz müßiger Quästiunkeln aufgelösten Inductionen stößt, wodurch der treuherzige Polemarch sich vom Sokrates weiß machen läßt: aus seiner Hypothese, »jedem das Seine geben sey so viel als seinen Freunden Gutes und seinen Feinden Böses thun,« folge ganz natürlich, der gerechteste Mann sey der größte Dieb, und die Gerechtigkeit sey nur insofern etwas Gutes als man keinen Gebrauch von ihr mache. Wer kann sich einbilden, ein so scharfsinniger geometrischer Kopf wie Plato habe sich selbst über die Armseligkeit solcher Beweise, die zum Theil auf bloßen Wortspielen beruhen, täuschen können, und sehe nicht so gut als wir, daß Polemarch der blödsinnigste Knabe von der Welt gewesen seyn müßte, wenn er sich in so groben Schlingen hätte fangen lassen? Er muß also eine besondere Absicht dabei gehabt haben; und was konnte diese anders seyn, als seinem Pseudo-Sokrates, um ihm desto mehr Aehnlichkeit mit dem wahren zu geben, eine Eirons 12-Larve umzubinden; und die bekannte Manier im Dialogisiren, welche dem ächten Sokrates eigen war und vom Xenophon in seinem Symposion so schön dargestellt wird, auf eine Art nachzuahmen, die zu jener Larve paßt, und gerade deßwegen, weil sie übertrieben ist, dem großen Haufen und den Fernestehenden die Aehnlichkeit seines Zerrbildes mit dem Original (dessen feinste Züge im Gedächtniß der Meisten schon ziemlich abgebleicht sind) desto auffallender macht?

Unter die ziemlich häufig in diesem Dialog vorkommenden [35] Beispiele, daß Plato, sobald er will, die dramatische Wahrheit und das, was jeder Person zukommt, sehr gut zu beobachten weiß, rechne ich die Art, wie er den Sophisten Thrasymachus auf den Kampfplatz springen läßt, und überhaupt, die wahrhaft Attische Eleganz und Feinheit, womit er die eitle Selbstgefälligkeit und den neckenden, naserümpfenden, nicht selten in beleidigende Grobheit übergehenden Stolz des plumpen Sophisten mit der kaltblütigen Urbanität und ironischen Demuth des seiner spottenden Sokrates contrastiren läßt. Nur Schade, daß der letztere auch hier seine Würde nicht durchaus so behauptet, wie der Anfang uns erwarten macht. Man könnte zwar sagen, es zeige sich in dem ganzen ersten Buche, daß es dem Sokrates noch kein rechter Ernst sey; daß er bloß, wie ein Citherspieler der sich hören lassen will, sein Instrument zu stimmen und zu probiren scheine, wiewohl er, auch indem er nur nachlässig auf den Saiten herumklimpert, schon zu erkennen gibt was man von ihm zu erwarten habe. Es mag seyn, daß Plato diesen Gedanken hatte; indessen möcht' ich doch behaupten, daß die Disputation mit dem Sophisten Thrasymachus unter die ausgearbeitetsten Theile des ganzen Werks gehöre, und für ein Meisterstück in der ächtsokratischen Manier, einen streitigen Punkt aufs Reine zu bringen, gelten könnte, wenn Sokrates seinem eigenen Charakter immer getreu bliebe und – nachdem er den Sophisten so weit getrieben, daß er geradezu behaupten muß, die Ungerechtigkeit sey Weisheit, und die Gerechtigkeit also das Gegentheil, – sich nicht, aus wirklicher oder verstellter Verlegenheit wie er ihn widerlegen wolle, in eine [36] weitausgeholte, spitzfindige Manier mit unbestimmten, schillernden und doppelsinnigen Begriffen und Sätzen, wie mit falschen Würfeln, zu spielen, verirrte, d.i. wenn der verkappte Sokrates, der seine Rolle bisher bis zum Täuschen gespielt hatte, nicht auf einmal in den leibhaften Plato zurückfiele, und am Ende noch zehnmal mehr Sophist würde als sein Gegner selbst. Es ist schwer zu begreifen, wie Plato sich in solchen Spielereien so sehr gefallen, oder wie er glauben kann, er habe seinen Gegner zu Boden gelegt, wenn er durch eine lange Reihe nichts beweisender Gleichungen zuletzt das Gegentheil von dem, was jener behauptet hatte, herausbringt. Das Allerseltsamste aber ist dann doch, daß in diesem ganzen Schattengefechte beide streitende Parteien, indem sie einen bestimmten philosophischen Begriff von der Gerechtigkeit suchen, den popularen, auf das allgemeine Menschengefühl gegründeten Begriff immer stillschweigend voraussetzen, ohne es gewahr zu werden. Es ist als ob die närrischen Menschen den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen könnten; sie suchen was ihnen vor der Nase liegt, und was sie bloß deßwegen nicht finden, weil sie sich in einer Art von Schneckenlinie immer weiter davon entfernen. Sie würden gar bald einig geworden seyn, wenn Sokrates, statt der kleinen spitzfindigen und hinterstelligen Fragen, die ihm schon Aristophanes vorwarf, geradezu gegangen, und das, was alle Menschen, vermöge eines von ihrer Natur unzertrennlichen Gefühls, von jeher Recht und Unrecht nannten, in seiner ersten Quelle aufgesucht hätte. Leicht wär' es dann gewesen, das, was Recht ist, von dem, was Wahn oder Gewalt zu Recht [37] setzen, zu unterscheiden; die Streitenden hätten einander nicht lange mißverstehen können, und wären in der Hälfte der Zeit einig geworden, welche Platons sophistisirender Sokrates verschwendet, um – am Ende selbst gestehen zu müssen, daß – nach allem, was über die albernen Fragen: ob die Gerechtigkeit Tugend oder Untugend, Weisheit oder Thorheit, nützlich oder schädlich sey? seit mehr als einer langen Stunde gewitzelt, ironisirt und in die Luft gefochten worden, – die große Frage, was ist Gerechtigkeit? aus seiner Schuld noch immer unausgemacht geblieben sey.

Wie Sokrates, nach einem solchen Geständniß, zu Anfang des zweiten Buchs sagen kann: »er habe geglaubt das Gespräch sey nun zu Ende,« weiß ich nicht; denn daß Thrasymachus schon seit einer ziemlichen Weile, mit dem hoffärtigen Anstand einer Kämpfers, der seinen Gegner nicht für gut genug hält ihn seine Ueberlegenheit fühlen zu lassen, sich zurückzieht, machte zwar dem Spiegelgefecht mit ihm ein Ende; aber die Untersuchung selbst war so wenig beendigt, daß sie nicht einmal recht angefangen hatte. In der That hatte Thrasymachus seine Sache so schlecht geführt, daß man zur Entschuldigung des Sokrates sagen könnte: er habe es nicht der Mühe werth gehalten Ernst gegen einen Antagonisten zu gebrauchen, den man schon mit Strohhalmen in die Flucht jagen konnte. Ob Plato diesem Sophisten, indem er ihn zu einem eben so hohlen als aufgeblasenen Strohkopf macht, Recht oder Unrecht gethan habe, mag dahingestellt seyn; genug daß durch die Art, wie der Streit bisher geführt wurde, für die gute Sache der Gerechtigkeit, welche doch [38] nach Platons Absicht in diesem Dialog einen entschiedenen Sieg über ihre Gegner erhalten sollte, wenig oder nichts gewonnen war. Das Werk mußte also ernsthafter angegriffen werden. Um dieses zu bewerkstelligen, stellt Plato in seinen Brüdern Glaukon und Adimanthus zwei neue Personen auf, welche bisher noch keinen thätigen Antheil an dem Gespräche genommen hatten; und man muß gestehen, daß er sein Möglichstes gethan hat, die Rolle, die er ihnen im zweiten Buche zu spielen gibt, glänzend und ehrenvoll zu machen. Der erste von ihnen, Glaukon, tritt zwar als Verfechter der Ungerechtigkeit auf, deren Sache Thrasymachus (wie er meint) allzu lässig vertheidigt und ohne Noth viel zu früh aufgegeben habe; verwahrt sich aber mit vieler Wärme gegen den Verdacht, als ob er, indem er alle seine Kräfte zu Gunsten der Ungerechtigkeit aufbiete, aus eigener Ueberzeugung und gleichsam aus der Fülle des Herzens rede. Also bloß um den Gegnern der Gerechtigkeit alle Möglichkeit der Einwendung, als ob ihre Gründe nicht in ihrer ganzen Stärke geltend gemacht worden wären, abzuschneiden, und um den Sokrates in die Nothwendigkeit zu setzen, sich der guten Sache in vollem Ernst anzunehmen, nimmt Glaukon das Wort, und macht sich anheischig: vor allen Dingen zu erklären, was nach der Meinung derjenigen, für welche Thrasymachus gesprochen habe, die Gerechtigkeit sey und woher sie ihren Ursprung nehme; sodann zu zeigen, daß diejenigen, die sich der Gerechtigkeit befleißigen, es nicht deßwegen thun, weil sie in ihren Augen ein Gut, sondern weil sie ein nothwendiges Uebel ist; und endlich drittens zu beweisen, daß [39] diese Leute Recht haben; sintemal die Erfahrung bezeuge, daß das Leben des Ungerechten in der That glücklicher sey als des Gerechten. »Nicht als ob ich selbst diese Meinung hegte,« sagt Glaukon; »aber doch stoßen mir zuweilen Zweifel auf, da ich täglich von Thrasymachus und zehntausend andern so viel dergleichen hören muß, daß mir die Ohren gellen, hingegen mir noch niemand, so wie ich es wünschte, bewiesen hat, daß der Gerechte sich im Leben besser befinde als der Ungerechte.«

Ich zweifle ob unser alter Freund Hippias selbst diese Lieblingslehre der Sophisten (die übrigens in der Geschichte der Menschen und der Erfahrung nur allzu gegründet ist) deutlicher und scheinbarer hätte vortragen und zierlicher zusammenfassen können, als in der kleinen Rede geschehen ist, welche Plato seinem Bruder Glaukon hier in den Mund legt. Ob aber gleichwohl durch die unserm Philosophen eigene Art, alles aufs Höchste zu treiben, den Behauptern der Lehre, »daß der Unterschied zwischen dem, was die Menschen Recht und Unrecht nennen, sich bloß auf einen durch die Noth aufgedrungenen Vertrag gründe,« nicht einiges Unrecht geschehe, dürfte wohl die Frage seyn. »Unrecht thun« (sagt Glaukon) »ist, nach der gemeinen Meinung, an sich selbst, oder seiner Natur nach gut, Unrecht leiden an sich selbst, übel. Aber aus dem Unrecht leiden entsteht mehr und größeres Unheil, als Gutes aus dem Unrecht thun. Nachdem nun die Menschen einander lange Unrecht gethan und Unrecht von einander erlitten, glaubten die Schwächern, – eben darum, weil die Schwäche, um derentwillen sie alles [40] Unrecht von den Stärkern leiden müssen, sie unvermögend machte, das Vergeltungsrecht an jenen auszuüben, – sich nicht besser helfen zu können, als indem sie in Güte mit einander übereinkämen weder Unrecht zu thun noch zu leiden.« – Auf diese Weise, meint er, seyen die Gesetze und Verträge entstanden, und so habe das durchs Gesetz Befohlene oder Verbotene die Benennung des Rechts oder Unrechts erhalten. Dieß sey also der Ursprung der Gerechtigkeit, und so stehe sie, ihrem Wesen nach, zwischen dem Besten und dem Schlimmsten in der Mitte; denn das Beste wäre, ungestraft Unrecht zu thun, das Schlimmste Unrecht zu leiden ohne sich rächen zu können. Die Gerechtigkeit werde also nicht geschätzt weil sie etwas Gutes an sich sey, sondern bloß insofern sie den Schwächern zur Brustwehr gegen die Beeinträchtigungen der Stärkern diene. Wer sich folglich stark genug fühle, dieser Brustwehr nicht zu bedürfen, werde sich wohl hüten sich in Verträge, andern kein Unrecht zu thun um keines von ihnen zu leiden, einzulassen; denn da er das letztere nicht zu befürchten habe, so müßte er wahnsinnig seyn, wenn er sich des Vortheils, den Schwächern ungestraft Unrecht zu thun, freiwillig begeben wollte.

Ich kann mich irren, aber so weit ich die Sophisten, deren System Plato in diesem zweiten Buche in seiner ganzen Stärke vorzutragen unternommen hat, kenne, scheint er mir, es sey nun vorsetzlich oder unvermerkt, etwas von seiner eigenen Vorstellungsweise in die Darstellung der ihrigen eingemischt zu haben. Ich wenigstens zweifle sehr, ob es jemals einem Menschen eingefallen ist, zu behaupten: Unrecht [41] thun sey gut an sich. Und was versteht Glaukon, aus dessen Munde Plato hier spricht, unter Unrecht thun? Wenn der Unterschied zwischen Recht und Unrecht erst durch Verträge und verabredete Gesetze bestimmt werden muß, so gibt es in dem Zustande der natürlichen Freiheit, der den gesellschaftlichen Vereinigungen vorhergeht, kein Unrecht. Oder spielt Plato, wie er so gern thut, auch hier mit dem Doppelsinn des Worts adikein, welches sowohl beleidigen, als Unrecht thun bedeutet? Im Stande der natürlichen Freiheit (den ich lieber den Stand der menschlichen Thierheit nennen möchte) beleidige ich den Schwächern, dem ich die Speise, womit er seinen Hunger stillen will, mit Gewalt wegnehme; im Stande der politischen Gesellschaft thue ich ihm dadurch Unrecht, weil das Gesetz alle Beleidigungen verbietet. So verstehen es meines Wissens, die Sophisten; und wiewohl sie behaupten, daß es dem Menschen, welcher Macht genug hat alles zu thun was ihm beliebt und gelüstet, nicht unrecht sey die Schwächern zu berauben oder zu unterjochen, sobald er Vortheil oder Vergnügen davon zu ziehen vermeint: so hat doch schwerlich einer von ihnen jemals im Ernste behauptet, Unrecht thun, oder andere beleidigen sey schon an sich selbst, ohne Einschränkung, Bedingung oder Rücksicht auf einen dadurch zu gewinnenden Vortheil, gut, folglich recht thun an sich selbst übel. Sie kennen überhaupt kein Gut noch Uebel an sich, sondern betrachten alle Dinge bloß wie sie in der Wirklichkeit sind, d.i. wie sie allen Menschen, in Beziehung auf sich selbst oder auf den Menschen überhaupt, unter gegebenen Umständen scheinen. Im Stande der freien Natur [42] erlaubt sich (sagen sie) der Stärkere alles, wozu er durch irgend ein Naturbedürfniß oder irgend eine Leidenschaft, Lust oder Unlust, getrieben wird; aber in diesem Stande gibt es, genau zu reden, keinen Stärkern als für den Augenblick; denn der Stärkste wird sogleich der Schwächste, sobald mehrere über ihn kommen, wiewohl er jedem einzelnen überlegen wäre. Jener angebliche Naturstand ist also ein allgemeiner Kriegsstand, bei welchem sich am Ende, wo nicht alle, doch gewiß die meisten so übel befinden, daß sie sich entweder in Güte zu einem gesellschaftlichen Leben auf gleiche Bedingungen verbinden, oder irgend einem Mächtigen gezwungen unterwerfen müssen, falls sie sich ihm nicht aus Achtung und Zutrauen, mit oder ohne Bedingung, freiwillig untergeben. In allen dreien Fällen sind Gesetze, welche bestimmen was sowohl den Regierenden oder Machthabern als den Regierten oder Unterworfenen recht und unrecht ist, nothwendig; denn sogar ein Tyrann, der alles kann was ihn gelüstet, wird sich, wenn er Verstand genug hat sein eigenes Bestes zu beherzigen, nicht alles erlauben was er kann. Indessen ist nicht zu läugnen, daß der Grundsatz der Sophisten, »die Gerechtigkeit (insofern die Erfüllung der bürgerlichen Gesetze darunter verstanden wird) sey ein Zaum, den bloß die Nothwendigkeit den Menschen über den Hals geworfen habe, und von welchem jedermann, sobald er es ungestraft thun könne, sich loszumachen suche,« sich als Thatsache auf die allgemeine Erfahrung gründet, und daß die Sokratesse (wofern es jemals mehr als Einen gegeben hat) noch seltner als die weißen Raben sind. Diese Thatsache ist [43] im Lehrbegriff der Sophisten eine natürliche Folge des Beweggrundes, der die Menschen aus dem freien Naturstande (wo die Kraft allein entschied, und, weil es noch kein Gesetz gab, jeder sich alles erlauben durfte was er auszuführen vermögend war) heraustrieb, und in den Stand des politischen Vereins zu treten nöthigte. Jene unbeschränkte Freiheit würde von den Menschen als ihr höchstes Gut angesehen werden, wenn sie nicht, eben darum weil sie nur von dem Stärkern ausgeübt werden kann, die unsicherste Sache von der Welt wäre. Denn welcher Mensch kann sich in einem Stande, wo Einer immer gegen Alle und Alle gegen Einen sind, nur einen Tag darauf verlassen, der Stärkere zu bleiben? Die eiserne Nothwendigkeit zwingt sie also, wider ihren Willen, zum gesellschaftlichen Verein, als dem einzigen Mittel, ihr Daseyn und jeden daher entspringenden Genuß unter Gewährleistung der Gesetze in Sicherheit zu bringen. Natürlicherweise aber behält sich jeder stillschweigend vor, die Gesetze (die ihm nur, insofern sie ihn gegen andere schützen, heilig, aber, insofern sie seiner eigenen Freiheit Schranken setzen, verhaßt sind) so oft zu übertreten, als er es mit Sicherheit thun kann. Diesem nach wäre denn bei allen, welchen es an Macht gebricht sich öffentlich und ungescheut über Recht und Unrecht wegzusetzen, kein anderer Unterschied zwischen dem gerechten und ungerechten Manne, als daß jener sich nie ohne eine Larve der Gerechtigkeit sehen läßt, die er sich so geschickt anzupassen weiß, daß sie sein eigenes Gesicht zu seyn scheint; dieser hingegen so plump und unvorsichtig ist, sich immer über der That [44] ertappen zu lassen. Darin, daß keiner sich etwas, das ihn gelüstet, versagen möchte, und jeder wo möglich alles zu haben wünscht, sind sie einander beide gleich.

Da dieß in der That hart klingt, so hält sich Glaukon, im Namen derjenigen, deren Sachwalter er vorstellt, zum Beweise verbunden, und führt ihn sehr sinnreich, vermittelst der Voraussetzung, daß beide, der Gerechte und Ungerechte, wie jener aus dem Herodot bekannte Lydier 13 (dessen fabelhafte Geschichte Glaukon hier etwas anders als Herodot erzählt) im Besitz eines unsichtbar machenden Ringes wären. Ein solcher Ring würde, dünkt mich, als Probierstein gebraucht allerdings das untrüglichste Mittel seyn, den wahrhaft rechtschaffenen Mann von dem Heuchler zu unterscheiden; aber zu dem Gebrauch, den Glaukon von ihm macht, scheint er nicht zu taugen. Denn indem dieser ganz herzhaft annimmt, daß der Gerechte, sobald er sich im Besitz eines solchen Ringes sähe, nicht um ein Haar besser als der Ungerechte seyn, und alle möglichen Bubenstücke, wozu Lust, Habsucht oder andere Leidenschaften ihn reizen könnten, eben so unbedenklich verüben würde als jener, setzt er als etwas Ausgemachtes voraus, was erst bewiesen werden sollte. Wenn auch wir andern gewöhnlichen Leute so überschwänglich bescheiden seyn wollten, einen Zweifel in uns selbst zu setzen, ob wir wohl den Versuchungen eines solchen Zauberringes widerstehen könnten; wer darf nur einen Augenblick zweifeln, daß ein Sokrates durch den Besitz desselben weder an Macht, noch Geld, noch sinnlichen Genüssen reicher geworden wäre?

Indessen, wofern es auch an einzelnen Ausnahmen nicht [45] fehlen sollte, so ist doch nur gar zu wahrscheinlich, daß unter Tausend, die für gute ehrliche Leute gelten, weil sie weder Muth noch Macht haben sich in ihrer wahren Gestalt zu zeigen, nicht Einer wäre, der mit dem Ring des Gyges nicht die vollständigste Befreiung von allem Zwang der Gesetze zu erhalten glauben würde. Glaukon (der noch immer im Namen derjenigen spricht, denen Recht und Unrecht für bloße Satzung des gesellschaftlichen Vereins und der Machthaber in demselben gilt) ist seiner Sache so gewiß, daß er geradezu versichert: jedermann sey so völlig davon überzeugt, daß die Ungerechtigkeit dem Ungerechten vortheilhafter sey als die Gerechtigkeit, daß, sobald jemand glaube er könne mit Sicherheit unrecht thun, er es nicht nur ohne alles Bedenken thun werde, sondern sich für den größten aller Thoren und Dummköpfe halten würde, wenn er es nicht thäte. Um sich, sagt er, zu überzeugen, daß einem verständigen Menschen nicht zuzumuthen sey, anders zu denken und zu handeln, brauche es nichts als das Loos zu erwägen, das der Gerechte und Ungerechte im Leben unter den Menschen zu gewarten habe.

So weit hatte Plato seinen Glaukon die Lehre der Sophisten, die er nicht ohne Grund die gemeine Meinung nennt, ziemlich treu und unverfälscht vortragen lassen; aber nun schiebt er ihm wieder unvermerkt seine eigene Vorstellungsart unter, indem er ihn aus der wirklichen Welt, aus welcher sich jene nie versteigen, auf einmal in seine eigene Ideenwelt versetzt, unter dem Vorwand: das Problem, wovon die Rede ist, könne auf keine andere Weise ganz rein aufgelöset werden. Wir wollen sehen!

[46] Denken wir uns (sagt der platonisirende Glaukon) um uns den Unterschied zwischen dem gerechten und ungerechten Mann völlig anschaulich zu machen, beide in ihrer höchsten Vollkommenheit, so daß dem Ungerechten nichts was zur Ungerechtigkeit, dem Gerechten nichts was zur Gerechtigkeit gehört, abgehe. Es ist also, um mit dem Ungerechten den Anfang zu machen, nicht genug, daß er immer und bei jeder Gelegenheit so viel Unrecht thut als er kann und weiß; wir müssen ihm auch noch erlauben, daß er, indem er nichts als Böses thut, sich immer den Schein des Gegentheils zu geben und die Meinung von sich fest zu setzen wisse, daß er der rechtschaffenste Mann von der Welt sey; und da es, mit allem dem, doch begegnen könnte, daß auf eine oder die andere Weise etwas von seinen Bubenstücken an den Tag käme, so muß er auch noch Beredsamkeit genug, um sich in den Augen der Menschen völlig rein zu waschen, und im Nothfall, so viel Muth, Vermögen und Anhänger besitzen, als nöthig ist um Gewalt zu brauchen, wenn List und Heuchelei nicht hinreichen will. Diesem Bösewicht nun stellen wir den Gerechten gegen über, einen guten, ehrlichen, einfachen Biedermann, der was er ist nicht scheinen will, sondern sich begnügt es zu seyn. Damit wir aber recht gewiß werden, daß ihm nichts zur vollkommnen Rechtschaffenheit abgeht, ist schlechterdings nöthig, daß wir ihn in der öffentlichen Meinung zum Gegentheil dessen machen, was er ist, denn wenn er auch rechtschaffen zu seyn schiene, würden ihm Ehrenbezeugungen und Belohnungen nicht fehlen, und da würde es ungewiß seyn, ob er das, was er schiene, wirklich und aus [47] reiner Liebe zur Gerechtigkeit, oder nur der damit verbundenen Vortheile wegen sey. Wir müssen ihm also alles nehmen, bis ihm nichts als die nackte Rechtschaffenheit übrig bleibt, und ihn, mit Einem Worte, so setzen, daß er in allem als das Gegentheil des Ungerechten dastehe. Dieser ist ein ausgemachter Bösewicht und scheint der unbescholtenste Biedermann zu seyn; jener ist sein ganzes Leben durch der rechtschaffenste aller Menschen, und wird für den größten Bösewicht gehalten; geht aber, ohne sich seinen schlimmen Ruf und die Folgen desselben im geringsten anfechten zu lassen, seinen Weg fort, und beharret, wiewohl mit jeder Schande des verworfensten Buben belastet, unbeweglich bei seiner Rechtschaffenheit bis in den Tod. Man kann sich leicht vorstellen, wie es diesen beiden idealischen Wesen, wenn sie verkörpert und ins menschliche Leben versetzt würden, ergehen müßte. »Der Gerechte, sagen die Lobredner der Ungerechtigkeit, wird gegeißelt, auf die Folter gespannt und in Ketten gelegt werden: man wird ihm die Augen ausbrennen, und nachdem er alle nur ersinnlichen Mißhandlungen erduldet hat, wird er ans Kreuz geschlagen werden, und nun zu spät einsehen, daß man zwar rechtschaffen scheinen, aber kein Thor seyn muß es wirklich zu seyn. Wie herrlich ist hingegen das Loos des Ungerechten, der die Klugheit hat, die öffentliche Meinung auf seine Seite zu bringen, und während er sich unter der Larve der Tugend ungestraft alles erlauben kann, für einen rechtschaffnen und verdienstvollen Mann gehalten zu werden? Die höchsten Ehrenstellen im Staat erwarten seiner; er kann heirathen wo er will, und die Seinigen ausgeben [48] an wen er will; jedermann rechnet sich's zur Ehre in Verhältniß und Verbindung mit ihm zu kommen; ihm, dem kein Mittel zu seinem Zweck zu schlecht ist, schlägt alles zum Vortheil an; bei allen Gelegenheiten weiß er andern den Rank abzulaufen, kurz er wird ein reicher und gewaltiger Mann, und ist also im Stande, seinen Freunden nützlich zu seyn, seinen Feinden zu schaden, und die Götter selbst durch häufige Opfer und reiche Weihgeschenke zu gewinnen, so daß er ihnen lieber seyn wird, als der Gerechte, der nichts zu geben hat.«

Ich weiß nicht wie vielen Dank eure Sophisten dem göttlichen Plato für diese Darstellung ihrer Lehre von den Vortheilen der Ungerechtigkeit über die Gerechtigkeit wissen werden; gewiß ist wenigstens, daß es keinem von ihnen je eingefallen ist, die Frage auf diese Spitze zu stellen, und einen gerechten Mann, wie nie einer war, noch seyn wird noch seyn kann, zu erdichten, um durch Vergleichung des glücklichen Looses des Ungerechten mit dem jammervollen Leben und schrecklichen Ende dieses Rechtschaffnen die Vorzüge der Ungerechtigkeit in ein desto größeres Licht zu setzen. Ich, meines Orts, habe gegen das Ideal des Platonischen Gerechten zwei Einwendungen. Erstens liegt es keineswegs in der Idee eines vollkommen rechtschaffenen Mannes, daß er nothwendig ein Bösewicht scheinen müsse; im Gegentheil, es ist ihm nicht nur erlaubt zu scheinen was er ist, sondern die Rechtschaffenheit selbst legt es ihm sogar als Pflicht auf, bösen Schein, so viel möglich, zu vermeiden. Auch sehe ich nicht, wie er es ohne[49] Nachtheil sowohl seiner Rechtschaffenheit als seines Menschenverstandes anfangen wollte, um von allen den Menschen, welche tägliche Augenzeugen seines Lebens sind, immer verkannt, gehaßt und verabscheuet zu werden. Alle Umstände, alle Menschen, die ganze Natur müßten sich auf die unbegreiflichste Art gegen ihn verschworen, und er selbst müßte sich, unbegreiflicherweise, unendliche Mühe gegeben haben, seinen Tugenden und guten Handlungen die Gestalt des Lasters und Verbrechens zu geben. Ich zweifle sehr, ob ein einziges Beispiel aufzustellen sey, daß ein so guter, redlicher und gerechter Mann, wie ihn Plato setzt, ohne alle Freunde geblieben, und von Niemand gekannt, geliebt und geschätzt worden wäre. Ueberdieß ließe sich noch fragen, ob irgend ein menschenähnliches Wesen, ohne ein Gott zu seyn, die Probe, auf welche unser Ideendichter seinen Gerechten stellt, zu bestehen, und alle Schmach und Marter, die er zu Bewährung seiner Tugend über ihn zusammenhäuft, auszuhalten vermöchte. Dieses Ideal ist also, von welcher Seite man es ansieht, ein Hirngespenst und zu der Absicht, wozu Plato es erdichtet hat, ganz unbrauchbar. Denn solcher ungerechter Menschen, wie er bei dieser Vergleichung annimmt, hat es zwar in der wirklichen Welt von jeher nur allzu viele gegeben, einen solchen Gerechten hingegen nie. Wenn sich also auch aus der Vergleichung des einen mit dem andern die Folge ziehen ließe, welche Glaukon daraus zieht, so würde doch dadurch nicht bewiesen seyn, daß die Vortheile, welche der wirkliche Ungerechte von seiner Heuchelei erntet, wenn alles, was bei einer scharfen Berechnung in Anschlag kommen muß, ehrlich und [50] redlich angesetzt wird, denen, die der wirkliche Gerechte durch seine Rechtschaffenheit genießt, vorzuziehen wären.

5. An Ebendenselben
5.
An Ebendenselben.

Fortsetzung des vorigen.


Da ich mich, beinahe wider Willen, aber durch die Natur der Sache selbst, mit welcher ich mich zu befassen angefangen, unvermerkt in eine nähere Beleuchtung der einzelnen Theile, woraus die vor uns liegende reiche Composition zusammengefügt ist, hineingezogen finde; wird es, bevor wir weiter gehen, edler Eurybates, nöthig seyn, uns auf den Punkt zu stellen, aus welchem das Ganze angeschaut seyn will, um richtig beurtheilt zu werden. Außer mehrern nicht unbedeutenden Nebenzwecken, welche Plato in seinen vorzüglichsten Werken mit dem Hauptzwecke zu verbinden gewohnt ist, scheint mir seine vornehmste Absicht in dem gegenwärtigen dahin zu gehen, der in mancherlei Rücksicht äußerst nachtheiligen Dunkelheit, Verworrenheit und Unhaltbarkeit der vulgaren Begriffe und herrschenden Vorurtheile über den Grund und die Natur dessen, was recht und unrecht ist, durch eine scharfe Untersuchung auf immer abzuhelfen. Diesem großen Zwecke zufolge zerfällt dieser Dialog in zwei Haupttheile. In dem einen, der das erste Buch und die größere Hälfte des zweiten [51] einnimmt, ist es darum zu thun, die folgenden drei Lehrsätze, als die gemeine, von Dichtern, Sophisten und Priestern aus allen Kräften unterstützte, Meinung vorzutragen und auf alle Weise einleuchtend zu machen; nämlich:


1) daß der Unterschied zwischen Recht und Unrecht lediglich entweder auf willkürlicher Verabredung unter freien Menschen, oder auf den Verordnungen regierender Machthaber beruhe, welche letztere natürlicherweise die Gesetze, so sie den Regierten geben, zu ihrem eigenen möglichsten Vortheil einrichten, sich selbst aber nicht dadurch gebunden halten;

2) daß die Ungerechtigkeit dem, der sie ausübt, immer vortheilhafter als die Gerechtigkeit, diese hingegen durch nichts als ihren bloßen Schein nützlich sey; daß also

3) nur ein einfältiger und schwachherziger Mensch das mindeste Bedenken tragen werde, gegen die Gesetze zu handeln, sobald er es ungestraft thun könne. Woraus sich dann von selbst ergibt: daß – da diese Art zu denken nicht nur den Kindern durch die Dichter (aus deren Gesängen sie den ersten Unterricht empfangen) beigebracht, und in den Erwachsenen durch alles was sie hören und sehen genährt, sondern sogar durch den religiösen Volks glauben und allerlei priesterliche Veranstaltungen und Künste so kräftig verstärkt werde, – kein Wunder sey, wenn diese, jeden wirklich edeln und guten Menschen empörende Vorstellungsart über Recht und Unrecht so tiefe Wurzeln geschlagen habe und so verderbliche Früchte bringe, als die tägliche Erfahrung lehre.


[52] Jene drei Irrlehren zu bestreiten, den wesentlichen Unterschied zwischen der Gerechtigkeit, im höchsten Sinn des Wortes, und ihrem Gegentheil überzeugend darzuthun, und zu beweisen,


daß sie das Ziel und die Vollkommenheit des edelsten Theils der menschlichen Natur sey;

daß der Mensch nur durch sie in Harmonie mit sich selbst und dem allgemeinen Ganzen gesetzt werde, und

daß, so wie die Ungerechtigkeit die Hauptquelle aller das menschliche Geschlecht drückenden Uebel sey, die Gerechtigkeit hingegen das höchste Glück aller einzelnen Menschen sowohl als aller bürgerlichen Gesellschaften bewirken würde;


Alles dieß macht (die häufigen, zum Theil weitschichtigen Abschweifungen und Zwischenspiele abgerechnet) den Inhalt der übrigen acht Bücher aus, und das ganze Werk kann also als eine ernsthafte Entscheidung des alten Rechtshandels zwischen dem Dikäos und Adikos Logos betrachtet werden, welche der genialische Lieblingsdichter Platons vor mehr als vierzig Jahren in seiner eignen unübertrefflich possierlichen Manier, in ein paar Kampfhähne verkleidet, auf der Athenischen Schaubühne um den Vorzug hatte rechten lassen.

Was für eine Rolle der philosophische Dichter dem Sophisten Thrasimachus und dem wackern Glaukon zu spielen gibt, haben wir gesehen: nun läßt er auch Glaukons jüngern Bruder Adimanthus das Wort nehmen, und in einer Rede, die an Geist und Zierlichkeit mit dem Discurs seines Bruders wetteifert, an Lebhaftigkeit und Wärme ihn noch übertrifft, den [53] großen Schaden vorstellig machen, welchen Jünglinge edlerer Art nehmen müssen, indem sie sich an dem auffallenden Widerspruch stoßen, zwischen dem, was sie zu Hause aus dem Munde ihrer Väter hören, und dem was ihnen, sobald sie in die Welt treten, von allen Seiten entgegen schallt; wenn sie hören: wie eben dieselben aus Eingebung der Musen singenden Dichter bald die große Liebe und Sorge der Götter für die Gerechten und das Glück, das sie ihnen in diesem und dem künftigen Leben bereiten, anrühmen; bald wieder den Pfad der Tugend als höchst mühselig, steil und mit Dornen verwachsen, den Weg des Lasters hingegen als breit, bequem und anmuthig schildern; itzt in den stärksten Ausdrücken und Bildern von dem Zorn der Götter über die Ungerechten und von den furchtbaren Strafen, die im Tartarus auf sie warten, reden; ein andermal zum Trost aller Uebelthäter versichern, daß auch die Götter selbst sich wieder herumbringen lassen, und durch Spenden, Gelübde und Opferrauch bewogen werden können, den Sündern zu verzeihen.

Alles was Plato seinen Bruder über diesen Gegenstand und die natürlichen Folgen der Eindrücke, die durch diese sich selbst widersprechenden, aber der Sinnlichkeit und den Leidenschaften schmeichelnden Vorspiegelungen auf lebhafte und nachdenkliche junge Gemüther gemacht werden, sagen läßt, kann schwerlich wahrer, stärker und schöner gesagt werden. Aber durch nichts wird mir Plato achtungswürdiger als durch die Freimüthigkeit, womit er den unendlichen Schaden rügt, den der Mißbrauch der herrschenden Volksreligion in den sittlichen Gefühlen und Urtheilen der Menschen anrichtet; und gewiß [54] ist noch nie etwas Treffenderes über diesen Punkt gesagt worden als die folgende Stelle aus dem Selbstgespräch, welches er einem solchen von Erziehern, Dichtern und vorgeblichen Philosophen irre gemachten Jüngling in den Mund legt. Nachdem nämlich dieser aus allem, was er beim Eintritt in die Welt sieht und hört, das Resultat gezogen, »daß es zum glücklichen Leben nicht nur hinreiche, sondern sogar nöthig sey, sich mit der bloßen Larve der Rechtschaffenheit zu behelfen, um unter ihrem Schutz des Vortheils, ungestraft sündigen zu können, in vollem Maße zu genießen;« macht er sich selbst den Einwurf: »wenn es einem nun aber auch gelänge, die Menschen theils durch List und Ueberredung theils mit Gewalt dahin zu bringen, daß sie ihm erlauben müßten sich alles herauszunehmen was ihm beliebte, so wären dann doch noch die Götter da, gegen welche weder durch Betrug noch Gewalt etwas auszurichten sey. Wie aber (antwortet er sich selbst) wenn es, wie Einige behaupten, gar keine Götter gibt, oder wenn sie sich wenigstens, wie Andre versichern, um die menschlichen Dinge nichts bekümmern? – so brauchen auch wir uns nicht zu kümmern ob sie uns sehen oder nicht. Gibt es Götter, und nehmen sie sich der menschlichen Dinge an, so haben wir doch alles, was wir von ihnen wissen, aus keiner andern Quelle als vom Hörensagen, und am Ende bloß von den Dichtern, die ihre Genealogien verfaßt haben. Nun sagen mir aber eben diese Dichter, daß man den Zorn der Götter durch demüthige Abbitten, Opfer und Weihgeschenke von sich ableiten könne. Ich muß ihnen also entweder beides glauben, oder weder dieß noch jenes. Glaube ich, nun wohlan! so begeh' [55] ich ungescheut so viel Unrecht als ich kann, opfre den Göttern einen Theil dessen was ich dadurch gewinne, und alles ist gut. Wollt' ich mich der Rechtschaffenheit befleißigen, so hätt' ich zwar von den Göttern nichts zu fürchten, dafür aber entgingen mir auch die Vortheile, die ich aus der Ungerechtigkeit ziehen könnte; da ich hingegen bei dieser immer gewinne, und alle Verbrechen, die ich um reich zu werden begehen muß, bei den Göttern durch Gebete und Opfer wieder gut machen kann. – ›Aber (sagt man) am Ende werden wir doch im Hades für alles was wir im Leben Böses begangen haben, entweder in unsrer eigenen Person oder in unsrer Nachkommenschaft bestraft.‹ – Auch davor ist Rath! Da kommen uns ja die Mysterien und feierlichen Reinigungen zu Statten, durch welche selbst die furchtbaren Götter der Unterwelt sich besänftigen lassen, wie mir ganze Städte, und die Dichter und Propheten unter den Göttersöhnen bezeugen. Was für einen Beweggrund könnt' ich also haben, die Gerechtigkeit der größten Ungerechtigkeit vorzuziehen, da ich diese nur mit einem guten Aeußerlichen zu bedecken brauche, damit mir bei Göttern und Menschen im Leben und Sterben alles nach Wunsch von Statten gehe, wie ich so viele und große Männer behaupten höre?«

Der junge Adimanth, der diese schöne Gelegenheit, ein Probestück seiner Wohlredenheit abzulegen, möglichst benutzen zu wollen scheint, fährt fort die Sache auf alle Seiten zu wenden, und findet ganz natürlich, der erste Grund des Uebels liege darin: daß von den uralten heroischen Zeiten an bis auf diesen Tag niemand die Gerechtigkeit anders angepriesen [56] oder die Ungerechtigkeit anders gescholten habe, als in Rücksicht auf die Ehre und die Belohnungen, welche jener, oder die Strafen, welche dieser nachfolgten. Was aber die eine und die andere an sich selbst sey, was sie folglich ihrem Wesen nach in der Seele des Gerechten oder Ungerechten wirke, wenn sie auch Göttern und Menschen verborgen blieben, nämlich, daß die Ungerechtigkeit das größte aller Uebel womit eine Seele behaftet seyn kann, die Gerechtigkeit hingegen ihr größtes Gut sey, – dieß habe noch niemand weder in Versen noch in gemeiner Rede hinlänglich dargethan und ausgeführt. Er vereinigt sich also mit seinem Bruder Glaukon, aufs ernstlichste und mit Beweggründen, denen kein aufrichtiger Anhänger der Gerechtigkeit, und Sokrates am allerwenigsten, widerstehen konnte, in den letztern einzudringen, daß er sich nicht weigern möchte, einem so wichtigen Mangel abzuhelfen; und Sokrates, nachdem er sich eine Weile gesträubt und mit seinem Unvermögen, den von Glaukon so scheinbar behaupteten Vorzug der Ungerechtigkeit siegreich zu widerlegen, entschuldigt hat, wird endlich, von den vereinigten Bitten aller Anwesenden überwältigt, daß er wenigstens sein Möglichstes zu thun verspricht, der guten Sache zu Hülfe zu kommen und ihrem Verlangen Genüge zu leisten.

Daß Plato die Gelegenheit, die er selbst durch die in den Mund seiner Brüder gelegten schönen Reden herbeigeführt hatte, dazu benutzt, seiner Familie, und namentlich seinem Vater Ariston und seinen ältern Brüdern Glaukon und Adimanthus aus dem Munde eines Sokrates, zwar mit wenigen aber desto gehaltreichern Worten, ein Denkmal zu errichten, [57] welches wahrscheinlich, durch das Werk, worin es wie eine glänzende Spitze hervorragt, von ewiger Dauer seyn wird, wollen wir ihm auf keine Weise verdenken. Wenn das, was ihn dazu bewog, eine Schwachheit ist, so ist es wenigstens eine sehr menschliche, die ihm um so mehr zu gut zu halten ist, da er (wie ich kaum zweifle) durch einen Abschnitt in Xenophons Denkwürdigkeiten 14, worin Glaukon eine sehr armselige Figur macht, bewogen worden seyn mag, diesen seinen Bruder der Nachwelt in einem vortheilhaftern Lichte zu zeigen, und den Verdacht eines einbildischen, leeren, unwissenden Windbeutels und Schwätzers durch die That selbst von ihm abzuwälzen.


Bevor ich weiter gehe, Eurybates, wirst du mir wohl erlauben, dir, statt eines kleinen Zwischenspiels, meine eigenen Gedanken über die Frage, zu deren Beantwortung Platons Sokrates so weit aushohlt, in möglichster Kürze vorzulegen.


Glaukon behauptete im Namen der Lobredner der Ungerechtigkeit: Unrecht thun sey an sich etwas Gutes, Unrecht leiden hingegen an sich ein Uebel. Ich habe schon bemerkt, daß ihm das doppelsinnige Wort adikein hier so viel als beleidigen heißen muß. Die Rede ist von Menschen, und zwar nicht von diesen oder jenen einzelnen, sondern von der ganzen Gattung. Was versteht er aber unter beleidigen? Ich weiß keine Formel, welche mir bequemer schiene alle Beleidigungen, die der Stärkere dem Schwächern zufügen kann, zusammen zu fassen als diese: andere zu bloß leidenden Werkzeugen unserer Bedürfnisse und Lüste machen, und zu Befriedigung unserer Leidenschaften und Launen uns alles über sie erlauben,[58] wozu uns unsre Ueberlegenheit das Vermögen gibt. Wenn dieß seiner Natur nach gut ist; so muß es allen Menschen, überall und zu allen Zeiten gut seyn. Einander gegenseitig, eigenen Vortheils oder anderer Befriedigungen wegen, alle mögliche Beleidigungen zuzufügen gehört folglich wesentlich zur Natur des Menschen, oder mit andern Worten: es ist das, wodurch der Mensch den Forderungen der Natur und dem Zweck seines Daseyns ein Genüge thut. Sein natürlicher Zustand ist, ein geborner Feind aller andern Menschen zu seyn und unaufhörlich an der Beschädigung, Unterdrückung und Zerstörung seiner eigenen Gattung zu arbeiten. Indem nun jeder Mensch von seiner Natur getrieben wird, allen andern zu schaden, beleidigt er sie zwar dadurch, aber er thut ihnen kein Unrecht; im Gegentheil, da alles der Natur Gemäße insofern recht ist, so ist es recht und völlig in der Ordnung, daß jeder allen andern so viel Uebels zufüge als er kann, und dafür von allen andern so viel leide, als er zu leiden fähig ist. Wölfe, Tiger, Hyänen und Drachen wären also in Vergleichung mit dem Menschen sehr holde und gutartige Wesen; der letztere hingegen wäre das unnatürlichste aller Ungeheuer, die der Tartarus ausgespien hätte. – Welcher Unsinn? und doch ist es nichts, als was herauskommt, wenn wir annehmen, Unrecht thun, oder beleidigen sey an sich, oder seiner Natur nach etwas Gutes. Bedarf es einer andern Widerlegung einer so wahnsinnigen Behauptung – als sie auszusprechen?

Demungeachtet ist und bleibt es Thatsache, daß der rohe Stand der natürlichen Gleichheit für die Menschen, die [59] sich darin befinden, eine Art von Kriegsstand Aller gegen Alle ist; nicht, als ob die Menschen, ohne einen Grad von Ausartung, der sie tief unter die wildesten Thiere erniedrigen würde, jemals das Gefühl, daß es unnatürlich, folglich unrecht sey einander zu beleidigen, verlieren könnten; sondern weil die sinnlichen Triebe und Leidenschaften, wodurch sie zu Beleidigungen hingerissen werden, im Augenblick der aufbrausenden Leidenschaft oder eines unwiderstehlich dringenden Bedürfnisses stärker sind als jenes Gefühl, welches im Grunde nichts als die Stimme der Vernunft selbst zu seyn scheint. Aus dieser Thatsache folget nun freilich, daß die Menschen sich durch eine gebieterische Nothwendigkeit gedrungen finden, in gesellschaftliche Verbindungen zu treten, und sich Gesetzen zu unterwerfen, die ihrer aller Erhaltung und Sicherheit beabsichtigen, und insofern ihrer aller gemeinsamer Wille sind; aber diese Verbindungen, diese Gesetze sind nicht die Quellen, sondern Resultate des allen Menschen natürlichen Gefühls von Recht und Unrecht, welches einem jeden sagt, daß alles was nur Einem und allenfalls seinen Mitgenossen und Spießgesellen nützt und allen übrigen schadet, unrecht sey. Es ist also Unsinn, zu sagen: die Menschen machten sich durch den gesellschaftlichen Verein nur insofern zu Beobachtung der Gesetze anheischig, als sie solche nicht ungestraft übertreten könnten; auch bedürfen wir keiner solchen, die allgemeine Vernunft in Widerspruch mit sich selbst setzenden Hypothese, um zu begreifen, wie es zugeht, daß in jedem Staat nicht wenige, und in einem sehr verdorbenen die meisten, in der That so handeln, als ob sie sich die Freiheit zu sündigen, sobald sie [60] keine Strafe befürchten, ausdrücklich oder stillschweigend vorbehalten hätten.

Wenn ich nicht sehr irre, so hätte sich also der Platonische Sokrates die Mühe, mehr als zwölf Stunden lang in Einem Zug fort zu reden, ersparen können, wenn er, anstatt die Auflösung der Frage aus dem Lande der Ideen herabzuholen, es nicht unter seiner Würde gehalten hätte, sich an derjenigen genügen zu lassen, die vor seinen Füßen lag. Weder unsre fünf Sinne noch unser Verstand reichen bis zu dem, was an sich selbst ein Gut oder ein Uebel ist: was mir und meiner Gattung zuträglich ist, nenne ich gut; das Gegentheil böse. Die Natur selbst nöthigt mich, in jedem Menschen ein Wesen meiner Gattung zu erkennen. Wenn Unrecht leiden, d.i. im freien Gebrauch meiner Kräfte zu meiner Erhaltung und zu Beförderung meines Wohlstandes gewaltsam gehindert zu werden, für mich ein Uebel ist, so ist eben dasselbe auch ein Uebel für jeden andern Menschen. Also eines von beiden: entweder der Mensch ist das einzige Ungeheuer in der Welt, dessen natürliches Bestreben unaufhörlich dahin geht, seine eigene Gattung zu zerstören: oder jede Beleidigung eines Menschen ist ein Uebel für das ganze Menschengeschlecht, und also auch (ungeachtet des augenblicklichen Vortheils, den der Beleidiger daraus ziehen mag) ein wahres Uebel für diesen selbst, indem er dadurch alle anderen Menschen reizt und berechtigt, sich auch gegen ihn herauszunehmen, was er sich gegen einen von ihnen erlaubte und gegen jeden andern, sobald er Gelegenheit und Vermögen dazu hat, sich zu erlauben bereit ist. Alle Menschen haben, als Menschen, gleiche [61] Ansprüche an den Gebrauch ihrer Kräfte, und an die Mittel, welche die Natur, der Zufall und ihr eigener Kunstfleiß ihnen zu ihrer Erhaltung und zu Beförderung ihres Wohlbefindens darreichen. Wer dieß anerkennt und diesem gemäß handelt, ist gerecht, ungerecht also, wer alles für sich allein haben will, und das Recht der übrigen nicht anerkennt, oder thätlich verletzt. Mich dünkt, zwei Sätze folgen nothwendig und unmittelbar aus dieser durch sich selbst klaren Wahrheit: erstens, daß jeder Mensch, der einen andern vorsetzlich beleidigt, sich eben dadurch für einen Feind aller übrigen erklärt; zweitens, daß sobald mehrere Menschen neben einander leben, zu eines jeden Sicherheit entweder ein stillschweigend zugestandener oder ausdrücklich unter ihnen geschlossener Vertrag vorwaltet, »jedem auf das, was er sich ohne Beraubung eines andern erworben hat, ein unverletzliches Eigenthumsrecht zuzugestehen.« In dieser Rücksicht kann also mit vollkommenem Grunde gesagt werden: Jedem das Seinige – nicht zu geben (denn er hat es schon), sondern zu lassen und im Fall, daß es ihm mit Gewalt genommen worden, ihm entweder zur Wiedererlangung des Geraubten oder zu einer angemess'nen Entschädigung zu verhelfen, werde von allen Menschen auf dem ganzen Erdboden Gerechtigkeit genennt, oder, falls sie noch keine Worte zu Bezeichnung allgemeiner Vernunftbegriffe hätten, als Gerechtigkeit gefühlt und anerkannt.

Mit dieser kurzen Beantwortung der von Sokrates aufgeworfenen Frage könnten wir, dünkt mich, allen Sophisten und Rechtsverdrehern in der Welt die Stirne bieten; auch würde Plato selbst Mühe gehabt haben, die Untersuchung und [62] Festsetzung dessen, was Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ist, über den gewöhnlichen Umfang seiner Dialogen auszudehnen, wenn er sich innerhalb der Gränzen des gemeinen, dem Sprachgebrauch gemäßen Sinnes der Worte hätte halten wollen. Da er aber diesem unvermerkt einen andern höhern und mehr umfassenden unterschob, indem er den gewöhnlichen Begriff der Gerechtigkeit (ohne uns jedoch davon zu benachrichtigen) mit seiner Idee von der höchsten geistigen und sittlichen Vollkommenheit, welche, seiner Meinung nach, der menschlichen Natur erreichbar ist, bald vermengt bald verwechselt: öffnete sich seiner dichterischen Phantasie ein unabsehbares Feld, wo sie sich nach Gefallen erlustigen konnte, und Stoff genug fand, einen Kreis von gefälligen Zuhörern eben so gut zehn Tage lang zu unterhalten als einen.

Indessen sehe ich nicht warum wir ihm auch diese Freiheit nicht zugestehen sollten. Jeder Schriftsteller hat unstreitig das Recht, sich seinen Stoff nach Belieben zu wählen, und ihn zu bearbeiten, wie es ihm gut dünkt; und wenn er nur, wie Plato, dafür gesorgt hat, uns, sobald wir zu gähnen anfangen, durch wohl angebrachte Reizmittel wieder zur Aufmerksamkeit zu nöthigen, so wär' es unbillig und undankbar, wenn wir uns beklagen wollten, daß er uns weit mehr vorsetzt als nöthig, oder selbst für eine reichliche Befriedigung unsres Bedürfnisses genug gewesen wäre. Hätte er sich auf das reichlich Genugsame einschränken wollen, so stand es nur bei ihm, die Aufgabe, so wie er sie gestellt hatte, geradezu zu fassen; und da es ihm, kraft seiner philosophischen Machtgewalt, beliebt hatte, den gemeinen und zum Gebrauch im Leben [63] völlig zureichenden Begriff der Gerechtigkeit zu verlassen, und die Idee der höchsten Richtigkeit und Vollkommenheit der menschlichen Natur an seine Stelle zu setzen, so bedurfte es, meines Bedünkens, keiner so weitläufigen und künstlichen Vorrichtung, um ausfindig zu machen, worin diese Vollkommenheit bestehe. Es gehörte wirklich eine ganz eigene Liebhaberei »Knoten in Binsen zu suchen« 15 dazu, die Sache so außerordentlich schwer zu finden, und selbst ohne alle Noth einen Knoten nach dem andern in die Binsen zu knüpfen, bloß um das Vergnügen zu haben sie wieder aufzulösen. Ich zweifle sehr, daß ihm hier die Ausrede zu Statten kommen könne, er lasse seinen Sokrates sich nur darum so stellen, als ob er selbst noch nicht wisse, wie er die vorgelegte Aufgabe werde auflösen können, – um die Täuschung der Leser, als ob sie hier den berüchtigten Eiron wirklich reden hörten, desto vollkommner zu machen. Man könnte dieß allenfalls für eine Rechtfertigung gelten lassen, wenn die Rede, anstatt von einem Gegenstande, womit sich Sokrates so viele Jahre lang tagtäglich beschäftigte, von irgend einer räthselhaften spitzfindigen Frage gewesen wäre; oder auch, wenn er es, anstatt mit so verständigen, gebildeten und lehrbegierigen jungen Männern, wie Glaukon und Adimanthus sich gezeigt haben, mit unwissenden Knaben oder naseweisen Gecken zu thun gehabt hätte. Man könnte zwar einwenden, daß diese Gebrüder in dem größten Theil unsers Dialogs fast immer die Rolle unwissender Schulknaben spielen, und daß Sokrates häufig Fragen an sie thut, durch welche ein Knabe von zwölf Jahren sich beleidigt finden könnte: aber wenn [64] Plato dieß wirklich in der Absicht that, die langweilige Art, wie Sokrates ihren Ideen zur Geburt hilft, zu rechtfertigen, so hätte er nicht vergessen sollen, daß er sie kurz vorher wie verständige und scharfsinnige Männer reden ließ. – Doch sein Sokrates ist nun einmal in der Laune seinen Spaß mit uns zu haben, und wir müssen uns schon gefallen lassen, in einer weitkreisenden Schneckenlinie endlich auf den nämlichen Punkt mit ihm zu kommen, zu welchem er uns auf einer ziemlich geraden mit wenig Schritten hätte führen können.

Sehen wir also (wofern du nichts Besser's zu thun hast) wie er es anfängt, seinen erwartungsvollen, mit gespitzten Ohren und offnen Schnäbeln seine Worte aufhaschenden Zuhörern zum ächten Begriff der Gerechtigkeit zu verhelfen. Da die Sache so große Schwierigkeiten hat, und wir uns nicht anders zu helfen wissen (sagt er, die Rede an Adimanthen richtend), so wollen wir's machen, wie Leute von kurzem Gesicht, die eine sehr klein geschriebene Schrift von ferne lesen sollten, es machen würden, wenn einer von ihnen sich besänne, daß eben diese Schrift irgendwo an einem erhabnern Orte in größern Buchstaben zu lesen sey. Diese Leute würden, denke ich, nicht ermangeln die letztere zuerst zu lesen, um durch Vergleichung der größern Buchstaben mit den kleinern zu sehen, ob nicht etwa beide eben dasselbe sagten. Ohne Zweifel, versetzt Adimanth; aber wie paßt dieß auf unsre vorhabende Untersuchung? Das will ich dir sagen, erwiedert Sokrates. Ist die Gerechtigkeit bloß Sache eines einzigen Menschen, oder nicht auch eines ganzen Staats? Adimanth hält das letztere für etwas Ausgemachtes, wiewohl ich nicht sehe warum, [65] da das, was die Gerechtigkeit sey, als etwas noch Unbekanntes erst gesucht werden soll. Aber, daß Glaukon und Adimanth zweifelhafte und ohne Beweis nicht zuzugebende, ja wohl gar ganz unverständliche Sätze, der Bequemlichkeit des Gesprächs wegen bejahen, oder wenigstens gelten lassen, begegnet im Verfolg der ganzen Unterhaltung noch so oft, daß wir uns bei dieser Kleinigkeit nicht aufhalten wollen. – Aber ist ein Staat nicht größer als ein einzelner Mann? fragt Sokrates. Größer, antwortet der Knabe, voller Freude vermuthlich, daß er hoffen kann es getroffen zu haben. Wahrscheinlich wird also (fährt der Schulmeister fort) auch die Gerechtigkeit im Größern besser in die Augen fallen und leichter zu erkennen seyn. Gefällt es euch, so forschen wir also zuerst, was sie in ganzen Staaten ist, und suchen dann, indem wir in der Idee des Kleinern die Aehnlichkeit mit dem Größern bemerken, herauszubringen, was sie in dem einzelnen Menschen ist. – Wohl gesprochen, sollt' ich meinen, sagt Adimanth. – »Nun däucht mich, wenn wir in Gedanken ein Gemeinwesen vor unsern Augen entstehen ließen, würden wir auch sehen, wie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in ihm entstehen.« – Könnte wohl seyn, versetzt jener. »Und wenn das wäre, sollte nicht Hoffnung seyn, desto leichter zu finden was wir suchen?« – Viel leichter. – »Mich däucht also wir thäten wohl, wenn wir ohne weiters Hand anlegten; denn es ist, meines Erachtens, kein kleines Werk. Bedenkt euch also!« – Da ist nichts weiter zu bedenken, sagt Adimanth, des langen Zauderns, wie es scheint, überdrüssig; thu nur das Deinige dabei!

[66] Und so stehen wir denn vor dem Thor dieser Republik, die uns Plato, ihr Stifter und Gesetzgeber, durch den Mund seines immer währenden Stellvertreters für das Ideal eines vollkommenen Staats ausgibt, an dessen Realisirung er selbst verzweifelt; deren Erbauung und Einrichtung ihn in einem großen Theil dieses Werks ernstlich beschäftigt, und die er gleichwohl weder um ihrer selbst willen, noch in der Absicht daß sie irgend einem von Menschenhänden errichteten Staate zum Muster dienen sollte, sondern (wie er sagt) bloß deßwegen mit so vieler Mühe aufgestellt hat, um seinen Zuhörern an ihr zu dem einzig wahren Begriff von dem, was Gerechtigkeit in der menschlichen Seele ist, zu verhelfen.

Eine Einwendung, die sich beim ersten Anblick aufdringt und daher, in Cyrene wenigstens, am häufigsten gehört wird, ist: es sey unbegreiflich, wie Plato nicht gesehen habe, daß, wofern zuvor aufs Reine gebracht wäre, was die Gerechtigkeit bei einem einzelnen Menschen sey, die Frage, was sie in einem ganzen Staat sey? sich dann von selbst beantwortet hätte: da hingegen diese letzte Frage nicht ausgemacht werden könne, ohne den Begriff der Gerechtigkeit schon vorauszusetzen; denn der Staat bestehe aus einzelnen Menschen, und nur insofern als diese gerecht seyen, finde Gerechtigkeit in jenem statt. – Es wäre in der That unbegreiflich, wenn ein so scharfsichtiger Mann wie Plato diesen Einwurf nicht vorausgesehen hätte. Er kann ihm aber nur von solchen gemacht werden, die mit den Mysterien seiner Philosophie gänzlich unbekannt sind. Plato setzt bei allen seinen Erklärungen, wovon auch immer [67] die Rede seyn mag, eine Art dunkler aber wahrer Vorstellungen voraus, abgebleichte, durch den Schmutz der Sinnlichkeit und den Rost der Gewohnheit, womit sie bedeckt sind, unkenntlich gewordene Schattenbilder der ewigen Ideen alles dessen was ist, dumpfe Erinnerungen, welche unsre Seele aus einem vorhergehenden Zustand in dieses Leben mitgebracht, die sich zu deutlichen Begriffen des Wahren eben so verhalten wie Ahnungen zu dem was uns künftig als etwas Wirkliches erscheinen wird, und in deren Anfrischung und Reinigung aller Unterricht besteht, womit die Philosophie unsrer Unwissenheit und Afterwissenschaft zu Hülfe kommen kann. Dieses aus der Welt der Ideen mitgebrachte dunkle Bild der wesentlichen Gerechtigkeit in seinen Zuhörern aufzuklären, ist itzt das Geschäft des platonisirenden Sokrates. Sie besteht, nach ihm, in dem reinsten Zusammenklang aller Kräfte zur möglichsten Vollkommenheit des Ganzen unter der Oberherrschaft der Vernunft. Um dieß seinen Hörern anschaulich zu machen, war es allerdings der leichtere Weg, zuerst zu untersuchen wie ein vollkommen wohl geordneter Staat beschaffen seyn müsse; und erst dann, durch die entdeckte Aehnlichkeit zwischen der innern Oekonomie unsrer Seele mit der wesentlichen Verfassung und Verwaltung eines wohl geordneten Gemeinwesens, die wahre Auflösung des Problems, welche Glaukon und Adimanth im Namen der übrigen Anwesenden von Sokrates erwarteten, ausfindig zu machen. Auf diese Weise wurden sie in der That vom Bekanntern und gleichsam in größern Charakteren in die Augen Fallenden auf das Unbekanntere geführt; denn was der Mensch gewöhnlich [68] am wenigsten kennt, ist das Innere dessen was er seine Seele nennt.

Nachdem wir diesen Einwurf auf die Seite gebracht haben, lass' uns sehen wie Plato mit Einrichtung seiner Republik zu Werke geht. Es ist wirklich eine Lust zuzuschauen, wie sie aus dem gesellschaftlichen Verein von vier Handarbeitern, einem Feldbauer, Zimmermann, Weber und Schuster, gleich einer himmelan steigenden Ceder aus einem kleinen Samenkorn, zu einer mächtigen, glücklichen und in ihrer Art einzigen Republik emporwächs't. Daß es sehr schnell damit zugeht, ist Natur der Sache; und mancher Leser mag sich wohl kaum enthalten können zu wünschen, daß die Sokratische Manier einen noch schnellern Gang erlaubt hätte, und daß wir nicht alle Augenblicke durch die Frage: oder ist's nicht so? aufgehalten würden, wobei die beiden Gebrüder mit ihrem ewigen: ja wohl! eine ziemlich betrübte Figur zu machen genöthig sind. Das Einzige was wir dem wackern Glaukon zu danken haben, ist, daß wir in der neuen Republik etwas besser gehalten und beköstiget werden als Sokrates es anfangs gesonnen war. Denn, wie er selbst ziemlich leicht bekleidet zu seyn und schlecht zu essen gewohnt war, so sollten auch seine neuen Ansiedler im Sommer meistens nackt gehen, Kleider und Schuhe nur im Winter tragen, von Gerstengraupen, Mehlbrei und Kuchen leben, und auf Binsenmatten, mit Windekraut und Myrtenzweigen bestreut, in geselliger Fröhlichkeit Mahlzeit halten. Aber auf Glaukons Vorstellung, daß sie doch auch einige Gemüse und Zulagen zu dieser gar zu magern Kost haben sollten, läßt er sich gefallen, ihnen noch [69] Salz, Oliven, Käse, Zwiebeln und Gartenkräuter, auch statt des Nachtisches Feigen, Erbsen, Saubohnen, Myrtenbeeren und geröstete Bucheckern zu bewilligen. Bei den Bucheckern scheint dem ehrlichen Glaukon die Geduld auszugehen; er wird für einen wohlerzogenen Athenischen Patricier ein wenig grob, und fragt den Sokrates: wenn er eine Republik von Schweinen zu stiften hätte, womit er sie anders füttern wollte? – Was wäre denn zu thun, Glaukon, erwiedert dieser mit seiner gewohnten Kaltblütigkeit. – Ei was bei allen rechtlichen Leuten der Gebrauch ist, antwortet jener: lass' sie, anstatt so armselig zu leben, fein ordentlich auf Polstern um Tische herumliegen, und gib ihnen zu essen wie man heutzutage zu speisen pflegt. Ah, nun versteh' ich dich, sagt Sokrates; meine Stadt, worin alles nur für die wirklichen Bedürfnisse ihrer Bürger berechnet ist, scheint dir zu dürftig; du willst eine, wo es recht üppig zugeht. Sey es darum! Wiewohl jene die wahre und gesunde ist, so hindert uns doch nichts, wenn ihr wollt, auch eine kranke, von überflüssigen und verdorbenen Säften aufgedunsene Stadt etwas näher zu besehen. Er läßt sich nun in eine umständliche Aufzählung aller der unnöthigen und bloß der Eitelkeit und Wollust dienstbaren Personen und Sachen, Künste und Lebensarten ein, welche die Ueppigkeit, wofern ihr der Zugang in die neue Stadt einmal geöffnet wäre, den Einwohnern in kurzem unentbehrlich machen würde; und wir andern Liebhaber der nachahmenden und bildenden Künste können uns nicht enthalten, ein wenig schel dazu zu sehen, daß er bei dieser Gelegenheit auch von den Malern und Bildnern, Tonkünstlern [70] und Dichtern, mit ihren Dienern, den Rhapsoden, Schauspielern und Tänzern, als von Leuten spricht, die in seiner gesunden Stadt nichts zu schaffen hätten, und die er ohne Bedenken mit den Putzmacherinnen und Haarkräuslerinnen, Bartscheerern, Garköchen und – Schweinhirten in eben dieselbe Linie stellt. Die gesunde Stadt, wovon anfangs die Rede war, und ihr Gebiet, wird also (fährt er fort) für alle diese Menschen sowohl als für die große Menge von allen Arten Thieren, die der Ueppigkeit zur Nahrung dienen, viel zu klein seyn; wir werden sie sehr ansehnlich vergrößern und erweitern müssen, und da dieß nicht anders als auf Unkosten unsrer Nachbarn geschehen kann, welche dieß, wie natürlich, nicht leiden, und, wenn sie eben so habsüchtig und lüstern sind wie wir, sich das Nämliche gegen uns herausnehmen werden, was wird die Folge seyn? Wir werden uns mit ihnen schlagen müssen, Glaukon? oder wie ist zu helfen? Wir schlagen uns, antwortet Glaukon ohne sich zu besinnen. Wir werden also, fährt Sokrates fort, ohne jetzt aller andern Uebel, die den Krieg begleiten, zu gedenken, unsre Stadt abermals erweitern müssen, um für ein ansehnliches Kriegsheer Raum zu bekommen? – Glaukon hält dieß für unnöthig; die Bürger, meint er, womit die Stadt bereits so ansehnlich bevölkert sey, wären zu ihrer Vertheidigung hinreichend. Aber Sokrates beweist ihm mit der unbarmherzigsten Ausführlichkeit, daß ein eigener Stand, der nichts anders zu thun habe als sich mit den Waffen zu beschäftigen, in einem wohlbestellten Staat ganz unentbehrlich sey. Er stützt sich hierbei auf einen Grundsatz, den er gleich anfangs festgesetzt hatte, da von den verschiedenen [71] Professionen die Rede war, deren wechselseitige Hülfsleistung zu Befriedigung der gemeinschaftlichen Bedürfnisse die Veranlassung und der Zweck der ersten Stifter seiner Republik war; nehmlich: daß jeder, um es in seinem Geschäfte desto gewisser zur gehörigen Vollkommenheit zu bringen, sich der Kunst oder Hanthierung, wozu er am meisten Neigung und Geschick habe, mit Ausschluß aller andern widmen müsse. Da nun Krieg führen, und alle Arten von Waffen recht zu gebrauchen wissen, unstreitig eine Kunst sey, welche viel Vorbereitung, Geschicklichkeit und Kenntniß erfordere, so würde es ungereimt seyn, wenn man dem Schuster verböte, den Weber oder Baumeister oder Ackermann zu machen, die Kunst des Kriegsmanns hingegen für so leicht und unbedeutend hielte, daß jedermann sie zugleich mit seiner eigentlichen Profession als eine Nebensache treiben könne.

Es sollte dem guten Glaukon, wofern er nur die Hälfte seines vorhin so stark erprobten Witzes härte anwenden wollen, nicht schwer gefallen seyn, dieser Behauptung des Sokrates, und den Gründen womit er sie unterstützt, triftige Einwürfe entgegenzustellen: aber Plato hat noch so vielen und mannichfaltigen Stoff in diesem Dialog zu verarbeiten, daß er sich an das dramatische Gesetz, jeder Person ihr Recht anzuthun, so genau nicht binden kann; und da die Rede nun einmal (wiewohl bloß zufälligerweise) von den Beschützern des Staats ist, aus welchen sein Sokrates die zweite Classe der Bürger seiner Republik bestellt: so fährt er sogleich in seiner erotematischen Methode (wobei er uns mit den Antworten des Gefragten und dem unzähligemal wiederholten, tödtlich ermüdenden: [72] »sagte ich,« und »sagte er,« fast immer hätte verschonen können) fort, sich über die Naturgaben und wesentlichen Eigenschaften, die einem guten Soldaten unentbehrlich sind, vernehmen zu lassen. Ich gestehe, daß der Einfall, sich hierzu der Vergleichung des Staatsbeschützers mit einem tüchtigen Hofhunde zu bedienen, und zum Theil auch die Art wie er sich dabei benimmt, so völlig im Charakter und in der Manier des wahren Sokrates ist, daß Plato ihn vielleicht eher seinem Gedächtniß als seiner Nachahmungskunst zu danken haben könnte. Es kommen solcher Stellen hier und da in diesem Werke mehrere vor, die, in meinen Augen, gerade das Gefälligste und Anziehendste darin sind. Nur Schade daß Plato es auch hier nicht lassen kann, dem reinen Sokratischen Gold etwas von seinem eignen Blei beizumischen. Oder dünkt es dich nicht auch, Eurybates, daß der witzige Einfall, dem Hunde (außer der Stärke, Behendigkeit, Wachsamkeit, Zornmüthigkeit und der sonderbaren Eigenheit, die ihn von den eigentlich sogenannten wilden Thieren unterscheidet, daß er seinen anschnaubenden beißigen Naturtrieb nur gegen Fremde und Unbekannte ausläßt, gegen Heimische, Hausfreunde und Bekannte hingegen sanft und freundlich ist) – sogar noch ein philosophisches Naturell zuzuschreiben, dünkt es dich nicht, daß dieser Einfall eher dem Aristophanischen Sokrates, als dem, den wir gekannt haben, ähnlich sieht, und bloß dazu da ist, um die Aehnlichkeit zwischen einem guten Hund und einem braven Kriegsmann, der, nach Platon, schlechterdings auch Philosoph seyn muß, vollständig zu machen? Wenigstens ist der doppelte Beweis, warum sowohl der Soldat als der [73] Hund Philosoph ist, so ächt Platonisch, daß ich mir's nicht verwehren kann, dir diese Stelle, zu Ersparung des Nachschlagens, von Wort zu Wort vor Augen zu legen; wär' es auch nur, damit du mir nicht etwa einwendest, Sokrates habe diesen Einfall nur scherzweise vorgebracht.

Sokrates. Dünkt es dich nicht, daß ein künftiger Wächter und Beschirmer des Staats zu dem jähzornigen Wesen, das ihm nöthig ist, auch noch von Natur Philosoph seyn müsse? Glauk. Wie so? ich verstehe nicht, was du damit sagen willst. Sokr. Auch das kannst du an den Hunden ausfindig machen; es ist wirklich etwas Bewundernswürdiges an diesem Thiere. Glauk. Und was wäre das? Sokr. Sobald der Hund einen Unbekannten erblickt, fängt er an zu knurren und böse zu werden, wiewohl ihm jener nichts zu Leide gethan hat; den Bekannten hingegen bewillkommt er, nach seiner Art, aufs freundlichste, wenn er gleich nie etwas Gutes von ihm empfing. Ist dir das noch nie als etwas Wundernswürdiges aufgefallen? Glauk. Ich habe bisher nie besonders darauf Acht gegeben; die Sache verhält sich indessen wie du sagst. Sokr. Gleichwohl scheint dieser Naturtrieb etwas sehr Feines und ächt Philosophisches an ihm zu seyn. Glauk. Warum das? Sokr. Weil er einen freundlichen und feindlichen Gegenstand durch nichts anders unterscheidet, als daß er jenen kennt, diesen nicht kennt. Wie sollte er nun nicht lernbegierig seyn, da er das Heimische von dem Fremden bloß durch Erkenntniß und Unwissenheit unterscheidet? Glauk. Es kann wohl nicht anders seyn. Sokr. Ist aber ein lernbegieriges und ein philosophisches Naturell nicht ebendasselbe? Glauk. [74] Doch wohl! Sokr. Warum sollten wir also nicht kecklich auch in dem Menschen setzen, daß er, um gegen Hausgenossen und Bekannte sanft und gutartig zu werden, Philosoph und lernbegierig seyn müsse? Glauk. So setzen wir's denn! – Und ich, meines Orts, setze, daß diese Manier zu philosophiren eine eben so unphilosophische als langweilige Manier sey, wiewohl nicht zu läugnen ist, daß wir ihr wenigstens ein gutes Drittel dieses dickleibigen Dialogs zu danken haben.

Nachdem also Sokrates auf diese sinnreiche Weise herausgebracht und zum Ueberfluß nochmals wiederholt hat, daß ein Beschützer seines idealischen Staats, um seiner Bestimmung aufs vollkommenste zu entsprechen, die verschiedenen Tugenden eines edeln Haushundes in sich vereinigen, und auf alle Fälle so philosophisch und zornmüthig, behend und stark seyn müsse als der stattlichste Molosser 16, – wirft er die Frage auf: was man ihnen, um sie zu möglichst vollkommnen – Staatshunden zu bilden, für eine Erziehung geben müßte? Eine Untersuchung, welche, wie er meint, nicht wenig zur Auflösung des Problems, ›wie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in einem Staat entstehe,‹ beitragen würde. Adimanth bekräftigt dieses letztere sogleich mit großem Nachdruck, ohne daß man sieht warum; denn daß er, so gut wie der Verfasser des Dialogs selbst, vorausgesehen haben könnte, wie dieser dem Discurs forthelfen werde um zu dem besagten Resultat zu gelangen, ist nicht wohl zu vermuthen. Sokrates gibt zu verstehen, diese Untersuchung dürfte sich ziemlich in die Länge ziehen, meint aber doch, daß dieß kein Grund sey die Sache aufzugeben, zumal da sie gerade nichts Besseres zu [75] thun hätten. Adimanth ist, wie sich's versteht, dazu willig und bereit. Wohlan denn! was für eine Erziehung wollen wir also unsern Staatsbeschützern geben? Es dürfte schwer seyn eine andere zu finden, als die schon längst erfundene, nämlich die Gymnastik für den Körper, die Musik 17 (in der weitesten Bedeutung dieses Wortes) für die Seele. – Auf Musik und Gymnastik also schränkt sich auch in der Platonischen Stadt, deren Einrichtung uns beschäftigt, das ganze Erziehungswesen ein; aber beide sind freilich in dieser ganz etwas anders als in unsern üppigen und von bösen Säften aufgeschwollnen ungesunden Republiken. Die Ausführung dieses Satzes nimmt den ganzen beträchtlichen Rest des zweiten Buchs und ein großes Stück des dritten ein; und wiewohl der heftige Ausfall gegen unsre epischen und dramatischen Dichter nur eine Episode ist, und nicht in gehörigem Ebenmaße mit dem Ganzen stehen möchte, so ist sie doch (außer ihrer Zweckmäßigkeit für die Absicht unsers Philosophen) als ein für sich selbst bestehendes Stück betrachtet, bis auf eine oder zwei die Musik im engern Verstande und die nachahmenden Künste betreffende Stellen, so vortrefflich ausgearbeitet, und in jedem Betracht so unterhaltend, lehrreich und zum Denken reizend, daß ich versucht wäre, sie, mit der Rede Adimanths (wovon sie gewissermaßen die Fortsetzung und vollständigere Ausführung ist) für das beste des ganzen Werks zu halten, wenn ihr der Discurs über die Gymnastik nicht den Vorzug streitig machte.

Wie ich höre ist ihm die Strenge, womit er vornehmlich den Homer und Hesiodus für wahre Verführer und Verderber der Jugend erklärt, und die tiefe Verachtung, womit er von [76] der mimischen Kunst der dramatischen Dichter und Schauspieler spricht, zu Athen sehr übel genommen worden. Ich kann es euch nicht sehr verargen, daß ihr euch für eine eurer vorzüglichsten Lieblings-Ergötzungen und für dramatische Meisterstücke, auf die ihr stolz zu seyn alle Ursache habt, mit Faust und Fersen wehrt. Aber zwei Dinge, lieber Eurybates, wirst du doch bei ruhiger Ueberlegung nicht in Abrede seyn können: erstens, daß Plato in dem ziemlich alten Gebrauch der meisten Griechischen Völkerschaften, ihre Kinder die Gesänge Homers und Hesiods als heilige, von den Musen eingegebene Bücher ansehen zu lehren, und ihnen aus diesen, mit rohen pöbelhaften Begriffen und Gesinnungen, abgeschmackten Mährchen, und zum Theil sehr unsittlichen Reden und Thaten der Götter und Göttersöhne angefüllten alten Volksgesängen, in einem Alter wo das Gemüth für solche Eindrücke weiches Wachs ist, die erste Bildung zu geben – daß, sage ich, Plato in diesem Gebrauch eine der allgemeinsten und wirksamsten, wiewohl bisher unbemerkt gebliebenen, Ursachen der eben so ungeheuren als unheilbaren Sittenverderbniß unsrer Republiken aufgedeckt hat; zweitens, daß es demungeachtet, bei der Verbannung unsrer sämmtlichen Musenkünstler aus seiner idealischen Republik, seine Meinung nicht war noch seyn konnte, daß die Athener und die übrigen Griechen eben dasselbe thun sollten. Bei uns und an uns ist nichts mehr zu verderben; wir sind wie Menschen die in einer schlechten Luft zu leben gewohnt sind; unsre Dichter, Schauspieler, Musiker, Tänzer und Tänzerinnen, Maler und Bildner mögen es treiben wie sie wollen, in Republiken wie Athen, Korinth, Milet, [77] Syrakus und so viele andere (meine ziemlich üppige Cyrene nicht ausgenommen), können sie nichts Böses thun, dem nicht auf diese oder jene Weise das Gift entweder benommen oder durch einwickelnde und mildernde Arzneimittel Einhalt gethan würde. In Athen oder Milet ist wenig daran gelegen, ob die Leyer drei oder vier Saiten mehr oder weniger hat. Aber in einem Staat, dessen Verfassung und Gesetzgebung auf rein sittliche Grundsätze gebaut wäre, und wo also die ganze Lebensweise der Bürger, alle ihre Beschäftigungen und Vergnügungen, ihre gottesdienstlichen Gebräuche, Feste und gemeinschaftliche Ergötzlichkeiten, vor allem aber die Erziehung ihrer Jugend mit jenen Grundsätzen in der richtigsten Harmonie stehen müßten: da würde allerdings die kleinste Abweichung vom Gesetz und vom guten alten Brauch, auch in Sprache, Declamation, Rhythmus, Gesangweisen, Tonfällen, Zahl der Saiten auf der Leyer und Cither, und dergleichen, wo nicht ganz so viel als Plato meint, doch sehr viel zu bedeuten haben; und wenn die Spartaner, die vor dreißig Jahren ein so strenges Decret gegen die eilfsaitige Lyra des berühmten Sängers Timotheus 18 ergehen ließen, dem Geist der Gesetzgebung ihres Lykurgs in allen andern Stücken so getreu geblieben wären, so würden sie, an statt sich den Athenern dadurch lächerlich zu machen, den Beifall aller Verständigen davon getragen haben.

Daß Plato durch seine auf die strengste Moral gebaute Theorie der musischen und mimischen Künste, wenn man – anstatt ihre unmittelbare Beziehung auf seinen idealischen Staat zum Gesichtspunkt zu nehmen – sie als einen allgemeinen [78] Kanon für Dichter, Maler, Musiker u.s.f. betrachten wollte, im Grund alle Poesie und die sämmtlichen mit ihr verwandten Künste rein aufhebt; daß seine Einwendungen gegen die künstliche Nachahmung aller Arten von Charaktern, Gemüthsbewegungen, Leidenschaften und Handlungen (sie mögen nun löblich oder tadelhaft, der Nachfolge oder des Abscheues würdig seyn) keine scharfe Untersuchung aushalten; und daß eine Ilias von lauter vollkommen weisen und idealisch tugendhaften Menschen, wie er sie haben will, ein kaltes, langweiliges und wenigstens durch seine Eintönigkeit unausstehliches Werk seyn würde, wer sieht das nicht? Und wie könnt' es anders seyn, da er den Künsten einen falschen Grundsatz unterschiebt und das Sittlichschöne zu ihrem einzigen Gesetz, Zweck und Gegenstand macht? Aber alles, was er behauptet, steht an seinem Platz, sobald wir es in seine Republik versetzen. Seine Jünglinge sollen an Seel' und Leib ungeschwächte, unverdorbene Menschen bleiben; sie sollen »nichts lernen was sie künftig wieder vergessen müssen;« sie sollen nichts sehen noch hören, nichts denken noch treiben, als was unmittelbar dazu dient, sie zu ihrer Bestimmung vorzubereiten. Sie sollen von Kindesbeinen an auf alle mögliche Weise zu jeder Tugend gewöhnt werden, und ungeziemende, ungerechte, schändliche Dinge nicht einmal dem Namen nach kennen. Sie sollen von der Gottheit das würdigste und Erhabenste denken; sollen angehalten werden immer die Wahrheit zu sagen, und Lügen als die häßlichste Selbstbeschimpfung zu verabscheuen; sollen immer nüchtern, mäßig und enthaltsam seyn, der Wollust und dem Schmerz keine Gewalt über [79] sich lassen, ihren Mitbürgern hold und gewärtig und nur den Feinden des Staats fürchterlich, in Gefahren zugleich vorsichtig und muthvoll, kaltblütig und entschlossen seyn, immer bereit, Leben und alles ihrer Pflicht aufzuopfern, ohne weder den Tod für sich selbst zu fürchten, noch sich beim Ableben der Ihrigen unmännlich zu betragen. Zu allem diesem wird man freilich (wie Plato seinen Sokrates sehr ausführlich mit Stellen aus der Ilias und Odyssee belegen läßt) durch das Lesen unsrer Dichter und durch die Beispiele, Maximen und pathetischen Declamationen unsrer Tragödien nicht gebildet; wohl aber kann es nicht fehlen, daß sie in jungen Gemüthern Eindrücke und Vorstellungen hinterlassen, die das Gegentheil zu wirken geschickt sind. Nehmen wir also dem Schöpfer einer Republik, die bloß dazu erschaffen ist uns zum Urbild der Gerechtigkeit und sittlichen Vollkommenheit zu dienen, nicht übel, daß er unsre Dichter mit eben so weniger Schonung von ihren Gränzen abhält, als alle andern Künstler und Werkleute des Vergnügens und der Ueppigkeit; in einem Staat, der in Ansehung aller körperlichen Bedürfnisse und sinnlichen Genüsse auf das schlechterdings Unentbehrliche eingeschränkt ist, findet sich kein Platz für sie.

Sokrates geht nun in der Erziehung seiner Staatsbeschützer von der Musik als der Bildung der Seele zur Gymnastik oder Ausbildung, Uebung und Angewöhnung des Körpers über. Alles was er über diesen Gegenstand sagt: die scharfe Censur, die er bei dieser Gelegenheit über die Lebensweise der Vornehmen und Reichen zu Syrakus, Korinth und Athen ergehen läßt, alles was er über die Diätetik überhaupt, [80] über die Vorzüge der ächten Aesculapischen Heilkunst von der heutzutage im Schwange gehenden, und über die Analogie der Profession des Richters (den er als eine Art von Seelenarzt betrachtet) mit der Kunst des eigentlich sogenannten Arztes, vorbringt, – mit Einem Wort die ganze reichhaltige und vielseitige Behandlung dieser Materie ist in jedem Betracht unübertrefflich schön und wahr. Alles darin ist neu, selbst gedacht, scharfsinnig, und doch zugleich so klar einfach und auf den ersten Blick einleuchtend, daß der Leser fast immer seinen eigenen Gedanken zu begegnen glaubt. Ich habe nichts darüber hinzuzusetzen, als daß der göttliche Plato, wenn er immer auf diese Art philosophirte, in der That ein Gott in meinen Augen wäre; und daß, wofern die Athener und wir andern alle durch Lesung und Meditirung dieses Discurses nicht weiser und besser werden, die Schuld bloß an uns liegen wird.

Ich zweifle nicht, daß Plato durch den Ausfall über die dermalige Heilkunst in ein gewaltiges Wespennest gestochen hat. Eure Hippokratischen Aerzte, welche sich den Reichen so unentbehrlich zu machen und von ihrer Ueppigkeit und Schwelgerei so viele Vortheile zu ziehen wissen, werden ihm nicht vergeben, daß er ihnen die Geschicklichkeit, einen baufälligen Körper recht lange hinzuhalten und ihre Kranken des langsamsten Todes, der ihrer Kunst möglich ist, sterben zu lassen, d.i. gerade das, worauf sie sich am meisten einbilden, zum Vorwurf, und beinahe zum Verbrechen macht. Natürlicherweise ist ihre Partei, da alle Schwächlinge, Gichtbrüchige, Engbrüstige, Wassersüchtige und Podagristen von Athen auf ihrer Seite sind, wo nicht die stärkste, doch die zahlreichste; [81] und wie sollten sie ihm je verzeihen können, daß er unmenschlich genug ist, zu behaupten: sie und alle ihresgleichen könnten für die allgemeine Wohlfahrt nichts Besser's thun, als sich je bälder je lieber aus der Welt zu trollen; und die Heilkunst mache sich einer schweren Sünde gegen den Staat schuldig, wenn sie sich so viele Mühe gebe, ungesunden Menschen ein sieches, ihnen selbst und andern unnützes Leben auch dann zu verlängern, wenn keine völlige Genesung zu hoffen ist. In der That hat diese Behauptung etwas Empörendes; und es mag wohl seyn, daß nur ein sehr gesunder, der Güte seines Temperaments und seiner strengen Lebensordnung vertrauender, auch überdieß außer allen zärtlichern Familienverhältnissen isolirt lebender Philosoph so vielen armen Sterblichen, die mit allen ihren Uebeln, doch das erfreuliche Licht der Sonne gern so lang' als möglich athmen möchten, ein so unbarmherziges Todesurtheil zu sprechen fähig ist. Ich hoffe Plato selbst werde sich erbitten lassen einige Ausnahmen zu machen; indessen müssen wir auch nicht vergessen, daß alles, was er seinen kerngesunden alten Sokrates über diesen Punkt sagen läßt, mit unverwandter Rücksicht auf seine Republik gesagt wird, wo sich freilich alles anders verhält als in den unsrigen. In den letztern lebt jeder Mensch sich selbst und seiner Familie, dann erst dem Staat; in der seinigen lebt er bloß dem Staat, und sobald er diesem nichts mehr nütze ist, rechnet er sich nicht mehr unter die Lebendigen. Er verhält sich also zum Staat, wie der Leib zur Seele. Die Seele ist der eigentliche Mensch; der Leib hat nur dadurch einigen Werth, und darf nur insofern in Betrachtung [82] kommen, als er der Seele zum Sklaven und Werkzeug gegeben ist. Es ist daher (wie Sokrates etwas, so er vorhin selbst gesagt hatte, berichtiget) nicht recht gesprochen, wenn man die Musik allein auf die Seele, die Gymnastik allein auf den Leib bezieht. Beide dienen bloß der Seele, und die Gymnastik findet in seiner Republik nur insofern Platz, als sie den Körper zu einem rein gestimmten, diese Stimmung festhaltenden, und mit einer von den Musen gebildeten Seele immer rein zusammen klingenden Instrument derselben macht. Eben darum wäre sehr übel gethan, die Gymnastik von der Musik oder diese von jener trennen zu wollen; die Musik allein würde nur weibische Schwächlinge, die Gymnastik allein sogar aus Knaben von der edelsten Art nur rohe gewaltthätige Halbmenschen ziehen: aber so, wie Plato es vorschreibt, verbunden und eine durch die andere getempert 19, bilden sie »den ächten Musiker und Harmonisten, der beide Benennungen in einem unendlich höhern Grad verdient als der größte Saitenspieler.«

Was meinst du nun, Glaukon (fährt Sokrates fort), sollten wir, wenn uns die Erhaltung unsrer Republik am Herzen liegt, nicht immer gerade einen solchen Mann zum Vorsteher derselben nöthig haben? – Mit dieser leichten Wendung führt er uns zu der dritten Classe seiner Staatsbürger, nämlich zu den Archonten oder obrigkeitlichen Personen, deren die beiden ersten benöthigt sind, wenn diese unwandelbare Ordnung, Harmonie und Einheit in der Republik erhalten werden soll, in welcher ihr Wesen besteht, und wodurch sie sich von allen unsern ungesunden, baufälligen und [83] ihrer Zerstörung, langsamer oder schneller, entgegen eilenden Republiken unterscheidet. Was er hier von dieser obersten Classe seiner Staatsbürger überhaupt, und von dem Obervorsteher oder Epistaten des ganzen Staats sagt, ist zwar nur ein bloßer, mit wenigen Pinselstrichen entworfener Umriß, wovon er sich die Ausführung stillschweigend vorbehält; aber auch in diesem entwickelt sich alles so leicht und schön, ist alles so richtig gedacht, in so zierliche Formen eingekleidet, und erhält durch überraschende Wendungen einen so eigenen Zauber von Genialität und Neuheit, daß man ihm Tage lang zuhören möchte, wenn er sich in dieser Sokratischen Manier zu philosophiren so lange erhalten könnte.

Um so auffallender ist es, wenn wir seinen Sokrates, den wir eine geraume Zeit lang so verständig, wie ein Mann mit Männern reden soll, reden gehört haben, sich plötzlich wieder in den Platonischen verwandeln, und in eine andre Tonart fallen hören, welche wir (mit aller ihm schuldigen Ehrerbietung gesagt) uns nicht erwehren können, unzeitig, seltsam, und, mit dem rechten Wort gerade heraus zu platzen, ein wenig läppisch zu finden. »Wie wollen wir es nun anstellen (fragt er den Glaukon), um vornehmlich die Archonten unsrer Republik, oder doch wenigstens die übrigen Bürger, eine von den gutartigen Lügen glauben zu machen, von denen wir oben (als die Rede von den Fabeln und Lügen der Dichter war) ausgemacht haben, daß sie zuweilen zulässig und schicklich seyen?« – Glaukon, den diese unerwartete Frage vermuthlich eben so stark vor die Stirne stieß als uns, kann sich nicht vorstellen, was für eine Lüge Sokrates im Sinne habe. –

[84] »Sie ist nichts Neues,« versetzt Sokrates; »denn sie stammt schon von den Phöniciern her 20, und hat sich, wie die Poeten mit großer Zuversichtlichkeit versichern, vor Zeiten an vielen Orten zugetragen. In unsern Tagen ereignet sich freilich so etwas nicht mehr, und ich weiß nicht, ob es sich künftig jemals wieder zutragen dürfte.« – Es muß etwas Seltsames seyn, daß du so hinterm Berge damit hältst, sagt Glaukon. – »Wenn du es gehört haben wirst,« antwortet Sokrates, »wirst du finden daß ich Ursache hatte, nicht gern damit herauszurücken.« – Sag' es immerhin und befürchte nichts. – »Nun so will ich's denn sagen, wiewohl ich selbst nicht weiß, wo ich die Kühnheit und die Worte dazu hernehme.«

Nachdem er durch diesen dramatischen Kunstgriff die Erwartung seiner Zuhörer aufs höchste gespannt hatte, mußte ihnen doch wohl zu Muthe seyn als ob sie aus den Wolken fielen, da er fortfuhr: »Vor allem also will ich mich bemühen, die Archonten meiner Stadt und die Krieger, und dann auch die übrigen Bürger dahin zu bringen, daß sie sich einbilden, alles was bisher mit ihnen vorgegangen und die ganze Erziehung, die wir ihnen gegeben haben, sey ein bloßer Traum gewesen. Dagegen sollen sie glauben, sie selbst sammt ihren Waffen und allem ihrem übrigen Geräthe seyen wirklich und wahrhaftig im Schooß der Erde gebildet, genährt und ausgearbeitet worden; und erst, nachdem sie in allen Stücken fertig und vollendet da gestanden, habe die Erde, ihre Mutter, sie zu Tage gefördert. Demnach sey es ihre erste Pflicht, das Stück Erde, welches sie bewohnen, als ihre Mutter und Erzieherin zu betrachten, jeden feindlichen [85] Anfall von ihr abzuhalten, und alle ihre Mitbürger, ebenfalls Kinder derselben Erde, als ihre Brüder anzusehen.« – Nun begreif' ich freilich, sagt Glaukon, warum du mit einer so platten Lüge so verschämt zurückhieltest. – »Da hast du wohl Recht,« versetzt Sokrates; »aber höre nun auch den Rest des Mährchens. Ihr alle (werden wir nun, die Fabel fortsetzend, zu ihnen sagen), so viele euer in dieser Stadt leben, seyd Brüder; aber der Gott, der euch bildete, vermischte den Thon, den er dazu nahm, mit ungleichartigem Metall. Bei denjenigen von euch, die zum Regieren tauglich sind, mischte er Gold unter den Thon, daher sind sie die geehrtesten von allen; zu denen, die er für den Soldatenstand bestimmte, Silber; Kupfer zu den Ackerleuten und Eisen zu den übrigen Handarbeitern. Da ihr nun alle zu einer und eben derselben Familie gehört, so zeugt zwar meistens jeder seines gleichen; doch geschieht es auch wohl zuweilen, daß sich aus Gold Silber, und dagegen aus Silber Gold, und eben so auch Kupfer aus Silber, oder Gold aus Kupfer erzeugt, und so weiter. Diesem zufolge macht der Gott, euer Schöpfer, den Regierern zur ersten und wichtigsten Pflicht, die Kinder, die unter euch geboren werden, genau zu untersuchen, mit welchem von den besagten vier Metallen ihre Seelen legirt sind, und wofern ihnen selbst kupfer- oder eisenhaltige geboren würden, sie ohne Schonung, wie es ihrer Natur gemäß ist, in die Classe der Handwerker oder Ackerleute zu versetzen; hingegen, wofern diese letztern einen gold-oder silberhaltigen Sohn erzeugten, solchen in die Classe der Regierer, oder der Vertheidiger der Republik zu erheben; und dieß einem Orakel zufolge, welches [86] dem Staat den Untergang ankündigt, wofern er je von Kupfer oder Eisen regiert würde.«

Was sagst du zu diesem Ammenmährchen, Eurybates? Sollte der göttliche Plato wohl eine so verächtliche Meinung von seinen Lesern hegen, daß er für nöthig hält, uns von Zeit zu Zeit wie kleine Knaben mit einem Fabelchen in diesem kindischen Geschmack zufrieden zu stellen, weil er uns nicht Menschenverstand genug zutraut, eine männlichere Unterhaltung, wie z.B. die unmittelbar vorhergehende, in die Länge auszuhalten? Wenn er es ja für dienlich hielt, zu mehrerem Vergnügen der Leser den Ton zuweilen abzuändern, wie konnt' er sich selbst verbergen, daß nur Kinder, die noch unter den Händen der Wärterin sind, an einem so platten Mährchen Gefallen haben könnten? Oder sollte er vielleicht die geheime Absicht, die ihm Schuld gegeben wird, wirklich hegen, die Ilias aus den Kinderschulen der Griechen zu verdrängen, und diesen Dialog bloß darum mit so vielen Fabeln und allegorischen Wundermährchen gespickt haben, um desto eher hoffen zu können, sich selbst dereinst an die Stelle des verbannten Homers gesetzt zu sehen? Beinahe muß man auf einen solchen Argwohn verfallen; zumal wenn man die sonderbare Hitze bedenkt, womit er sich an mehrern Stellen dieses Werkes mit einer sonst kaum begreiflichen Ausführlichkeit beeifert, den sittlichen Einfluß der Werke unsrer Dichter auf die Jugend in das verhaßteste Licht zu stellen. Wie dem auch seyn mag, immer ist es lustig genug, zu sehen, wie er seinen Sokrates vorbauen läßt, daß die Leser sein Phönicisches Mährchen nicht für so ganz einfältig und anspruchlos halten [87] möchten als es aussieht. – Weißt du wohl ein Mittel, läßt er ihn den Glaukon fragen, wie man unsre Leute dieses Mährchen glauben machen könnte? Sie selbst nicht, antwortet Glaukon, aber wohl allenfalls ihre Söhne und Nachkommen und die andern Menschen der Folgezeit, sollt' ich denken. Ich merke wo du hinaus willst, versetzt Sokrates; es könnte doch immer dazu gut seyn, sie desto ernstlicher besorgt zu machen, daß die Absicht des Orakels erreicht werde; – nämlich, daß die Republik nicht durch die üble Staatsverwaltung kupferner und eiserner Regenten zu Grunde gehe. – Wenn diese Reden nicht ganz ohne Salz seyn sollen, muß man, dünkt mich, annehmen, Glaukon und Sokrates werfen hier beide einen Seitenblick auf Athen und andere Griechische Städte, in welchen die schlechten Metalle dermalen ein sehr nachtheiliges Uebergewicht zu haben scheinen. Aber wozu hatte Plato – er, der an mehrern Stellen dieses Dialogs seinen Mitbürgern und Zeitgenossen die derbesten und ungefälligsten Wahrheiten ganz unverblümt ins Gesicht sagt – wozu hatte er gerade hier einer so zwecklosen Behutsamkeit nöthig?

Uebrigens täusche ich mich vielleicht, indem es mir vorkommt, als ob Sokrates, von diesem Mährchen an, durch alle folgenden Bücher sich selbst verloren habe, und sich mit aller Mühe nicht wieder finden, oder, wenn er auch zuweilen in seinen eigenen Ton zurückfällt, sich doch nicht lange darin erhalten könne. Ich drücke mich hierüber so schüchtern aus, weil es sehr möglich ist, daß die Ursache, warum mir dieß so vorkommt, vielmehr in meiner Gewohnheit, mir einen[88] ganz andern Sokrates zu denken, als in einem Mangel an Haltung liegt, der dem Verfasser des Dialogs Schuld gegeben werden könnte. Die Wahrheit zu sagen, der Sokrates, den er darin die doppelte Rolle des Erzählers und der Hauptperson des Drama's spielen läßt, ist und bleibt sich selbst durchgehends immer ähnlich; denn es ist immer Plato selbst, der unter einer ziemlich gut gearbeiteten und seinem eigenen Kopfe so genau als möglich angepaßten Sokrateslarve, nicht den Sohn des Sophroniskus, sondern sich selbst spielt. Hinter dieser Larve sieht er zuweilen, je nachdem er uns eine Seite zeigt, dem wahren Sokrates so ähnlich, daß man einige Augenblicke getäuscht wird: aber seine Stimme kann oder will er vielmehr nicht so sehr verstellen, daß die Täuschung lange dauern könnte; und überhaupt braucht man ihm nur näher auf den Leib zu rücken und ihn scharf ins Auge zu fassen, um den leibhaften Plato überall durchschimmern zu sehen. Dieser scheint sogar von Zeit zu Zeit die unbequeme Larve ganz wegzuschieben, und uns auf einmal mit seiner eigenen, von jener so stark abstechenden Physiognomie zu überraschen; und da er dieses seltsame Spiel, eben dieselbe Person bald mit bald ohne Larve zu machen, einen ganzen Tag lang treibt, so kann es nicht wohl fehlen, daß der Zuschauer endlich irre wird, und nicht recht weiß was man mit ihm vorhat, und ob er beim Schluß des Stücks zischen oder applaudiren soll.


[89] Diese Ungewißheit ist indessen keineswegs der Fall im Rest des dritten und im Anfang des vierten Buchs. Eine unserm Philosophen eigene dialektische Spitzfündigkeit, die auch hier von Zeit zu Zeit durch die Lücken der Sokrateslarve durchguckt, abgerechnet, scheint er darin die angenommene Person wieder ziemlich gut zu spielen; so gut wenigstens, daß man sich geneigt fühlt, der Täuschung mit halb geschloss'nen Augen nachzuhelfen; und wiewohl man sich hier und da nicht wohl erwehren kann ein wenig ungehalten auf den Schauspieler zu seyn, wenn er unversehens aus seiner Rolle heraustritt und anstatt den Sokrates rein fortzuspielen, in seine eigene Person zurücksinkt: so macht uns doch die Gewandtheit, womit er sich unvermerkt wieder in die angenommene hineinwirft, so viel Vergnügen, daß es wenig Mühe kostet ihm zu verzeihen und im Ganzen recht wohl mit ihm zufrieden zu seyn.

Die Rede ist nun im Rest des dritten Buchs davon, wie die aus dem Schooß der Erde in voller Rüstung hervorgesprungnen Beschirmer oder Soldaten unsers idealischen Staats in Ansehung der Wohnung, Nahrung und aller übrigen zum Leben gehörigen Stücke gehalten werden sollen. Da in der vollkommensten Republik alles rein consequent und zweckmäßig seyn muß; da es in derselben nicht darum zu thun ist, die einzelnen Gliedmaßen des Staats, sondern das Ganze so glücklich als möglich zu machen, und das letztere auf keine andere Weise zu erhalten steht, als wenn jede Classe, und jeder einzelne Bürger in der seinigen, gerade das und nichts anders ist, als was sie vermöge ihres Verhältnisses zum [90] Ganzen nothwendig seyn müssen; so dürfen wir uns nicht wundern, daß Plato den bewaffneten Theil der Bürger, welcher bloß zum Schutz der Gesetze und des Staats, zu Vollziehung der Befehle der Regenten und zu Vertheidigung aller übrigen Bürger da ist, in allen Stücken auf das bloße Unentbehrliche setzt. Sie wohnen in schlechten Baracken, haben außer ihren Waffen und was die höchste Nothdurft zum Leben fordert, nicht das geringste Eigenthum; halten ihre äußerst frugalen Mahlzeiten gemeinschaftlich in öffentlichen Sälen, und leben in allen Stücken in der nämlichen Ordnung beisammen, wie sie im Lager leben müßten. In diesem und allen andern Stücken sind sie der strengsten Disciplin unterworfen; mit Einem Wort, nichts ist vergessen, was es ihnen unmöglich macht, jemals aus den Schranken ihrer Bestimmung herauszutreten, und »aus treuen und wachsamen Hunden der Heerde sich in Wölfe zu verwandeln.« – Alles dieß und was dahin einschlägt, führt Sokrates gegen die Zweifel und Einwürfe Adimanths so gründlich und sinnreich aus, daß weder diesem noch dem Leser das Geringste gegen die Zweckmäßigkeit dieses Theils der Verfassung der Republik einzuwenden übrig bleibt.

Was bei dem allem nicht wenig zum Vergnügen der Leser beizutragen scheint, ist die anscheinende Unordnung, oder, richtiger zu reden, die unter diesem Schein sich verbergende Kunst, wie der Dialog, gleich einem dem bloßen Zufall überlassenen Spaziergang, indem er sich mit vieler Freiheit hin und her bewegt, unter lauter Digressionen dennoch immer vorwärts schreitet, und dem eigentlichen Ziel des [91] Verfassers (wie oft es uns auch aus den Augen gerückt wird) immer näher kommt. Wenigen dieser kleinern oder größern Abschweifungen fehlt es an Interesse für sich selbst: sie schlingen sich aber auch überdieß meistens so natürlich aus und in einander, und lenken wieder so unvermerkt in den Hauptweg ein, daß man den Umweg entweder nicht gewahr geworden ist, oder sich's doch nicht reuen lassen kann, ihn gemacht zu haben. Dieß ist zwar nicht immer, aber doch wenigstens öfters, der Fall; und ich finde um so nöthiger diese Bemerkung hier nachzuholen, da sie, wo nicht zu völliger Widerlegung, doch zu gebührender Einschränkung dessen dient, was ich oben, aus dem Mund etlicher vielleicht gar zu schulgerecht urtheilender Kunstfreunde, gegen die Composition dieses Dialogs, als dichterisches Kunstwerk betrachtet, erinnert habe. Ein Gespräch dieser Art kann und soll weder an die Gesetze der architektonischen Symmetrie, noch an die Regeln des historischen Gemäldes gebunden werden; es ist in dieser Rücksicht noch freier als die Kratinische und Aristophanische Komödie selbst; die größte Kunst des Dialogendichters ist, seinen Plan unter einer anscheinenden Planlosigkeit zu verstecken, und nur dann verdient er Tadel, wenn er sich von seinem Hauptzweck so weit verirrt, daß er sich selbst nicht wieder ohne Sprünge und mühselige Krümmungen in seinen Weg zurückfinden kann.

Nachdem Platons Sokrates mit den Beschirmern seiner Republik, unter den gehörigen Voraussetzungen so ziemlich auf dem Reinen ist, wirft er (bloß um Adimanthen auf eine Probe zu stellen, wie es scheint) die Frage auf: ob es wohl [92] auch nöthig seyn dürfte, ihre neue Republik mit Gesetzen über die Eigenthumsrechte, und die willkürlichen Handlungen der Bürger unter einander, und die Rechtshändel die aus dem Zusammenstoß ihrer Ansprüche oder aus persönlichen Beleidigungen entstehen, kurz mit Gesetzen über eine Menge von Gegenständen, die in unsern Republiken vom gewöhnlichen Schlag unentbehrlich sind, zu versehen? – Aber Adimanth ist der Meinung, ihre Republik bedürfe aller dieser armseligen Stützen und Behelfe nicht; und es würde ganz überflüssig seyn, so verständigen und guten Menschen, wie die Bürger derselben sammt und sonders, vermöge ihrer Verfassung, Erziehung und Lebensordnung nothwendig seyn müßten, über diese Dinge etwas vorzuschreiben, da sie in jedem vorkommenden Falle die Regel, nach welcher sie sich zu benehmen hätten, ohne Mühe von selbst finden würden. Ganz gewiß, sagt Sokrates, werde dieß der Fall seyn, wofern ihnen Gott die Gnade gebe, den Gesetzen, die er ihnen vorhin bereits vorgeschrieben, getreu zu bleiben. Wo nicht, erwiedert Adimanth, so möchten sie immerhin (wie es in den gewöhnlichen Republiken zu gehen pflegt) ihr ganzes Leben damit zubringen, täglich neue Gesetze zu geben, in Hoffnung zuletzt noch wohl die rechten zu treffen, – wie gewisse Kranke, die sich vergebens schmeicheln durch beständiges Abwechseln mit neuen Arzneien zu genesen, weil sie aus Unenthaltsamkeit die Lebensart nicht ändern wollen, welche der Grund ihrer Krankheit ist.

Sokrates setzt diese Vergleichung noch eine Weile fort, und findet sich dadurch in der Behauptung bestätiget, daß [93] kein weiser Gesetzgeber weder in einem wohl, noch in einem schlecht geordneten Staat sich mit Gesetzen und Verordnungen dieser Art befassen werde; nicht in diesem, weil sie unnöthig und von keinem Nutzen wären, in jenem nicht, weil das, was in jedem vorkommenden Falle zu thun ist, jedem Bürger vermöge der Bildung und Richtung, die er durch die bereits bestehende Verfassung erhalten hat, von selbst einleuchten muß. Was bliebe uns also noch zu thun, um mit unsrer Gesetzgebung fertig zu seyn? fragt Adimanth. Uns nichts, antwortet Sokrates; denn den größten, schönsten und wichtigsten Theil derselben werden wir dem Delphischen Apollo überlassen. Und was beträfe dieß? fragte jener etwas gedankenlos; denn er hätte doch wohl mit einem Augenblick von Besinnung dem Sokrates die Mühe ersparen können, sich erklären zu müssen, daß die Anordnung der Tempel und Opfer und alles übrigen, was die Verehrung der Götter, Dämonen und Heroen, wie auch die den Verstorbenen zu Beruhigung ihrer Manen gebührende letzte Ehre betreffe, damit gemeint sey. Da wir selbst von allem diesem keine Wissenschaft haben, sagt Sokrates, und wenn wir weise sind, einen so wichtigen Theil der Einrichtung unsrer Stadt auch keinem andern Sterblichen anvertrauen werden, so können wir nichts Besser's thun, als uns darüber von dem Gotte belehren zu lassen, der in solchen Dingen der angestammte Rathgeber aller Menschen ist, und bloß zu diesem Ende Delphi 21, als die Mitte oder den Nabel der Erde, zu seinem Sitz erwählt hat.

Sollte dir, Freund Eurybates, diese Stelle sowohl, als die kurz vorhergehende, wo Sokrates zu verstehen gibt, daß [94] er selbst nicht begreife, »wie seine Republik, ohne unmittelbaren Beistand Gottes, sich bei ihrer ursprünglichen Verfassung lange werde erhalten können« – nicht eben so stark, wie mir, aufgefallen seyn? Zwar erkennen wir an dergleichen Aeußerungen unsern alten Freund und Lehrer, der für den religiösen Volks- und Staatsglauben nicht nur (wie billig) alle schuldige Ehrfurcht hegte, sondern im Glauben selbst nahezu bis zur Einfalt unsrer Großmütter ging, und durch den Contrast, den dieser Zug seines Charakters mit seinem sonst so hellen Verstande machte, uns nicht selten in Erstaunen und Verlegenheit setzte. Aber Plato, dessen Art über unsre Volksreligion zu denken kein Geheimniß ist, mußte doch wohl mit diesen beiden Stellen etwas Mehrer's wollen, als seine eigenen Gedanken hinter diesem Zug seiner Sokrateslarve zu verbergen? Hätte er in diesem Werke wirklich die Absicht gehabt, der Welt das idealische Modell einer vollkommnen Republik zu hinterlassen, würde es da wohl seiner oder irgend eines andern ächten Philosophen würdig gewesen seyn, eine so wichtige Sache als die Religion ist, dem Delphischen Apollo, d.i. den Priestern des Tempels zu Delphi zu überlassen? Und wäre er selbst von der innern Güte und Realität seiner Republik, d.i. von ihrer reinen Uebereinstimmung mit der menschlichen Natur, überzeugt gewesen, würde er wohl alle seine Hoffnungen, daß sie sich bei seinen Gesetzen werde erhalten können, auf einen Gott aus einer Maschine gegründet haben? Keines von beiden, däucht mich. – Was ist es also, was er eigentlich damit wollte? – Durch den Compromiß auf den Delphischen Apollo wollt' er sich, [95] denke ich, den häkeligsten und gefährlichsten Theil der Gesetzgebung seiner Republik vom Halse schaffen; und glücklich für ihn, daß er dieß um so schicklicher thun konnte, da der starke Glaube des wirklichen Sokrates an jenen Gott ein bekannter Umstand ist. Mit der frommen Hoffnung hingegen, womit er die Erhaltung seiner Gesetzgebung dem Willen Gottes anheimstellt, konnt' er uns wohl nichts anders zu verstehen geben wollen, als daß er selbst von ihrer innern Lebenskraft und Dauerhaftigkeit keine große Meinung hege, und so gut als andre wisse, daß eine idealische Republik nur für idealische Menschen passe, und, um so frei in der Luft schweben zu können, an den Fußschemel von Jupiters Thron angehängt werden müsse. Denn freilich, wenn die Götter das Beste dabei thun wollten, könnte auch die Aristophanische Nephelokokkygia so gut existiren als die Platonische Republik.

6. Fortsetzung des Vorigen
6.
Fortsetzung des Vorigen.

Wir sind nun ganz nahe bis zu dem Punkt vorgerückt, um dessentwillen vermuthlich diese ganze Unterredung angefangen und durch so vielerlei Mäandrische Umschweife und Aus- und Einbeugungen bis hierher geführt worden; aber so wohlfeil gibt es unser poetisirender Philosoph oder philosophirender Dichter nicht. Er hat sich nun einmal vorgesetzt, uns in diesem dramatischen Dialog zu weisen, daß er sich so [96] gut als irgend ein Tragödienmacher auf die Kunst verstehe, den Punkt, auf welchen wir losgehen, alle Augenblicke bald zu zeigen, bald wieder aus dem Gesichte zu rücken, um uns desto angenehmer zu überraschen, wenn wir das, was er uns so lange durch einen unmerklich wieder in sich selbst zurückkehrenden Umweg suchen ließ, endlich unversehens vor unsrer Nase liegen finden. Unser verkappter Sokrates, der itzt für eine ziemliche Weile die Larve wieder weggeschoben hat und mit seinem eigenen Gesichte spielt, meint: sie hätten ihre Republik so gut angeordnet, daß es nun weiter nichts bedürfe, als daß Adimanth seinen Bruder und Polemarchen und die übrigen Anwesenden aufrufe, ihm mit einer tüchtigen Fackel so lange in derselben herum suchen zu helfen, bis sie die irgendwo in ihr versteckte Gerechtigkeit ausfindig gemacht haben würden. In der That muthet er diesen wackern jungen Männern damit nicht mehr zu, als was sie mit einer mäßigen Anstrengung ihres Menschenverstandes sehr leicht leisten konnten und sollten. Aber dabei hätte der Verfasser des Dialogs seine Rechnung nicht gefunden. Glaukon besteht darauf, daß Sokrates seinem Versprechen gemäß das Beste bei der Sache thun müsse, und dieser schickt sich denn auch um so williger dazu an, da er wirklich in einer ganz eigenen Laune zu seyn scheint, sich mit der Treuherzigkeit der jungen Leute einen dialektischen Spaß zu machen, und sie nach dem Ding, das er in der Hand hat, fein lange überall wo es nicht ist herumstöbern zu lassen. Wohlan also (sagt er) hier zeigt sich mir ein Weg, der uns hoffe ich zu dem, was wir suchen, führen soll. Wenn wir unsre Republik [97] gehörig angeordnet haben, so sollte sie, dächt' ich, durchaus gut seyn. – Nothwendig, antwortet Glaukon. – S. Augenscheinlich ist sie also weise, tapfer, wohlgezüchtet und gerecht? – Gl. Augenscheinlich. – S. Wenn wir nun von diesen Vieren Eins, welches es sey, in ihr finden, so ist das übrige das, was wir nicht gefunden haben; nicht wahr? – Gl. Wie meinst du das? – S. Wenn wir unter vier Dingen, welcher Art sie auch seyn mögen, nur Eines suchen, und (indem wir glücklicherweise zuerst darauf stoßen) es sogleich für das Gesuchte erkennen, so lassen wir's dabei bewenden; haben wir hingegen die drei ersten vorher ausfindig gemacht, so kennen wir eben dadurch auch das, was wir suchen; denn es ist klar, daß es kein anderes seyn kann als das vierte, so noch übrig ist. – Richtig, antwortet Glaukon wie ein unbesonnener Knabe; denn es greift sich doch mit Händen, daß er nur unter der Bedingung, wofern diese vier Dinge uns schon bekannt sind, mit Ja antworten konnte; denn wofern sie es nicht sind, so weiß ich, in dem gegebenen Falle, zwar, daß das noch nicht gefundene, das gesuchte ist; aber wozu kann mir das helfen, wenn ich nicht weiß, was es ist? Glaukon mußte einfältiger seyn als Praxillens Adonis 22, wenn er nicht sah, wo Sokrates mit seinem mathematischen Axiom hinaus wollte; daß er es nämlich auf die nur eben seiner Republik nachgerühmten vier charakteristischen Eigenschaften anwenden, und wenn er die drei zuerst genannten in ihr gefunden hätte, versichern würde, daß ihnen nun auch die Gerechtigkeit nicht entgehen könne; wiewohl dieser Umweg im Grunde zu nichts helfen konnte, als sie, ohne alle Noth, [98] eine gute halbe Stunde länger aufzuhalten. Da sich aber seine Zuhörer nun einmal alles von ihm gefallen lassen, so macht sich unser After-Sokrates abermals den für seine Leser ziemlich langweiligen Zeitvertreib, durch eine Menge unnöthiger, zum Theil lächerlicher und kindischer Fragen, und kopfnickender oder platter Antworten des ehrlichen Glaukons, herauszubringen: worin die Weisheit, Mannskraft und Zucht bestehe, in welchen (nebst der Gerechtigkeit) er den unterscheidenden Charakter seiner Republik setzt, und von welchen die erste den Regenten, die zweite den Beschützern vorzüglich beiwohne, die dritte aber (wie er sehr sinnreich und spitzfindig darthut) durch die gebührende Subordination der zwei untern Bürgerclassen unter die oberste, eine mit dem, was man in der Musik Diapasôn (die Octave) nennt, vergleichbare Harmonie des ganzen Staats hervorbringe. Wir hätten also (fährt er nun fort) die drei ersten Formen der Tugend oder der Vollkommenheit, die unsrer Republik eigen seyn soll, gefunden: welches wäre dann die noch übrige? Doch wohl die Gerechtigkeit? Gl. Ja wohl! Sokr. Was haben wir also nun zu thun, lieber Glaukon, als daß wir, nach Jägerweise, einen Kreis um diesen Busch schließen, damit uns die Gerechtigkeit nicht etwa unvermerkt entwische und aus dem Gesicht komme; denn daß sie hier irgendwo stecken muß, hat seine Richtigkeit. Schaue also überall scharf herum, ob du sie vielleicht eher als ich gewahr werden und mir zeigen kannst. Gl. Ja, wenn ich das könnte! Aber so fern sonst nichts nöthig ist als dir zu folgen und zu sehen was du mir zeigst, bin ich dein Mann. Sokr. Nun so komm denn mit, und [99] mögen uns die Götter Glück zu unsrer Jagd verleihen! Gl. Das ist auch mein Gebet.Sokr. Der Ort scheint mir ziemlich steil und so verwachsen und dunkel, daß kaum fortzukommen ist. Wollen's aber doch versuchen! Gl. Das wollen wir!Sokr. Heida! Heida, Glaukon! Mich däucht ich bin auf die Spur gekommen; nun soll sie uns hoffentlich nicht entwischen. Gl. Das ist mir lieb zu hören.Sokr. Ei, ei! was seh' ich? da haben wir ja alle beide einen erzdummen Streich gemacht! Gl. Wie so? Sokr. Sind wir nicht auslachenswerth, daß wir uns so viele Mühe gaben etwas zu suchen, das uns gleich von Anfang an so nahe lag? Wir sahen darüber weg, und suchten in der Ferne, was uns diese ganze Zeit über vor den Füßen herumkollerte. Gl. Wie soll ich das verstehen? Sokr. Ich will sagen, wir reden und hören schon wer weiß wie lange davon, und merkten nicht, daß wir nur mit andern Worten von nichts anderm redeten. Gl. Welche lange Vorrede für einen, dessen Wißbegierde du so sehr erregt hast!Sokr. Nun so höre denn! –

Ich gestehe sehr gern, Eurybates, daß mir die Natur den besondern Sinn versagt hat, der dazu gehört, um an dieser niedrig komischen Vorbereitungsscene zu einer so ernsthaften Untersuchung Geschmack zu finden. Ich erkenne in dieser unzeitig schäkerhaften Hasenjagd, wobei der Leser sich noch allerlei possierliche Gebärdungen und Grimassen hinzu denken muß, höchstens eine verunglückte Nachahmung irgend einer Aristophanischen Possenscene, und allenfalls den Pseudo-Sokrates der Wolken, aber nichts weniger als die fröhliche Laune dieses immer heitern und wohlgemuthen, aber zugleich [100] immer gesetzten und die Würde seines Charakters nie vergessenden Sokrates, mit welchem ich lange genug gelebt habe, um das feine Salz, womit sein Scherz gewürzt zu seyn pflegte, von dem widerlichen Meersalz unterscheiden zu können, worein Plato hier (im Zorn der Grazien, die ihm sonst hold genug zu seyn pflegen) einen so unglücklichen Mißgriff gethan hat.

Und was ist nun das Resultat der Entdeckung, die er itzt auf einmal gemacht haben will, nachdem er uns schon so lange in so weit ausgeholten Kreisen um den Brei herumgeführt hat? Oder vielmehr, wie sieht denn der Vogel aus, den er diese ganze Zeit über in der Hand hatte, und uns in einem Anstoß von jugendlich muthwilliger Spaßhaftigkeit selbst so lange in allen Hecken und Büschen suchen half? – Man erwartet, wie billig, daß er sich endlich entschließen werde die Hand aufzuthun, und dem armen, vor Neugier und Ungeduld beinahe platzenden Glaukon den seltnen Wundervogel vorzuzeigen. Aber nein! Dieser Sokrates sagt und thut nichts wie andre Menschenkinder, und bei ihm wird uns das schale Vergnügen einer immerwährenden Ueberraschung bis zur Uebersättigung zu Theil. Er öffnet zwar die Hand nur eben so weit, daß das Vögelchen mit der Spitze des Schnabels hervorgucken kann, macht sie aber sogleich wieder zu, fängt wieder von neuem zu subtilisiren und chicaniren an, und wozu? – Um durch eine Menge unnöthiger Fragen (womit er den ehrlichen Glaukon und uns um so billiger verschonen konnte, da das alles im Vorhergehenden bereits einige Stunden lang mit der mühseligsten Genauigkeit aufs Reine gebracht worden war) und durch eine lange Reihe von Gleichungen [101] zu unsrer großen Verwunderung endlich heraus zu bringen: die Gerechtigkeit seiner Republik bestehe darin, daß ein jeder einzelner Bürger der drei Classen, aus welchen sie zusammengesetzt ist, schlechterdings nur das Eine, wozu er am meisten Geschick hat und wodurch er dem Ganzen am nützlichsten seyn kann, und sonst nichts anders treibe.

Wenn ich die verschiedenen, zum Theil sehr verschraubten Formeln, in welchen er diesen Satz aufstellt, recht verstehe, so läuft alles darauf hinaus: daß in seiner Republik jeder Mensch und jedes Ding gerade das ist, was es seiner Natur und Bestimmung nach seyn soll; oder um die Sache noch kürzer zu geben: daß jedes das, was es ist, immer ist. Da ein Wort doch weiter nichts als das Zeichen einer Sache, oder vielmehr der Vorstellung die wir von ihr haben, ist, so kann es dem Wort Gerechtigkeit allerdings gleich viel seyn, was Plato damit zu bezeichnen beliebt; aber der Sprache ist dieß nicht gleichgültig; und ich sehe nicht mit welchem Recht ein einzelner Mann, Philosoph oder Schuster, sich anmaßen könne, Worte, denen der Sprachgebrauch eine gewisse Bedeutung gegeben hat, etwas anders heißen zu lassen als sie bisher immer geheißen haben. Was Plato unter verschiedenen Formeln Gerechtigkeit nennt, ist bald die innere Wahrheit und Güte eines Dinges, die ihm eben dadurch, daß es recht ist, oder daß es ist was es seyn soll, zukommt; bald die Ordnung, die daraus entsteht, wenn viele verschiedene mit einander zu einem gewissen Zweck in Verbindung stehende Dinge das, was sie vermöge dieser Verbindung seyn sollen, immer sind; bald die Harmonie, die eine natürliche Wirkung [102] dieser Ordnung ist. Aber fürs erste, wenn sein Geheimniß weiter nichts als das war, so hätte er uns, däucht mich, die Mühe einer so langwierigen und langweiligen Initiation ersparen können; und zweitens wird es, wenigstens außerhalb seiner eigenen Republik, wohl immer bei der gewöhnlichen allenthalben angenommenen Bedeutung des Wortes Gerechtigkeit verbleiben; und der alte Simonides wird um so mehr Recht behalten, da alle Platonischen Formeln ohne große Mühe sich mit der seinigen in Gleichung setzen lassen. Denn, indem die Obrigkeit in seinem Staat das ist, was sie seyn soll und nichts anders, erhält und gibt sie (wie er beiläufig selbst gesteht) dem Staat und jedem einzelnen Gliede desselben, was sie ihm vermöge ihrer Bestimmung schuldig ist; und eben dasselbe gilt von der Classe der Beschützer oder Soldaten, und von den sämmtlichen Künstlern, Handwerkern, Feldbauern, Kaufleuten, Krämern u.s.w., welche Plato mehr seiner Hypothese zu Gefallen, als aus hinlänglichem Grunde, ohne sich viel um sie zu bekümmern, in die dritte Classe zusammengeworfen hat.


Unser platonisirender Sokratiskus hatte sich anheischig gemacht, am Beispiel einer gerechten Republik im Großen zu zeigen, was Gerechtigkeit in der Seele eines Menschen gleichsam im Kleinen sey. Das erste also, was ihm oblag, war, das Bild eines gerechten, d.i. in sich selbst vollendeten oder vollkommenen Staats zu entwerfen; und dieß ist es, was er [103] bisher nach seiner Weise geleistet hat. Er fand daß ein ächtes Gemeinwesen – dessen Grundgesetz ist, daß jedes Glied desselben ausschließlich ein einziges zum Wohl des ganzen unentbehrliches Geschäft treibe und dazu erzogen werde, – nothwendig aus drei Classen von Bürgern, aus Regenten, Räthen und Aufsehern, aus bewaffneten Beschützern, und aus einer für die Wohnung, Nahrung, Kleidung, Bewaffnung und andere solche Bedürfnisse des Staats und seiner Bürger um Lohn arbeitenden Classe bestehen müsse; und daß auf der Einschränkung eines jeden Bürgers in den Kreis der einzigen Beschäftigung wozu er am besten taugt, und auf der strengsten Unterwürfigkeit unter die Gesetze und die Regierung, die gesunde Beschaffenheit des Staats (die ihm Gerechtigkeit heißt) so wie auf dieser die Erhaltung und der Wohlstand desselben beruhe.

Um nun die Anwendung dieser Erklärung der Gerechtigkeit auf den einzelnen Menschen zu machen, und sich dadurch auch des zweiten Theils seines Versprechens zu entledigen, unternimmt er seinen Zuhörern zu zeigen: daß in der menschlichen Seele eben dieselbe Verfassung stattfinde, wie in seiner Republik; nämlich daß sie, wie diese, aus drei Haupttheilen, oder eigentlich aus drei ihrer Natur nach verschiedenen wiewohl zusammen Ein Ganzes ausmachenden Seelen bestehe 23; in deren unterster alle Arten von sinnlicher, eigennütziger, an sich selbst unvernünftiger, zügelloser und unersättlicher Begierden, in der zweiten ein gewisses muthiges, zürnendes, an sich selbst wildes und unbändiges Wesen (Thymos vom Plato genannt), das sich gegen alles, was ihm als schlecht, unedel, ungerecht und ordnungswidrig erscheint, empört und [104] ihm aus allen Kräften entgegenkämpft, in der dritten und höchsten endlich die Vernunft, und ein unaufhörliches Streben nach der Wissenschaft des Wahren und Guten, ihren Sitz haben. Die sämmtlichen Begierden nach Genuß und Besitz körperlicher Gegenstände und allen Arten von sinnlichen Befriedigungen sind ihm in der Seele, was die mechanische um Lohn und Gewinn arbeitende Classe in der Republik; zwar zum Leben eben so unentbehrlich, wie diese, aber sich selbst überlassen, können sie (wie jene, wofern sie nicht durch die beiden obern Classen in der Zucht erhalten würden) als blinde und ihrer Befriedigung alles aufopfernde Triebe nichts als Unheil in der innern Republik des Menschen stiften. Um den Wohlstand derselben befördern zu helfen, müssen sie also der Vernunft unterworfen und von dieser immer unter strenger Zucht gehalten werden. Der bewaffneten Classe oder den Beschützern in Platons Republik entspricht in der inneren Oekonomie des Menschen das (vorgebliche) zornmüthige, streitbare, ruhmbegierige, Wollust und Eigennutz verachtende, nichts fürchtende, und allem Widerstand Trotz bietende Princip Thymos, dessen Bestimmung ist, die Regierung der Vernunft zu unterstützen, ihre Rechte zu schirmen, und den Pöbel der Begierden in gehöriger Ordnung und Unterwürfigkeit zu erhalten; welches aber, um diese Bestimmung nie zu verfehlen, zuvor selbst durch Musik und Gymnastik gebändigt und gezüchtet, die Oberherrschaft der Vernunft, als des natürlichen Regenten dieser Republik im Men schen, immer anerkennen und seinen höchsten Stolz bloß darin suchen muß, in Vollziehung ihres Willens keine Gefahr, kein Ungemach, keinen Schmerz zu scheuen, der [105] Erfüllung dieser Pflicht hingegen jedes Opfer, das sie verlangt, willig darzubringen. So wie nun die Gerechtigkeit in unsrer großen Republik in der gehörigen Einschränkung und Subordination der untersten und mittlern Classe unter der obersten, und in der daraus entspringenden Harmonie und Einheit des Ganzen besteht; so hat es, vermöge der Natur der Sache, eben dieselbe Bewandtniß mit den drei verschiedenen Principien, woraus (nach Plato) die Seele zusammengesetzt ist; und so wäre denn die wahre Antwort auf die Frage, »was die Gerechtigkeit in der Seele, an sich selbst, ohne Rücksicht auf irgend etwas außer ihr, sey?« glücklich gefunden, und unser redseliger Sokrates, der es sich in der That sauer genug werden ließ, die Masche, die er auflösen wollte, so stark er nur konnte zusammen zu schnüren, und mit so vielen neuen, in einander verwickelten Knoten zu verstärken, könnte nun billig für heute von aller weitern Bemühung losgesprochen werden.

Daß unser Mann in der Art, wie er seine vorgeblichen Untersuchungen anstellt, sich selbst auch hier gleich bleibt, versteht sich, und was ich gegen diese Methode bereits erinnert habe, tritt daher auch hier wieder ein. Eigentlich kann man nicht sagen, daß er untersuche; denn er hat das, was er seinen Zuhörern suchen zu helfen vorgibt, immer schon in der Hand, und, bei allem Schein von Gründlichkeit und Subtilität, den er seinen taschenspielerischen Operationen zu geben weiß, bedarf es doch nur einer mäßigen Aufmerksamkeit, um zu merken, daß er uns täuscht, wenn gleich nicht jeder Zuschauer ihm scharf genug auf die Finger sehen kann, um gewahr zu werden wie es damit zugeht. Es würde uns zu weit führen, [106] wenn ich die Wahrheit dieser Behauptung durch eine umständliche Analyse dieses Theils des vierten Buchs darlegen, und unsern Tausendkünstler gleichsam nöthigen wollte, seine Handgriffe, einen nach dem andern, so langsam vor unsern Augen zu machen, daß sie auch dem blödsichtigsten nicht entgehen könnten. Ich will mich also bloß darauf einschränken, seinen Beweis der drei wesentlich verschiedenen Principien, die er in der menschlichen Seele entdeckt haben will, etwas näher zu beleuchten, um zu sehen, ob es wirklich zur Erklärung der mannichfaltigen Erscheinungen in derselben nöthig ist, dreierlei Seelen anzunehmen, oder ob wir uns dazu recht gut mit einer einzigen behelfen können.

Gegen das Axiom, worauf er seinen Beweis stützt, daß eben dasselbe Subject in Widerspruch stehende oder einander aufhebende Dinge unmöglich zugleich und in eben derselben Hinsicht weder thun noch leiden könne, habe ich nichts einzuwenden. Wenn er also zeigen kann, daß diese zugegebene Unmöglichkeit gleichwohl in dem, was wir unsre Seele nennen, täglich als etwas Wirkliches erscheint, so hat er den Handel gewonnen und ich stehe beschämt.

Ich übergehe die Einwendungen, die er sich von einem erdichteten Gegner machen läßt, und die fast zu mühsame Art wie er sie beantwortet; denn ich werde ihm diese Einwürfe nicht machen. Also ohne Weiteres zu dem Beispiele, woran er seinem Glaukon klar machen will, daß es ohne seine Hypothese gar nicht zu erklären sey! Hören wir, wie sich sein Sokrates anschickt, um uns zu diesem verzweifelten Ausweg zu nöthigen.

[107] Sokrates. Rechnest du den Durst nicht unter die Dinge, die das, was sie sind, nicht seyn könnten, wenn nicht ein anderes wäre, dessentwegen sie sind? –

Glaukon (sieht ihn an und verstummt).

Sokrates. Nach was dürstet der Durst?

Glaukon. Ja so! – Nach einem Trunk.

Sokrates. Bezieht sich der Durst auf eine gewisse Art von Getränke? Oder verlangt der Durst, insofern er Durst ist, weder viel noch wenig, weder gut noch schlecht, sondern lediglich nur etwas zu trinken?

Glaukon. So ist es allerdings.

Sokrates. Die Seele des Dürstenden, insofern sie dürstet, will also nichts als trinken; das ist's, wornach sie trachtet und strebt?

Glaukon. Offenbar.

Sokrates. Wenn sie also dürstet, und etwas zieht sie zurück, muß da nicht noch etwas anders in ihr seyn als das, welches dürstet und sie wie ein Thier zum Trinken treibt? Denn nach unserm obigen Grundsatz ist es ja unmöglich, daß eben dasselbe, in Ansehung eben desselben Gegenstandes dieß oder das und zugleich das Gegentheil thue?

Glaukon. Unmöglich.

Sokrates. So wenig als es recht gesprochen wäre, wenn man sagte, daß ein Bogenschütze den Pfeil mit beiden Händen zugleich abstoße und anziehe, sondern die eine Hand zieht an, und die andere stößt ab; nicht so?

Glaukon. Nicht anders.

[108] Sokrates. Müssen wir nicht gestehen, daß es Leute gibt, welche nicht trinken wollen, wiewohl sie durstig sind?

Glaukon. O gewiß, das begegnet alle Tage nicht wenigen.

Sokrates. Wie kann man sich das nun erklären, als wenn man sagt, das Etwas in ihrer Seele, das ihnen zu trinken befiehlt, sey ein Anderes als das, so sie vom Trinken abhält und stärker als jenes ist?

Glaukon. So däucht es mir.

Sokrates. Ist nun das, was uns von dergleichen (sinnlichen Befriedigungen) zurückhält, nicht ein Werk der Ueberlegung und des Urtheils, so wie hingegen das, was zu ihnen anreizt und hinreißt, Leidenschaft und Krankheit ist?

Glaukon. So scheint es.

Sokrates. Haben wir also nicht recht, zwei einander entgegen gesetzte Principien in der Seele anzunehmen, von welchen wir jenes, kraft dessen sie urtheilt und schließt, das vernünftige, und dieses, vermöge dessen sie liebt und hungert und dürstet, und von allen andern Begierden, die zu wollüstiger Anfüllung und Ausleerung reizen, hingerissen wird, das unvernünftige und begierliche nennen?

Glaukon. Wir könnten mit Recht dieser Meinung seyn, sollt' ich denken.

Unser Philosoph fährt nun fort, in dieser kurzweiligen Manier auch das dritte in der Seele, welches er Thymos nennt, zu betrachten und so lange hin und her zu schieben, bis er die Aehnlichkeit dieses vorgeblichen Princips mit der streitbaren Classe in seiner Republik entdeckt, und herausgebracht [109] hat, daß Thymos mit den Begierden häufig in Streit gerathe, und so oft sich diese gegen das regierende vernünftige Princip auflehnen, mit großem Eifer die Partei des letztern nehme, für welches er eine ganz eigene Anmuthung habe u.s.w., wozu denn der gefällige Glaukon immer seine Beistimmung gibt, und sich am Ende gänzlich für die Hypothese der dreifachen Seele oder der drei Seelen in Einer erklärt. Es mag eine ganz bequeme Sache seyn, mit Schülern zu philosophiren, bei welchen man immer Recht behält. An Glaukons Stelle hätte ich mich so leicht nicht von dieser neuen Platonischen Lehre überzeugen lassen, und würde mir die Freiheit genommen haben, folgende Vorstellungen gegen dieselbe zu machen.

»Wie eng auch die unbegreifliche Verbindung unsrer Seele mit ihrem Körper ist, ehrenwerther Sokrates, so kann man doch eben so wenig von der Seele sagen, daß sie hungre oder dürste, als daß sie esse und trinke; auch ist sie eben so unschuldig an dem, was du aus geziemender Urbanität lieben nennst, und was (in dem Sinne, den du diesem Worte hier beilegst) eigentlich bloß den gewaltsamen Zustand bezeichnet, worin Aristophanes den Gemahl der schönen Lysistrata von der Armee zu ihr zurückeilen läßt. Alle Triebe, – welche die Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses des Körpers zum Gegenstand haben, gehören auch dem Körper zu; sie sind nothwendige Folgen seiner Organisation, und werden nur insofern Begierden der Seele, als diese durch das geheime Band, wodurch sie an jenen gefesselt ist, sich genöthigt fühlt.« – Doch, warum sollte ich dir, lieber Eurybates, bei dieser Gelegenheit nicht eine kleine Probe geben, [110] daß ich die Kunst, das Wahre einer Sache durch Frag' und Antwort herauszubringen, unserm gemeinschaftlichen Meister so gut als Plato abgelernt habe? Wenigstens werde ich keine hinterlistige und mit einer vorgefaßten Hypothese in geheimem Einverständniß stehende Frage thun, und keine Antwort geben lassen, als die immer die einzig mögliche ist, die ein vernünftiger Mensch auf die vorgelegte Frage geben kann. Also, unter Anrufung der schönsten aller Göttinnen, der Wahrheit, und ihrer ungeschminkten Grazien – zur Sache!

Aristipp. Mich däucht, lieber Sokrates-Platon, der gute Glaukon hat dir zu schnell gewonnenes Spiel gegeben. Erlaube daß ich eine kleine Weile seine Stelle vertrete und in seinem Namen einige unschuldige Gegenfragen an dich thue.

Sokrates. Frage immer zu.

Aristipp. Gibt es unter allen Körpern in der Welt einen, den deine Seele den ihrigen nennt?

Sokrates. Allerdings.

Aristipp. Thust du dieß nicht, weil deine Seele in einer viel engern, besonderern und unmittelbarern Verbindung mit ihm steht als mit irgend einem andern?

Sokrates. Getroffen!

Aristipp. Belehrt uns nicht die tägliche Erfahrung, daß wir ohne unsern Körper weder sehen noch hören, noch von irgend etwas, das außer uns ist oder zu seyn scheint, ja nicht einmal von uns selbst, die mindeste Kenntniß hätten?

Sokrates. In diesem Leben wenigstens können wir nichts von allem diesem ohne unsern Körper.

Aristipp. Lehrt uns die Erfahrung nicht überdieß, [111] daß wir ohne Hülfe unsers Leibes nichts von allem, was wir zu verrichten und hervorzubringen wünschen, ausführen können? Ingleichem, daß sobald der Leib leidet und in seiner natürlichen Lebensordnung gestört wird, auch die Seele, sie wolle oder nicht, sich zur Mitleidenheit gezogen fühlt, und je größer die Leiden ihres Körpers sind, desto mehr auch in ihren eigenen Verrichtungen, im Denken, und in der Freiheit ihre Gedanken zu gewissen Absichten zu ordnen, unterbrochen und aufgehalten wird?

Sokrates. Ich sehe nicht, wie dieß geläugnet werden könnte.

Aristipp. Ist es also nicht natürlich, daß die Seele in solchen Umständen und Lagen ein Verlangen trägt, ihrem Körper nach Möglichkeit zu Hülfe zu kommen?

Sokrates. Sehr natürlich.

Aristipp. Sollte nun aber nicht eben so natürlich seyn, daß eben dieselbe Seele, die ihrem Leibe wohl will und seine Erhaltung begehrt, auch alles verabscheuen muß, was seinen Wohlstand unterbricht oder ihn gar zu zerstören droht? Oder wie sollt' es möglich seyn, daß die Seele etwas wollte, ohne das Gegentheil nicht zu wollen? Oder daß sie etwas ernstlich und eifrig begehrte, ohne daß sie das, was der Befriedigung dieses Verlangens entgegen steht, aus dem Wege zu räumen suchte?

Sokrates. Es ist klar, daß in dem angenommenen Fall das Nichtwollen im Wollen, das Verabscheuen im Begehren nothwendig enthalten ist.

Aristipp. Lehrt uns die Erfahrung nicht, daß, da [112] unser Leib zur Erhaltung seines Lebens und seiner Kräfte von Zeit zu Zeit Speise und Trank bedarf, die Natur im Bau desselben eine solche Einrichtung getroffen hat, daß wir durch eine gewisse Unbehäglichkeit an dieses Bedürfniß erinnert werden, und daß diese Unbehäglichkeit, je nachdem das Bedürfniß größer und dringender wird, so lange zunimmt, bis es endlich peinvoll und unausstehlich ist?

Sokrates. Wiewohl ich das letztere nicht aus eigener Erfahrung weiß, so zweifle ich doch so wenig daran, daß die unmittelbare Erfahrung mich nicht stärker überzeugen könnte.

Aristipp. Wie nennst du diese Aufforderung der Natur jenen Bedürfnissen unsers Leibes zu Hülfe zu eilen?

Sokrates. Hunger und Durst.

Aristipp. Und das wodurch beiden abgeholfen wird?

Sokrates. Speise und Trank.

Aristipp. Sollten wir also den Hunger und den Durst, als Gefühle, die uns die Natur selbst aufgedrungen hat, nicht mit gutem Fug Naturtriebe nennen können?

Sokrates. Ich sehe nicht was uns daran hindern sollte.

Aristipp. Wenn mich dürstet, regt sich der Trieb zum Trinken zunächst im Leibe, der des Getränks bedarf, oder in der Seele, die weder trinken kann noch dessen für sich selbst nöthig hat?

Sokrates. Nur ein Wahnsinniger könnte das letztere behaupten.

Aristipp. Man kann also, eigentlich zu reden, nicht sagen, die Seele dürste; und Plato hatte ein wenig Unrecht, [113] einen so vernünftigen Mann wie du bist, etwas so Unschickliches sagen zu lassen.

Sokrates. Schlimm genug für mich oder ihn, daß ihm das nur gar zu oft begegnet.

Aristipp. Wenn also, wie die Erfahrung gleichfalls lehrt, dieser körperliche Trieb, welcher unmittelbar aus dem Gefühl des Bedürfnisses entsteht, in der Seele des Dürstenden zur Begierde jenen Trieb zu befriedigen, und zur Verabscheuung des aus der Nichtbefriedigung entstehenden peinlichen Zustandes wird, kommt dieß nicht bloß daher, weil sie an dem Zustande des Leibes, ihres unmittelbaren Gefährten und Gehülfen, Antheil zu nehmen genöthigt ist; und weil sie, auch um ihrer selbst willen, desto lebhafter und ungeduldiger wünschen muß, daß der Dürstende zu trinken bekomme, je dringender sein Bedürfniß, je quälender sein Durst, und je peinlicher folglich ihr selbst die Hemmung ihrer freien Thätigkeit wird, die eine natürliche Folge desselben ist?

Sokrates. Ich sehe nicht, wie ich mir die Sache anders denken könnte.

Aristipp. Wenn nun kein besonderer Grund vorhanden ist, warum der Dürstende sich des Trinkens enthalten soll, so ist auch nichts da, was die Ueberlegung oder die Vernunft verhindern könnte, ihre Einwilligung dazu zu geben; Trieb, Begierde und freier Wille fallen alsdann in einander, und es ist klar, daß wir nicht zwei verschiedene Principien anzunehmen brauchen, um das, was in der Seele dabei vorgeht, begreifen zu können. Laß hingegen irgend einen[114] Grund des Nichttrinkens vorhanden seyn, z.B. daß kein anderes als stinkendes Wasser, oder irgend ein Getränk, dessen Schädlichkeit dem Dürstenden bekannt ist, vorhanden, oder daß noch vorher irgend ein äußerst dringendes Geschäft abzuthun, der Durst hingegen noch erträglich wäre: so würde zwar der mechanische Trieb zum Trinken nichts dadurch von seiner Stärke verlieren, aber die Begierde, durch die Ueberlegung unterdrückt, würde dem Willen nicht zu trinken Platz machen; und dieß auf eben die Weise, wie wir, wenn wir uns mit Ueberlegung, aber aus irriger Meinung zu etwas entschlossen haben, unsern Entschluß ändern, sobald wir den Irrthum gewahr werden, wiewohl es eben dieselbe Vernunft ist, die uns in beiden Fällen bestimmt. Oder sollte es etwa, zu Erklärung dieser so häufig vorkommenden Veränderlichkeit unsrer Meinungen und Entschließungen, einer zweifachen vernünftigen Seele bedürfen, einer die sich irren kann, und einer andern, die sich nie irrt, und welcher jene unterthan zu seyn verbunden ist?

Sokrates. Mich dünkt eine und eben dieselbe Seele sollte hinlänglich seyn, alles was in den besagten Fällen in ihr vorgeht zu bestreiten.

Aristipp. So lange uns also Plato nicht gezeigt haben wird, daß es andere Fälle gebe, wo der Mensch in eben demselben untheilbaren Augenblick, in Ansehung eben desselben Gegenstandes, von der Begierde nach einer gewissen Richtung, und von der Vernunft nach der entgegengesetzten gezogen werde, ist keine Ursache vorhanden, warum wir [115] aus dem was in uns begehrt, und dem was in uns überlegt und wählt, zwei verschiedene Seelen machen sollten.

Sokrates. Aber wie, wenn (um bei unserm bisherigen Beispiele zu bleiben) der Durst endlich auf einen so hohen Grad dringend würde, daß seine Pein unausstehlich wäre, und der Dürstende könnte schlechterdings keines andern Getränkes habhaft werden als eines Bechers voll Schierlingssaft, entstände da nicht der Fall, wo Begierde und Ueberlegung den Menschen zugleich nach zwei entgegen gesetzten Richtungen ziehen würde?

Aristipp. Ich weiß nicht ob jemals ein solcher Fall stattgefunden haben mag; wenigstens werden wir, weil die Erfahrung uns hier verläßt, das, was in diesem unbekannten Falle geschehen müßte, nur aus dem, was uns von der menschlichen Natur überhaupt bekannt ist, oder aus ähnlichen Fällen durch Muthmaßung herausbringen können. Auf alle Fälle ist gewiß, daß eben dieselbe Seele, die dem dringenden Bedürfniß des verlechzenden Körpers um jeden Preis abgeholfen wissen will, den Gifttrank, sobald sie ihn für einen solchen erkennt, insofern er dem Körper die gänzliche Zerstörung droht, verabscheuen muß. Demungeachtet bin ich überzeugt, sobald das Bedürfniß zu trinken aufs äußerste, und folglich die Pein des Durstes auf einen so fürchterlichen Grad gestiegen wäre, daß dem Unglücklichen nich übrig bliebe, als sein Leben an die Erleichterung der gegenwärtigen Qual zu setzen: so würde nicht nur der sinnliche Abscheu von der wüthenden Begierde übertäubt werden, sondern die Vernunft selbst, wenn sie kein anderes Rettungsmittel vorzuschlagen [116] hätte, würde die leichtere und schnellere Todesart der grausamem vorziehen, und der Begierde keinen vergeblichen Widerstand entgegen setzen. –

Aber genug, lieber Eurybates, für eine kleine Probe, welche freilich dreimal so groß hätte ausfallen mögen, wenn ich, nach der Weise meines Vorgängers, jede Frage noch in zwei oder drei dünnere hätte spalten wollen.

In Betreff des sogenannten Thymos, welchen Plato zum dritten – ich weiß nicht was in unsrer Seele macht, muß ich zu dem bereits Gesagten nur noch hinzusetzen, daß alle Schwierigkeiten von selbst wegfallen, sobald bei den Erscheinungen, die er unter dieser Benennung begreift, das, was seinen unmittelbaren Grund in der organischen Beschaffenheit des Leibes hat, von dem was das eigentliche Werk der Seele dabei ist, so genau als möglich unterschieden wird. Ueberhaupt fehlt sehr viel, daß dieses vorgebliche Princip bei allen Menschen gleiche Wirkungen hervorbringe: die Verschiedenheit des Temperaments, der Nervenstärke und Muskelkraft, der von Jugend an gewohnten Lebensweise und anderer Umstände, gibt gar verschiedene Resultate. Der eine zittert vor dem bloßen Anschein einer Gefahr, da ein andrer gar nicht weiß was Furcht ist, und seinen Muth mit der Gefahr steigen fühlt. Dieser ergrimmt über etwas, das jenen kaum aus dem Gleichgewicht rückt. Bei einigen ist hoher Muth mit Sanftheit und Zartgefühl, bei ungleich mehreren mit Rohheit, Härte und Gefühllosigkeit verbunden, u.s.w. Das aber, was ohne Zweifel allen Menschen gemein ist, – der natürliche, mit mehr oder minder lebhaftem Widerstand verbundene Abscheu[117] vor allem, was unsern gegenwärtigen Zustand zu verschlimmern, oder gar unser Wesen selbst zu zerstören droht, – und die Begierde alles, was sich als angenehm, unserm Wesen zuträglich und den Genuß unsers Daseyns verstärkend, kurz, was sich uns unter der freundlichen Gestalt des Schönen und Guten darstellt, an uns und so viel möglich in uns hineinzuziehen, – ich sage jener Abscheu und Widerstand entspringt mit dieser Begierde und Anziehung aus einer und eben derselben Wurzel. Beide bedürfen, um uns in ihren Wirkungen begreiflich zu werden, keines andern Princips, als dessen, worin unser Wesen selbst besteht, dieser sich selbst bewege den Kraft, die sich in dem unaufhörlichen Bestreben äußert, ihr durch den Körper beschränktes, aber innigst mit ihm verwebtes Seyn zu genießen, zu nähren, zu erweitern und zu erhöhen; und die immer eben dieselbe ist, es sey nun daß sie, als Begierde, das was ihr gut scheint an sich zu ziehen, oder, als Abscheu, das wirkliche oder vermeinte Böse zurückzustoßen strebt. Zu Erklärung dieser so nothwendig mit einander verbundenen und unter der Regierung der Vernunft so harmonisch zu einerlei Zweck zusammenwirkenden Bestrebungen eben derselben Kraft, zwei besondere Seelen anzunehmen, dünkt mich eben so unphilosophisch, als wenn man, um sich die verschiedenen Wirkungen der Liebe und des Hasses zu erklären, eine liebende und eine hassende Seele erdichten wollte. Nach Platons Art zu räsonniren würden wir zuletzt jeder besondern Leidenschaft, wiewohl sie alle aus einerlei Quelle entspringen, ihre eigene Seele geben müssen; denn sehen und erfahren wir nicht täglich bei tausend Gelegenheiten, daß eine begehrliche [118] Leidenschaft mit einer andern, öfters sogar mit mehrern zugleich (z.B. der Geiz mit Gewinnsucht, Eitelkeit und Lüsternheit) in offenbaren Widerspruch geräth?

Doch genug und schon zu viel über die zwei untersten Endpunkte des Platonischen Seelen-Dreiecks. Sollte es mit der vernünftigen Seele, welche die oberste Spitze desselben ist, nicht die nämliche Bewandtniß haben? Sollten sich nicht alle Erscheinungen und Wirkungen der Sinnlichkeit und der Einbildungskraft, des Verstandes und des Willens, der Leidenschaften und der Vernunft, sehr wohl aus einer und eben derselben mit einem organischen Körper vereinigten Seele erklären lassen? Können sie nicht ganz natürlich und ungezwungen als bloße verschiedene Modalitäten oder Zustände eben derselben selbstthätigen Kraft gedacht werden, welche, je nachdem sie von ihrem Körper und andern in sie einwirkenden Dingen außer sich mehr oder minder eingeschränkt wird, und je nachdem sie sich selbst aus verschiedenen Beweggründen und Absichten eine andere Richtung oder Stimmung gibt, oder ihre Kraft höher oder tiefer spannt, sich unter andern Gestalten zeigt und andere Benennungen erhält? Sind wir nicht sogar durch das innigste Selbstbewußtseyn genöthigt, unser Ich in allen seinen Veränderungen, Zuständen und Gestalten, selbst in den ungleichartigsten und unverträglichsten (z.B. im Uebergang aus der Trunkenheit einer heftigen Leidenschaft in den heitern Stand der ruhigen Besonnenheit) für ebendasselbe zu erkennen? Ich möchte wohl sehen, wie uns Plato dieses immerwährende Zusammenfließen seiner drei Seelen in [119] der Einheit des Bewußtseyns, ohne eine ihm und uns bisher unbekannte vierte Seele, begreiflich machen wollte?

Uebrigens bedarf es kaum der Erwähnung, daß ich gegen die allgemeinen, aller ächten Lebensweisheit zum Grunde liegenden Wahrheiten, womit sich das vierte Buch schließt, und gegen die Formel, in welcher Plato seine Theorie über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zusammenfaßt – »daß die Tugend der Seele eben das sey, was Gesundheit, Schönheit und vollkommenes Wohlbefinden dem Leibe,« und gegen die Behauptung – »daß beide Arten von Gesundheit aus einerlei Ursachen entspringen, wenn nämlich jeder Theil, in gehörigem Verhältniß zu den übrigen, nichts als sein ihm eigenthümliches Geschäft verrichte, und im Ganzen die reinste Uebereinstimmung und Ordnung herrsche« – nichts zu erinnern habe. Warum er uns aber zu so sonnenklaren, von niemand, meines Wissens, bestrittenen und, wie er selbst gesteht, so augenscheinlich vor unsern Füßen liegenden Wahrheiten auf solchen Umwegen und durch so viele struppichte Dornhecken geführt hat, bleibt indessen immer eine Frage, die er selbst vielleicht durch den Ausspruch des alten Hesiodus beantwortet glaubt: daß die Götter es nun einmal so in der Art haben, den Sterblichen nichts Gutes ohne große Müh' und Beschwerde zukommen zu lassen.

7. Fortsetzung des Vorigen
[120] 7.
Fortsetzung des Vorigen.

Der Platonische Sokrates hat, seinem eigenen mehrmaligen Vorgeben nach, die Idee seiner Republik zu keinem andern Ende aufgestellt, als um an einem groß in die Augen fallenden Vorbilde desto deutlicher zeigen zu können, was Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit an sich selbst in der Seele und für die Seele sey, von welcher die eine oder die andere Besitz genommen habe. Mit dieser Arbeit ist er nun in den vier ersten Büchern dieses Dialogs glücklich zu Stande gekommen; er hat überflüssig geleistet, was er versprochen hatte, und in der That viel mehr als er schuldig war. Man erwartet also die Gesellschaft entweder auseinander gehen, oder eine neue Materie zum Gespräch auf die Bahn gebracht zu sehen. Aber Plato hat es bereits darauf angelegt, daß er nur die Fäden, die er hier und da, wie es schien bloß zufälliger Weise, aber in der That absichtlich fallen ließ, nach und nach wieder aufzunehmen braucht, um an seinem reichen und vielgestaltigen Gewebe in die Länge und Breite so lange fortzuweben, als es seine mit dem Werke selbst wachsende Lust und Liebe nur immer auszuhalten vermögend seyn wird. Sein Sokrates stellt sich also am Schluß des vierten Buchs, als ob er sich auf einmal erinnere, daß er, um die Gerechtigkeit gegen ihre Gegner vollständig zu vertheidigen, noch zu untersuchen habe: welches von beiden nützlicher sey, gerecht und tugendhaft zu seyn, auch wenn man weder von Göttern noch Menschen dafür [121] anerkannt wird, oder ungerecht, wenn man es gleich ungestraft seyn könnte? Glaukon, der seit geraumer Weile eine ziemlich schülerhafte Rolle spielen mußte, erhält hier Gelegenheit, durch seine Weigerung an einer so überflüssigen Untersuchung Theil zu nehmen, seinen Verstand wieder bei uns in Credit zu setzen. Es wäre lächerlich, sagt er, nachdem so ausführlich erwiesen worden, daß Gerechtigkeit Gesundheit der Seele sey, erst noch zu untersuchen, ob es nützlicher sey, krank oder gesund zu seyn? – Sokrates gesteht das Lächerliche einer solchen Untersuchung, meint aber doch, da sie nun bereits einen so hohen Standpunkt erstiegen hätten, sollten sie sich's nicht verdrießen lassen, so weit sie könnten herumzuschauen, um sich desto vollständiger zu überzeugen, daß es diese Bewandtniß mit der Sache habe. Wenn er dieß thun wolle, fährt er fort, so werde er sehen, daß die Tugend nur Eine Gestalt oder Form habe, die Untugend hingegen unzählige. Unter diesen seyen jedoch nur vier vorzüglich bemerkenswerth, deren jede die Form einer nichts taugenden Art sowohl von Staats- als von Seelen-Verfassung sey. Es gebe nämlich genauer zu reden – nicht (wie er eben gesagt hatte) unzählige, sondern nur fünferlei Regierungsformen, und eben so viele verschiedene Verfassungen der Seele. Die erste sey diejenige, welche sie bisher mit einander durchgangen hätten; sie könnte aber unter zweierlei Benennungen erscheinen: wenn nämlich unter den Vorstehern des Staats Einer als der vorzüglichste alle andern regiere, werde sie Monarchie, wenn der Staat hingegen unter mehrern Regenten stehe, Aristokratie genennt. Im Wesentlichen sey es aber in seiner Republik ganz einerlei, ob sie von[122] Mehrern oder nur von Einem regiert werde; denn vermöge der Erziehung, welche alle zum Regieren bestimmten Personen in derselben erhielten, würde dieser Einzelne so wenig als jene Mehrern das Mindeste an den Grundgesetzen des Staats ändern; und in dieser Rücksicht begreife er beide Regierungsarten unter Einer Form. Da nun diese die gute und rechte sey, so folge von selbst, daß die andern vier nichts taugen müßten.

Wie er eben anfangen will, dieses von einer jeden besonders mit seiner gewöhnlichen Ausführlichkeit zu beweisen, entsteht auf Anstiften Polemarchs und Adimanths ein kleiner Aufruhr unter den anwesenden Theilnehmern an diesem Gespräch. Man erinnert sich, daß, als vorhin von verschiedenen die Polizei der idealischen Republik betreffenden Dingen, für welche die Archonten derselben zu sorgen haben würden, die Rede war, Sokrates sich, wie von ungefähr, ein Wort davon hatte entfallen lassen, als ob es sich von selbst verstehe, daß in den obern Classen Weiber und Kinder gemein seyn müßten.

Ein so paradoxer Satz hätte nun freilich den Adimanthus, an welchen er gerichtet war, sowohl als alle übrigen gewaltig vor die Stirne stoßen sollen: aber dieß wäre dem Verfasser damals ungelegen gekommen. Man ließ ihn also unbemerkt auf die Erde fallen, und Adimanth, der fast immer nichts als ja freilich zu antworten gehabt hatte, sagte wie in einer Zerstreuung: das alles würde so in der besten Ordnung seyn. Wir sehen aber aus dem Eifer, womit er und Glaukon und die übrige Gesellschaft itzt auf einmal in Sokrates dringen, sich über diese Gemeinschaft der Weiber und Kinder unter [123] den Beschützern seiner Republik näher zu erklären, daß sie ihnen stark genug aufgefallen seyn mußte; nur sehen wir nicht, warum sie die Erklärung nicht damals, da es so natürlich war, sie zu fordern, sondern gerade itzt, da keine Veranlassung dazu vorhanden ist, von ihm verlangen.

Platon läßt hier seinen Sokrates abermals (wie er schon öfters gethan hat, und in der Folge noch mehrmal thun wird) um die Neugier der Zuhörer noch mehr zu reizen, den Eiron spielen und sich stellen, als ob er großes Bedenken trage sich auf eine so häkelige Materie einzulassen, da er voraussehe, wie vielerlei neue Fragen, Zweifelsknoten und Streitigkeiten sie nach sich ziehen werde. Was thut das, sagt Thrasymachus; sind wir denn nicht deßwegen hier, um uns mit interessanten Discursen zu unterhalten? – Das wohl, versetzt jener, aber alles mit Maß! – O Sokrates, ruft der ungenügsame Glaukon aus, was nennst du mit Maß? Verständige Menschen würden ihr ganzes Leben lang solchen Discursen zuhören, und noch immer nicht genug haben! – Du merkst doch, Eurybates, wem dieß eigentlich gilt, und wozu es gesagt ist? Der Philosoph hat, wie du siehst, darauf gerechnet, recht viele Glaukonen zu Lesern zu haben, und hat ihnen wenigstens seinen guten Willen zeigen wollen, ein Buch zu schreiben woran sie ihr ganzes Leben lang zu lesen haben.

Aber Sokrates macht noch immer Schwierigkeiten. Man werde, sagt er, fürs erste nicht glauben wollen, daß eine solche Einrichtung ausführbar sey; und wenn man dieß auch zugäbe, so werde man doch nicht glauben, daß sie die beste sey. Er erklärt sich also nochmals, daß er sehr ungern daran [124] gehen würde diese Dinge zu berühren, aus Furcht man möchte die ganze Sache bloß für ein windichtes Project halten. Da aber Glaukon schlechterdings nicht von ihm abläßt, und ihn zu bedenken bittet, daß er weder undankbare, noch unglaubige, noch übelwollende Zuhörer habe: so rückt er endlich aufrichtiger mit der Sprache heraus, und wir vernehmen zu unsrer großen Verwunderung: der wahre Grund seiner Schüchternheit sey eigentlich bloß, weil er selbst nicht recht überzeugt sey, daß es mit diesem Theil der Gesetze, die er seiner Republik zu geben gedenkt, so ganz richtig stehe, und er also große Gefahr laufe, nicht etwa bloß sich lächerlich zu machen (denn das würde wenig zu bedeuten haben), sondern, indem er auf einem so schlüpfrigen Wege im Dunkeln nach der Wahrheit herumtappe, auszuglitschen, und, was noch schlimmer wäre, auch noch seine Freunde im Fallen mit sich nachzuziehen. Er wolle also Adrasteen zum voraus fußfällig angefleht haben, ihm zu verzeihen, wenn das, was er itzt zu sagen vorhabe, etwa gegen seine Absicht, strafwürdig seyn sollte; denn (sagt er) ich bin der Meinung daß es eine kleinere Sünde sey, jemanden unvorsetzlich todt zu schlagen, als ihn in Dingen, wo es auf das, was schön und gut, rechtlich und sittlich ist, ankommt, irre zu führen; – eine Gefahr, die man allenfalls eher bei Feinden als bei Freunden laufen möchte. Siehe also zu, lieber Glaukon, wie du es angreifen willst, um mir zu einem solchen Wagestück Muth zu machen. – Wohlan denn, sagt Glaukon lachend, wenn wir ja durch das, was du sagen wirst, in einen falschen Ton gerathen sollten, so sprechen wir dich zum voraus von aller Schuld [125] und Strafe los. Rede also ohne Scheu. – Gut, erwiedert Sokrates, wer hier losgesprochen wird, ist dort rein, wie das Gesetz sagt: hoffentlich also wenn er es dort ist, wird er es auch hier seyn. – So laß dich denn nichts mehr abhalten, anzufangen, sagt Glaukon, und jener entschließt sich endlich dazu, doch nicht ohne nochmals zu verstehen zu geben, daß es ihn viele Ueberwindung koste, und daß er vielleicht besser gethan hätte, sich die Sache sogleich bei der ersten Erwähnung vom Halse zu schaffen. – Und wozu, um aller Götter willen! alle diese langweiligen Grimassen, welche Plato seinen verkappten Sokrates hier machen läßt? Ist's Ernst oder Scherz? Im letztern Fall konnte wohl nichts unzeitiger seyn (um kein härteres Wort zu gebrauchen) als in einer solchen Sache den Spaß so weit zu treiben; bittet er aber Adrasteen (mit der man sonst eben nicht zu scherzen pflegt) in vollem Ernst um Nachsicht, und ist es wirklich zweifelhaft, ob die neuen Gesetze, die er seiner Republik zu geben gedenkt, gut, gerecht und geziemend sind: was in aller Welt nöthigte ihn sie zu geben? zumal, da der Zweck, wozu er diese Republik erdichtete, bereits erreicht ist, und vollkommen erreicht werden konnte, ohne daß die Rede davon zu seyn brauchte, wie die junge Brut in derselben gezeugt und abgerichtet werden sollte? Und wie kommt es, wofern sein Zaudern und Achselzucken nicht eine platte und aller öffentlichen Ehrbarkeit spottende Spaßmacherei ist, daß er, sobald er über der Darlegung seiner widersinnischen Ehgesetze ein wenig warm wird, auf einmal aller seiner vorigen Aengstlichkeit vergißt, und so positiv und zuversichtlich mit den anstößigsten Behauptungen herausrückt, als ob sich nicht das Geringste mit [126] Vernunft dagegen einwenden ließe, und als ob er auf lauter so gefällige Leser rechne, wie sein vom Zuhören berauschter Freund Glaukon, der für die paradoxesten Sätze immer die eilfertigste Beistimmung in Bereitschaft hat? – Ich gestehe, daß ich auf diese Fragen keine Antwort weiß.

Uebrigens, lieber Eurybates, wirst du mir hoffentlich eine ausführliche Beurtheilung dieses Theils der Platonischen Republik (dem ich ungern seinen rechten Namen geben möchte) um so geneigter nachlassen, da, so viel ich selbst sehe und von andern höre, allenthalben nur Eine Stimme darüber ist. Das Unwahre, Ungereimte und Unnatürliche in diesen Ehgesetzen liegt freilich so unverschämt nackend vor allen Augen da, daß der erste Eindruck nicht anders als unserm Philosophen nachtheilig seyn kann; zumal da sein Sokrates gerade die auffallendsten Verordnungen mit der gefühllosesten Kaltblütigkeit vorträgt, und z.B. von dem anbefohlenen Abtreiben oder Aussetzen der Kinder, die aus der Vereinigung der Männer unter dreißig und über fünfundfunfzig Jahren mit Weibern unter zwanzig und über vierzig etwa erfolgen möchten, nicht anders spricht, als ob die Rede von jungen Hunden oder Katzen wäre. Freilich ist diese Sprache dem Gesichtspunkt gemäß, woraus er diesen Gegenstand betrachtet; indessen konnte er doch, wie verliebt er auch in sein System seyn mag, leicht voraussehen, daß sein Grundsatz, »das Verfahren bei Paarung der Pferde und Hunde, wenn man eine gute Zucht erhalten will, müsse, ohne alle Einschränkung und in der größten Strenge, auch auf die Menschen angewandt werden;« und die männliche gymnastische Erziehung, die er (diesem Grundsatz [127] zufolge) den menschlichen Stuten und Fähen, die zur Paarung mit den menschlichen Hengsten und Rüden seiner kriegerischen Bürgerclasse bestimmt sind, mit allen den unsittlichen und zum Theil unmenschlichen, der Natur Trotz bietenden Gesetzen, wodurch er die Gemeinschaft der Weiber und Kinder in seiner Republik unschädlich und zweckmäßig zu machen vermeint – er konnte, sage ich, leicht genug voraussehen, daß dieses, gegen das allgemeine Gefühl so hart anrennende Paradoxon, in einem so zuversichtlichen Ton und so kaltblütig vorgebracht, alle seine Leser empören, und das Gute, so er etwa durch die vortrefflichen Partien dieses wichtigsten aller seiner Werke hätte stiften können, bei vielen, wo nicht bei den meisten, unkräftig machen und vernichten werde.

Aber gerade der Umstand, daß er stockblind hätte seyn müssen, um dieß nicht vorauszusehen, und daß er sich dennoch nicht dadurch abschrecken ließ, muß uns billigerweise auf einen Punkt aufmerksam machen, der, wenn wir gerecht gegen ihn seyn wollen, nicht übersehen werden darf; nämlich auf den Gesichtspunkt, aus welchem er selbst die Sache angesehen hat. Denn ich müßte mich sehr irren, oder dieß würde uns begreiflich machen, wie es zugegangen, daß ein Mann wie er sein eigenes Gefühl so seltsam übertäuben konnte, um baren Unsinn für Aussprüche der höchsten Vernunft zu halten? – Plato scheint mir von den Geometern und Rechnern angenommen zu haben, daß er immer gewisse Begriffe und Sätze, als an sich selbst klar, ohne Beweis (wenigstens ohne strengen Beweis) voraussetzt, aus diesen aber sodann mit der genauesten Folgerichtigkeit alles ableitet, was sowohl aus ihnen [128] selbst, als aus ihrer Verbindung mit andern Begriffen und Sätzen gleicher Art, durch Schlüsse herausgebracht werden kann. Wo von Zahlen, Linien und Winkeln die Rede ist, kann diese Art zu räsonniren nicht leicht irre führen; oder, wofern dieß auch begegnen sollte, so ist der Irrthum wenigstens leicht und sicher zu entdecken: aber wo es um Auflösung solcher Aufgaben zu thun ist, die den Menschen und dessen Thun und Lassen, Wohl- oder Uebelbefinden, vornehmlich seine ursprüngliche Natur, seine innere Organisirung, seine Verhältnisse zu den übrigen Dingen, seine Anlagen, seinen Zweck, seine Erziehung und Bildung für das gesellschaftliche, bürgerliche und kosmopolitische Leben, und andere hierher gehörige Gegenstände betreffen, kurz, bei Gegenständen, an welche man weder Meßschnur noch Winkelmaß anlegen kann, findet jene Methode keine sichere Anwendung. Der Mensch läßt sich nicht, wie eine regelmäßige geometrische Figur, in etliche scharf gezogene gerade Linien einschließen; und es sind vielleicht noch Jahrtausende einer anhaltenden, eben so unbefangenen als scharfsichtigen Beobachtung unsrer Natur vonnöthen, bevor es möglich seyn wird, nur die Grundlinien zu einem ächten Modell der besten gesellschaftlichen Verfassung für die wirklichen Menschen zu zeichnen; und selbst dieses Modell würde für jedes besondere Volk, durch dessen eigene Lage und die Verschiedenheit der Zeit- und Ortsumstände, auch verschiedentlich bestimmt und abgeändert werden müssen. Aber auf alles dieß nimmt ein Plato keine Rücksicht; und da seine Nephelokokkygia nicht auf der Erde, sondern in den Wolken, d.i. so viel als nirgendswo existirt, und nicht mit physischen[129] Menschen, wie die Natur sie in die Welt setzt, sondern mit menschenähnlichen Phantomen von seiner eigenen Schöpfung besetzt ist, so ist er freilich Herr und Meister, sowohl den Elementen seines Staats als dem Ganzen die Gesetze vorzuschreiben, deren Beobachtung am geradesten und gewissesten zu seinem Endzweck führt. Anfangs ist es, in seiner Voraussetzung, bloß das Gefühl körperlicher Bedürfnisse, was eine Handvoll Hirten, Ackerleute und Handwerker bewegt, den ersten Grund zu seiner Republik zu legen. Der kleine Staat erweitert sich unvermerkt; die Anzahl der Bürger nimmt zu; ihre Bedürfnisse deßgleichen. Nicht lange, so fühlt man, daß ohne innere und äußere Sicherheit der Zweck der neuen Gesellschaft nicht erhalten werden könnte; daß zu Erzielung der innern Sicherheit gute Zucht und Ordnung, zu Handhabung der Ordnung Gesetze, zu Vollziehung der Gesetze eine Regierung, und zum Schutz der Regierung und des Staats überhaupt eine bewaffnete Macht vonnöthen ist. Um nun dieß alles seinem Ideal gemäß so zweckmäßig als möglich einzurichten, baut unser philosophischer Lykurg seine ganze Gesetzgebung auf zwei Grundgesetze. Das erste ist: die höchste Wohlfahrt des Ganzen soll der einzige Zweck des bürgerlichen Vereins oder des Staats seyn, also auf das Wohl eines jeden einzelnen Gliedes nur insofern, als es ein Bestandtheil des Ganzen und eine Bedingung des allgemeinen Wohlstandes ist, Rücksicht genommen werden; folglich jedermann verbunden seyn, für den Staat zu arbeiten, zu leben und zu sterben, und nur, insofern er diese Bedingung erfüllt, soll er seinen verhältnißmäßigen Antheil an dem Wohlstand desselben neh men dürfen. Das zweite: zu Verhütung [130] aller schädlichen Folgen, welche in andern Republiken daraus entstehen, wenn jedermann sich nach Willkür beschäftigen und also auch mit Sachen, die er nicht versteht und für die er kein Talent hat, sich bemengen darf, soll jeder Bürger nur Eine Art von Hanthierung oder Geschäfte treiben und darin die möglichste Vollkommenheit zu erreichen suchen.

Beide Grundgesetze scheinen auf den ersten Anblick ihre Richtigkeit zu haben: allein so scharf und ohne alle Einschränkung, wie Plato sie annimmt, sind sie nicht was sie scheinen, und könnten auf keinen wirklichen Staat ohne die nachtheiligsten Folgen angewendet werden. Der Irrthum liegt darin, daß er die Bürger als organische Theile eines politischen Ganzen, d.i. als eben so viele Gliedmaßen Eines Leibes betrachtet, welche nur durch ihre Einfügung in denselben leben und bestehen, keinen Zweck für sich selbst haben, sondern bloß zu einem gewissen besondern Dienst, den sie dem Ganzen leisten, da sind. Da dieß bei den Gliedmaßen eines jeden organischen Körpers wirklich der Fall ist, so kann man freilich mit Grund behaupten: daß die Glieder um des Leibes willen da sind, nicht der Leib um der Glieder willen. Allein mit einer bürgerlichen Gesellschaft, die aus lauter für sich bestehenden Gliedern zusammengesetzt ist, hat es eben deßwegen eine ganz andere Bewandtniß. Die Menschen, woraus sie besteht, haben sich (wie Plato selbst anfangs voraussetzt), bloß in der Absicht vereinigt, ihre natürlichen, d.i. ihre weltbürgerlichen Rechte, in die möglichste Sicherheit zu bringen, und sich durch diesen Verein desto besser zu befinden. Hier ist es also gerade umgekehrt: der Staat ist um des Bürgers [131] willen da, nicht der Bürger um des Staats willen. Die Erhaltung des Staats ist nur insofern das höchste Gesetz, als sie eine nothwendige Bedingung der Erhaltung und der Wohlfahrt seiner sämmtlichen Glieder ist; nur, wenn es allen Bürgern, insofern jeder nach Verhältniß und Vermögen zum allgemeinen Wohlstand mitwirkt, verhältnißmäßig auch wohl ergeht, kann man sagen, daß der Staat sich wohl befinde; und damit dieß möglich werde, darf der Einzelne in freier Anwendung und Ausbildung seiner Anlagen und Kräfte nur so wenig als möglich, d.i. nicht mehr eingeschränkt werden, als es der letzte Zweck des Staats, mit Rücksicht auf die äußern von unsrer Willkür unabhängigen Umstände, unumgänglich nöthig macht. Daher ist denn auch das zweite Grundgesetz der Platonischen Republik so vielen genauern Bestimmungen, Einschränkungen und Ausnahmen unterworfen, daß, wofern es so scharf und streng, wie Plato will, in Ausübung gebracht würde, eben dadurch, daß es den einzelnen Bürgern ungebührliche und unnöthige Gewalt anthut, dem Ganzen selbst weit mehr Schaden als Vortheil daraus erwachsen müßte. Doch dieß nur im Vorbeigehen; denn es gehörig auszuführen und anschaulich zu machen, würde ein größeres Buch erfordert, als ich, so lange noch etwas Besseres zu thun ist, zu schreiben gesonnen bin.

Sobald man unserm Philosophen seine beiden Grundgesetze zugegeben hat, so ist alles Uebrige in seiner Gesetzgebung so folgerichtig und zweckmäßig als man nur verlangen kann. Vor allen Dingen ist nicht außer Acht zu lassen, daß die gänzliche Ausschließung von allem Eigenthum, die Gemeinschaft[132] der Weiber und Kinder, und die männliche Erziehung, Lebensweise und Bestimmung der erstern, nur in der mittelsten der drei Bürgerclassen, in welche seine Republik zerfällt, nämlich nur unter den bewaffneten Beschützern oder, wie man sie auch mit gutem Fug nennen könnte, den menschlichen Jagd- und Hofhunden seines Staats, Platz findet. Denn die Archonten und Räthe, welche die erste Classe ausmachen, sind zu alt und zu sehr im Anschauen der Ideen der Dinge und der Uridee der Ideen vertieft, um der Weiber noch zu bedürfen; und wiewohl Plato über das häusliche und eheliche Leben der dritten Classe (die er überhaupt sehr kurz und mit einer ziemlich sichtbaren Geringschätzung abfertigt) sich nicht besonders erklärt, so läßt sich doch aus verschiedenen Aeußerungen nichts anders vermuthen, als daß er die Gemeinschaft der Weiber für ein viel zu erhabenes und heiliges Institut ansieht, als daß der Pöbel der Handwerker, Künstler, Krämer, Kaufleute und aller andern die sich mit Erwerb beschäftigen oder um Lohn arbeiten, daran Theil haben dürfte. In der That bringt dieß auch die Natur der Sache mit sich; denn die Weiber und Töchter dieser Leute haben nöthigere Dinge zu thun, als den Wissenschaften und Musenkünsten obzuliegen, sich in den Palästren nackend mit den Jünglingen herumzubalgen, mit ihnen auf die Wache und in den Krieg zu ziehen u.s.f. Sie sind natürlicher Weise mit Haushaltungsgeschäften, mit Spinnen, Wirken, Kleidermachen, Kochen, Brodbacken und tausend andern Arbeiten dieser Art beladen; müssen auch – außer der Wartung und Pflege ihrer eigenen Kinder – bei den Kindern der zweiten Classe (wie sich aus verschiedenen Umständen [133] schließen läßt) gelegenheitlich Ammendienste thun, und was dergleichen mehr ist; kurz sie stehen in den Augen unsers Philosophen zu tief unter den edeln Heroinen, die er zu Müttern seiner Staatsbeschützer bestimmt, als daß man glauben könnte, er wolle das hohe Vorrecht der Vielmännerei bis auf sie ausgedehnt wissen; zumal da bei der dritten Classe die Beweggründe gänzlich wegfallen, aus welchen er die Gemeinschaft der Weiber und Kinder in der zweiten für nothwendig hält. Bei dieser also allein findet in Platons Republik diese aller Welt so anstößige Einrichtung statt: und dazu hat er theils physische theils sittliche Bewegursachen von so großem Gewicht, daß alle entgegen stehenden in keine Betrachtung bei ihm kommen können. Seine Republik soll weder zu groß noch zu klein, sondern gerade so seyn, daß sie weder Verderbniß von innen, noch Anfechtung von mißgünstigen und streitsüchtigen Nachbarn zu befürchten habe. Die Anzahl der Bürger darf also nicht viel über eine bestimmte Zahl zunehmen; aber desto mehr ist daran gelegen, daß sie muth- und kraftvolle, von der edelsten Ruhmbegierde und reinsten Vaterlandsliebe glühende, und mit allen zu ihrer Bestimmung erforderlichen Tugenden in vollestem Maße begabte Jünglinge und Männer zu Beschützern habe. Der Stifter der Republik hat also diese Classe, auf welcher die Erhaltung derselben in jeder Rücksicht beruht, mit ganz besonderer Sorgfalt ausgewählt, und zu ihrer erhabenen Bestimmung erzogen und ausgebildet. Er mußte aber auch die dienlichsten Maßregeln nehmen, daß eine so wichtige Körperschaft immer wieder durch gleichartige Elemente ersetzt werde, immer von eben demselben Geist beseelt bleibe, und[134] sich dadurch in einer Art von ewiger Jugend und Unsterblichkeit erhalte. Um zwei Hauptquellen einer möglichen Ausartung auf immer zu verstopfen, mußten diejenigen, welche bloß für den Staat leben sollten, weder Eigenthum noch Familie haben. Die möglichste Gleichheit sollte unter ihnen herrschen; alles Gute und Böse, Arbeit und Vergnügen, Gefahr und Ruhm, Leben und Sterben immer gemeinschaftlich seyn. Solche Menschen können von allem, was mein und dein heißt, nie weit genug entfernt, und unter einander niemals eng genug verbunden werden. Wie gut er aber auch für dieß alles gesorgt hätte, immer würden die Weiber alle seine Mühe zu Schanden gemacht haben, wofern ihm sein Genius nicht ein Mittel zugeflüstert hätte, diesen reizenden Schlangen ihren Gift zu benehmen. Lieber wär' es ihm ohne Zweifel gewesen, wenn die Mutter Erde, als sie seine Krieger in voller Waffenrüstung aus ihrem Schooß hervor springen ließ, sie auch mit dem Vermögen begabt hätte, ihres gleichen entweder aus sich selbst, oder mit ihresgleichen hervorzubringen. Da die Weiber nun aber einmal zu diesem wichtigen Geschäft leider unentbehrlich sind, und überdieß nicht wohl geläugnet werden kann, daß die Neigung zum weiblichen Geschlecht gerade die Seite ist, wo die Natur den Mann am wenigsten befestigt hat, was blieb dem guten Plato übrig, um zu verhindern, daß seine braven Krieger durch den Umgang mit diesen Zaubrerinnen nicht geschwächt, weichlich gemacht und durchaus verdorben werden könnten, als den künftigen Müttern der Kriegs- und Staatsmänner durch eine rauhe männliche und kriegerische Erziehung so viel [135] nur immer möglich von ihren gefährlichen Reizungen abzustreifen, sie, so weit es die Zärte und Schlaffheit ihrer Natur gestatten möchte, zu einer Art von Androgynen zu erheben, oder wenigstens mit den Atalanten, Deianiren und Penthesileen der heroischen Zeit auf gleichen Fuß zu setzen? Durch dieses Mittel war nun zwar für eine derbe und kräftige Nachkommenschaft gesorgt: aber wenn er den Vätern erlaubt hätte, in eine monogamische Verbindung mit den Müttern zu treten, würden zwei mächtige Naturtriebe, die Liebe zu den eignen Kindern und die wechselseitige Zuneigung des Mannes zu der Mutter, des Weibes zu dem Vater ihrer gemeinschaftlich Erzeugten, zum Nachtheil der Vaterlandsliebe ins Spiel gesetzt worden seyn, und die unvermeidlich aus dem Stande der Ehe hervorgehenden besondern Familienverhältnisse würden, so zu sagen, eine Menge kleiner Staaten im Staat erzeugt haben, wobei sich die Grundsätze, der Geist und die Tugend des letztern unmöglich lange in ihrer ersten Reinheit hätten erhalten können. Mit Einem Wort, es bedurfte nichts als die bloße Beibehaltung der gewöhnlichen Ehe, um aus unsrer Platonischen Republik an sich (dieser vollkommensten oder vielmehr einzigen, in welcher, nach Plato, die reine Idee der Republik sichtbar dargestellt ist) ein so armseliges Ding von einer gemeinen heillosen Alltagsrepublik zu machen, wie man ihrer in Griechenland, klein und groß, zu Hunderten zählt. Es blieb ihm also, um der Verderbniß des Staats von dieser Seite den Zugang auf ewig zu versperren, kein anderes Mittel, als die Gemeinschaft der Weiber und Kinder zu einem Grundgesetz zu machen. [136] Jeder Soldat der Republik erhielt dadurch ein unbestimmtes Recht an alle Frauen und Jungfrauen seiner Classe, keiner ein ausschließliches an Eine. Die Liebe in der eigentlichen Bedeutung des Worts fand hier keine Statt; das Zeugungsgeschäft sollte als eine rein physische oder thierische Sache behandelt werden, wobei es bloß darum zu thun wäre, sich einer Pflicht gegen den Staat zu entledigen, und also auf selbstsüchtige Befriedigungen keine Rücksicht genommen würde. Man muß gestehen, unser Philosoph thut sein Bestes, um einer sich aufdringenden Vergleichung seiner sogenannten Ehen mit dem ungefähren momentanen Zusammenlaufen jener kaum durch die Gestalt vom Vieh unterschiedenen Waldmenschen, welche man sich gewöhnlich als die Stammeltern des menschlichen Geschlechts vorstellt, zuvorzukommen. Vor dem zwanzigsten Jahre der Weiber und dem dreißigsten der Männer erklärt das Gesetz alle Befriedigungen des Triebes, von welchem hier die Rede ist, für unrechtmäßig, unheilig und sacrilegisch. Der Tag, an welchem eine Anzahl von Jünglingen und Mädchen das gesetzmäßige Alter zur Platonischen Ehe erreicht haben, ist ein republikanisches Fest, das mit Opfern, Gebeten, und von den Dichtern der Republik besonders dazu verfertigten Epithalamien aufs feierlichste begangen wird. Jede Verbindung zwischen einem Jüngling und einem Mädchen (wiewohl sie nur für den Augenblick gilt) wird von den Archonten, vermittelst eines künstlichen Looses angeordnet, wodurch immer die schönsten, stärksten und muthigsten zusammen kommen, die schlechtern hingegen lauter Nieten ziehen; eine Veranstaltung, welche zu Verhütung aller [137] schlimmen Folgen, die aus dieser durch das gemeine Beste nothwendig gemachten Uebervortheilung der armen Schlechtern, wenn sie bekannt würde, zu befürchten wären, ein Staatsgeheimniß bleiben muß. Von diesem ersten großen Copulationstage an, zählen die Glücklichen, welche von den Archonten mittelst dieses heiligen patriotischen Betrugs würdig und tauglich erfunden wurden, der Republik Kinder zu geben, die Weiber zwanzig, die Männer sechsundzwanzig Jahre, während deren ihnen die Pflicht obliegt, sich von dieser Seite um den Staat so verdient zu machen, als ihnen nur immer möglich ist. Alle Kinder, welche binnen dieser Zeit geboren werden, nennen jeden dieser in Diensten der Republik stehenden Zeuger »Vater«, jede dieser Gebärerinnen, Mutter, und werden hinwieder von ihnen Söhne und Töchter genannt; aber dafür ist gesorgt, daß kein Vater und keine Mutter ihre leiblichen Kinder unter scheiden, noch von diesen unterschieden werden könne. Denn in dieser Classe, wo niemand etwas Eigenes haben darf, ist es auch nicht erlaubt ein eigenes Kind und einen eigenen Vater zu haben. Alle, die in dem Lauf einer Generation von fünfundzwanzig Jahren geboren werden, nennen sich Brüder und Schwestern, und erhalten, nachdem sie das gesetzmäßige Alter erreicht haben, auf obige Weise von den Archonten die Erlaubniß, für die Fortdauer der Republik zu arbeiten. Vor dieser Zeit aber ist z.B. einem Jüngling von sechs oder achtundzwanzig Jahren nicht erlaubt, ein Mädchen von siebzehn oder achtzehn zur Mutter zu machen, wie entschieden auch immer ihre beiderseitige Tüchtigkeit, und wie dringend ihr innerer Beruf dazu seyn möchte, da sie täglich auf der [138] Palästra handgemein mit einander zu werden Gelegenheit haben; und sollte gleichwohl ein solcher unglücklicher Fall sich ereignen, so muß die Frucht der gesetzwidrigen Verbindung abgetrieben, oder, wenn sie dennoch Mittel findet lebendig ans Tageslicht zu kommen, sogleich als der Ernährung unwürdig auf die Seite geschafft werden. Zwischen Eltern und Kindern, d.i. zwischen Männern und Frauen von der ersten Generation mit Frauen und Männern von der zweiten und dritten findet (da jene zu diesen kraft des Gesetzes sich als Eltern und Großeltern verhalten) keine gesetzmäßige Begattung statt; und überhaupt ist es eine der heiligsten Pflichten der Regierer des Staats, den Zeugungstrieb bei ihren Bürgern so viel als möglich einzuschränken, und ja nicht mehr Kinder aufkommen zu lassen, als nach Beschaffenheit der Umstände nöthig sind, damit der Staat sich immer bei gleicher Stärke erhalte; woraus klar ist, daß sie auch von Zeit zu Zeit für einen tüchtigen Krieg zu sorgen haben. Denn es brauchte nur einen hundertjährigen Frieden, um die Regierung in die gefährliche Nothwendigkeit zu setzen, das vorbesagte Loos so einzurichten, daß von hundert Paar Jünglingen und Mädchen wenigstens drei Viertel zu einer unfreiwilligen Unfruchtbarkeit verdammt werden müßten, wofern die Menge der Kinder, denen der Eintritt ins Leben an der Pforte versagt wird, nicht auf eine so ungeheure Zahl steigen sollte, daß dem Platonischen Sokrates selbst, wie kaltblütig er auch diese Dinge ansieht, bei ihrer Ueberrechnung die Haare um seinen Glatzkopf zu Berge stehen müßten.

Alle diese und eine Menge anderer Ungereimtheiten und [139] Abscheulichkeiten, die sich jedem Unbefangenen bei diesem Theil seiner Gesetzgebung aufdringen, verschwinden in Platons Augen vor dem großen Grundsatz: daß die höchste denkbare Vollkommenheit des Staats der einzige Zweck desselben, und der einzelne Bürger nur insofern für etwas zu rechnen sey, als er bloß für das Ganze lebt, und immer bereit ist, diesem seine natürlichsten Triebe und gerechtesten Ansprüche aufzuopfern. Ob der Staat solche Opfer zu fordern berechtigt sey, ist bei ihm keine Frage; auch lehrte ihn die in Sparta so lange Zeit befolgte Gesetzgebung Lykurgs, daß es möglich sey, Menschen so zu erziehen und zu bilden, daß man ihnen alles, selbst das Unnatürlichste, zumuthen kann. Er trug also um so weniger Bedenken, die Hauptzüge des Spartanischen Instituts in seiner Republik noch weiter und bis zu einer Consequenz zu treiben, die, wie ein eiserner Streitwagen, alles was ihr entgegen steht zu Boden tritt, und über alle Bedenklichkeiten und Rücksichten, d.i. über die Köpfe und Eingeweide der Menschen weg, in gerader Linie auf das Ziel losrennt, das sie sich vorgesteckt hat.

In wie fern ihn diese Betrachtungen rechtfertigen oder entschuldigen können, lass' ich dahin gestellt seyn; mir ist wenigstens gewiß, daß er in allem, was uns an seinem idealischen Sparta am anstößigsten ist, treulich und ohne Gefährde zu Werke ging, und z.B. auf unsre Bedenklichkeit, der abgezweckten höhern Vollkommenheit seiner Republik alle Jahre etliche hundert neugeborne Menschlein zum Opfer darzubringen, mit eben dem naserümpfenden Mitleiden herabsehen wird, womit sein Sokrates sich über »die lächerliche Weisheit« derjenigen [140] aufhält, die das Ringen nackter Mädchen mit nackten Jünglingen auf der Palästra ungeziemend finden. Ich zweifle daher auch keinen Augenblick, daß er wenig verlegen seyn würde, für jeden andern Einwurf, der ihm gegen seine Erziehungs- und Begattungsgesetze gemacht werden könnte, auf der Stelle eine Antwort zu finden; wiewohl er es nicht der Mühe werth gehalten zu haben scheint, die mancherlei Schwierigkeiten vorauszusehen, welche sich der Ausführung dieser – der Natur, dem sittlichen Gefühl und den Grazien zugleich Hohn sprechenden – Gesetze entgegen thürmen. Bei einem Philosophen, der seine Geistesaugen immer nur auf die ewigen und unveränderlichen Urbilder der Gattungen und Arten geheftet hält, kommen die einzelnen Dinge, als bloße vorübergleitende Schemen oder unwesentliche Wolken- und Wasserbilder, in keine Betrachtung; und da er alle die Knoten, in welche die Meinungen, Neigungen, Bedürfnisse und Leidenschaften der Menschen im gesellschaftlichen Leben sich unaufhörlich verwickeln und durcheinanderschlingen, immer mit einem einzigen Grundsatz wie mit einem zweischneidigen Schwert zerhauen kann, warum sollte er sich die Mühe geben sie auflösen zu wollen?

Etwas, worüber er indessen nicht so leicht zu entschuldigen seyn dürfte, sind die kleinen Widersprüche mit sich selbst, die seinem redseligen Sokrates hier und da in dem Feuer, womit er seine Behauptungen vorträgt, zu entwischen scheinen. Hierher gehört (um nur ein paar Beispiele anzuführen) wenn er, um die gymnastische Nacktheit seiner künftigen Soldatenfrauen zu rechtfertigen, sich auf einmal in die Moral der [141] Sophisten verirrt, und kein Bedenken trägt, den Satz »alles Nützliche ist auch ehrbar und anständig, und nur das Schädliche ist schändlich,« für eine ausgemachte Wahrheit zu geben. Unglücklicher Weise begegnet ihm diese Verirrung eine Weile hernach noch einmal, da von den Belohnungen die Rede ist, wodurch die Beschützer des Staats aufgemuntert werden sollen, im Kriege sich durch tapfere Thaten auszuzeichnen. Wer, der den ehrwürdigen Sohn des Sophroniskus gekannt hat, muß sich nicht in Platons Seele schämen, wenn er seinen untergeschobenen Sokrates zum Gesetz machen läßt: »daß es, so lange ein Feldzug daure, niemanden erlaubt seyn solle, sich den Küssen eines ausgezeichneten Braven zu entziehen, damit dieser, der Gegenstand seiner Leidenschaft möge nun ein Mann oder ein Weib seyn, desto mehr angereizt werde, nach dem ersten Preis der Tapferkeit zu ringen?« – Dieß ist doch wohl eine von den Stellen, deren ich oben erwähnte, wo der verkappte Sokrates seines angenommenen Charakters plötzlich vergißt, und in den sich selbst spielenden Plato zurücksinkt?

Noch ein Beispiel von Widerspruch mit sich selbst ist mir im sechsten Buch aufgefallen, wo er über die parasitische Gefälligkeit der Sophisten gegen die Vorurtheile, Neigungen und Unarten des großen Haufens (d.i. dessen, was man in demokratischen Staaten den Pöbel, oder mit einem urbanern Wort das Volk nennt), und die schädlichen Eindrücke, die dadurch auf die Jugend gemacht würden, viel Wahres sagt, und bei dieser Gelegenheit von dem besagten großen Haufen unter dem Bild eines großen und starken Ochsen oder Bullenbeißers [142] eine wahrlich nicht geschmeichelte Schilderung macht, sondern ihm ohne alle Schonung so viel Böses nachsagt, daß Timon der Menschenhasser selbst damit hätte zufrieden seyn können; bald darauf aber, da seine Convenienz erfordert die Sache von einer andern Seite in einem mildern Lichte zu sehen, die Partei des nämlichen großen Haufens nimmt, von ihm als einem gar sanften gutartigen Thiere spricht, und alle Schuld seines Hasses gegen die ächten Philosophen auf die unächten schiebt.

Uebrigens ist es eine glückliche Eigenheit unsers Philosophen, daß er nach jeder beträchtlichen Verfinsterung, die er, so oft seine Phantasie zwischen seinen Verstand und seine Leser tritt, zu erleiden scheint, sich sogleich durch irgend eine desto glänzendere Ausstrahlung wieder in die ihm gebührende Achtung zu setzen weiß. Ein Beispiel hiervon ist in diesem fünften Buch die Vorschrift, wie seine Staatsbeschützer sich im Kriege gegen den Feind zu verhalten haben; eine Gelegenheit, die er mit eben so vieler Feinheit als Freimüthigkeit benutzt, um den Griechen seiner Zeit einen Spiegel vorzuhalten, worin sie vor ihren eigenen Augen als eine rohe Art von Barbaren erscheinen müssen, deren gewohntes Verfahren in ihren ewigen Fehden unter einander mit den Regeln einer gesunden Staatsklugheit nicht weniger als mit den Gesetzen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit in dem auffallendsten Widerspruch steht. Diese Stelle ist, meines Erachtens, eine der schönsten in diesem ganzen Werke, und du wirst mir hoffentlich zugeben, Eurybates, daß die Schuld nicht an Plato liegt, wenn er durch die heilsamen Wahrheiten, die er euch darin stärker [143] und einleuchtender als irgend einer von euern Rednern ans Herz legt, seiner Vaterstadt und der ganzen Hellas nicht den wesentlichsten Dienst geleistet hat. Daß dieß wenigstens seine Absicht war, ist um so weniger zu bezweifeln, da dergleichen Seitenblicke auf seine Zeitgenossen und Mitbürger in diesem Dialog häufig genug vorkommen, um uns über einen der wichtigsten Zwecke des Ganzen einen bedeutenden Wink zu geben.

Was ich gleich anfangs meiner Briefe über die Republik Platons gegen den Vorwurf, daß es diesem Werk an kunstmäßiger Anordnung fehle, erinnert habe, scheint sich unter andern auch durch die feinen Wendungen zu bestätigen, womit der Verfasser gegen das Ende des fünften Buchs dem Dialog unvermerkt eine solche Richtung gibt, daß er eine (dem Anschein nach) ungesuchte Gelegenheit erhält, in den beiden folgenden Büchern die Grundlehre seiner ganzen Philosophie auf eine faßlichere und poetischere Art, als in andern seiner frühern Dialogen, vorzutragen; eine Gelegenheit, die er, wiewohl sie ihn von dem Hauptgegenstand entfernt, und zu einer weitläufigen episodischen Abschweifung verleitet, um so weniger aus den Händen läßt, weil die Abschweifung in der That bloß anscheinend und vielmehr das einzige Mittel ist, seiner Republik eine Art von hypothetischer Realität zu geben, woran wenigstens alle die Leser sich genügen lassen können, die der magischen Täuschung eben so willig und zutraulich als die beiden Söhne Aristons entgegen kommen. Daß er uns übrigens auch auf diesem Spaziergang, den wir mit ihm machen müssen, durch eine Menge unnöthiger Krümmungen in einem unaufhörlichen Zickzack herumführt, der uns das Ziel, [144] worauf wir zugehen, immer aus den Augen rückt, ist nun einmal die Art des Platonischen Sokrates, die man sich, insofern sie zuweilen das Interesse des Dialogs unterhält und erhöht, recht gern gefallen ließe, wenn er nur einiges Maß darin halten wollte; denn wirklich ist es oft schwer sich einer Anwandlung von Ungeduld zu erwehren, wenn er bald einen Satz, wie z.B. »Seyn ist von Nichtseyn verschieden« in eine oder zwei Fragen verwandelt, bald die schlichtesten Fragstücke auf eine so spitzfindige und verfängliche Art vorbringt, daß man sich keine andere Absicht dabei denken kann, als das schale Vergnügen, den Gefragten in Verlegenheit zu setzen und zu einer einfältigen Antwort zu nöthigen. Bei allem dem muß ich gestehen, daß etwas Attisches in dieser Art sich in Gesellschaften mit einander zu unterhalten ist, und ich zweifle nicht, Eurybates, daß dir die Pseudo-Sokratische Manier, wie Plato diese neckische Art von Ironie in seinen Dialogen behandelt, wenn gleich nicht immer angenehm, doch gewiß bei weitem nicht so auffallend vorkommen wird als mir. Dieß sey also das letztemal daß ich darüber wehklage, wiewohl in den fünf Büchern, die ich noch vor mir habe, die Anreizung dazu oft genug vorkommen wird. Und nun wieder in unsern Weg!


Glaukon scheint von der Schönheit der neu errichteten Republik so bezaubert, daß er sich nicht enthalten kann, den Philosophen, der die Miene hat als ob er von der innern Verfassung derselben und von ihren unendlichen Vorzügen [145] vor den gewöhnlichen noch viel zu sagen gedächte, etwas rasch zu unterbrechen. Von allem diesem, meint er, wüßten sie bereits genug, um sich das, was etwa noch zurückgeblieben sey, selbst sagen zu können; die große Frage, auf welche alles ankomme, sey itzt bloß: ob diese herrliche Republik unter die möglichen Dinge gehöre? Sokrates stellt sich, nach seiner Gewohnheit, als ob ihm diese Frage sehr ungelegen komme; er spricht von dem Unternehmen sie zu beantworten als von einem halsbrechenden Wagestück, und sucht das Ansinnen seines jungen Freundes dadurch von sich abzulehnen, daß er ihn bereden will, seine Republik könnte als Ideal und Kanon, woran man die Grade der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit aller gegenwärtigen und künftigen Republiken messen könne, immer noch gute Dienste thun, wenn gleich ihre Möglichkeit nicht erwiesen werden könnte. Meinst du etwa (fragt er den Glaukon), ein Maler, der das Modell eines vollkommen schönen Mannes oder Weibes in der höchsten Vollendung seiner Kunst aufgestellt hätte, würde darum ein schlechterer Maler seyn, wenn er nicht zu zeigen vermöchte, wie es möglich sey, daß ein Mensch so schön seyn könnte? Diese Ausflucht ist, mit Platons Erlaubniß, ein bloßer Taschenspielerkniff; denn es ist ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen dem Maler, von dem er hier spricht, und zwischen ihm selbst als Maler der vorgeblichen vollkommensten Republik. Freilich braucht z.B. Zeuxis die Möglichkeit seiner Helena nicht zu beweisen; aber warum dieß? Weil er sie uns unmittelbar vor die Augen gestellt hat, und (vorausgesetzt ihre Schönheit sey in der That untadelig) jedermann, der sie anschaut, [146] sich selbst gestehen muß, er verlange nichts Schöneres zu sehen. Damit ist denn auch jedermann zufrieden, und kümmert sich wenig darum, ob jemals ein sterbliches Weib eine so schöne Tochter geboren hat oder künftig gebären wird; genug, daß uns der Maler von der Möglichkeit einer so hohen Schönheit durch den Augenschein überzeugt hat. Es fehlt aber viel, daß es mit Platons Republik derselbe Fall sey; der Augenschein ist nicht zu ihrem Vortheil; die Stimmen der Anschauer sind wenigstens sehr getheilt, und gegen einen, der sie so herrlich findet als sie unserm in sein eignes Werk verliebten Pygmalion vorkommt, sehen wir zwanzig, denen sie ein sehr unvollständiges, übel mit sich selbst übereinstimmendes, überladenes und unnatürliches Phantom von einer Republik scheint, von welcher der Strenge nach zu beweisen ist, daß ihres gleichen unter den Menschen, so lange sie ihre dermalige Natur behalten werden, weder entstehen, noch, wofern sie auch (wie andere Mißgeburten) durch eine zufällige Verirrung der Natur jemals ans Tageslicht kommen sollte, lange genug leben könnte, daß es der Mühe werth wäre zu sagen sie sey da gewesen. Der Platonische Sokrates kann sich also der Pflicht, die Möglichkeit seines politischen Kanons darzuthun, mit Recht nicht entziehen; und er selbst scheint dieß so gut zu fühlen, daß er dem ehrlichen, durch seine Induction zu schnell irre gemachten Glaukon von freien Stücken einen Vorschlag zur Güte thut, indem er ihn fragt: ob er zufrieden seyn wollte, wenn ihm gezeigt würde, wie eine seinem Ideale wenigstens sehr nahe kommende Republik zur Wirklichkeit gelangen könnte? Glaukon ist so billig sich diesen Vorschlag gefallen [147] zu lassen, und Sokrates rückt, nach mehrmaligem Achselzucken, dem vorgeblichen halsbrechenden Wagestück so nahe, daß er bekennt: um allen unsern Republiken eine andere ungleich bessere Gestalt zu geben, bedürfte es nur einer einzigen Veränderung; aber freilich wäre dieses Einzige weder etwas Kleines noch Leichtes, wiewohl nichts Unmögliches. – »Und was ist es denn?« fragt Glaukon. – Weil es doch einmal heraus muß, erwiedert jener, will ich es ja wohl sagen, wiewohl ich Gefahr laufe, von dem ausgelassensten Gelächter, wie von einer ungeheuren Welle, überschwemmt und in den Grund gelacht zu werden; – es ist: »so lange nicht entweder die Philosophen die einzigen Regenten der Staaten sind, oder diejenigen, die man gegenwärtig Könige und Gewalthaber nennt, wahrhaft und in ganzem Ernst philosophiren, so daß die höchste Gewalt im Staat und die Philosophie in einem und eben demselben Subject zusammentreffen, und alle, die sich nur auf eine von bei den beschränken, schlechterdings von der Staatsverwaltung ausgeschlossen werden: so lange, lieber Glaukon, ist gegen die Uebel, welchen die bürgerliche Gesellschaft, ja das ganze Menschengeschlecht unterliegt, kein Rettungsmittel, – und bis es dazu kommt, wird auch die Republik, von welcher bisher die Rede zwischen uns war, weder möglich werden, noch das Licht der Sonne sehen!«

In der That hatte der verkappte Plato hohe Ursache, ungern mit einer Behauptung herauszurücken, von welcher so leicht vorauszusehen war, daß sie eben so stark gegen alle herrschenden Begriffe und Vorurtheile als gegen das Interesse der jetzigen Machthaber anrannte, und wenn sie gleich bei den [148] meisten nur ein lautes Gelächter über ihre Ungereimtheit erregen würde, von den dermaligen Regierern selbst, als eine gefährliche und nur durch die politische Nullität unsers Philosophen verzeihlich gemachte Lehre, mit Unwillen angesehen werden müßte. Aber auf was für einen Empfang mußte er sich erst gefaßt halten, nachdem man aus dem folgenden sechsten und siebenten Buch verständigt worden war, was er unter dieser Philosophie und diesen Philosophen, welche die Welt ausschließlich regieren sollten, verstehe! Daß er nämlich keine andre Philosophie für ächt gelten lasse, als seine eigene, und also sein großes politisches Geheimmittel gegen alle die Menschheit drückenden Uebel darauf hinaus laufe: daß alle Regenten zu Platonen werden, oder vielmehr (da dieß, wenn sie auch wollten, nicht in ihrer Macht steht) daß der einzige mögliche und wirkliche Plato, Aristons und Periktyonens Sohn, zum Universalmonarchen des Erdkreises erhoben werden müßte, wofern das Reich der Themis und die goldne Zeit des alten Kronos wiederkehren sollte? Wenn nun aber auch zu dieser einzigen kleinen Veränderung, wie heilbringend sie immer für das gesammte Menschengeschlecht wäre, nicht die mindeste Hoffnung vorhanden ist, wofür will er daß wir seine Republik ansehen sollen?

Doch, dem sey wie ihm wolle, das große Wort ist nun einmal gesprochen, und wir können uns auf unsern Mann verlassen, daß er, seiner verstellten Schüchternheit oder Schamhaftigkeit ungeachtet, keinen Augenblick verlegen ist, wie er sich aus dem Handel ziehen wolle. Er hat sich eines mächtigen Zauberworts bemeistert, womit er sich gegen Hieb und [149] Stich fest machen, womit er, wie man eine Hand umkehrt, Berge versetzen und Meere austrocknen, womit er Alles in Nichts und Nichts in Alles verwandeln kann. Das Bild, das kein Bild ist – des Dings das kein Ding ist, weil es weder von den Sinnen ertastet, noch von der Einbildungskraft dargestellt, noch vom Verstande gedacht und bezeichnet werden kann, mit Einem Wort, die Idee des Dings an sich, das wahre unaussprechliche Wort der Platonischen Mystagogie, die formlose Form dessen was keine Form hat. – Was ist unserm dialektischen Thaumaturgen nicht mit diesem einzigen Aski Kataski 24 möglich? Ja, wenn unter dem Wort Philosoph so ein Mensch gemeint wäre, wie unsre gewöhnlich sogenannten Philosophen, Sophisten, Allwisser, Liebhaber und Kenner des vermeinten Wahren, Schönen und Guten, welches mit den Augen gesehen, mit den Ohren gehört, mit irgend einem äußern oder innern Sinn gefühlt, von der Einbildungskraft gemalt, von der plastischen Kunst gebildet, vom Verstand erkannt, von der Sprache bezeichnet, und im wirklichen Leben als Mittel zu irgend einem Zweck oder als Zweck irgend eines Mittels, als Ursache irgend einer Wirkung oder Wirkung irgend einer Ursache, gebraucht werden könnte: wenn solche Philosophen die Welt regieren sollten, dann, meint er, würde sie freilich um kein Haar besser regiert werden als dermalen. Aber der Philosoph, der an der Spitze seiner Republik stehen soll und an der Spitze des ganzen menschlichen Geschlechts zu stehen verdient, ist ein ganz anderer Mann; der hält es unter seiner Würde, sich mit Betrachtung und Erforschung all des armseligen Plunders der materiellen und einzelnen Dinge, abzugeben, [150] welche (wie der verkappte Sokrates dem ehrlichen Glaukon mit seiner gewöhnlichen dialektischen Taschenspielerkunst sehr wortreich und auf mehr als Eine Manier vorspiegelt) weder Etwas noch Nichts, sondern eine Art von Mitteldingen zwischen Nichts und Etwas sind. Das hauptsächlichste, wo nicht einzige Geschäft seines Lebens ist, sich auf den Stufen der Arithmetik, Geometrie und Dialektik zur Betrachtung der einfachen und unwandelbaren Ideen der Dinge, und von diesen übersinnlichen Wesen bis zum mystischen Anschauen des höchsten Ontôs On oder Urwesens aller Wesen zu erheben, über welches, als etwas an sich Unbegreifliches und Unaussprechliches, ihm eine deutliche Erklärung nicht wohl zuzumuthen ist, und da er durch diese gänzliche Versenkung seines Geistes in das, was an sich wahr, schön, gerecht und gut ist, nothwendig selbst durch und durch wahr, edel, gerecht und gut werden muß: wo könnten wir einen Sterblichen finden, welcher tauglicher und würdiger wäre, die Welt zu regieren, als er?

Alles dieß aus einander zu setzen, und nach seiner Manier zu beweisen, d.i. seinen glaubigen Zuhörern durch weit ausgeholte Fragen, Inductionen, allegorische Gleichnisse und subtile Trugschlüsse weiß zu machen, beschäftigt unsern Sokrates in dem größten Theil des sechsten und siebenten Buchs; und da die Natur des Dialogs ihm völlige Freiheit läßt sich nach Belieben vorwärts und seitwärts zu bewegen, und sich über dieses und jenes, was er mit Vortheil in ein helleres Licht zu setzen glaubt, mit Gefälligkeit auszubreiten, so war natürlich, daß er – bei Gelegenheit der Schilderung des [151] ächten Philosophen, der bis zum Wahren und Schönen selbst vorzudringen und es in seinem Wesen anzuschauen vermag, im Gegensatz mit den eingebildeten Allwissern und Philodoxen 25, die ihre Meinungen von den Dingen für die Wahrheit selbst ansehen – über die Quellen der Vorurtheile, welche der große Haufe, besonders in den höhern Classen, gegen die ächten Philosophen heget, über die Ursachen, warum man sie mit anscheinendem Recht für unnütze und vornehmlich zum Regieren ganz untaugliche Leute halte, und über den Grund, warum auch die Philosophen ihres Orts mit Verwaltung solcher heilloser Republiken, wie die gegenwärtigen alle seyen, nichts zu thun haben mögen – sich alles dessen, was er vermuthlich schon lange auf dem Herzen hat, mit vieler Freimüthigkeit entledigt. Dieser Theil des sechsten Buchs, wo Adimanth wieder an die Rede kommt, und durch den Versuch einer Rechtfertigung des popularen Vorurtheils gegen die Philosophen den Sokrates auffordert, sich umständlicher über diese Materie vernehmen zu lassen, scheint mir (dem persönlichen Antheil, welchen Plato an der Sache nimmt, gemäß) mit vorzüglichem Fleiß ausgearbeitet zu seyn; und ausnehmend schön ist unter andern, was er den Sokrates (den ich hier wieder erkenne und reden zu hören glaube) von den Ursachen sagen läßt, woher es komme, daß wahrhaft weise und gute Menschen so selten sind, und so manche Jünglinge, mit den herrlichsten Anlagen, der hohen Bestimmung, zu welcher die Natur sie ausgerüstet hatte, unglücklicher Weise für den Staat und für sich selbst, gänzlich verfehlen, ja desto schädlichere Bürger und Regenten werden, je glänzender die Naturgaben [152] und Talente sind, wodurch sie sich der Liebe und des Vertrauens ihrer Mitbürger zu bemächtigen wissen. Weniger die Probe einer strengen Prüfung haltend, wiewohl mit einem leidenschaftlichen Feuer geschrieben, das den auf sich selbst zurücksehenden und seine eigene Sache führenden Plato verräth, scheint mir die Stelle zu seyn, wo er die Gründe angibt, »warum die Wenigen, die im Besitz der wahren Weisheit sind, sich in die möglichste Verborgenheit zurückziehen und mit den öffentlichen Angelegenheiten unserer verdorbenen Republiken nichts zu schaffen haben wollen, sondern, in ihren eigenen vier Wänden gegen alle Stürme des öffentlichen Lebens gesichert, beim Anblick der allgemein herrschenden Gesetzlosigkeit, genug gethan zu haben glauben, wenn sie, selbst rein von Unrecht und lasterhaften Handlungen, ihr gegenwärtiges Leben in Unschuld hinbringen, um dereinst mit guter Hoffnung freudig und zufrieden aus demselben abzuscheiden.« – Wenn Aristipp und seines gleichen diese Sprache führten, möchte wohl nichts Erhebliches dagegen einzuwenden seyn; aber von dem Platonischen Weisen sollte man mit vollem Recht eine heroischere Tugend fordern dürfen; und ich zweifle sehr, ob irgend eine Republik verdorben genug seyn könne, daß ihm eine solche Verzweiflung an ihrer Besserung erlaubt wäre, oder daß Rücksicht auf seine persönliche Sicherheit und Furcht vor dem Haß und den Verfolgungen der Bösen für einen zuverlässigen Beweggrund gelten könnte, sich seiner Pflicht gegen das Vaterland zu entziehen. Der wirkliche Sokrates war wenigstens ganz anders gesinnt, und ließ es sich, als er mit sehr guten Hoffnungen aus diesem Leben ging,[153] keinen Augenblick gereuen, das Opfer der entgegengesetzten Denkart geworden zu seyn.

Aber freilich ist Platons Weiser kein Sokrates; und ihm, der sein höchstes Gut im Anschauen des Schönen und Guten an sich, und in der dazu erforderlichen Ruhe und Abgeschiedenheit findet, möchte jene Sinnesart um so eher zu verzeihen seyn, da er sich nothwendig sehr lebhaft bewußt seyn muß, daß er nirgends als in seiner idealischen Republik am rechten Ort ist, und wahrscheinlich als Staatsmann in jeder andern eine traurige Figur machen würde.


Ich bin, gegen meinen anfänglichen Vorsatz, indem ich durch ich weiß nicht welchen Zauber, den unser dichterischer Philosoph um sich her verbreitet, mich gezogen fühlte, ihm in seinem mäandrischen Gang beinahe Schritt vor Schritt nachzuschlendern, unvermerkt so weitläufig geworden, daß ich nur so fortfahren dürfte, um über ein unmäßig dickes Buch ein noch dickeres geschrieben zu haben. Die Versuchung ist nicht gering und nimmt mit jedem Schritt eher zu als ab; aber sey ohne Furcht, Eurybates, ich will es gnädig mit dir machen; und wenn du dich entschließen kannst, mir nur noch in die wundervolle unterirdische Höhle unsers Mystagogen zu folgen, so verspreche ich dir, dich mit allem übrigen zu verschonen, was du noch zu lesen bekämest, wenn ich meine bisherige Umständlichkeit bis ans Ende beibehalten wollte.

Die Behauptung, daß ein Staat nur durch ächte Philosophen [154] wohl regiert werden könne, hatte die Darlegung des Unterschieds zwischen dem unächten und ächten Philosophen herbei geführt. In dieser bis auf den Grund zu kommen, sah sich Plato (denn mit diesem allein, nicht mit Sokrates haben wir es nun zu thun) genöthigt, seinen Zuhörern einen Blick in das innerste Heiligthum seiner Philosophie zu erlauben. Da er aber hier keine Eingeweihten vor sich hat und dieser Dialog unter die exoterischen, d.i. unter diejenigen gehört, welche weniger für seine auserwählten Jünger als für die immer zunehmende Menge müßiger und wißbegieriger Leser, bei denen ein gewisser Grad von Bildung vorausgesetzt werden kann, geschrieben sind: so war nicht schicklich, und in der That auch nicht wohl möglich, seine Geheimlehre anders als in Bildern vorzutragen, um uns andre Profanen wenigstens durch einen, wiewohl nicht sehr durchsichtigen, Vorhang in die Mysterien derselben blinzeln zu lassen. Hierzu macht er nun zu Ende des sechsten Buchs den Anfang, indem er uns – mit vieler Behutsamkeit, damit nicht zu viel Licht auf einmal in unsre blöden Augen falle – die Existenz einer zwiefachen Sonne offenbart: der bekannten sichtbaren, die uns zum Wahrnehmen körperlicher Dinge, Gestalten und Schattenbilder verhilft, und einer rein geistigen, folglich auch bloß dem reinen Geist, ohne Beihülfe der Sinne, der Einbildungskraft und des Gedankens, anschaulichen (welche er die Idee des Guten und das selbstständige Gute, Auto-Agathon, nennt), in dessen Licht allein das an sich Wahre, Schöne und Gute unserm Geiste sichtbar werden kann. Die neu entdeckte übersinnliche Sonne scheint den wißbegierigen [155] Glaukon so freundlich anzustrahlen, daß Sokrates sich aufgemuntert fühlt, die Vergleichung eine Weile fortzusetzen. Beide Sonnen, sagte er, sind »die Könige zweier Welten;« die eine dieser sinnlichen, theils aus körperlichen Dingen, theils aus mancherlei vergänglichen, unwesentlichen Erscheinungen zusammengesetzten Welt; die andere der übersinnlichen, dem reinen Verstand allein in dem Lichte des selbstständigen Guten sichtbaren. wesentlichen Dinge. So wie die materielle Sonne über uns aufgeht, erscheinen uns in ihrem Lichte die körperlichen Dinge klar und deutlich; so wie uns dieses Licht entzogen wird, verfinstert sich alles um uns her, wir erblicken nur zweifelhafte, farbenlose, unförmliche Gestalten und wissen nicht was wir sehen. Eben so wird uns, sobald unser Geist in das Lichtreich des Auto-Agathon eindringt, auf einmal die ganze Welt der Ideen, oder der ewigen, unwandelbaren Wesen (ontôs ontôn) aufgeschlossen; wie uns hingegen dieses Licht entzogen wird, sehen wir im Reich der Wahrheit – nichts, und alles um uns her ist Dunkelheit, Ungewißheit, Irrthum und Täuschung. – So wie uns die Sonne in der materiellen Welt zweierlei Arten von Gestalten sichtbar macht, die wirklichen Körper, und die bloßen Schatten und Abspieglungen derselben, z.B. blauen Himmel, Wolken, Bäume, Gebüsche u.s.w. in einem klaren Wasser: eben so erlangt unser Geist durch das übersinnliche Licht, das von dem Auto-Agathon über das ganze Reich der Wahrheit ausstrahlt, eine doppelte Art von Erkenntniß: eine rein wahre, von Plato Noësis genannt, und eine mit Wahn und Täuschung vermischte, die ihm Dianoia 26 heißt; jene durch unverwandtes[156] Aufschauen in das Reich der Ideen, als die allein wahrhaft wirkliche Welt, in welcher kein Trug noch Irrthum stattfindet; diese durch das Herabschauen in die Welt der Erscheinungen und Täuschungen, wo wir nichts als die Abspieglungen und Schatten der wesentlichen Dinge erblicken; daher denn auch, natürlicher Weise, nicht mehr Wahrheit in dieser Art von Erkenntniß seyn kann, als in der Vorstellung, die wir von einem Körper bekommen, wenn wir seinen Schatten, oder höchstens seine Gestalt im Wasser erblicken. Unser Sokrates konnte leicht bemerken, daß es dem guten Glaukon, mit dem besten Willen von der Welt, dennoch schwer werde, sich die übersinnlichen Wahrheiten, die durch diese Vergleichungen angedeutet werden sollten, klar zu machen. Er läßt sich also herab, der Blödigkeit seines geistigen Auges durch eine allegorische Darstellung der Sache zu Hülfe zu kommen. Und nun hören wir ihn selbst!

Stelle dir, sagt er zu Glaukon, die Menschen vor, als ob sie in einer Art von unterirdischer Höhle wohnten, die von oben herein weit offen, bloß durch den Schein eines großen auf einer entfernten Anhöhe brennenden Feuers erleuchtet wird. In dieser Gruft befinden sie sich von Kindheit an, am Hals und an den Füßen dergestalt gefesselt, daß sie sich weder von der Stelle bewegen, noch den Kopf erheben und herum drehen können, folglich, gezwungen immer nur vor sich hin zu sehen, weder über noch hinter sich zu schauen im Stande sind. Zwischen dem besagten Feuer und den Gefesselten geht ein etwas erhöhter Weg, und längs desselben eine Mauer, ungefähr so hoch und breit als die Schaugerüste, [157] auf welchen unsre Gaukler und Taschenspieler den Zuschauern ihre Wunderdinge vorzumachen pflegen. Nun bilde dir ferner ein, du sehest neben dieser Mauer eine Menge Menschen mit und hinter einander auf der besagten Straße daher ziehen, welche allerlei Arten von Geräthschaften, Statuen und hölzerne oder steinerne Bilder von allerlei Thieren auf alle mögliche Art gearbeitet, auf dem Kopfe tragen, so daß alle diese Dinge über die Mauer hervorragen. Glaukon findet dieses ganze Gemälde etwas abenteuerlich, und scheint nicht errathen zu können, wo Sokrates mit seinen Gefesselten, die er in eine so seltsame Lage setzt, hinaus wolle. Gleichwohl, fährt dieser fort, sind sie unser wahres Ebenbild. – Aber bevor er diese Behauptung seinem staunenden Lehrling klar machen kann, muß er die natürlichen Folgen entwickeln, welche die vorausgesetzte Lage für die Gefesselten haben müßte. Fürs erste, sagt er, werden sie, da sie unbeweglich vor sich hinzusehen gezwungen sind, weder von sich selbst und denen, die neben ihnen sind, noch von allen den Dingen, die hinter ihnen vorbei ziehen, sonst nichts erblicken können als die Schatten, die auf die gegenüber stehende Wand der Höhle fallen. Ferner werden sie, falls sie mit einander reden könnten, den Schatten die Namen der Dinge selbst beilegen; und wofern im Grund ihrer Höhle ein Echo wäre, welches die Worte der (ihnen unsichtbaren) Vorbeigehenden wiederhohlte, würden sie sich einbilden, die Schatten, welche sie vor sich sehen, brächten diese Töne hervor. Sie würden also unstreitig nichts anders für das Wahre halten, als die Schatten der vorbesagten Geräthschaften und Kunstwerke. Glaukon bejaht alles dieß ohne Widerrede, sogar mit einem großen[158] Schwur; und Sokrates geht desto getroster weiter. Siehe nun auch, sagt er, wie sie zugleich mit ihren Fesseln von ihrer Unwissenheit entbunden würden, wenn die Natur sie von jenen befreien wollte. Gesetzt also Einer von ihnen würde losgebunden und genöthigt plötzlich aufzustehen, den Kopf umzudrehen, zu gehen und zum Licht empor zu schauen, so ist kein Zweifel, daß ihm alles dieß anfangs sehr sauer werden müßte, und daß ihn das ungewohnte Licht blenden und unvermögend machen würde, die Dinge gewahr zu werden, deren Schatten er vorher gesehen hatte. Was meinst du nun daß er sagen würde, wenn ihn jemand versicherte, was er bisher gesehen habe, sey eitel Tand, und jetzt erst habe er wirkliche und dem Wahren näher kommende Gegenstände vor den Augen; und wenn man ihm dann eines der vorübergehenden nach dem andern mit dem Finger zeigte und ihn zu sagen nöthigte was es sey, würde er nicht verlegen seyn, und die zuvor gesehenen Schatten für wahrer halten als was ihm itzt gezeigt wird?Glauk. Ganz gewiß. Sokr. Und wenn man ihn zwänge in das Feuer selbst hinein zu sehen, würde er nicht, weil ihm die Augen davon schmerzten, das Gesicht sogleich wegwenden und auf die Schatten zurückdrehen, die er ohne Beschwerde anschauen kann, und die er eben deßwegen für reeller halten würde, weil er sie deutlicher sähe als die im Licht erblickten Gegenstände? Glauk. Nicht anders. Sokr. Wenn man ihn nun vollends mit Gewalt und über Stock und Stein aus seiner Höhle heraus an das Sonnenlicht hervor zöge, würde er nicht während der Operation gewaltig wehklagen und ungehalten seyn, und so wie er an die Sonne selbst gekommen [159] wäre, vor lauter Glanz von allem, was wir andern wirkliche Dinge nennen, nichts sehen können? Glauk. So plötzlich gewiß nichts. Sokr. Es wird also, wenn ein solcher Mensch die Dinge hier oben sehen soll, Zeit erfordert werden, bis er sich allmählich daran gewöhnt. Was seine Augen anfangs am leichtesten ertragen, werden die bloßen Schatten seyn; hernach die Bilder von Menschen und andern Dingen im Wasser, zuletzt diese Dinge selbst. Aber was am Himmel zu sehen ist, und den Himmel selbst, wird er lieber Nachts bei Mondenschein und Sternenlicht, als bei hellem Tag im Sonnenglanze sehen wollen. Glauk. Daran ist kein Zweifel. Sokrat. Nach und nach aber wird er es doch endlich so weit bringen, daß er auch die Sonne, nicht bloß ihr Bild im Wasser oder ihren Widerschein in andern Körpern, sondern sie selbst, wie sie ist, und an der Stelle, wo sie sich befindet, anzublicken im Stande seyn wird. Glauk. Das ist nicht anders möglich. Sokr. Und nun wird er auch durch Ueberlegung und Vernunftschlüsse herausbringen, daß es die Sonne sey, welche das Jahr und die Wechselzeiten desselben ordnet, über allem in der sichtbaren Welt waltet und gewissermaßen die Ursache alles dessen ist, was sie zuvor sahen? Glauk. Offenbar muß er von diesem auf jenes geleitet werden. Sokr. Und wenn er sich nun seines vorigen Aufenthalts, und des Begriffs, den man sich dort von der Weisheit macht, und seiner armen Mitgefangenen erinnert, wird er nicht sich selbst der mit ihm vorgegangenen Veränderung wegen glücklich preisen, und die letztern hingegen bemitleiden? Glauk. O gar sehr! Sokr. Und wofern, bei diesen, Lobsprüche, Ehrenstellen und [160] Belohnungen für denjenigen stattfanden, der die vorbeigleitenden Schatten am deutlichsten sah, sich der Ordnung, in welcher sie aufeinander gefolgt oder neben einander erschienen waren, am genauesten erinnerte, und wie es künftig damit seyn würde am besten vorhersagen konnte: meinst du jener würde diese Vortheile vermissen, oder diejenigen beneiden, die bei ihnen geehrt werden und die Oberhand haben, oder er würde nicht lieber (wie Homer den Schatten des Achilles sagen läßt) einem »armen Söldner das Feld als Tagelöhner bestellen,« und lieber alles erdulden als in seinen vorigen Zustand zurückkehren?Glauk. Er würde, denke ich, sich eher alles andere gefallen lassen, als wieder dort zu leben. Sokr. Gesetzt aber, er müßte wieder in die Höhle herabsteigen und seinen alten Platz wieder einnehmen, würde es ihm, wenn er so auf einmal aus der Sonne ins Dunkle käme, nicht zu Muthe seyn, als ob er in die dickste Finsterniß versetzt worden sey? Glauk. Nichts gewisser! Sokr. Und wenn er dann, bevor er den Gebrauch seiner Augen wieder erlangt hätte (wozu einige Zeit erforderlich seyn würde) von den besagten Schatten wieder Kenntniß nehmen und sich mit den andern Gefesselten darüber streiten müßte, würde er ihnen nicht lächerlich scheinen? würden sie nicht sagen, er wäre durch sein Hinaufsteigen in die obere Gegend um sein Gesicht gekommen; und es sey nicht zulässig, daß man auch nur versuche hinaufzukommen, und wofern sich jemand unterfinge einen von ihnen zu entfesseln und hinauf zu führen, müßte man ihn greifen und mit dem Tode bestrafen? – Glauk. Unfehlbar; mit nichts Geringeren als dem Tode.Sokr. Machen wir nun, [161] lieber Glaukon, die Anwendung von diesem ganzen Bilde auf das, was wir vor hin gesagt haben. Die unterirdische Höhle bedeutet diese sichtbare Welt; das Feuer, wovon sie beleuchtet wird, die Sonne; das Aufsteigen in die obere Gegend und was dort gesehen wird, die Erhebung der Seele in die intelligible Welt. Wenigstens ist dieß meine Vorstellungsart, weil du sie doch zu hören verlangt hast. Ob sie aber die wahre ist, mag Gott wissen! Genug, mir meines Orts kommt die Sache so vor, wie ich dir sage. Das Höchste in der intelligibeln Welt ist die Idee des Guten, zu deren Anschauen schwer zu gelangen ist. Wer aber dazu gelangt ist, kann nicht anders als den Schluß machen, daß sie die Grundursache alles dessen sey was recht, schön und gut ist, indem sie in dieser sichtbaren Welt das Licht und den Beherrscher desselben hervor gebracht, in der geistigen hingegen, deren unmittelbare Beherrscherin sie ist, die Wahrheit und den reinen Verstand erzeugt; und daß es also schlechterdings nöthig ist sie zu kennen, um in irgend einem öffentlichen oder besondern Wirkungskreise recht zu handeln. Glauk. Ich denke hierüber wie du, so viel mir immer möglich ist. Sokr. So stimme mir denn auch darin bei, daß es kein Wunder ist, wenn diejenigen, die von dannen herabkommen, keine Lust haben, sich mit den menschlichen Dingen abzugeben, sondern von ganzem Gemüth dahin trachten, sich in jener erhabenen Region immer aufzuhalten. Denn es kann, unserm vorigen Bilde gemäß, nicht anders seyn. Glauk. Das folgt ganz natürlich. –

Hieran mag es genug seyn, lieber Eurybates; und nun [162] erwartest du vermuthlich meine Meinung von diesem allem? Aber was kann ich dir darüber sagen? Es ist schwer in solchen Dingen überall eine Meinung zu haben. Das Gewisseste, was ich davon sagen kann, ist, daß meine Vorstellungsart so verschieden von der Platonischen ist, als die Grundsätze, von denen wir ausgehen. Wer von uns Recht hat, mag Gott wissen, möchte ich beinahe mit seinem Sokrates sagen. Und doch dünkt mich, wenn ich alles mit ganz nüchternem Muth überlege, der allgemeine Menschenverstand, oder der allen Menschen einwohnende Sinn für das, was uns Wahrheit ist, spreche ziemlich entschieden für meine Grundsätze. Aber Plato denkt von den seinigen noch vornehmer; denn sie scheinen ihm so gewiß zu seyn, als daß Eins = Eins ist; wofern wir also nicht etwa den Delphischen Gott zum Schiedsrichter nehmen wollen, wer soll zwischen uns Richter seyn?

Uebrigens scheint Plato die Schwierigkeiten, die sein dichterisches Lehrgebäude drücken, sehr gut zu kennen. Daher die Vorsicht, jede seiner unerweislichen Voraussetzungen durch andere eben so luftige zu unterstützen; wie ein Dichter, um ein erstes Wunderding glaublich zu machen, immer ein zweites und drittes in Bereitschaft haben muß. Wir wollen, zum Beispiel, in Betreff der vorliegenden Allegorie so höflich seyn als sein guter Bruder Glaukon, und über alle die ungereimten Voraussetzungen, ohne welche sie nicht bestehen kann, hinaus gehen; aber das wird uns doch zu fragen erlaubt seyn müssen: was die armen Gefangenen verbrochen haben, daß sie an Hals und Füßen gefesselt ihr Leben in dem häßlichen unterirdischen Kerker damit zubringen [163] müssen, unverwandt vor sich hin zu gucken, und, weil sie nichts als Schatten zu sehen bekommen, sie gezwungner Weise für reelle Dinge anzusehen? – Du erinnerst dich vielleicht, daß er die Antwort auf diese Frage schon lange in seinem Phädrus bereit hält. Allerdings, sagt er, haben sie durch ein sehr schweres Verbrechen eine so harte Buße verdient. – Aber zum Unglück finden wir uns, wenn wir ihm auch diese Ausrede, als auf eine ihm besser als uns bekannte Thatsache gegründet, gelten lassen wollen, genöthigt abermals zu fragen: wie die Idee des Guten (die er zur Grundursache alles Wahren, Rechten und Schönen macht) recht und wohl daran thue, diese Verbrecher mit einer Strafe zu belegen, wodurch ihnen ein fortdauernder Zustand von Unwissenheit und Irrthum unvermeidlich und alles Aufstreben ins Reich der Wahrheit unmöglich gemacht wird? Ich sehe nicht was er antworten kann, um seine Idee des Guten von dem Vorwurf zu retten, daß sie, gleich den Göttern unsrer Dichter, kein Bedenken trage, diejenigen, die sich gegen sie vergangen haben, aus Rache in unfreiwillige Irrthümer und Verbrechen zu verwickeln, bloß um einen neuen Vorwand zu erhalten, mit den armen Unglücklichen noch grausamer verfahren zu können.

Diesen und einer Menge anderer Klippen und Untiefen, zwischen welchen die Platonische Philosophie, unter beständiger Gefahr zu scheitern oder auf dem Sande sitzen zu bleiben, sich durcharbeiten muß, entgehen wir andern ächten Sokratiker freilich durch den großen Grundsatz unsers Meisters: bloß über die menschlichen Dinge menschlich zu philosophiren,[164] und die göttlichen, als über unsern Verstand gehend, unbesorgt den Göttern zu überlassen: aber wir bekennen uns dadurch auch zu einer Unwissenheit, die uns mit den ungelehrtesten Idioten in Eine Reihe stellen würde, wenn wir nicht wenigstens dieß voraus hätten, daß wir die Ursachen kennen, warum diese Unwissenheit unvermeidlich ist. Demungeachtet läugne ich nicht, daß der Hang alles, was um, über und unter uns ist, ergründen zu wollen, – wiewohl er sich nur bei wenigen außerordentlichen Menschen in seiner ganzen Stärke zeigt – dennoch eines der Merkmale zu seyn scheint, wodurch sich der gebildete und seiner Vernunft mächtig gewordene Mensch von dem bloßen Thiermenschen unterscheidet. Er gehört zu dem ewigen Streben ins Unbegränzte, welches das große Triebrad der unbestimmbaren Vervollkommnung ist, deren höchstem Punkte das Menschengeschlecht sich in einer Art von unermeßlicher Spirallinie langsam und unvermerkt anzunähern scheint. Werden wir jemals dieses Ziel erreichen? Oder bewegen wir uns (wie der Aegyptische Hermes gesagt haben soll) in einem Cirkel, dessen Mittelpunkt überall und dessen Umkreis nirgends ist? Und ist vielleicht gerade dieß die einzige Möglichkeit, wie wir uns immer bewegen, d.i. nie zu seyn aufhören können? – Auch die Natur, Freund Eurybates, hat in ihren großen Mysterien unaussprechliche Worte, die wir entweder nie erfahren werden, oder welche der, dem sie sich enthüllte, nicht verrathen könnte, weil es ihm an Worten fehlen würde sich andern verständlich zu machen? Befände sich jemals ein Sterblicher in diesem glücklichen Falle, würde [165] er nicht, wenn er von dem, was unaussprechlich ist, sprechen wollte, genöthigt seyn, seine Zuflucht, wie Plato, zu Bildern und Allegorien zu nehmen? Und da er doch sicher darauf rechnen könnte, mit seinen Offenbarungen von niemand verstanden, und nur von sehr Wenigen vielleicht, gleich fernen das Ohr kaum noch leise berührenden Tönen, mehr geahnet als gehört zu werden, thät' er nicht eben so wohl, wenn er gar nicht davon spräche? – Aber was hätte da der göttliche Plato zu thun gehabt? – Ich beantworte also jene Frage mit Nein; aber nun auch keine Sylbe weiter!

8. Fortsetzung und Beschluß des Vorigen
8.
Fortsetzung und Beschluß des Vorigen.

Meinem Versprechen zufolge werde ich die vier Bücher, die noch vor uns liegen, wie reich und schwer an Inhalt sie auch sind, und wie viel gegen Manches zu erinnern wäre, wenn es scharf gesichtet werden sollte, so schnell als möglich durchlaufen, und (wenn anders die Versuchung nicht hier oder da gar zu stark werden sollte) nicht mehr davon sagen, als zur Uebersicht des Ganzen nöthig ist.

Die Behauptung, »daß die beste (der Vollkommenheit am nächsten kommende) Republik nur unter der einzigen Bedingung, wenn sie ächte Philosophen zu Regenten habe, realisirt werden könne,« hatte den Platonischen Sokrates [166] auf die verschiedenen Untersuchungen und Erläuterungen geführt, die den Inhalt des sechsten Buchs ausmachen. Die allegorische Dichtung zu Anfang des siebenten sollte das, was er über ächte und unächte Philosophie, über Irrthum, Wahrheit und Meinung (die zwischen beiden liegt) vorgebracht hatte, durch ein passendes Phantasiebild begreiflicher machen. Das Resultat davon ist: daß nur der, dessen Geist aus der Sinnenwelt (die uns andern gemeinen Menschen die wirkliche scheint) in die Welt der Ideen empor gestiegen, und durch diese sich endlich bis zum unmittelbaren Anschauen der Idee des Guten erhoben hat, den Namen eines Philosophen verdiene. Da nun unsre Republik lauter solche Philosophen zu Vorstehern haben soll, so fragt sich: durch was für eine Erziehung diese letztern zu ihrer Bestimmung zubereitet, auf welchen Stufen sie zu ihr empor geführt, und welchen Prüfungen sie unterworfen werden sollen, bevor sie für fähig und würdig zu erkennen sind, in unsrer Republik das zu seyn, was die Vernunft in dem Mikrokosmos der menschlichen Seele und die Idee des Guten im Weltall ist? Diese Aufgaben beschäftigen unsern Philosophen durch das ganze siebente Buch, und geben ihm, indem er von den Wissenschaften spricht, wodurch seine künftigen Archonten sich den Eingang in die übersinnliche Ideenwelt eröffnen sollen, Gelegenheit, manches Brauchbare zu sagen, aber auch manches, das mir und vermuthlich seinen meisten Lesern ziemlich unverständlich ist, und uns den Argwohn abnöthigt, daß er uns entweder absichtlich tantalisiren 27, oder eine Unwissenheit, die er mit uns und allen andern Sterblichen gemein hat, hinter die [167] vielversprechende geheimnißvolle Miene, womit er uns – nichts offenbart, verstecken wolle. Die Wissenschaften, welche seine künftigen Archonten mit besonderm Eifer treiben sollen, sind die Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Aber daß du dir ja nicht einbildest, der Platonische Sokrates denke über diese Wissenschaften wie der Sohn des Sophroniskus, der seinen jungen Freunden zu rathen pflegte, sich nicht tiefer in sie einzulassen, als zu ihrem Gebrauch im Rechnen, Feldmessen, in der Schifffahrt, und zum Singen, Citherspielen und Tanzen nöthig ist! Gerade das Widerspiel; er spricht von dem praktischen Theil derselben mit einer Art von Verachtung, und empfiehlt sie seinen Zöglingen nur, insofern sie die Seele durch Betrachtung des Uebersinnlichen reinigen und zum Anschauen des Wesens der Dinge und der Idee des Guten tüchtiger machen. In dieser Rücksicht räumt er der Dialektik 28 (die ihm etwas ganz anders ist als was gewöhnlich unter diesem Namen verstanden wird) die oberste Stelle unter allen (in Vergleichung mit ihr nur uneigentlich so genannten) Wissenschaften ein, weil sie sich (wenn ich ihn anders recht verstehe) zu den übrigen verhält, wie in seinem vorigen Gleichnißbilde von den Gefesselten in der unterirdischen Höhle das Anschauen der Sonne selbst zum Anschauen des Feuers, welches den Gefesselten die Schatten der zwischen ihnen und dem Feuer vorübergetragenen Dinge sichtbar macht; daher denn auch niemand als der wahre Dialektiker im Stande ist, die übrigen Wissenschaften so zu veredeln, daß sie zu Stufen werden, worauf die Seele, nachdem sie sich von allem was ästhetisch ist losgewunden 29 hat, »vermittelst [168] eines Organs, das mehr als zehntausend körperliche Augen werth ist,« zur unmittelbaren Anschauung des Auto-Agathon, als dem höchsten Endpunkt alles Reindenkbaren, sich erheben kann. Mehr verlange nicht, daß ich dir von diesen übersinnlichen Geheimnissen sagen soll; denn ich gestehe dir unverhohlen, daß mein Geistesauge (mit Plato zu reden) noch zu sehr mit barbarischem Schlamm (borborô barbarikô) überzogen ist, um von dem unendlich subtilen dialektischen Licht, womit dieses siebente Buch erfüllt ist, nicht geblendet zu werden. Beinahe möchte man den wackern Glaukon beneiden, der, wie es scheint, als ein ächter junger Adler mit heilen Augen in diese Sonne schauen kann, und dem alles, was er bloß hört, auf der Stelle so klar einleuchtet, als ob er es aus Platons eigenen Augen sähe.

Ernsthaft von der Sache zu reden, Eurybates, glaube ich, trotz der Blödigkeit meines Gesichts für unsichtbare Dinge, ziemlich klar zu sehen, daß es nur auf den guten Willen unsers Mystagogen angekommen wäre, die erhabenen Lehren, die er uns, bald in die seltsamsten Bilder verschleiert, bald in einer nur ihm und seinen Eingeweihten verständlichen Sprache, als eine Art von Räthsel zu errathen gibt, in der Sprache der Menschen deutlich genug vorzutragen, daß jeder nicht gänzlich im Denken ungeübte Leser sie ohne große Anstrengung hätte verstehen und beurtheilen können. Aber vielleicht würden sie dann auch nicht wenig von dem hohen Werth, den er ihnen beilegt, verloren haben, und es wäre beim ersten Blick in die Augen gefallen, daß wir durch die Verwandlung bloßer ausgeweideter Gedankenformen in das [169] was er Ideen nennt, und sogar durch das Aufschauen zu seinem Auto-Agathon, – in welches unser geistiges Auge, eben so wenig als unser leibliches in die Sonne, länger als einen Augenblick (und auch da nicht ohne zu erblinden) schauen könnte, – bei weiten nicht so viel gewinnen als er uns zu versprechen scheint. Denn es hat (menschlicherweise von der Sache zu reden) mit diesem Auto-Agathon, diesem König der unsichtbaren Welt, diesem ersten unergründlichen Grund alles dessen was wahrhaftig ist, so ziemlich eben dieselbe Bewandtniß wie mit der Sonne, dem Herrscher in der sichtbaren. Was wir von beiden wissen, ist sehr wenig, und wir reichen nicht weit damit, wenn es darum zu thun ist, uns eine reelle, d.i. im praktischen Leben brauchbare und hinreichende Kenntniß der Menschen und der Dinge um uns her anzuschaffen, deren wir gleichwohl am meisten bedürfen, da von den Verhältnissen dieser Menschen und dieser Dinge zu uns, und von der Art, wie wir diese gebrauchen und uns gegen jene benehmen, unser Wohl oder Weh abhängt. Ob die Welt um uns her aus reellen Dingen oder bloßen Erscheinungen bestehe, wenn es für gesunde Menschen auch eine Frage seyn könnte, wäre doch eine unnütze Frage, weil wir uns, um nicht wie Thoren zu handeln, immer so benehmen müssen, als ob alles, was gesunden und vernünftigen Menschen reell scheint, es auch wirklich sey. Sich mit Gewalt in eine unsichtbare Ideenwelt hinein zu träumen oder hinein zu abstrahiren, ist schwerlich der rechte Weg, die Sinnenwelt, die nun einmal unser Wirkungskreis ist, kennen zu lernen; aber wohl das unfehlbarste Mittel, eine jede andere als die Rolle [170] eines schwärmerischen Mystosophen ziemlich schlecht in ihr zu spielen. Was würde man von einem zum Maler oder Bildner bestimmten Menschen sagen, der, wenn er in eine Galerie von Bildsäulen und Gemälden der besten Meister geführt würde, diese Kunstwerke, weil sie doch nichts als leblose und unvollkommene Nachbildungen wirklicher Menschen, Götter und Göttersöhne seyen, mit Verachtung anekeln und sich noch groß damit machen wollte, daß er nur die Urbilder seines Anblicks würdig halte? – Doch dieß im Vorbeigehen; denn eine scharfe Untersuchung dessen, worauf es in dem Streit zwischen dem göttlichen Plato und dem gesunden Sokratischen Menschenverstand ankommt, würde mich viel weiter führen als ich mir in diesen Briefen zu gehen vorgesetzt habe, und es kann, dünkt mich, an den Winken genug seyn, die ich hierüber hier und da bereits gegeben habe.


Nachdem unser Platonischer Sokrates das Kapitel von der Erziehung und Vorbereitung, und den darauf folgenden Beschäftigungen und Prüfungen, wodurch die zur Regierung seiner Republik bestimmten Personen beiderlei Geschlechts zu dem erforderten hohen Grad von Weisheit und Tugend gebildet werden sollen, im siebenten Buche zu Ende gebracht hat, beginnt er das achte mit einer summarischen Wiederholung der Resultate alles dessen, was vom fünften an bisher zwischen ihm und den beiden Brüdern abgehandelt worden, und nimmt, mit Glaukons unbedingter Beistimmung, als [171] etwas Ausgemachtes an: daß in einer vollkommen wohleingerichteten Republik erstens Weiber, Kinder, Erziehung und Ausbildung zu allen in Krieg und Frieden nöthigen Eigenschaften, in den beiden obern Ständen gemeinschaftlich seyn müssen; zweitens, der zur Vertheidigung bestimmte Stand kein Eigenthum besitzen dürfe, und drittens aus demselben nur die vollendetsten und bewährtesten Philosophen und Kriegsmänner zu Regenten oder Königen (wie er sie nennt) erwählt werden sollen. Beide erinnern sich nun des Orts, von wo aus Sokrates durch Adimanths und Polemarchs Zudringlichkeit in diesen Labyrinth von großen und kleinen Digressionen, Absprüngen und Widergängen verleitet worden; und da beide gleich geneigt sind, der eine zu reden, der andere zuzuhören: so wird nun der im Eingang des fünften Buchs angefangene, aber sogleich unterbrochne Discurs über die verschiedenen Staatsformen wieder aufgenommen, und gezeigt, wie einer jeden dieser Verfassungen (welche unser Philosoph auf fünf, nämlich eine gesunde und vier mehr oder weniger verdorbene, zurückführt) eine ähnliche Verfassung im Innern des Menschen entspreche. Die einzige gesunde Staatsverfassung ist ihm die Aristokratie, d.i. die Regierung der Besten, oder (was bei ihm einerlei ist) der Philosophen. Ob sie monarchisch oder polyarchisch sey, gilt gleichviel, wenn nur die Philosophie regiert, und alles nach dem Modell seiner bisher beschriebenen Republik eingerichtet ist. Unglücklicherweise (sagt er) ist auch diese vollkommenste Verfassung, wie alle Dinge unter dem Mond, der Verderbniß unterworfen; sie kann und muß nach und nach krank werden, und sobald dieser Fall eintritt, artet [172] sie in die erste der ungesunden Verfassungen, in die Timokratie oder Herrschaft der Ehrgeizigen aus, so wie diese, wenn sie den höchsten Grad ihrer Verderbniß erreicht hat, sich in die Oligarchie, und diese, aus der nämlichen Ursache, sich in die Demokratie verwandelt; welche, durch eine eben so natürliche Folge, endlich in der verdorbensten und verderblichsten aller Staatsformen, der Tyrannie, ihren Untergang findet. Wie es mit diesen Verwandlungen zugehe, den Charakter und so zu sagen die Krankheitsgeschichte dieser vier Perioden einer ursprünglich kerngesunden, aber nach und nach ausartenden und kachektisch werdenden Republik, und eine genetische Schilderung der Gemüthsverfassung und Sitten eines jeder von den vier verdorbenen Regierungsarten entsprechenden einzelnen Menschen, alles dieß wird im achten und neunten Buch, aus dem Gesichtspunkt, worauf uns Plato gestellt hat, auf eine sehr einleuchtende Art mit vieler Wahrheit und Zierlichkeit vorgetragen. Man erkennt in der Schilderung der Timokratie das heutige Sparta auf den ersten Blick; auch Korinth, Argos, Theben und andere ihresgleichen, werden sich in seiner Oligarchie nur zu gut getroffen finden; aber die Darstellung und Würdigung der Demokratie, wozu er an seiner eigenen Vaterstadt das trefflichste Modell vor Augen hatte, geht über alles. Sie ist ein Meisterstück Sokratisch-Attischer Feinheit und Ironie; zwar etwas scharf gesalzen und reichlich mit Silphion gewürzt, aber wenn den Athenern noch zu helfen wäre, so müßte diese Arznei wirken: oder, richtiger zu reden, wenn sie (wie Plato selbst schwerlich anders erwartet) ungefähr eben so viel wirkt als die Ritter, die Vögel [173] und die Wespen des Aristophanes, d.i. nichts, so ist den Athenern schwerlich zu helfen. Gleichwohl sollt' es mich wundern, wenn diese Satyre auf die Demokratie nicht gerade das wäre, was ihnen in diesem ganzen Dialog am meisten Vergnügen macht.

Ich für meine Person wurde auf eine angenehme Weise überrascht, da ich den Sokrates in diesem achten Buch sich selbst unverhofft wieder so ähnlich fand, daß ich ihn zu hören geglaubt haben würde, hätte nicht Plato recht geflissentlich dafür gesorgt, uns gleich zu Anfang durch ein unfehlbares Mittel gegen diese Täuschung zu verwahren. Er bewirkt dieß durch eine Probe seiner Geschicklichkeit in der dialektischen Arithmetik, oder arithmetischen Dialektik, die so hoch über allen Menschenverstand geht, oder, um das Ding mit seinem rechten Namen zu nennen, so rein unsinniger Unsinn ist, daß man die Stelle zwei oder dreimal lesen muß, ehe man seinen Augen glauben kann, daß sie wirklich dastehe. Sie befindet sich zu Anfang des achten Buchs, wo die Rede von der Möglichkeit ist, daß sogar die beste und vollkommenste Republik nach und nach ausarte und sich in eine Timokratie verwandle. Diese Aufgabe, deren Auflösung für einen Mann von unverschrobenem Kopf wenig Schwierigkeit hat, scheint ihm so schwer zu seyn, daß er den Glaukon fragt, ob sie nicht nach Homerischer Weise die Musen anrufen wollten, ihnen zu sagen, wie es zugehen müßte, wenn sich in einer so wohl geordneten Republik ein Aufstand sollte ereignen können. Wahr ist's, er setzt sogleich hinzu: »wollen wir sie nicht bitten, sich einen kleinen Spaß mit uns zu machen, wie wenn man kleinen [174] Knaben spielend läppisches Zeug in einem tragischen Ton und hochtrabenden Worten als etwas gar Ernsthaftes und Wichtiges vordeclamirt?« – und heißt das nicht sich deutlich genug erklären, daß er selbst die hierauf folgende Auflösung des Problems für nichts Besser's als Kinderpossen gebe? Aber wir kennen diese Art ironischer Neckerei an ihm, und er soll uns nicht glauben machen, daß ein so gravitätischer Mann wie er, auf eine so unanständige und zwecklose Art den Narren habe mit uns treiben wollen, indem er uns auf eine sehr ernsthafte Frage die rechte Antwort zu geben Miene macht. Ganz gewiß hat er also mit dem arithmetisch geometrischen Unsinn 30, den er den Musen in den Mund legt, mit diesem unerrathbaren Räthsel einer durch die verworrensten und unverständlichsten Bezeichnungen angedeuteten oder vielmehr nicht angedeuteten geometrischen Zahl – durch deren Einfluß Kinder von schlechterer Art so nothwendig gezeugt werden müssen, daß, »wofern die Vorsteher unserer Republik aus Unwissenheit dieser unglücklichen Zahl sowohl als der ihr entgegengesetzten vollkommenen, welche den Zeitpunkt des göttlichen Erzeugnisses bezeichnen soll, den rechten Augenblick, ihre Bräute und Bräutigame zusammen zu lassen, verfehlen, es unmöglich ist, daß die Republik eine an Leib und Seele wohlbeschaffene, glücklich organisirte Nachkommenschaft erhalten könnte;« – ganz gewiß, sage ich, hat Plato mit diesem aller menschlichen Vernunft spottenden Räthsel etwas sagen wollen; wär' es auch nur, daß er seine gutmüthigen Leser zu glauben nöthigt, er selbst besitze den Schlüssel zu diesem Geheimniß, ohne welches seine Republik, trotz aller vorhergegangenen [175] Beweise ihrer Möglichkeit, nimmermehr zu Stande kommen kann, wofern er sich nicht erbitten läßt, den künftigen Vorstehern das Verständniß hierüber zu öffnen. Denn nach seiner ausdrücklichen Versicherung ist das Geheimniß dieser Zahlen so beschaffen, daß die Vorsteher, »wie weise sie auch seyn möchten, es weder auf ästhetischem Wege (durch Sinne, Einbildung und Divination) noch durch Vernunftschlüsse herausbringen könnten;« so daß es also ein bloßes glückliches Ungefähr wäre, wenn sie jemals den rechten Moment zur Zeugung ihrer Staatsbürger treffen würden. Auf alle Fälle hat unser Philosoph sich durch diese neue Probe seiner übermenschlichen Kenntnisse in ein sehr beschwerliches Dilemma verstrickt. Denn entweder sind ihm jene mystischen Zahlen bekannt oder nicht. Sind sie ihm nicht bekannt, wie ist es möglich, daß er, um einfältigen Lesern weiß zu machen, er kenne sie, lieber baren Unsinn vorbringen als seine Unwissenheit gestehen will? Kennt er sie aber, was in aller Welt konnte ihn bewegen sie in ein Räthsel, und dieses Räthsel in Worte und Sätze einzuwickeln, von welchen er selbst gewiß seyn muß, daß sie dem gelehrtesten und scharfsinnigsten seiner Leser eben so unverständlich sind als dem unwissendsten und blödsinnigsten? Und da nun einmal (wie er sagt) außer seiner Republik kein Heil ist, diese aber, so lange seine beiden Zeugungszahlen ein Geheimniß bleiben, niemals, wenn sie auch zu Stande käme, in die Länge bestehen könnte: war es nicht seine Schuldigkeit, sie auf eine wenigstens den Gelehrten verständliche Art der Welt mitzutheilen? Ist er nicht dem menschlichen Geschlecht auch ohne Rücksicht auf seine idealische [176] Republik eine so wohlthätige Entdeckung schlechterdings schuldig? Was sollen wir von dem Manne denken, der ein unfehlbares Mittel, die ganze menschliche Gattung zu veredeln, besitzt, und wiewohl er selbst keinen Gebrauch davon machen will oder kann, es nicht nur für sich allein behält, sondern sogar ein leichtfertiges Vergnügen daran zu finden scheint, es den Leuten mit einem dicken Tuch siebenfach bedeckt vorzuzeigen, und sobald er sie recht gelüstig darnach sieht, ihnen den Rücken zu weisen und lachend davon zu gehen? Ich zweifle sehr, ob Aristophanes selbst, wenn er unsern Mystosophen zum Helden eines Seitenstücks der Wolken hätte machen wollen, es gewagt hätte, ihm eine so erbärmliche Rolle anzudichten, als er hier, in einer unbegreiflichen Eklipse seiner Vernunft, mit augenscheinlichem Wohlgefallen an sich selbst von freien Stücken spielt.


Es gibt vielleicht kein auffallenderes Beispiel, wie nachtheilig es ist in mehrern und entgegen gesetzten Fächern zugleich glänzen zu wollen, und wie wohl Plato daran thut, die Künstler und Handarbeiter in seiner Republik durch ein Grundgesetz auf eine einzige Profession einzuschränken, – als sein eigenes. Glücklich wär' es für ihn gewesen, wenn die Athener ein Gesetz hätten, vermöge dessen ihren Bürgern bei schwerer Strafe verboten wäre, in eben demselben Werke den strengen Dialektiker, den Dichter, und den Schönredner zugleich, zu machen. Vermuthlich würde Plato jedes von diesen dreien [177] in einem hohen Grade gewesen seyn, wenn er sich auf Eines allein hätte beschränken wollen: aber da er diesen dreifachen Charakter in sich vereinigen will, und dadurch alle Redner, Dichter und Dialektiker vor und neben ihm auszulöschen glaubt, kann er neben keinem bestehen, der in einem dieser Fächer ein vorzüglicher Meister ist; denn er ist immer nur halb was er seyn möchte. Wo er scharf räsonniren sollte, macht er den Dichter; will er dichten, so pfuscht ihm der grübelnde Sophist in die Arbeit. Hat er uns einen strengen Beweis oder eine genau bestimmte Erklärung erwarten lassen, so werden wir mit einer Analogie oder mit einem Mährchen abgefertigt; und was oft mit wenigem am besten gesagt wäre, webt er mit der unbarmherzigsten Redseligkeit in klafterlange, aus einer einzigen Metapher gesponnene Allegorien aus. Statt der Antwort auf eine Frage, zu welcher er uns selbst genöthigt hat, gibt er uns ein Räthsel aufzurathen; und wo das zweckmäßigste wäre, geradezu auf die Sache loszugehen, führt er uns, für die lange Weile, in mühsamen Schlangenlinien, Berg auf Berg ab, durch Dick und Dünn, oft so weit vom Ziele, daß er selbst nicht mehr weiß wo er ist, und uns eine gute Strecke lang wieder zurückführen muß, um die Straße, die er ohne Noth verlassen hat, wieder zu finden. Das letztere begegnet ihm so oft, daß dieser Dialog, dessen ungeheure Länge die Geduld des mäßigsten und leselustigsten Lesers endlich mürbe macht, wenigstens um den vierten Theil kürzer wäre, wenn er das bereits Gesagte nicht so oft wiederholen müßte, um wieder in den Zusammenhang zu kommen. Dieß ist auch zu Anfang des neunten Buchs der Fall, worin er das [178] Ideal des vollständigsten Bösewichts, dem er (gegen den Sprachgebrauch) den Namen Tyrann beilegt, mit seiner gewöhnlichen rhetorischen Ausführlichkeit vor unsern Augen entstehen läßt; erst als bloßen Privatmann, wie er sich in der Demokratie durch den Zusammenfluß aller möglichen befördernden Umstände zum künftigen Tyrannen bildet; sodann als wirklichen Beherrscher des Staats, von welchem er sich durch die schändlichsten Mittel zum unbeschränkten Gebieter und Eigenthumsherrn gemacht hat. Da es in diesem Buch bloß darum zu thun ist, die Lehre des Thrasymachus, welche zu dieser ganzen Unterhaltung Anlaß gegeben, bis zum Widerspruch mit sich selbst zu treiben und also in ihrer ganzen Ungereimtheit darzustellen, und dieses nicht auffallender als durch den Contrast zwischen dem Ideal eines Tyrannen mit dem Ideal eines philosophischen Königs, und zwischen dem Glück eines von diesem mit idealischer Weisheit regierten – und dem Elend eines von jenem ohne Maß und Ziel mißhandelten Staats, geschehen konnte: so wollen wir unsern philosophirenden Dichter nicht darüber anfechten, daß sogar unter den berüchtigten Dreißigen, welche in Platons früher Jugend etliche Monate lang zu Athen tyrannisirten, kein solches Ungeheuer war, wie sein idealischer Tyrann ist; und daß er also von den sogenannten Tyrannen überhaupt und von dem jammervollen Zustand der von ihnen unterjochten Staaten manches behauptet, was sich in der wirklichen Welt ganz anders befindet. Wir würden damit nichts gegen ihn beweisen; denn es ist ihm hier nicht um Thatsachen, sondern um einen vollständigen Charakter der Gattung zu thun, und es muß ihm eben so gut erlaubt seyn, [179] zum Behuf seines Zwecks, alle Laster und Abscheulichkeiten, die seit dem Thracischen Diome des 31 und dem Aegyptischen Busiris bis auf den heutigen Tag, von kleinen und großen Tyrannen begangen worden, in ein einziges phantastisches Subject zusammenzudrängen, als einem komischen Dichter erlaubt ist, die lächerlichsten Charakterzüge von hundert Geitzhälsen in einen einzigen zu verschmelzen. Freilich hätte es dieser mühsamen Auseinandersetzungen, und dieser langen Kette von Fragen und Antworten, Bildern, Gleichnissen und Inductionen nicht nöthig gehabt, um am Ende nichts mehr als eine so einleuchtende Wahrheit als diese, »vollkommene Ungerechtigkeit würde die Menschen äußerst elend, vollkommene Gerechtigkeit hingegen höchst glücklich machen,« zur Ausbeute davon zu tragen. Aber wir wollen auch so billig seyn, unsern Mann nach seinem Zwecke zu beurtheilen, der im Grunde doch wohl kein anderer war, als diesen Gegenstand als Dichter und Schönredner zu behandeln, und die Leser dadurch gewissermaßen zu dem neuen hitzigen Ausfall vorzubereiten, den er im zehnten Buch auf den guten alten Homer und überhaupt auf die nachahmenden und darstellenden Künste thut.

Auch hier holt er, wie gewöhnlich, weit aus, um den ehrlichen Glaukon durch eine Reihe von Analogismen und Paralogismen und eine einseitige schiefe Ansicht der Künste, die er aus einer wohlbestellten Republik verbannt wissen will, zu seiner Meinung zu verführen, ohne ihn wirklich überzeugt zu haben; was ihm bei einem jungen Menschen nicht schwer werden kann, der die Bescheidenheit so weit treibt, unverhohlen zu bekennen, »er werde sich in Sokrates Gegenwart [180] nie unterstehen seine eigene Meinung von etwas zu sagen.« – Lächerlich (dünkt mich) würde sich einer machen, der den kraftlosen Beweis ernsthaft bestreiten wollte, welchen Plato aus seiner Theorie von den Ideen gegen die besagten Künste führt. Ich für meinen Theil finde seine Distinction der dreierlei Bettstellen, der wahren wesentlichen d.i. der idealischen, deren Naturschöpfer (Phyturg) Gott ist – der einzelnen, die der Drechsler macht, und welche, da sie nicht die Urbettstelle selbst ist, eigentlich nur eine Art von Schattenbild derselben oder eine Quasi-Bettstelle vorstellt, und der gemalten, die, als eine bloße Nachahmung der gedrechselten, im Grunde gar keine Bettstelle, und also, Platonisch zu reden, gar nichts ist, – ich finde das alles sowohl, als die Anwendung, die er davon gegen die gesammten nachahmenden Künste macht, ungemein lustig zu lesen; und würde mich am Ende nur verwundern, wie eben derselbe Mann, der, so oft er sich vergißt und gleich andern natürlichen Menschen von menschlichen Dingen menschlich spricht, so verständig räsonnirt, sich auf einmal wieder in solchen Unsinn versteigen kann; es würde mich wundern, sag' ich, wenn ich nicht aus so vielen Beispielen wüßte, daß eine einzige Vorstellung, die sich zur Tyrannin aller andern in einem phantasiereichen Kopf aufgeworfen hat, sobald sie angeregt wird, die Wirkungen der Verrücktheit und des Wahnsinns hervorzubringen fähig ist. Wenn übrigens unsre Dichter, Maler, Schauspieler und wer sonst hierher gehört, anstatt aus der Fehde, die er ihnen in diesem Dialog mit so großem Gebraus ankündigt, Ernst zu machen, sich begnügen über ihn zu lachen, so werden sie alle Vernünftigen [181] auf ihrer Seite haben; denn das Unglück aus seiner Republik ausgeschlossen zu seyn, ist doch wohl der einzige Schade, der ihnen aus allem, was er ihnen Böses nachsagt, zuwachsen kann; und diese Republik hat für ihres gleichen so wenig Anziehendes, daß sich schwerlich auch nur ein Tischmacher in ganz Athen finden wird, welcher Lust haben könnte um das Bürgerrecht in derselben anzuhalten.

Alles in der Welt muß endlich ein Ende nehmen; und so erinnert sich auch unser Sokrates, dem der Gaumen vermuthlich trocken zu werden anfängt, daß die Rede in diesem Gespräch eigentlich nicht von Dichtern und nachahmenden Künstlern, sondern von dem wahren Charakter der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit habe seyn sollen, und von den Wirkungen, welche die eine und die andre in einer von ihr beherrschten Seele hervorbringt. Er lenkt also mit einer ziemlich raschen Wendung wieder in den Weg ein, aus dem er schon so oft ausgetreten ist; und sobald er sich und seine Zuhörer orientirt hat, zeigt sich's, daß ihm, nachdem er den Beweis,


»daß die Gerechtigkeit an und durch sich selbst das beste und edelste Besitzthum der an und in sich selbst betrachteten Seele sey, und daß man also, ohne alle Rücksicht auf Vortheil und Lohn, immer gerecht handeln müsse, man besitze den Ring des Gyges oder nicht,«


gegen die Behauptungen des von Glaukon und Adimanth unterstützten Thrasymachus, aufs vollständigste und bündigste geführt zu haben vermeint, nun nichts übrig sey, als der Gerechtigkeit selbst – Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, »ihr [182] alles, was er ihr zum Behuf jenes Beweises nehmen müssen, wiederzugeben, und sie wieder in den vollen Besitz aller Belohnungen einzusetzen, welche die Tugend einer Seele bei Göttern und Menschen im Leben und nach dem Tode verschaffe.«

Dieß ist es nun, womit er sich im Rest dieses letzten Buchs beschäftigt. Nachdem er nämlich die unendlichen Vortheile des Gerechten oder Tugendhaften vor dem Lasterhaften oder Ungerechten, selbst in bloßer Rücksicht auf die Belohnungen, welche jener, und die Strafen, welche dieser von Göttern und Menschen schon in diesem Leben zu gewarten habe, mit beständiger Rücksicht auf die gegentheiligen Behauptungen des Thrasymachus und seiner Gehülfen, kürzlich dargethan hat, und Glaukon von der Menge und Größe jener Vortheile des Gerechten überzeugt zu seyn versichert, fährt Sokrates fort: das alles sey doch nichts gegen das, was auf beide nach ihrem Tode warte, und es werde zur Vollständigkeit seiner Ueberzeugung nöthig seyn zu hören, was er ihm hiervon zu sagen bereit sey. Glaukon, der sich nach einer solchen Aeußerung auf wundervolle Dinge gefaßt macht, versichert, daß er, wie lang' es auch währen möchte, mit Vergnügen zuhören werde; und so folgt denn eine sehr umständliche Erzählung des Berichts, den ein gewisser Armenier Namens Er, als er am zwölften Tage nach seinem Tode, auf dem Scheiterhaufen worauf sein unversehrt gebliebener Leichnam verbrannt werden sollte, wieder ins Leben zurückgekehrt, von den erstaunlichen Dingen, die er in der andern Welt gesehen und gehört, öffentlich abgestattet habe. Da diese Erzählung, [183] über deren Quelle uns Plato in gänzlicher Unwissenheit läßt, keinen Auszug gestattet, und ich nicht zweifle, daß sie eines von den einzelnen Stücken dieses Dialogs ist, die du mit gebührender Aufmerksamkeit gelesen hast, so begnüge ich mich, bloß ein paar Anmerkungen beizufügen, welche nicht sowohl dem Mährchen selbst, als dem erhabenen Dichter, der uns damit beschenkt hat, gelten sollen.

Natürlicherweise können uns aus der andern Welt keine Nachrichten zugehen, als durch Personen, welche dort gewesen und wieder zurückgekommen sind. Die fabelhafte Geschichte nennt, meines Wissens, außer Theseus, Peirithous, Hercules und dem Homerischen Odysseus, welche lebendig in den Hades hinabgestiegen und wieder heraufgekommen, nur drei Todte – den zwischen Aphrodite und Persephone getheilten Adonis, die Alcestis, und den schönen Protesilaus – denen ins Leben zurückzukehren erlaubt worden, wiewohl dem letzten nur auf einen einzigen Tag. Plato dichtet also nichts Unerhörtes, indem er den Armenier Er aus der andern Welt zurückkommen läßt; aber da dieser Er von den Richtern, welche am Eingang den neuangekommenen Seelen ihr Urtheil sprechen, ausdrücklich deßwegen ins Leben zurückgeschickt wird, um uns andern Bewohnern der Oberwelt von den Belohnungen und Strafen, die uns nach dem Tode erwarten, zuverlässige Nachrichten zu geben; so erforderte, sollte man denken, ein so wichtiger Zweck, daß der Dichter einige Sorge dafür getragen hätte, daß wenigstens ein Anschein von Möglichkeit das Ungereimte der Sache unserm ersten Blick entzöge. Je unglaublicher eine Dichtung an sich selbst ist, desto nöthiger ist es, unsre Einbildungskraft dadurch [184] zu gewinnen, daß alle das Wunderding umgebenden Um stände in der natürlichen Ordnung der Dinge sind. Wir wollen uns gern gefallen lassen, daß Er aus der andern Welt zurückkommt, zumal wenn er uns recht viel Hörenswürdiges aus ihr zu erzählen hat: aber was wir uns nicht gefallen lassen können, ist, daß der Dichter nicht an die gänzliche Unmöglichkeit gedacht hat, daß der entseelte Leichnam eines an tödtlichen Wunden verstorbenen Menschen, nachdem er zehn Tage lang unter einem Haufen anderer bereits in Fäulniß gegangenen Leichen gelegen, unversehrt hervor gezogen werde, und am zwölften Tage bei Wiedervereinigung mit seiner Seele sich so frisch und gesund befinde, als ob ihm kein Haar gekrümmt worden wäre.

Wenn wir aber auch über das Unnatürliche dieser Umstände hinaus gehen, und mit der gränzenlosen Gefälligkeit, welche Plato immer bei seinen Zuhörern voraussetzt, annehmen wollen, daß eben diese (uns unbekannten) Richter, welche die Seele des Armeniers nach zwölf Tagen in ihren Leib zurückschicken können, es auch in ihrer Macht haben, einen tödtlich verwundeten und entseelten Leichnam durch ein unbegreifliches Wunderwerk zwölf Tage lang frisch und gesund zu erhalten – sollten wohl die Fieberträume, die uns der Armenier als Nachrichten aus der andern Welt erzählt, eines so großen Wunders würdig seyn? Ich habe wohl auch in meinem Leben Milesische Mährchen gehört, und unter unsern alten Götter- und Helden-Mythen ist mancher ammenhaft genug; aber ein so idealisch ungereimtes Phantasiegebilde wie dieses ist mir noch nicht vorgekommen. Man fordert mit Recht von einem Dichter, daß er auf jede Frage, warum er dieß und das an [185] seinem Werke gerade so und nicht anders gemacht, eine hinlängliche Antwort bereit habe. Ich möchte wohl wissen, was der Platonische Sokrates zu antworten hätte, wenn ihn Glaukon oder Thrasymachus in aller Demuth fragten: was ein gewisser dämonischer Ort für ein Ort sey? Nach welcher Regel der Gerechtigkeit die Seelen der Lasterhaften für jede Uebelthat zehnfältig gestraft werden? Warum die Seelen, die vom Himmel herunter, oder, nach ausgestandener Strafe aus der Hölle herauf gestiegen sind, um wieder in sterbliche Leiber zurückzukehren, sich gerade sieben Tage auf der Wiese, die er vorhin einen dämonischen Ort nannte, aufhalten? Warum sie gerade vier Tage zu marschiren haben, bis sie den großen Lichtring oder Lichtgürtel zu Gesicht bekommen, der dem Regenbogen ähnlich aber viel glänzender und reiner ist? Wie dieser Lichtring zugleich zwischen Himmel und Erde aufgerichtet stehen, über Himmel und Erde ausgebreitet seyn, und den ganzen Himmel wie ein Gürtel umfassen kann? Warum die Seelen gerade noch einen Tag zu reisen haben, bis sie bei diesem Licht angelangt sind? Woran die Enden dieses den Himmel zusammenhaltenden Lichtgürtels befestigt sind, damit die Spindel der Anangke an ihnen hangen kann? Warum Anangke ihre Spindel, gegen die Gewohnheit aller andern Spinnerinnen, zwischen ihren Knieen herumdreht? und zwanzig andere Fragen, deren der Leser sich nicht erwehren kann, ohne die Antwort darauf zu finden. Plato ist, wie wir lange wissen, ein Liebhaber vom Uebernatürlichen, Unerhörten, Kolossalischen; wir wollen ihn dieses Geschmacks wegen nicht anfechten; aber die Bilder, die er uns darstellt, müssen doch Sinn, Bestandheit [186] und Zusammenhang wenigstens an und unter sich selbst haben, und er muß unsrer Einbildungskraft nicht mehr zumuthen als sie leisten kann. Versuch' es einmal, dir die ganze Gruppe von Erscheinungen, die der Armenier in dem Lichtgürtel des Himmels gesehen haben will, in Einem Gemälde vor die Augen zu bringen. – In der Mitte die große Göttin Anangke mit der ungeheuren stählernen Spindel zwischen den Knieen; um die Spindel einen nicht minder ungeheuren Wirtel, in welchem sieben andere, wie die Büchsen der Taschenspieler, in einander stecken, und alle zugleich, aber mit ungleicher Geschwindigkeit, von der Spindel in einer, ihrer eigenen Bewegung entgegen gesetzten, Richtung herumgedreht werden; – jeden dieser an Glanz, Farbe und Bewegung verschiedenen Wirtel mit einem mehr oder minder breiten cirkelförmigen Rand, und auf jedem eine Sirene sitzend, die sich mit ihm herumdreht und aus voller Kehle singt; aber jede nur einen einzigen Ton aus der Tonleiter bis zur Octave, so daß der Gesang aller acht Sirenen eine einzige sich selbst immer gleiche Harmonie ist – vor welcher die Götter unsre Ohren bewahren wollen! – Nun denke dir noch die Töchter der Anangke, die drei Moiren, Lachesis, Klotho und Atropos, weiß gekleidet und mit Kränzen um die Stirne auf Lehnstühlen um ihre Mutter herum sitzend, wie sie, vom achttönigen Zetergeschrei der Sirenen begleitet, Lachesis das Vergangene, Klotho das Gegenwärtige, Atropos das Zukünftige absingen, während dessen Klotho ihrer Mutter mit der rechten Hand von Zeit zu Zeit den äußersten Wirtel der Spindel, Atropos mit der linken die innern, und Lachesis alle zusammen mit beiden Händen umdrehen [187] hilft. Lass' deine Phantasie, wenn's ihr möglich ist, ein Gemälde aus diesem allem zusammensetzen, und sage mir, ob einem Kranken im stärksten Fieberanfall etwas Abenteuerlicheres und Phantastischeres vorkommen könnte? Und was will nun Plato daß wir uns bei diesem lächerlich wunderbaren Phantasma denken sollen? Ist das alles in der dämonischen Welt wirklich so, wie sein Armenier gesehen zu haben vorgibt? Er rechnet so wenig darauf, daß irgend einer seiner Leser einfältig genug seyn werde dieß zu glauben, daß sein Sokrates selbst die ganze Erzählung am Ende für ein bloßes Mährchen gibt. Alle diese Wundergestalten, Anangke mit ihrer Spindel und ihren Töchtern, die acht Sirenen, die sich auf und mit den acht Wirteln ewig herumdrehen und den armen Seelen, die hier täglich schaarenweis sich einzufinden genöthigt sind, die Ohren gellen machen, der Prophet, der den Seelen im Namen der Göttin ankündigt, daß sie um ihr künftiges Schicksal im Leben, in welches sie zurückkehren, losen müssen u.s.w., das alles ist also nichts weiter als eine Gruppe von emblematischen Bildern, oder vielmehr ein Haufen ziemlich dicker Hüllen, unter denen etwas verborgen liegt, das entweder schwer zu errathen, oder des Rathens kaum werth ist? Aber unglücklicherweise ist der Armenier, der diese wunderbaren Personen und Sachen in einem dämonischen Ort zu sehen glaubt, keine emblematische Figur; er wird uns als eine wirkliche historische Person vorgeführt, und damit wir desto weniger daran zweifeln, sogar Pamphylien als das ursprüngliche Vaterland seines Geschlechts angegeben. Der wackre Er macht sich also entweder nach Art weitgereiseter[188] Leute ein Vergnügen daraus, unsre Leichtgläubigkeit auf die Probe zu stellen; oder er ist selbst ich weiß nicht von welchen Dämonen getäuscht worden, daß er sich einbildete wirkliche Dinge zu sehen, wiewohl er nur Sinnbilder sah. Uebrigens ist nicht leicht zu errathen, was Plato mit dieser Dichtung beabsichtigt, da sie für den Satz, den er dadurch bestätigen will, nicht das Geringste beweisen, und schlechterdings zu nichts dienen kann, als Knaben in Erstaunen zu setzen, Männern hingegen eine eben so geringe Meinung von seinem Dichtergeist als von seinen astronomischen Kenntnissen zu geben. Denn wie er dichtet, heißt nicht dichten sondern ins Blaue hinein phantasiren, und es steht ihm wahrlich übel an, über die Erzählungen, womit der Homerische Odysseus die Tischgesellschaft des Alcinous unterhält, die Nase zu rümpfen, von denen die ungereimteste ohne Vergleichung wahrscheinlicher gemacht ist als das Mährchen seines Armeniers. Aber nun vollends die Art, wie er die Pythagorische Seelenwanderung seinen eigenen Hypothesen anpaßt, und wie er die Freiheit, ohne welche keine Zurechnung, folglich keine Strafen und Belohnungen in der andern Welt stattfinden, mit den Gesetzen der Nothwendigkeit zu vereinigen glaubt! – Die zur Rückkehr in sterbliche Leiber vor dem Thron der großen Spinnerinnen versammelten Seelen kommen theils aus dem Himmel, theils aus der Unterwelt. Ueber die letztern habe ich nichts zu erinnern; aber wie die Göttin Anangke den erstern zumuthen könne, aus der reinen Himmelsluft wieder in den mephitischen Dunstkreis des Erdenlebens zurückzuwandern, darüber hätte uns billig einiger Aufschluß gegeben werden sollen. Denn daß [189] sie den Himmel, wo es ihnen (ihrer eigenen Versicherung nach) so unaussprechlich wohl ging, von freien Stücken verlassen haben sollten, ist nicht zu vermuthen; wiewohl ich gestehe, daß das Vergnügen, womit er sie den Boden der mütterlichen Erde wieder betreten läßt, ein feiner Zug von dem Dichter ist. Soll überhaupt Sinn in dieser Dichtung seyn, so müßte entweder eine innere Nothwendigkeit die Seelen aus dem Himmel wieder auf die Erde treiben, oder ihre Verbannung müßte die Strafe schwerer Verbrechen seyn, welche sie in jenem herrlichen Zustand begangen hätten. Keine dieser beiden Voraussetzungen steht auf irgend einem festen Grunde, und die letztere ist sogar mit der Gerechtigkeit der allgemeinen Weltregierung unvereinbar; denn was könnte ungerechter seyn, als die armen Seelen zu Abbüßung begangener Verbrechen in Umstände zu setzen, wo sie die größte Gefahr laufen neue Verbrechen zu begehen, welche sie mit einer noch viel härtern Bestrafung, nämlich einer tausendjährigen Peinigung im Tartarus für jedes derselben, werden büßen müssen? Plato glaubt zwar, sich aus dieser Schwierigkeit durch die Erklärung zu ziehen, die er seinen Propheten im Namen der Lachesis (warum gerade dieser?) den versammelten Seelen thun läßt. »Ihr seyd im Begriff,« läßt er ihn (wiewohl in geflissentlich dunkeln und nach Art der Orakel, vieldeutigen Ausdrücken) sagen, »einen neuen Kreislauf unter den Sterblichen zu beginnen. Nicht das Schicksal wird euch euer Loos anweisen, sondern ihr selbst werdet euer Schicksal wählen. Wen das Loos zum Ersten erklärt, der soll auch zuerst die Wahl der Lebensart haben, an welche er nothwendig gebunden [190] bleiben wird. Die Tugend aber hat keinen Herrn über sich; je nachdem jemand sie ehrt oder verachtet, wird er mehr oder weniger von ihr besitzen. Die Schuld wird an dem Wählenden seyn; Gott hat keine Schuld.« – Nach dieser seltsamen Anrede wirft er die Loose auf die umherstehenden Seelen herab; jede greift nach dem, das ihr zufällt, und itzt zeigt sich's in welcher Ordnung sie wählen sollen. Nunmehr werden Muster aller möglichen Lebensformen, thierischer und menschlicher, die im Schooß der Lachesis beisammen lagen, auf der Erde vor ihnen ausgebreitet, damit jede diejenige wähle, die ihr am besten ansteht. Die Anzahl dieser Lebensformen ist zwar viel größer als die Zahl der Wählenden; indessen gesteht doch der Erzähler, daß die Seelen, die in der Reihe die letzten sind, gegen die andern sehr zu kurz kommen und mit dem was noch da ist vorlieb nehmen müssen; eine Unbilligkeit, welche vermieden werden konnte, wenn, anstatt die Wahl theils auf sie selbst theils auf den Zufall ankommen zu lassen, ein Gott für jede gewählt hätte, was für sie und andere das Beste gewesen wäre. Was diese Unbilligkeit noch härter macht, ist das Gesetz, vermöge dessen alle diese aus dem Himmel und der Hölle ins irdische Leben zurückkehrenden Seelen aus dem Lethe zu trinken genöthigt sind, dessen Wasser die Eigenschaft hat die Erinnerung des Vergangenen in der Seele auszulöschen. Natürlicherweise gehen dadurch alle Vortheile verloren, welche sie aus der Erinnerung der ausgestandenen Strafen oder der genoss'nen Seligkeit, und aus dem Bewußtseyn dessen, womit sie das eine oder das andere in ihrem vormaligen Leben verdient hatten, zum Behuf des neuangehenden [191] hätten ziehen können. Das Uebel würde zwar, wie er zu verstehen gibt, nicht so groß seyn, wenn sie (was nur bei Wenigen der Fall zu seyn scheint) weise genug wären, nicht über ein gewisses Maß zu trinken: aber da die meisten viel Durst zu haben scheinen, und daher nicht leicht das rechte Maß treffen, würde es nicht billig und freundlich gewesen seyn, ihnen das Wasser der Vergessenheit in einem Becher zu reichen, der gerade nicht mehr und nicht weniger gehalten hätte als ihnen zuträglich war? So schlecht durch diese Dichtung die Weisheit und Güte des obersten Weltregierers gerechtfertiget ist, so wenig scheint sie uns auch über die Freiheit der Seele, insofern sie neben der Nothwendigkeit bestehen kann, ins Klare zu setzen. Die Seelen wählen zwar die Bedingungen, unter welchen sie ihr neues Erdenleben antreten wollen, nach Belieben; aber diese Freiheit ist den meisten mehr nach theilig als vortheilhaft, und scheint mehr ein Fallstrick als eine Wohlthat zu seyn. Der Armenier sah z.B. wie eine Seele (und es war sogar eine aus dem Himmel wiederkehrende) mit unbegreiflicher Hastigkeit nach einer Tyrannie griff, auf welche, wenn sie sich nur ein wenig Zeit genommen hätte sie recht anzusehen, ihre Wahl unmöglich hätte fallen können. Dieser Fall muß sehr oft vorkommen, da es den Seelen, wie es scheint, theils an genugsamer Bedenkzeit, theils an Einsicht und Unterscheidungskraft fehlt; überdieß gesteht der Dichter selbst, daß sehr viel dabei auf den Zufall ankomme, und daß die letzten wenig oder keine Wahl mehr haben. Aber auch ohne dieß können sie ihrem Schicksal nicht entgehen. Denn sobald sie das, was sie in ihrem neuen Leben seyn wollen, gewählt haben, gibt Lachesis [192] jeder einen Dämon zu, der dafür zu sorgen hat, daß alles, was zu ihrem erwählten Loose gehört, pünktlich in Erfüllung gehe. So wird z.B. die Seele, welche sich, von der glänzenden Außenseite verblendet, die Tyrannie gewählt hatte, erst da es zu spät ist gewahr, daß sie ihre eigenen Kinder fressen, und eine Menge anderer ungeheurer Frevelthaten begehen werde; sie heult und jammert nun ganz erbärmlich, aber vergebens; ihre Wahl ist unwiederruflich, und der Dämon, unter dessen Leitung sie steht, wird nicht ermangeln, alle Umstände so zu ordnen und zu verknüpfen, daß die Kinder gefressen und die Uebelthaten begangen werden, wie groß auch der Abscheu ist, wovon sie sich itzt gegen die Erfüllung ihres Looses durchdrungen fühlt. Alle übrigen Feierlichkeiten, welche vorgehen, indem die Seelen von Lachesis zu Klotho, von Klotho zu Atropos, und sodann, unter dem Thron der Anangke vorbei, nach dem Lethäischen Gefilde abgeführt werden, können keinen andern Sinn haben, als die unvermeidliche Nothwendigkeit anzudeuten, die über ihnen waltet. Der Profet hat gut sagen, die Tugend sey herrenlos, d.i. frei und unabhängig; was kann das den armen Seelen frommen, die das Schicksal in Lagen versetzt, worin es ihnen äußerst schwer, wo nicht gar unmöglich gemacht wird, zu diesem von Wahn und Leidenschaft unabhängigen Zustand zu gelangen, der die Bedingung der Tugend ist? Plato hätte also den vermuthlichen Hauptzweck des Mährchens von dem, was der Armenier Er in der Geisterwelt gesehen, so ziemlich verfehlt; und, da überdieß seine Bilder, der Erfindung und Darstellung nach, meistens so beschaffen sind, daß keine gesunde Einbildungskraft sie ihm nachmalen kann: so gestehe ich, wenn jemals darüber [193] gestimmt werden sollte, ob die Ilias und Odyssee seinen poetischen Dialogen in den Schulen Platz zu machen habe, so werde ich mit meiner Stimme die Mehrheit schwerlich auf seine Seite ziehen.


Nach dieser langen Reise, die wir machen mußten, um unserm dichterischen Mystagogen durch die verworrenen und immer wieder in sich selbst zurückkehrenden Windungen seines dialektischen Labyrinths zu folgen, ist wohl, sobald wir wieder zu Athem gekommen sind, nichts natürlicher als uns selbst zu fragen: was für einen Zweck konnte der Mann durch dieses wunderbare Werk erreichen wollen? Für wen und zu welchem Ende hat er es uns aufgestellt? War seine Absicht, das wahre Wesen der Gerechtigkeit aufzusuchen und durch die Vergleichung mit demselben die falschen Begriffe von Recht und Unrecht, die im gemeinen Leben ohne nähere Prüfung für ächt angenommen und ausgegeben werden, der Ungültigkeit und Verwerflichkeit zu überweisen: wozu diese an sich selbst schon zu weitläufige und zum Ueberfluß noch mit so vielen heterogenen Verzierungen und Angebäuden überladene Republik, deren geringster Fehler ist, daß sie unter menschlichen Menschen nie realisirt werden kann? Oder war sein Zweck, uns die Idee einer vollkommenen Republik darzustellen; warum läßt er sein Werk mangelhaft und unvollendet, um unsre Aufmerksamkeit alle Augenblicke auf Nebendinge zu heften, und uns stundenlang mit Aufgaben zu beschäftigen, die nur an sehr schwachen Fäden mit der Hauptsache zusammenhangen? [194] Arbeitete er für denkende Köpfe und war es ihm darum zu thun, die Materie von der Gerechtigkeit gründlicher als jemals vor ihm geschehen war, zu untersuchen, wozu so viele Allegorien, Sinnbilder und Mährchen? Schrieb er für den großen leselustigen Haufen, wozu so viele spitzfindig tiefsinnige, räthselhafte, und wofern sie ja einen Sinn haben, nur den Epopten seiner philosophischen Mysterien verständliche Stellen?

Soll ich dir sagen, Eurybates, wie ich mir diese Fragen beantworte? Platon pflegt (wie ich schon oben bemerkte) mit seinem Hauptzweck immer mehrere Nebenabsichten zu verbinden und scheint sich dazu in dem vorliegenden Dialog mehr Spielraum genommen zu haben als in irgend einem andern. Daß hier sein Hauptzweck war, die im ersten und zweiten Buch aufgeworfenen Fragen über die Gerechtigkeit streng zu bestimmen und aufs Reine zu bringen, leuchtet zu stark aus dem ganzen Werk hervor, als daß ich noch ein Wort deßwegen verlieren möchte. Unläugbar hätte er dieß auf einem andern, als dem von ihm gewählten – oder vielmehr erst mit vieler Mühe gebrochenen und gebahnten Wege, leichter, kürzer und gründlicher bewerkstelligen können; aber er hatte seine guten Ursachen, warum er seine Idee einer vollkommenen Republik zur Auflösung des Problems zu Hülfe nahm. Er verschaffte sich dadurch Gelegenheit, seinem von langem her gegen die Griechischen Republiken gefaßten Unwillen Luft zu machen, den heillosen Zustand derselben nach dem Leben zu schildern, und, indem er die Ursachen ihrer Unheilbarkeit entwickelt und mit mehr als Isokratischer Beredsamkeit darstellt, zugleich nebenher seine eigene Apologie gegen einen öfters gehörten Vorwurf [195] zu machen, indem er den wahren Grund angibt, warum er keinen Beruf in sich fühle, weder einen Platz an den Ruderbänken der Attischen Staatsgaleere auszufüllen, noch (wenn er es auch könnte) sich des Steuerruders selbst zu bemächtigen. Die Ausführlichkeit der Widerlegung des den Philosophen entgegenstehenden popularen Vorurtheils und des Beweises daß eine Republik nur dann gedeihen könne, wenn sie von einem ächten Philosophen, d.i. von einem Plato regiert werde, spricht laut genug davon, wie sehr ihm dieser Punkt am Herzen lag, wiewohl ich sehr zweifle, daß er mit der versteckten Apologie seiner politischen Unthätigkeit vor dem Richterstuhl der Sokratischen Moral auslangen dürfte.

Nächst diesem fällt von allen seinen Nebenzwecken keiner stärker in die Augen, als der Vorsatz, den armen Homer, dessen dichterischen Vorzügen er nichts anhaben konnte, wenigstens von der moralischen Seite (der einzigen wo er ihn verwundbar glaubt) anzufechten, und um sein so lange schon behauptetes Ansehen zu bringen. Daß er ihn aus den Schulen verbannt wissen will, ist offenbar genug; sollte er aber wirklich, wie man ihn beschuldigt, so schwach seyn, zu hoffen daß einige seiner exoterischen Dialogen, z.B. Phädon, Phädrus, Timäus und vor allen der vor uns liegende, mit der Zeit die Stelle der Ilias und Odyssee vertreten könnten? Wofern ihm dieser Argwohn Unrecht thut, so muß man wenigstens gestehen, daß er durch die episch-dramatische Form seiner Dialogen, durch die vielen eingemischten Mythen, durch das sichtbare, wiewohl öfters (besonders in dem Mährchen des Armeniers) sehr verunglückte Bestreben, mit Homer in seinen [196] darstellenden Schilderungen zu wetteifern, und überhaupt durch seine häufigen Uebergänge aus dem prosaischen in den poetischen, sogar lyrischen und dithyrambischen Styl mehr als zu viel Anlaß dazu gegeben hat. Was aber den Vorwurf betrifft, »er könne den Dialog von der Republik weder für Philosophen von Profession noch für das große Publicum geschrieben haben,« so zweifle ich, ob er anders zu beantworten ist, als wenn man annimmt, er habe dafür sorgen wollen, daß keine Art von Lesern unbefriedigt von dem geistigen Mahl aufstehe, wozu alle eingeladen sind, und wobei es mit der Menge und Verschiedenheit der Gerichte und ihrer Zubereitung gerade darauf abgesehen ist, daß jeder Gast etwas finde, das ihm angenehm und zuträglich sey.

9. Eurybates an Aristipp
9.
Eurybates an Aristipp.

Ich weiß nicht ob ich Recht hatte auf deine stillschweigende Einwilligung zu rechnen, lieber Aristipp; aber ich würde mich selbst der Undankbarkeit angeklagt haben, wenn ich das Vergnügen und die Belehrung, die mir deine Antiplatonischen Briefe gewährten, für mich allein hätte behalten wollen. Ich gestehe dir also, daß ich sie unter der Hand einigen vertrauten Freunden mitgetheilt habe; und da jeder von ihnen ebenfalls zwei oder drei vertraute Freunde besitzt, so geschah (was ich freilich voraussehen konnte) daß in kurzem eine ziemliche Anzahl [197] Abschriften in der Stadt herumschlichen, von welchen endlich eine unserm Freunde Speusipp und sogar dem göttlichen Hierophanten der Akademie 32 selbst in die Hände gerieth. Daß die meisten Stimmen auf deiner Seite sind, wirst du hoffentlich für kein Zeichen einer bösen Sache halten. In tausend andern Händeln, die zur Entscheidung der Athener gebracht werden, dürfte ein solcher Schluß die Wahrheit selten verfehlen; aber die Mehrheit, die ich hier meine, ist von besserer Art; denn es versteht sich, daß nur die hellesten Köpfe in einer Sache wie diese ein Stimmrecht haben. Indessen fehlt es unserm Philosophen, der die Welt so gern allein belehren und regieren möchte, auch nicht an Anhängern, die sich mit Faust und Ferse für ihn wehren, und nicht den geringsten der Vorwürfe, die du ihm gemacht hast, auf ihn kommen lassen wollen. Sogar die männliche Erziehung und Polyandrie seiner Soldatenweiber findet ihre Vertheidiger, und ich kenne einen gewissen Gleukophron, der ein Gelübde gethan hat, weder in ein Bad zu gehen, noch seinen Bart zu salben, noch der süßen Werke der goldenen Aphrodite zu pflegen, bis er die geheimnißvolle Zahl im achten Buche herausgebracht habe, wiewohl die Redensart, dunkler als Platons Zahl, bereits zum Sprüchwort in Athen geworden ist, und alle unsre Geometer und Rechenmeister behaupten, das einzige Mittel sich noch lächerlicher zu machen, als der Aufsteller dieses arithmetischen Räthsels, sey sich mit der Auflösung desselben den Kopf zu verwüsten. Speusipp, der dir nächstens selbst zu schreiben gedenkt, zeigte mir unter vier Augen seine Verwunderung, nicht daß du so streng mit seinem Oheim [198] verfährst, sondern daß du dich habest enthalten können, ihn bei einer so guten Gelegenheit nicht mit noch schärferm Salze zu reiben. Er habe sich nicht wenig gefreut, sagte er, viele seiner eigenen Gedanken über dieses sonderbare Werk in deinen Briefen bestätiget zu finden, und wenn er etwas an den letztern tadeln möchte, wär' es bloß, daß du hier und da eher zu viel als zu wenig Gutes davon gesagt habest; zumal von der Schreibart, welche, seiner Meinung nach, nichts weniger als rein Attisch, geschweige musterhaft schön genennt zu werden verdiene; da sie nicht selten von allzugesuchter Zierlichkeit und geschwätziger Schönrednerei, noch öfter von Heraklitischer Dunkelheit und von Metaphern, die an einem jungen Nachahmer des Pindar und Aeschylus kaum erträglich wären, entstellt werde, und bald bis zur plattesten Gemeinheit herabsinke, bald wieder in die Wolken steige, um sich in dithyrambischen Schwulst und Bombast zu verlieren. Doch behauptet er, daß seine Fehler meistens nur von allzu großem Reichthum an Gedanken und einer zu üppig in Ranken, Blätter und Blumen aufschießenden Phantasie herrühren, und durch große und erhabene Schönheiten reichlich vergütet werden. Aber woher kommt es, frage ich, daß ein Leser, der Xenophons Anabasis oder Cyropädie nicht eher aus der Hand legen kann, bis er nichts mehr zu lesen findet, über Platons Politeia mehr als einmal einschläft, oder doch vor Gähnen und Ermüdung nicht weiter fort kann? Mir wenigstens, nachdem deine Briefe mich zu dem heroischen Entschluß gebracht haben, dieses Meer von Anfang bis zu Ende durchzurudern, ist es unmöglich gewesen anders als nach fünf- oder sechsmaligem [199] Absetzen und gewaltsamen neuen Anläufen damit zu Rande zu kommen.

Plato hatte so viel von deiner Beurtheilung des Werks worauf er seine Unsterblichkeit vornehmlich zu gründen scheint, reden oder vielmehr flüstern gehört, daß er (wie mir Speusippus sagt) endlich neugierig ward, sie selbst zu sehen. Er durchblätterte das Buch, und sagte, indem er es zurückgab: »es ist wie ich mir's gedacht hatte.« – Wie so? fragte einer von den Anwesenden. – Er lobt (versetzte Plato) wovon er meint er könnt' es allenfalls selbst gemacht haben, und tadelt was er nicht versteht. Eine kurze und vornehme Abfertigung, flüsterte jemand seinem Nachbar zu; aber eine laute Gegenrede erlaubte der ehrfurchtgebietende Blick des Göttlichen nicht, und so ließ man den unbeliebigen Gegenstand fallen, und sprach – von dem Thesmophoros des alten Dionysius von Syrakus, dem die Athener an dem letzten Bacchusfeste, aus Höflichkeit, Staatsklugheit oder Laune, den tragischen Siegeskranz zuerkannt haben. Daß er ihn verdient haben könnte, mußte diesen Tyrannenfeinden ein von aller Wahrscheinlichkeit gänzlich entfernter Gedanke scheinen, weil auch nicht Einer darauf verfiel. Bei dieser Gelegenheit erzählte jemand für gewiß: Dionysius habe die Schreibtafel des Aeschylus ich weiß nicht um wie viel Tausend Drachmen an sich gebracht, in Hoffnung (setzte der platte Witzling hinzu) es werde so viel von dem Geiste des Fürsten der Tragiker darin zurückgeblieben seyn, daß er nichts als dessen Schreibtafel nöthig habe, um Aeschylus der Zweite zu werden. Er mag sich dessen um so getroster schmeicheln, sagte Plato, da ihm so feine Kenner [200] des Schönen, als die Athener sind – oder seyn wollen, eine Urkunde darüber zugefertigt haben. – In diesem Ton und in diesem Geiste müssen vermuthlich alle Handlungen dieses in seiner Art gewiß großen Mannes ausgelegt worden seyn, oder es wäre unmöglich, daß eine bereits dreißigjährige glückliche und in so vielen wesentlichen Stücken musterhafte Staatsverwaltung ihm nicht einen bessern Ruf unter den Griechen erworben hätte.

Ich habe vor kurzem von Kleonidas und Antipater Briefe erhalten, die mir sehr angenehme Nachrichten von meinem Lysanias und von eurer fortdauernden Zufriedenheit mit ihm ertheilen. Er selbst fühlt sich so glücklich in eurer Mitte, und verspricht sich so viel Gutes von seinem Aufenthalt in dem gastfreundlichen Hause meines Aristipps, daß ich kein so gefälliger Vater seyn müßte als ich bin, wenn ich ihm seine Bitte um Verlängerung desselben nicht mit Vergnügen zugestände, insofern er sich nicht zu viel schmeichelt, da er deine Begünstigung seiner Wünsche für etwas Ausgemachtes hält.

10. Speusippus an Aristipp
10.
Speusippus an Aristipp.

Unsre Freundschaft, lieber Aristipp, ist, gleich edlem Wein, alt genug um Stärke zu haben, und wir kennen beide einander zu gut, als daß du mir zutrauen solltest, ich könnte die scharfe Censur, die du in deinen Anti-Platonischen Briefen [201] an Eurybates über den neuesten Dialog meines Oheims ergehen lassen, von einer schiefen Seite angesehen und beurtheilt haben. Ich habe dir nie zu verheimlichen gesucht, daß mich weniger eine natürliche Uebereinstimmung meiner Sinnesart mit der seinigen, oder Ueberzeugung von der Wahrheit seiner spekulativen Philosophie, als das enge Familienverhältniß, worin ich mit ihm stehe, zum Platoniker gemacht hat. Er hat sich daran gewöhnt, den künftigen Erben seiner Verlassenschaft auch als den Erben seiner Philosophie zu betrachten, und ich kann es nicht über mein Herz gewinnen, ihm einen Wahn zu rauben, an welchem das seinige Wohlgefallen und Beruhigung zu finden scheint. Wenn du ihn aus einem so langen und nahen Umgang kenntest wie ich, würdest du ihn, denke ich, in mehr als Einer Rücksicht, des Opfers würdig halten, welches ich ihm durch diese kleine Heuchelei bringen muß. Im Grunde kann ich mir ihrentwegen keinen Vorwurf machen, und dieß nicht bloß um der Bewegursache willen, sondern weil wirklich die Augenblicke ziemlich häufig bei mir sind, wo ich mich versucht fühle, oder mir wohl gar in vollem Ernst einbilde, das wirklich zu seyn, was ich zu andern Zeiten nur vorstelle. Wenn ich bei ganz kaltem Blute in lauter klaren Vorstellungen lebe, denke ich von der Philosophie meines Oheims nahezu wie du; ich finde sie schwärmerisch, überspannt, meteorisch, unbegreiflich; seine Ideenwelt scheint mir ein gewaltiges Hirngespenst 33 und sein Auto-Agathon 34 eben so undenkbar als ein unsichtbares Licht oder ein unhörbarer Schall. Aber in andern Stunden, wo mein Gemüth zu den zartesten Gefühlen gestimmt und mein Geist [202] frei genug ist sich mit leichterm Flug über die Dinge um mich her zu erheben, zumal wenn ich den wunderbaren Mann unmittelbar vorher mit der Begeisterung des lebendigsten Glaubens von jenen übersinnlichen Gegeständen reden gehört habe, dann erscheint mir alles ganz anders; ich glaube zu ahnen daß alles wirklich so sey wie er sagt; unvermerkt verwandeln sich meine Ahnungen in Gefühle, und ich finde mich zuletzt wie genöthigt, für Wahrheit zu erkennen, was mir in andern Stimmungen träumerisch, lächerlich und bloßes Spiel einer übergeschnappten Phantasie zu seyn däucht. Warum (sage ich mir dann) sollte ein unsichtbares Licht, ein unhörbarer Schall, nicht unter die möglichen Dinge gehören? Kann nicht beides nur mir und meines gleichen unsichtbar, unhörbar seyn? Kann die Schuld nicht bloß an meiner Zerstreuung durch nähere Gegenstände, oder an der Schwäche und Stumpfheit meiner Organe liegen? Scheint nicht dem, der aus einer finstern Höhle auf einmal in die Mittagssonne tritt, das blendende Licht dichte Finsterniß? Oeffnet sich nicht, wenn alles weit um uns her in tiefer nächtlicher Stille ruht, unser lauschendes Ohr den leisesten Tönen, die uns unter dem dumpfen Getöse des Tages, selbst bei aller Anstrengung des Gehörorgans, unhörbar blieben? – Soll ich dir noch mehr bekennen? Diese Schlüsse erhalten keine schwache Verstärkung durch eine Wahrnehmung, die ich oft genug an mir zu machen Gelegenheit habe. Die Philosophie Platons kommt mir nie phantastischer vor, als wenn ich mich in den Wogen des alltäglichen Leben herumtreibe, oder beim fröhlichen Lärm eines großen Gastmahls, im Theater, oder bei den [203] Spielen reizender Sängerinnen und Tänzerinnen, kurz überall, wo entweder Verwicklung in bürgerliche Geschäfte und Verhältnisse, oder befriedigte Sinnlichkeit, den Geist zur Erde herabziehen und einschläfern. Wie hingegen in mir selbst und um mich her alles still ist, und meine Seele, aller Arten irdischer Fesseln ledig, sich in ihrem eigenen Element leicht und ungehindert bewegen kann, erfolgt gerade das Gegentheil; ich erfahre alles, von Wort zu Wort, was Plato von seinen unterirdischen Troglodyten erzählt, wenn sie ans Tageslicht hervor gekommen und aus demselben in ihre Höhle zurückzukehren genöthigt sind. Alles was mir im gewöhnlichen Zustand reell, wichtig und anziehend scheint, dünkt mich dann unbedeutend, schal, wesenlos, Tändelei, Traum und Schatten. Unvermerkt öffnen sich neue geistige Sinne in mir; ich finde mich in Platons Ideenwelt versetzt; kurz, ich bedarf in diesen Augenblicken eben so wenig eines andern Beweises der Wahrheit seiner Philosophie, als einer der etwas vor seinen Augen stehen sieht, einen Beweis verlangt daß es da sey.

Ob nicht in diesem allen viel Täuschung seyn könne, oder wirklich sey, kann ich selbst kaum bezweifeln: denn wie käm' es sonst, daß jene vermeinten Anschauungen keine dauernde Ueberzeugung zurücklassen, und mir zu anderer Zeit wieder als bloße Träume einer über die Schranken unsrer Natur hinaus schwärmenden Phantasie erscheinen? – Und dennoch dünkt mich, die Vernunft selbst nöthige mich zu gestehen, es sey etwas Wahres an dieser übersinnlichen Art zu philosophiren. Dem großen Haufen, d.i. zehnmal Zehntausend gegen Einen, ist es freilich nie eingefallen einen Augenblick [204] zu zweifeln, daß alles, was ihm seine wachenden Sinne zeigen, wirklich so, wie es ihm erscheint, außer ihm vorhanden sey; der Philosoph hingegen findet nichts wunderbarer und unbegreiflicher, als wie etwas (ihn selbst nicht ausgenommen) da seyn könne. Wie läßt sich von einem Dinge sagen, es sey, wenn man nicht einmal einen Augenblick, da es ist, angeben oder festhalten kann? Theile die Zeit zwischen zwei auf einander folgenden Pulsschlägen nur in vier Theile, und sage mir, welcher dieser fliegenden Zeitpunkte ist der, worin irgend ein zu dieser Sinnenwelt gehöriges Ding wirklich da ist? Im Nu, da du sagen willst es ist, ist es schon nicht mehr was es war, oder (was eben dasselbe sagt) ist das Ding, welches war, nicht; aber vor dem vierten Theil eines Pulsschlags, und vor zehntausend derselben, konnte man eben dasselbe gegen sein Daseyn einwenden. Es war, es wird seyn, wäre somit alles was sich von ihm sagen ließe: aber wie kann man von dem, dessen Daseyn in irgend einem Moment ich mir nicht gewiß machen kann, mit Gewißheit sagen es sey gewesen? es werde seyn?


Doch ich will zugeben daß dieß dialektische Spitzfündigkeiten sind, die uns das zweifache Gefühl, daß wir selbst sind und daß etwas außer uns ist, nicht abvernünfteln können. Ganz gewiß kann dieses Gefühl keine Täuschung seyn: nur wird das Unbegreifliche in unserm Seyn durch diese Gewißheit nicht aufgelöst. Wir und alle Dinge um uns her befinden uns in einem unaufhörlichen Schwanken – nicht, wie Plato sagt, zwischen Seyn und Nichtseyn, sondern – zwischen[205] »so seyn« und »anders seyn.« Dieß wäre unmöglich, wenn nicht allem Veränderlichen etwas Festes, Beständiges, Unwandelbares zum Grunde läge, das die wesentliche Form desselben ausmacht. Es gibt aber in dieser uns umgebenden Sinnenwelt nichts als einzelne Dinge, die sich durch alles, was an ihnen veränderlich ist, d.i. durch alles, was an ihnen in die Sinne fällt, von einander unterscheiden, in ihren Grundformen hingegen einander mehr oder weniger ähnlich sind, und nach dieser Aehnlichkeit von dem denkenden Wesen in uns in Gattungen und Arten eingetheilt werden. Gleichwohl sind diese letztern bloße Begriffe, die wir uns von den wesentlichen Formen der Dinge zu machen suchen, und die zu diesen Formen sich nicht anders verhalten als wie die Schatten oder Widerscheine der Körper zu den Körpern selbst. Aber woher kommen uns diese Begriffe? Gewiß nicht von den Dingen der Sinnenwelt selbst, an denen wir nichts, was nicht veränderlich und in einem ewigen Fluß ist, wahrnehmen. Die wesentlichen Formen, wovon sie gleichsam die Schatten sind, müssen also ein von ihnen und von unsrer Vorstellung unabhängiges Daseyn haben, und irgendwo wirklich vorhanden seyn. Dieß sind nun eben diese Ideen, die in Platons Philosophie eine so große Rolle spielen, deren Inbegriff die übersinnliche oder intelligible Welt ausmacht, und denen er (weil wir uns doch alles, was wirklich ist, nicht anders als in einem Orte denken können) überhimmlische Räume zum Aufenthalt anweiset. Sie sind, nach seiner Meinung (die ihm geistige Anschauung ist), unmittelbar von der ersten ewigen Grundursache alles Denkbaren und Wahrhaftexistirenden erzeugt, und waren die [206] Gegenstände, an deren Anschauen unsre Seelen sich weideten, bevor die strenge Anangke sie in diese Sinnenwelt und in sterbliche Leiber zu wandern nöthigte. Sie sind aber auch die Urbilder und Muster, nach welchen untergeordnete Geister aus einem an sich selbst formlosen und durch seine unbeständige Natur aller Form widerstrebenden Stoff die Sinnenwelt bildeten, wiewohl es nicht in ihrer Macht stand, ihnen mehr als den Schein jener ewigen unwandelbaren und in sich vollkommenen Formen zu geben, der gleichwohl alles ist, was an ihnen reell und wesentlich genennt zu werden verdient. Von diesem Schein – welcher (wie die Sonnenbilder im Wasser) gleichsam der Widerschein der mehr besagten Ideen ist, fühlen sich nun die neuangekommenen Seelen, sobald sie sich aus der Betäubung des Sturzes in die Materie erholt haben, aufs lebhafteste angezogen. Die Meisten wähnen, daß die Gegenstände, die ein dunkles Nachgefühl ihres ehmaligen seligen Zustandes in ihnen erwecken, das, was sie scheinen, wirklich seyen; sie überlassen sich also in argloser Unbesonnenheit dem Ungestüm der Begierden, von welchen sie zum Genuß derselben angetrieben werden; und was daraus erfolgt, ist bekannt. Nur sehr Wenige (nämlich, nach Plato, die Philosophen im ächten Sinn des Wortes) sind weise genug, den Schein von der Wahrheit zu unterscheiden, sich aus den Schattenformen, die ihr Verstand in der Sinnenwelt gewahr wird, eine Art von Stufenleiter zu bilden, und so wie sie sich, von Irrthum und Sinnlichkeit gereinigt, über die materiellen Gegenstände erheben, nach und nach in das reine Element der Geister emporzusteigen und zu dem was wirklich ist, zu den[207] ewigen Ideen und dem Auto-Agathon, ihrem Urquell, mit immer weniger geblendeten Geistesaugen aufzuschauen.

Hier hast du, in die möglichste Kürze zusammengezogen, das Platonische System oder Mährchen, wenn du willst, welches – allen meinen nur zu häufigen Verirrungen und Untertauchungen in den reizenden Schlamm der Sinnenwelt zu Trotz – so viel Anziehendes für mich hat, daß ich, wofern es wirklich nur ein Mährchen seyn sollte, mich wenigstens des Wunsches, daß es wahr seyn möchte, und in meinen besten Augenblicken des Glaubens, daß es wahr sey, nicht entbrechen kann. Ehrlich zu reden, ich kenne kein anderes, woran ich mich fester halten könnte, wenn mich die närrischen Zweifel über Seyn und Nichtseyn anwandeln, die bei meines gleichen sich nicht immer mit dem Sokratischen was weiß ich? oder dem Aristippischen was kümmert's mich? abfertigen lassen wollen. Verzeih, Lieber, wenn ich deine Gleichgültigkeit über diese Dinge auf der unrechten Seite angesehen haben sollte, und lass' dich meinen kleinen Hang zur Schwärmerei (die, wie du weißt, eben nicht immer die Platonische ist) nicht abschrecken mein Freund zu bleiben. Lasthenia grüßt dich und empfiehlt sich dem Andenken ihrer Musarion. Du wirst es hoffentlich als ein ganz unzweideutiges Zeichen ihrer zur Reife gediehenen Sophrosyne ansehen, daß deine Antiplatonischen Briefe eine lebhafte und beinahe warme Vertheidigerin an ihr gegen diejenigen gefunden, die ich weiß nicht welche Spuren eines alten Grolls und einer übel verhehlten Eifersucht darin ausgeschnuppert haben wollen. Denn im Grund ist sie noch immer eine so eifrige Platonikerin als damals, [208] da sie zu Aegina mit dem kleinen unbeflügelten Amor am Busen von dir überrascht wurde.

11. Aristipp an Speusippus
11.
Aristipp an Speusippus.

Ich danke dir, lieber Speusipp, für das sehr angenehme Unterpfand deines wohlwollenden Andenkens, und für dein mildes Urtheil von meinen Briefen an Eurybates, welchen, däucht mich, das Beiwort antiplatonisch nur sehr uneigentlich gegeben wird, da sie wenigstens eben so viel Lob als Tadel enthalten, und mit gleichem Recht proplatonisch heißen könnten.

Verschiedenheit der Vorstellungsart wird Männer nie entzweien, deren Freundschaft, wie die unsrige, auf Uebereinstimmung der Gemüther in allem, was den Charakter edler und guter Menschen ausmacht, gegründet ist.

Der Unterschied deiner und meiner Art über Platons Philosophie zu denken scheint mir (den Einfluß der nahen Verwandtschaft und anderer Betrachtungen abgerechnet) hauptsächlich in dem Mehr oder Weniger Festigkeit und Ruhe des Gesichtspunkts gegründet zu seyn, woraus wir beide überhaupt die Dinge anzusehen pflegen; aber ich liebe die Aufrichtigkeit, womit du die wahre Ursache deines noch immer unentschiedenen Schwankens zwischen dem gemeinen Menschensinn und der philosophischen Mystagogie deines Oheims gestehest, [209] und ich müßte mich sehr irren, oder die Vorliebe, die du zu gewissen Zeiten für sein System in dir findest, und die Leichtigkeit, womit du in einer andern Stimmung darüber scherzen und lachen könntest, entspringt aus einer und eben derselben Quelle; nur daß sie in jenem Fall reiner und geistiger, in diesem etwas dicker und milchartiger fließt.

Es gibt, wie du weißt, angenehme und sogar wohlthätige Täuschungen; aber es ist immer gut, in allen menschlichen Dingen (unter welche ich auch die meteorischen und göttlichen rechne) klar zu sehen; zu wissen, wann, wo, und wie wir getäuscht werden, und auf keine Art von Täuschung mehr Werth zu legen als billig ist. Die Stimmung, in welcher die Platonischen Mysterien so viel Reiz für dich haben, und worin das, was sie uns offenbaren, dir wirklich das Innerste der Natur aufzuschließen scheint, ist (mit deiner Erlaubniß) nur dem Grade nach von derjenigen verschieden, worin der tragische Pentheus zwei Sonnen und zwei Theben, oder seine Mutter Agave 35 das abgeriss'ne Haupt ihres Sohnes für den Kopf eines jungen Löwen ansieht. Die Phantasie ist immer eine unsichere Führerin, aber nie gefährlicher, als wenn sie sich die Larve der Vernunft umbindet und aus Principien irre redet. Doch was sage ich von Gefahr? Für dich, lieber Speusipp, können diese sublimen Träume nichts Gefährliches haben, wenigstens so lang' es nur ein lustiges Gastmahl oder einen Kuß der Lasthenia bedarf, um dich aus den überhimmlischen Räumen in deine angeborne Höhle herabzuzaubern.

Um so weniger hätte ich mir also ein Bedenken darüber [210] zu machen, wenn mich die Lust ankäme, das zierliche Gebäude von Spinneweben, worein du deine geliebten Ideen gegen allen Angriff geborgen zu haben glaubst, mit einem einzigen Hauch umzublasen? – Doch nein! wenn ich auch aus dieser scherzenden Drohung Ernst zu machen vermöchte, wer wollte einem Freund ein harmloses Spielzeug mit Gewalt aus den Händen drehen? Alles was ich mir erlauben kann, ist, dir meine Weise über diese Dinge zu denken darzulegen, und es dann deinem eigenen Urtheil zu überlassen, ob du Ursache finden wirst, mich von der Beschuldigung einer allzugemächlichen Gleichgültigkeit im Forschen nach Wahrheit loszusprechen.

Ist es nicht sonderbar, daß wir vom Nichts entweder gar nicht reden müssen, oder uns so auszudrücken genöthigt sind als ob es Etwas wäre? Freilich sollten wir, da dem Worte Nichts weder eine Sache noch eine Vorstellung entsprechen kann, gar kein solches Wort in der Sprache haben. Was ist Nicht-Seyn? Ein Unding, ein hölzernes Eisen, eine unmögliche Verbindung zwischen Nein und Ja, kurz etwas sich selbst Aufhebendes. Was ist, ist, und da es nie Nichts seyn konnte, so liegen in dem Begriff des Seyns alle Arten von Seyn: gewesen seyn, itzt seyn, künftig seyn, immer seyn, nothwendig enthalten. Mit der dilemmatischen Formel, »Seyn oder Nicht-Seyn« ist gar nichts gesagt; hier findet kein »oder« statt; Seyn ist das Erste und Letzte alles Fühlbaren und Denkbaren. Indem ich Seyn sage, spreche ich eben dadurch ein Unendliches aus, das alles was ist, war, seyn wird und seyn kann, in sich begreift. Indem ich also mich selbst und die meinem Bewußtseyn sich aufdringenden Dinge um mich her, denke, [211] ist die Frage nicht: woher sind wir? oder warum wir? – sondern das Einzige was sich fragen läßt und was uns kümmern soll, ist was sind wir? Und ich antworte: wir sind zwar einzelne aber keine isolirten Dinge; zwar selbstständig genug, um weder Schatten noch Widerscheine, aber nicht genug, um etwas anders als Gliedmaßen (wenn ich so sagen kann) oder Ausstrahlungen (wenn du es lieber so nennen willst) des unendlichen Eins zu seyn, welches ist, und alles, was da ist, war, und seyn wird, in sich trägt. Da all unser Denken im Grund entweder auf Anschauen oder bloßes Rechnen mit Zeichen hinausläuft, das Unendliche aber sich weder überschauen noch ausrechnen läßt, so bleibt mir, wenn ich mir das wie meines Daseyns im Unendlichen einigermaßen klar zu machen wünsche, kein anderes Mittel als mir an dem dürftigen Begriff genügen zu lassen, den ich durch Bilder und Vergleichungen erhalten kann; z.B. mit einem Baum oder einem gegliederten Körper, der aus einer unendlichen Menge von Theilen zusammengesetzt ist, von welchen jedes seine eigene Art und Weise, Gestalt, Bildung und Einrichtung hat, aber sich doch nur dadurch in seinem Daseyn erhalten und gedeihen kann, daß es mit dem Ganzen in engester Verbindung steht, und von dem aus demselben und durch dasselbe strömenden und durch alle Theile sich ergießenden Leben seinen Antheil empfängt. Jedes Blatt eines Baums ist in dieser Rücksicht zugleich ein kleines Ganzes und Theil eines größern, des Zweiges, so wie dieser einem Ast, der Ast (an Stärke und Fülle der Zweige und Blätter oft selbst ein Baum) dem Hauptstamm einverleibt [212] ist. Wenn mir diese von materiellen Dingen erborgte Vergleichungen kein Genüge thun wollen, stelle ich mir das unendliche Ist (welches durch das geheimnißvolle Ει im Tempel zu Delphi 36 bezeichnet zu seyn scheint) unter dem Bilde der Seele, und alles was durch und in ihm ist, wie die Gedanken vor, welche, wiewohl durch die Kraft der Seele erzeugt und gleichsam aus ihr hervor strahlend, doch weder außer ihr seyn, noch als Bestandtheile von ihr betrachtet werden können. Aber unter welchem Bilde ich mir auch in gewissen Augenblicken das große Geheimniß der Natur zu symbolisiren suchen mag, der einzige Gebrauch, den ich davon mache, ist: die ewige Grundmaxime der ächten Lebensweisheit daraus abzuleiten, die zugleich die Regel unsrer Pflicht und die Bedingung unsrer Glückseligkeit ist. Denn natürlicher Weise trägt die Ueberzeugung, »daß ich nur als Gliedmaß des unendlichen Eins da seyn, aber auch nie gänzlich von ihm abgetrennt werden kann,« eine zwiefache Frucht: erstens, die feste Gesinnung, daß ich nur durch Erfüllung meiner Pflicht gegen das allgemeine sowohl, als gegen jedes besondere Ganze dessen Glied ich bin, in der gehörigen Unterordnung des Kleinern unter das Größere, glücklich seyn kann; und zweitens die eben so feste Gewißheit, daß ich, wie beschränkt auch meine gegenwärtige Art zu existiren scheinen mag, dennoch als unzerstörbares Glied des unendlichen Eins, für Raum und Zeit meines Daseyns und meiner Thätigkeit kein geringeres Maß habe, als den hermetischen Cirkel – die Unendlichkeit selbst. Ich weiß es nicht gewiß, aber ich vermuthe, daß sich Plato bei seinem Auto-Agathon [213] ebendasselbe denkt, was ich bei meinem Unendlichen; wenn man anders bloßes Hinstreben nach etwas Unerreichbarem Denken nennen kann: aber das ist gewiß, daß ich keinen speculativen Gebrauch oder Mißbrauch davon mache, und mich nur deßwegen nicht bekümmere mehr davon zu wissen, weil ich fühle, daß indem ich einen schwindelnden Blick in diese unergründliche Höhe und Tiefe wage, ich bereits über der Gränze alles menschlichen Wissens schwebe.

Was Platons Ideen betrifft, so gestehe ich dir unverhohlen, daß ich nach allem was mir seine Dialogen davon geoffenbaret haben, mir keine Idee von ihnen zu machen weiß. Sie sind weder bloß gedachte noch personificirte allgemeine Begriffe; auch sind es nicht die Erscheinungen, die der begeisterten Phantasie des Dichters, Bildners oder Malers vorschweben, wenn er nach dem Höchsten seiner Kunst, dem Uebermenschlichen und Göttlichen, nach vollkommner Schönheit, Stärke und Größe ringt. So wie Plato von ihnen spricht, können sie nichts dergleichen seyn, wiewohl ich vermuthe, daß du in den Momenten der geistigen Anschauungen, wovon du sprichst, sie mit jenen verwechselst. Was sind sie also? Ich weiß es nicht; aber das weiß ich, daß der Platonische Tisch, der weder klein noch groß, weder rund noch dreieckig, weder von Holz noch von Elfenbein, noch von Gold oder Silber ist, der nicht dieser oder jener Tisch, sondern der Tisch selber, der Tisch an sich und das einzige Exemplar seiner Art im Lande der Ideen ist, neben den künstlichen goldnen Dreifüßen im Palast des Homerischen Hephästos 37 eine schlechte Figur macht. Wie kommt Plato [214] dazu, daß er den abgezogenen Begriffen von Arten und Gattungen, deren wir Menschen bloß als erleichternder und abkürzender Hülfsmittel zum Denken und Reden benöthigt sind, Selbstständigkeit und wirkliches Daseyn außer uns gibt? Die Natur hat ihm schwerlich dazu angeholfen; denn sie stellt lauter einzelne Dinge auf, und weiß nichts von unbestimmten Formen, nichts von Körpern, die weder klein noch groß, weder rund noch eckicht, weder aus diesem noch jenem Stoffe gemacht sind. Sie kennt nur Aehnlichkeit und Verschiedenheit in unendlichen Graden und Schattirungen; die Abtheilungen, Einzäunungen und Gränzsteine sind Menschenwerk. Der Maulwurf steht mit dem Elephanten auf eben derselben Linie, wie viel andere Thiere auch zwischen ihnen stehen mögen, und die Verschiedenheit zwischen einem Elephanten und einem andern, ist, wiewohl nicht so stark in die Augen fallend, doch nicht minder groß als die Aehnlichkeit. Weil alles Mögliche wirklich ist, so muß nothwendig der Unterschied zwischen den Wesen, die einander die ähnlichsten sind, kaum merklich seyn; wir übersehen also das, worin sie verschieden sind, fassen sie unter dem Begriff einer Art zusammen, und bezeichnen sie mit einem gemeinsamen Wort. Durch das nämliche Verfahren erhalten wir, indem wir die ähnlichsten Arten unter Ein gemeinschaftliches Wort stellen, den höhern Begriff der Gattungen. Das Bedürfniß einer Sprache, und das Gefühl der Nothwendigkeit, den auf uns eindringenden Vorstellungen Festigkeit und Ordnung zu geben, nöthigt den Menschen zu dieser ihm natürlichen Anwendung seines Verstandes, und es wäre nicht schwer (wenn [215] es mich nicht zu weit führte) zu zeigen, wie es zugeht, daß es ihm unvermerkt eben so natürlich wird, diese Abtheilungen und Classificationen für das Werk der Natur selbst zu halten, wiewohl sie nichts anders als Producte seiner durch den Drang des Bedürfnisses erregten instinctmäßigen Selbstthätigkeit sind. – Dieß hat mich wenigstens eine mäßige Aufmerksamkeit auf die Natur gelehrt, und wenn Speculiren um bloßen Speculirens willen meine Sache wäre, so dächte ich auf diesem Wege ziemlich weit zu kommen. Aber ferne von mir sey die Anmaßung, dich, mein liebenswürdiger Freund, oder irgend einen andern Sterblichen von einer Vorstellungsart abzuziehen, die ihm einleuchtet, wobei er gutes Muthes ist, und wodurch keinem andern Weh geschieht. Auch die Philosophie ist in gewissem Sinn etwas Individuelles, und für jeden ist nur diejenige die wahre, die ihn glücklicher und zufriedner macht als er ohne sie wäre.

Uebrigens danke ich der schönen Lasthenia, daß sie sich ihres entfernten Freundes so großmüthig annimmt, und finde sehr billig, wenn sie (ohne sich des geheimen Beweggrundes bewußt zu seyn) etwas Reelleres in der Welt vorzustellen wünscht, als ein bloßes Schattenbild des Platonischen Urweibes, welches weiter nichts zu thun hat, als im Lande der Ideen umher zu stolziren, und zehntausendmal zehntausend Myriaden mächtig von einander abstechender Weiberschatten auf diese Unterwelt herabzuwerfen; eine Verrichtung, wobei die Dame, wie groß ihre Selbstgenügsamkeit auch seyn mag, endlich doch ziemlich Langeweile haben dürfte, wenn anders ihr präsumtiver Gesellschafter und Liebhaber, [216] der idealische Urmann, neben seinem eignen gleichen Tagewerk, nicht noch Mittel und Wege findet, ihr auf eine uns Sterblichen unbegreifliche Weise die Zeit zu kürzen.

Ich gestehe dir, lieber Speusipp, daß ich große Lust hätte, diesen platten Scherz, seines ächten Atticismus ungeachtet, wieder auszustreichen, wenn ich nicht eine geheime Hoffnung nährte, daß er deinem erhabenen Oheim vielleicht Anlaß geben könnte, sich über die zur Zeit noch unbegreifliche Natur seiner Ideen etwas deutlicher zu erklären. Denn in der That, wenn er uns nicht mehr Licht über diese wunderbaren Wesen zukommen lassen wollte als bisher, hätte er besser gethan, uns gar nichts davon zu offenbaren.

12. Aristipp an Eurybates
12.
Aristipp an Eurybates.

Der angeborne Trieb der streitlustigen Athener für und wider jede Sache zu sprechen, und von allem, was ein anderer sagt, stehendes Fußes das Gegentheil zu behaupten, ist durch die berühmten Sophisten, die ehmals eine so gute Aufnahme bei euch fanden, und seitdem durch Antisthenes, Platon und die übrigen Sokratiker, bei Alten und Jungen aus den höhern Classen euerer Bürger dermaßen geübt und in Athem erhalten worden, daß es mich nicht wundert, edler Eurybates, wenn Platons neuester Dialog noch immer, wie du mir schreibst, den meisten Anlaß zu den [217] dialektischen Kampfübungen gibt, womit eure vornehmern Müßiggänger, während des dermaligen Stillstands kriegerischer und politischer Neuigkeiten, sich einige Unterhaltung zu verschaffen suchen. Daß meine Briefe (die nun einmal, beliebter Kürze und Bequemlichkeit halben, Platonisch oder Antiplatonisch heißen müssen) Oel ins Feuer gegossen haben, würde mir, als einem der friedfertigsten Menschen unter der Sonne, beinahe leid seyn, wenn du nicht zu gleicher Zeit den Trost hinzu fügtest, daß sie auf der andern Seite nicht wenig dazu beitragen, die Nachfrage nach dem wundervollsten Werke unsrer oder vielmehr jeder Zeit allgemein zu machen, und manchen einseitigen Tadler zu Anerkennung des vielfältigen Verdienstes zu vermögen, welches der Urheber desselben sich um Athen und die ganze Hellas, ja ich darf wohl sagen, um das ganze Menschengeschlecht dadurch erworben hat. Denn ich zweifle keinen Augenblick, es wird so lange leben, als unsre Sprache das Mittel bleiben wird, die Cultur, die uns so weit über alle andern Völker erhebt, nach und nach über die ganze bewohnte Erde auszubreiten.

Außerdem gesteh' ich dir gern, daß ich mich nicht wenig geschmeichelt finde, auch in so großer Entfernung von der schönen Minervenstadt eine Art geistiger Gemeinschaft mit ihren Bewohnern zu unterhalten, und mich meinen ehmaligen Freunden und Gesellschaftern zu vergegenwärtigen, indem ich ihnen Gelegenheit gegeben habe meinen Namen zu nennen und sich so mancher schönen, mir selbst unvergeßlichen Stunden zu erinnern, die wir unter dem freiesten Umtausch unsrer Gedanken und Gefühle, in euern prächtigen Hallen [218] und anmuthigen Spaziergängen, oder beim fröhlichen Mahl und bei thauenden Sokratischen Bechern, so vergnüglich zugebracht haben. Je glücklicher das Gegenwärtige, worin wir leben, ist, um so angenehmer ist es, den Genuß desselben durch die ihm so schön sich anschmiegenden und darin verschmelzenden Erinnerungen des Vergangenen zu erhöhen, und uns dadurch dem Wonneleben der seligen Götter zu nähern, deren Daseyn ein immer währender Augenblick ist. Warum, ach! warum muß unsre liebenswürdige Freundin zu Aegina – nicht mehr seyn! Welchen Genuß, welche Unterhaltungen würden alle diese neuen Erscheinungen, die so viel Reiz für diese vorwitzige aber schwer zu täuschende Psyche hatten, ihr und uns durch sie verschafft haben!

Unter den vielerlei Problemen, die, wie du sagst, aus Veranlassung meiner Briefe, eure Philodoxen (wie Plato sie benamset) unter den Propyläen oder in den Schattengängen der Akademie in Bewegung setzen, ist diejenige Frage, worüber du eine nähere Erklärung von mir verlangst, vielleicht die wichtigste, weil sie auf das praktische Leben mehr Einfluß als irgend eine andere zu haben scheint. Du weißt daß ich kein Freund von unfruchtbaren Grübeleien bin; aber gewiß gehört die Streitfrage: »wie sich das was ist, zu dem was seyn soll, verhalte?« oder, »ob und inwiefern man sagen könne, daß das was ist, anders seyn sollte?« nicht unter die Processe um des Esels Schatten; es ist nichts weniger als gleichgültig für den sittlichen Menschen, wie sie entschieden wird. Ich bin so weit entfernt meine Meinung für entscheidend zu geben, daß ich vielmehr überzeugt bin, dieses Problem könne [219] niemals rein aufgelöst werden. Indessen sehe ich nicht, warum ich Bedenken tragen sollte, dir die Antwort mitzutheilen, die ich mir selbst auf jene Fragen gebe.

Daß im bloßen Seyn (dem ewigen Gegentheil des ewig unmöglichen Nichtseyns) alles Mögliche enthalten sey, ist für mich etwas Ausgemachtes, an sich Klares und keines Erweises Bedürftiges. Das was ist, im unbeschränktesten Sinn des Worts, ist also das Unendliche selbst, und umfaßt, nach unsrer Vorstellungsart, alles was möglich ist, war, und seyn wird. Ich sage nach unsrer Vorstellungsart; denn im Unendlichen selbst ist weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern ewige Gegenwart; und eben darum ist es uns unbegreiflich. In dieser Rücksicht kann man also nicht sagen, daß was nicht ist, seyn sollte; denn alles was seyn soll, muß seyn können; und alles was seyn kann, ist.

Aber wie bringe ich diese unläugbaren Grundsätze in Uebereinstimmung mit der Stimme meiner Vernunft und meines Herzens, die mir täglich sagen, es geschehen Dinge in der Welt, die nicht geschehen sollten? Brüder z.B. sollten nicht gegen Brüder, Hellenen nicht gegen Hellenen zu Felde ziehen, ihre Wohnsitze und Landgüter wechselsweise ausrauben und verwüsten, die eroberten Städte schwächerer Völker nicht dem Erdboden gleich machen, die Ueberwundnen nicht mit kaltem Blute morden, oder auf öffentlichem Markt als Sklaven verkaufen, u.s.w. Wer erkühnt sich zu läugnen, daß dieß alles nicht seyn sollte? Und gleichwohl ist es. – Leider! Aber wie könnt' es anders seyn?

Das Bedürfniß unsre Gedanken an Worte zu heften, [220] und die unvermeidliche Unschicklichkeit, mit diesen Worten allgemeine Begriffe bezeichnen zu müssen, deren Allgemeinheit ihren Grund nicht in der Natur der Dinge, sondern bloß in unsrer verworrenen und unvollständigen Ansicht derselben, und in den Trugschlüssen haben, die wir aus diesen täuschenden Anschauungen ziehen, – diese Quellen beinahe aller der Irrthümer, Halbwahrheiten und Mißverständnisse, die so viel Unheil unter den Menschen anrichten – sind auch hier die Ursache eines Trugschlusses, an dessen Richtigkeit gleichwohl die Meisten so wenig zweifeln, daß ich Gefahr laufe des Verbrechens der beleidigten Menschheit angeklagt zu werden, wenn ich mich erkühne ihn anzufechten. Indessen, der erste Wurf ist nun einmal geschehen, und ich werde schon auf meine Gefahr fort spielen müssen.

Daß der Tiger blutdürstig, der Affe hämisch, die Otter giftig ist, daß der Wolf Lämmer stiehlt und der Iltiß die Tauben erwürgt um ihre Eier auszuschlürfen, wer wundert sich darüber? Es ist ihre Natur, sagt man, und wie lästig sie uns auch dadurch werden, fordert doch niemand, daß sie anders seyn sollten als sie sind. Diejenigen, welche behaupten, daß die Menschen weiser und besser seyn sollten, als sie sind, nehmen als Thatsache an, »daß sie dermalen, im Ganzen genommen, eine thörichte und verkehrte Art von Thieren sind;« Plato trägt sogar kein Bedenken zu behaupten, es gebe kein Volk in der Welt, dessen Verfassung, Lebensweise, Sitten und Gewohnheiten nicht durch und durch verdorben wären. – »Aber es sollte und könnte anders seyn, sagt man.« – Allerdings könnte und würde es anders seyn, wenn [221] die Menschen vernünftige Wesen wären. – Wie? sind sie es etwa nicht? Wer kann daran zweifeln? – Ich! – Wenn sie es wären, so würden sie anders, nämlich gerade das seyn, was vernünftige Wesen, ihrer Natur zufolge, seyn sollen. Aber diese sehr ungleichartigen einzelnen Erdenbewohner, die ihr, weil sie auch zweibeinig und ohne Federn sind und den Kopf aufrecht tragen wie die eigentlichen Menschen, mit diesen zu vermengen und unter dem gemeinschaftlichen Namen Mensch zusammen zu werfen beliebt, sind nun einmal größtentheils (wie ihre ganze Weise zu seyn und zu handeln augenscheinlich darlegt) alles andre was ihr wollt, nur keine vernünftigen Wesen. Das äußerste, was ich, ohne mich an der Wahrheit zu versündigen, thun kann, ist, ihnen eine Art von vernunftähnlichem Instinct zuzugestehen, mit etwas mehr Kunstfähigkeit, Bildsamkeit und Anlage zum Reden, als man an den übrigen Thieren wahrnimmt; Vorzüge, wodurch sie einer zwar langsamen, aber doch fortschreitenden Vervollkommnung fähig sind, deren Gränzen sich schwerlich bestimmen lassen. Dieß gibt einige Hoffnung für die Zukunft. Binnen etlichen hundert Metonischen Cyklen 38 mögen sie, nach zehntausendmaliger Wiederholung der nämlichen Mißgriffe und Albernheiten, durch die immer gleichen Folgen derselben endlich gewitziget, einige Schritte vorwärts gemacht haben, und wenn sie dereinst völlig zur Vernunft gereift sind, zuletzt so verständig und gut werden, als sie eurer Meinung nach bereits seyn sollten; was doch unter allen Bedingungen ihrer dermaligen Existenz und auf der Stufe von Cultur, worauf sie stehen, keine Möglichkeit ist. Ihr vergeßt nämlich, daß [222] von allem, was wir uns, unter einem abgezogenen unbestimmten Begriff, als möglich vorstellen, keines eher in die wirkliche Welt eintreten kann, bis die Ursachen und Bedingungen seiner Möglichkeit in derselben vollständig zusammentreffen. Ihr vergeßt, daß das, was itzt ist, aus dem, was zuvor war, hervorgehen muß, und daß Jahrtausende nöthig waren, bis an jenen Tigermenschen, Wolf- und Luchsmenschen, Pferde-Stier- und Eselmenschen u.s.w., welche, als die wahren ursprünglichen Autochthonen, vor undenklichen Zeiten den noch rohen Erdboden inne hatten, das Menschliche so viel Uebergewicht über die ungeschlachte Thierheit bekam, daß es einem Hermes, Cekrops, Phoroneus, Orpheus, den Kureten, Telchinen, Idäischen Daktylen und ihresgleichen möglich war, sie in eine Art von bürgerlicher Gesellschaft zu vereinigen, sie an einige Ordnung und Sittlichkeit zu gewöhnen, und in den ersten Anfängen der Künste, die das Leben menschlicher machen, zu unterrichten. Wer sich die Mühe nehmen mag, den unendlichen Hindernissen und Schwierigkeiten nachzudenken, welche die Vernunft noch itzt, da die sogenannten Menschen sich aus ihrer ursprünglichen Rohheit und Verwilderung schon so lange herausgearbeitet haben, in ihren Wahnbegriffen und Leidenschaften, in ihrer Geistesträgheit, Sinnlichkeit und thierischen Selbstigkeit zu bekämpfen hat, der wird sich nicht wundern, daß es mit ihrer Veredlung so langsam hergeht, und wird nicht schon von der harten und herben grünen Frucht die Weichheit und Süßigkeit der zeitigen verlangen.

Nun wohl, höre ich sagen, wenn dieß auch von der[223] größten Mehrheit der Menschen in Eine Masse zusammengeworfen gelten könnte, bleibt darum weniger wahr, daß dieser und jener, oder vielmehr daß jeder einzelne Mensch besser seyn könnte, folglich seyn sollte, als er ist? – Mich dünkt hier ist viel auseinanderzusetzen. Wenn ich z.B. meinen Sklaven Kappadox aus dem ganzen Zusammenhang seiner äußern Umstände und aus sich selbst gleichsam heraushebe, so scheint es allerdings, daß er verständiger, besonnener, geschickter, fleißiger und bei Gelegenheit etwas nüchterner seyn könnte; denn es ist nicht zu läugnen, daß ihm, wiewohl er eben kein bösartiger Menschensohn ist, doch ziemlich viel fehlt, um für ein Muster der Sokratischen Sophrosyne zu gelten. Unstreitig läßt sich also nicht nur ein besserer Mensch denken als er; ich glaube sogar zu begreifen, wie er selbst, unter andern Umständen, dieser bessere Mensch seyn könnte. Wenn ich aber überlege, daß er ein geborner Cappadocier, unter ungebildeten Menschen aufgekommen, schlecht erzogen, schlecht genährt, und nie zu etwas Besserm als knechtischer Arbeit angehalten worden ist u.s.w., so finde ich mehr Ursache, mich wundern zu lassen, daß er nicht schlechter als daß er nicht besser ist, und ich fordre nicht mehr Weisheit und Tugend von ihm, als ihm unter allen Bedingungen seiner Existenz zuzumuthen ist. Sollte, was von meinem Cappadocier gilt, nicht aus gleichem Grunde von jedem gebildeten und ungebildeten Athener, Thebaner oder Korinthier gelten? – Aber (könntest du mir einwenden) kommen nicht Fälle vor, wo du deinen Sklaven zu einer Pflicht ermahnest, oder ihm eine Unart verweisest, oder ihn wohl gar körperlich züchtigen [224] lässest? – Das letztere ist in meinem Hause nicht üblich. Wenn einer meiner Sklaven sich auf einen wiederholten scharfen Verweis nicht bessert, wird er auf den Markt geführt und – nicht für gut – verkauft. – »Du nimmst also doch die Besserung als etwas Mögliches an?« – Warum nicht? Wenn ich ihm einen mehrmals begangenen Fehler scharf verweise, so geschieht es nicht des begangenen wegen, denn der ist nun einmal gemacht; aber da der Fall wieder kommen kann, warum sollt' es nicht möglich seyn, daß mein Kappadox, indem er im Begriff ist dieselbe Sünde wieder zu begehen, sich meines Verweises und der angehängten Drohung erinnerte, und dadurch zurückgehalten würde? Wo nicht, so wirkt vielleicht eine derbe Züchtigung, die ihm sein künftiger Herr geben läßt; aber aus beiden Fällen geht weiter nichts hervor, als daß ein Mensch, der einer gewissen Versuchung heute nicht zu widerstehen vermochte, es mit Hülfe eines stärkern Beweggrundes ein andermal vielleicht vermögen wird. Belehrung, Warnung, Züchtigung, beziehen sich daher immer auf künftige Fälle, und sind, insofern, als mögliche Verbesserungsmittel nicht zu versäumen. Denn die Möglichkeit durch gehörige Mittel unter den erforderlichen Umständen besser werden zu können, ist unläugbar eine Eigenschaft der menschlichen Natur, wiewohl daraus nicht folgt, daß eben derselbe, der in einer gewissen äußern Lage und innern Stimmung etwas zu thun oder zu unterlassen vermag, auch bei veränderten Umständen Kraft genug haben werde, dasselbe zu thun oder nicht zu thun. – »Du rechnest also nichts auf die Kraft eines fest entschloss'nen Willens?« – Im Gegentheil, sehr[225] viel. Aber ein Wille, der zu allen Zeiten jeder Versuchung, jeder Leidenschaft und jeder Gewohnheit siegreich zu widerstehen vermag, setzt eine große erhabene Natur voraus, und kann nicht das Antheil gewöhnlicher Menschen seyn. Von diesen zu fordern, was nach dem Zeugniß der Erfahrung nur in sehr seltnen Fällen von den außerordentlichsten Heroen der Menschheit geleistet worden ist, wäre unbillig und vergeblich. Wir bewundern alle Arten von Helden, aber niemand ist schuldig ein Held zu seyn, und hört er auf es zu seyn, wenn er's einst war, was können wir dazu sagen, als daß ihn seine Kraft verlassen habe? Er ist in die Classe der gemeinen Menschen zurückgesunken, und verdient deßwegen keine Verachtung, wiewohl er, als er ein Held war, Bewundrung verdiente. – Du wirst mir einwenden, die Rede sey nicht von moralischen Heldenthaten, sondern von dem, wozu jeder Mensch verbunden ist, von der Pflicht gerecht und gut zu seyn; und ich – werde wiederholen müssen was ich schon gesagt habe: die Vernunft fordert beides, aber nur von vernünftigen Wesen. Der bürgerliche Gesetzgeber scheint zwar diese Forderung ohne Unterschied an alle Glieder des Staats zu machen; aber im Grunde rechnet er wenig auf ihre Vernunft; er verlangt nur Gehorsam. Unbekümmert aus welcher Quelle dieser Gehorsam fließe, glaubt er genug gethan zu haben, indem er seine Untergebnen durch Strafen von Uebertretung der Gesetze abschreckt. Indessen zeigt der allgemeine Augenschein wie wenig dieß hinreicht, und Plato hat vollkommen Recht, wenn er behauptet, daß die Bürger eines Staats von Kindheit an durch zweckmäßige Veranstaltungen zur[226] Tugend erzogen, d.i. mechanisch an ihre Ausübung gewöhnt werden müssen, und daß alle andern Mittel, wodurch man dem Gesetze Kraft zu geben vermeint, unzulänglich oder unvermögend sind. So lange diesem Mangel nicht abgeholfen ist, sind Strafgesetze zwar ein nothwendiges Uebel, aber immer ein Uebel, worüber der Weise den Kopf schüttelt und der Freund der Menschheit trauert.

Aber wir haben es, bei Beantwortung der Fragen über Seyn und Sollen, nicht mit Bürgern, sondern mit Menschen zu thun, nicht mit einer dialektischen, geschweige Platonischen Idee der Menschheit, sondern mit den sämmtlichen einzelnen Wesen, welche unter dem allgemeinen Namen Mensch begriffen werden. Von diesen zu fordern, sie sollten anders seyn als sie sind, – wäre die Vernunft nur dann berechtigt, wenn sie unbillige Forderungen thun könnte. Aber die Vernunft will nichts als daß sie anders werden sollen, und auch dieß erwartet sie nur von solchen innern und äußern Veranstaltungen, wodurch die Verbesserung möglich wird: denn sie verlangt nicht (mit dem Sprüchwort zu reden), daß das Böckchen im Hofe herum springe bevor die Ziege geworfen hat.

Ich hätte noch mancherlei zu bemerken, wenn ich ins Besondere gehen, und diese reichhaltige Ader erschöpfen wollte. Ich glaube aber meine Gedanken hinlänglich dargelegt zu haben, um dir klar zu machen, daß ich durch meine Art die Dinge zu sehen hauptsächlich den schiefen und unbilligen Urtheilen (wenigstens bei mir selbst) zuvorkommen möchte, die man täglich über Personen, Sachen und Handlungen von Leuten aussprechen hört, denen nichts recht ist wie es ist, [227] wiewohl der Fehler bloß daran liegt, daß sie selbst nicht sind, wie sie seyn müßten, um über irgend etwas ein unbefangenes Urtheil fällen zu können.

13. Lysanias von Athen an Droso, seine Mutter
13.
Lysanias von Athen an Droso, seine Mutter.

Wenn ein Jüngling, der so glücklich ist ein Athener und dein Sohn zu seyn, an irgend einem Ort in der Welt in Gefahr kommen könnte, zu erfahren was den Gefährten des edeln Laertiaden 39 bei den Lotophagen begegnete,


Lotos pflückend zu bleiben und abzusagen der Heimath,


so müßt' es, denke ich, zu Cyrene im Hause unsers edeln Gastfreundes Aristippus seyn, wo ich bereits vom dritten Frühling überrascht werde, ohne recht zu wissen, wie mir so viele Zeit zwischen den Fingern, so zu sagen, durchgeschlüpft ist. Nicht als ob ich mir selbst so Unrecht thun wollte, liebe Mutter, die Besorgniß bei dir zu erregen, daß ich sie übel angewandt hätte; was freilich bei den Menschen, mit welchen ich lebe, nicht wohl möglich gewesen wäre: aber gewiß ist, ich befand mich von allen Seiten so wohl, hatte so viel zu sehen, zu hören, zu lernen, zu üben, zu schicken und zu schaffen, und das alles unter dem mannichfaltigsten Genuß immer abwechselnder Vergnügungen, daß ich mich auch nicht eines einzigen Tages besinnen kann, der mir nicht zu kurz gedäucht hätte.

[228] Cyrene ist in der That eine Stadt, die selbst ein geborner Athener schön finden muß; nicht ganz so groß noch so volkreich als Athen, aber doch beides genug, um nach Karchedon 40 die ansehnlichste Stadt an den Küsten Libyens zu seyn. Ihre Lage ist sehr anmuthig, noch mehr durch den Fleiß und Geschmack der Einwohner als von Natur; denn die Stadt scheint in einem einzigen unübersehbaren, trefflich angebauten Garten zu liegen. Nichts übertrifft die Fruchtbarkeit des Bodens; alle Arten von Früchten gelangen hier zu einem Grad von Vollkommenheit, wovon man in unserm rauhern Attika keinen Begriff hat.

Die Bürger von Cyrene sind überhaupt ein guter Schlag Menschen; eben nicht so fein geschliffen und abgeglättet als unsre Athener, aber auch nicht so hart, um so vieler Politur nöthig zu haben. Gutmüthigkeit, Gefälligkeit und Frohsinn sind ziemlich allgemeine Züge im Charakter dieses Volkes; sie lieben (wie alle Menschen) das Vergnügen, aber mit einer eigenen, in ihrer Sinnesart liegenden Mäßigung; sie wollen lieber weniger auf einmal genießen, um desto länger genießen zu können; und dieß ist vermuthlich die Ursache, warum ich hier so viele Greise gesehen habe, die mir das Bild des weisen Anakreons, so wie er sich selbst in seinen kleinen Liedern darstellt, vor die Augen brachten.

Aristipp und Kleonidas haben unvermerkt auf den Geist und Geschmack ihrer Mitbürger eine Wirkung gemacht, deren Einfluß auf das gesellige Leben, die öffentlichen Vergnügungen und vielleicht selbst auf die bisherige Ruhe dieses kleinen Staats nicht zu verkennen ist. Auch genießen beide die allgemeine [229] Achtung ihrer Mitbürger so sehr, daß selbst auf mich eine Art von Glanz davon zurückfällt, und mir als ihrem Freund und Hausgenossen überall mit Auszeichnung begegnet wird. Ich hoffe mich keiner allzu großen Selbstschmeichelei bei dir verdächtig zu machen, wenn ich hinzu setze, daß die Grazien (denen ich, nach Platons Rath, fleißig opfre) auch den Cyrenerinnen günstige Gesinnungen für mich eingeflößt zu haben scheinen. Man sieht zwar hier, wie zu Athen, die Frauen und Jungfrauen der höhern Classen nur bei öffentlichen religiösen Feierlichkeiten in großer Anzahl beisammen; aber sobald jemand in einem guten Hause auf dem Fuß eines Freundes steht, erhält er dadurch auch die Vorrechte eines Anverwandten, und wird, insofern sein Betragen die von ihm gefaßte günstige Meinung rechtfertigt, von dem weiblichen Theil der Familie eben so frei und vertraut behandelt als ob er selbst zu ihr gehörte.

Du zweifelst wohl nicht, liebe Mutter, daß ich mir diese Cyrenische Sitte in dem Hause, worin ich das Glück habe zu leben, aufs beste zu Nutze zu machen suche, und ich hoffe du wirst dereinst finden, daß mir der freie Zutritt, den ich bei Kleonen und Musarion habe, für die Ausbildung meines Geistes und mein Wachsthum in der Kalokagathie, in welcher ich erzogen bin, wenigstens eben so vortheilhaft gewesen ist, als der tägliche Umgang mit den vortrefflichen Männern, an welche mich mein Vater empfohlen hat. Unläugbar sind diese beiden Frauen unter den liebenswürdigsten, deren Cyrene sich rühmen kann, eben so ausgezeichnet als es ihre Männer unter ihren Mitbürgern sind; und ich gestehe dir offenherzig, [230] es ist ein Glück für mich, daß ich beide zu gleicher Zeit kennen gelernt habe, und, da sie beinahe unzertrennlich sind, beide immer beisammen sehe. Ohne diesen Umstand würde es mir, glaube ich, kaum möglich gewesen seyn, ungeachtet sie die Blüthenzeit des Lebens bereits überschritten haben, von der Leidenschaft nicht überwältiget zu werden, welche mir jede von ihnen, hätte ich sie allein gekannt, unfehlbar (wiewohl gewiß wider ihren Willen) angezaubert hätte. Du wirst über mich lächeln, gute Mutter; aber, wie wunderlich es auch klingen mag, ich schwöre dir bei allen Göttern, ich könnte sie nicht reiner und heiliger lieben, wenn sie meine leiblichen Schwestern wären; und doch fühle ich zuweilen, daß ich in Kleonen, wenn keine Musarion, und in Musarion, wenn keine Kleone wäre, bis zum Wahnsinn verliebt werden könnte. Bloß dadurch, daß beide zugleich so stark auf mich wirken, erhalten sie mein Gemüth in einer Art von leiser Schwebung zwischen ihnen, die ich beinahe Gleichgewicht nennen möchte. Kurz, weil ich beide liebe, so – liebst du keine, wirst du sagen; und im Grunde glaube ich selbst, daß für diese seltsame Art von Liebe ein eigenes Wort, das unsrer Sprache fehlt, erfunden werden müßte. Was mich auf alle Fälle beruhigt, ist, daß ich Aristipp und Kleonidas zu meinen Vertrauten gemacht habe. Diesem sage ich alles was ich für seine Schwester, jenem alles was ich für Musarion empfinde. Beide sind mit mir zufrieden; sie selbst sowohl als ihre Frauen gehen mit mir wie mit einem jüngern Bruder um, so unbefangen, so traulich und herzlich, daß sie mich unvermerkt gewöhnt haben, mich dafür zu halten. Darf ich dir [231] alles gestehen, meine Mutter? – und warum sollt' ich nicht, da ich nichts zu bekennen habe, worüber ich erröthen müßte? Jede der beiden Frauen hat eine Tochter, die ich, wenn sie auch an sich selbst weniger reizend wären, um der Mutter willen lieben würde. Aber hier bedarf es keines solchen Beweggrundes; die Töchter sind in einem so hohen Grade liebenswürdig, daß sogar ihre Mütter (wenigstens in meinen Augen) durch sie verschönert werden. Melissa, Musarions Tochter, soll an Gestalt und Gesichtsbildung der berühmten Lais ähnlich seyn; und wirklich besitzt Kleone ein Bild der letztern, worin alle, die es zum erstenmal sehen, Melissen zu erkennen glauben. Ich selbst wurde beim ersten Anblick getäuscht; aber als ich das Bild genauer mit ihr verglich, sah ich, daß Melissa – vielleicht nicht ganz so schön ist, aber etwas noch sanfter Anziehendes und, wenn ich so sagen kann, dem Herzen sich Einschmeichelndes hat, welches sie ihrer Mutter ähnlicher machen würde, wenn es nicht mit den Zügen der schönen Lais so zart verschmolzen wäre. Diese wunderbare Vermischung, wodurch sie, je nachdem man sie von einer Seite ansieht, bald Musarion bald Lais scheint, gibt ihr etwas so Eigenes, daß ihr jede Vergleichung Unrecht thut; einen Zauber, der mich unwiderstehlich an sie fesseln würde, wenn nicht Kleonens leibhaftes Ebenbild, ihre einzige Tochter (einen holden dreijährigen Knaben hat ihr Aurora entführt 41) die liebliche Arete, neben ihr stände, und durch die zierlichste Nymphengestalt, und die Vereinigung aller Grazien der holdesten Weiblichkeit mit dem stillen Ausdruck eines edeln Selbstgefühls mich etwas empfinden ließe, wofür ich keinen Namen [232] habe; eine Art von Anmuthung, die nichts Leidenschaftliches, aber etwas unbeschreiblich Inniges hat, und die Gewalt der magischen Reize ihrer schwesterlichen Gespielin so lieblich dämpft – daß ich (wiewohl ohne mein Verdienst) bis jetzt noch immer Herr von mir selbst geblieben bin, und zwischen Arete und Melissa ungefähr eben so in der Mitte schwebe, wie zwischen Kleone und Musarion.

Ich bin es zu sehr gewohnt, nichts Geheimes vor einer so gütigen und nachsichtvollen Mutter zu haben, als daß ich meine Bekenntnisse nicht vollständig machen sollte. Da ich die Freundschaft kannte, die schon so lange zwischen meinem Vater und Aristipp, so wie zwischen dir und Musarion besteht, so mußte der Gedanke an die Möglichkeit einer engern Verbindung unsrer Familien um so natürlicher in mir entstehen, da ich in den äußern Umständen kein erhebliches Hinderniß sehen konnte. Es zeigte sich aber bald nach meinem Eintritt in das Aristippische Haus, daß Melissa, welche bereits das dreizehnte Jahr zurückgelegt hat, meinem neuen Freund Kratippus, Aristipps Brudersohne, und die holdselige Arete, welche vier Jahre weniger als ihre Base hat, von der Wiege an einem Sohne des Kleonidas zugedacht ist. Ein Glück für mich, daß mir dieses Verhältniß, welches für die beiden Kinder selbst noch ein Geheimniß ist, bei Zeiten entdeckt wurde. Indessen hätte ich die Tochter Kleonens jedem andern streitig gemacht, als einem Sohn von Musarion und Kleonidas. Ueberdieß zeigten mir beide Mütter so viele Freude an dem Gelingen ihres Plans und an der täglich sichtbarer werdenden Sympathie ihrer Kinder, daß ich eher einen Tempel [233] zu berauben oder mein Vaterland zu verrathen, als das häusliche Glück dieser schönen Seelen zu stören vermöchte. Glaube nicht, ich dünke mir dieser Selbstbezähmung wegen ein großer Tugendheld; dazu kommt sie mich in der That zu leicht an. Eine Familie wie diese, worin Männer, Frauen und Kinder, jedes in seiner Art so äußerst liebenswürdig, alle wie von einer einzigen gemeinschaftlichen Seele belebt, so zufrieden, so einmüthig, so glücklich in sich selbst und eines in dem andern sind, werde ich in meinem Leben schwerlich wieder finden. Mir ist ich lebe in einer kleinen idealischen Republik, worin ich durch den bloßen Geist der Liebe diese reine Zusammenstimmung realisirt sehe, welche Plato in der seinigen vergebens durch die mühsamsten Anstalten und die unnatürlichsten Gesetze zu erzwingen hofft. Der müßte ein Ungeheuer seyn, der, in der Mitte so edler und guter Menschen lebend, und so freundlich von ihnen in ihren Kreis aufgenommen, die Harmonie, die das Glück ihres Lebens macht, durch irgend einen vorsetzlichen Mißklang zu unterbrechen fähig wäre!

Ich kann es mir nicht versagen, liebe Mutter, noch einmal zu Kleonen zurückzukommen; dieser Einzigen, in welcher alles was ich für eine Schwester und Freundin, für die Gattin des würdigsten Mannes, und selbst für eine Mutter fühlen kann, mit dem, was eine noch junge Frau, die von Aphroditen mit jedem Reiz und von den Musen mit ihren schönsten Gaben ausgestattet wurde, einem empfänglichen, aber nicht unbescheidenen Jüngling einzuflößen vermag, in einer mir selbst beinahe wunderbaren Mischung zusammenfließt. Zu dem [234] allem kommt noch zuweilen eine Art von heiligem, ich möchte sagen religiösem Gefühl, wie ich glaube daß mir zu Muthe wäre, wenn ein überirdisches Wesen in aller Glorie, die ein irdisches Aug' ertragen kann, aber mit dem Ausdruck von Huld und Wohlwollen, plötzlich vor mir stände. Wie oft ist mir in solchen Augenblicken eingefallen, was Plato in einem seiner Dialogen von der unaussprechlichen Liebe sagt, welche die Tugend in uns entzünden würde, wenn sie uns in ihrer eigenen Gestalt sichtbar werden könnte!

Einer der schönsten und seltensten Züge im Charakter dieses vortrefflichen Weibes ist die Vereinigung einer immer gleichen Heiterkeit, welche nah an Frohsinn, selten an Fröhlichkeit gränzt, mit einem sanften Ernst, der über dem reinen Himmel ihrer Augen wie ein durchsichtiges Silberwölkchen schwebt. Seit einiger Zeit scheint dieser Ernst zuweilen (doch nur wenn sie unbemerkt zu seyn glaubt) in ein stilles Brüten über düstern Gedanken übergegangen zu seyn; auch haben Musarion und ich einander die Wahrnehmung mitgetheilt, daß sie, wiewohl in kaum merklichen Graden, blässer und magerer wird, von den zahlreichen rauschenden Gesellschaften (die in diesem gastfreien Hause nicht selten sind) mehr als sonst ermüdet scheint, und überhaupt, wo sie kein Aufsehen zu erregen befürchtet, sich gern ins Einsame zurückzieht. Musarion glaubt in diesen und andern kleinen Umständen Zeichen einer langsam abnehmenden Gesundheit wahrzunehmen, und verdoppelt daher ihre Aufmerksamkeit und Sorgfalt für die geliebte Schwester, ohne jedoch weder Aristipp noch Kleonidas in Unruhe zu setzen, welche, von Kleonens gewohnter [235] Heiterkeit und Munterkeit getäuscht, von allem dem nichts gewahr werden, worüber wir selbst uns vielleicht aus allzu sorglicher Liebe täuschen. Denn manches kann vorübergehende Ursachen haben; und besonders scheint ihre Liebe zur Einsamkeit eine natürliche Folge davon zu seyn, daß sie sich aus der Bildung der jungen Arete das angelegenste ihrer Geschäfte macht; denn selten oder nie findet man sie ohne ihre Tochter allein.

Dieser Tage machte mich ein Zufall zum unbemerkten Zeugen einer Scene, die ein unauslöschliches Bild in meiner Seele zurückgelassen hat. Es traf sich daß Aristipp mit einem merkwürdigen Fremden, der sich seit kurzem hier aufhält, einen kleinen Abstecher ins Land machte. Da jedes im Hause seinen Geschäften oder Erholungen nachging, lockte mich die Schönheit des Abends bei halb vollem Mondschein in eine abgelegnere Gegend der Gärten die das Landhaus, wo wir uns aufhalten, umkränzt. Unvermerkt führte mich ein schmaler Pfad in die Nähe eines kleinen von Cypressen und duftreichen Gebüschen eingeschloss'nen, mit Moos bewachs'nen Platzes, den die elterliche Liebe dem Andenken ihres in der Kindheit verstorbenen einzigen Sohnes widmete. Selbst ungesehen erblicke ich hier Kleonen, an den Aschenkrug des kleinen Klearists zurückgelehnt, auf einer Stufe des marmornen Denkmals sitzen, den Kopf auf den linken Arm gestützt, die Augen mit sanft traurigem Lächeln auf den Mond, der so eben über den Cypressen aufging, wie auf die Scene einer himmlischen Erscheinung geheftet. Ihr bis zu den Füßen herabgefloss'nes weißes Gewand, die Blässe ihres schönen Gesichts,[236] und die kalte Marmorweiße des Arms, worauf sie sich stützte, das Unvermuthete des Anblicks, und die schauerliche Stille des Orts, alles vereinigte sich meine Besonnenheit zu überraschen. Ich glaubte Kleonens Schatten zu sehen und schauderte zusammen; aber zu allem Glück blieb mir der unfreiwillige Ausruf, der mir entfahren wollte, in der Kehle stecken. Einen Augenblick darauf hört' ich ein Rascheln durchs Gebüsch, und die kleine Arete an der Hand ihres vermeinten Bruders Kallias kam von der andern Seite, mit lautem Rufen, da ist sie! das ist sie! auf die geliebte Mutter zugeflogen, welche sie schon lange im ganzen Garten gesucht hatten. Es war ein entzückender Anblick für mich, wie sie die holden Kinder, jedes mit Einem Arm umschlingend, an ihren Busen drückte, und wie schnell das süße Muttergefühl für die Lebenden die kurz zuvor so bleichen Lilienwangen mit warmen Blut aus dem überwallenden Herzen durchströmte. Eine heilige Ehrfurcht hielt mich in den Boden gewurzelt und band meine Zunge. Kleone stand ohne mich entdeckt zu haben auf, nahm die fröhlich hüpfenden Kinder an beide Hände, und verschwand in wenig Augenblicken.

Ich werde zwar frei zu dir zurückkehren, liebe Mutter; aber du wirst Mühe haben in Athen eine Jungfrau zu finden, die mich meiner lieben, wiewohl leider! nicht für mich gebornen, Cyrenerinnen vergessen machen könnte.

14. Aristipp an Learchus von Korinth
[237] 14.
Aristipp an Learchus von Korinth.

Der Syrakusier, der sich seit einiger Zeit bei uns aufhält, edler Learch, ist wirklich der nämliche identische Philistus 42, von welchem Kundschaft einzuziehen du von einem Freund in Syrakus ersucht worden bist. Er macht kein Geheimniß daraus; zumal da er nicht unterlassen hatte dem Dionysius schriftlich anzuzeigen, daß er seiner Gesundheit wegen eine Reise nach Rhodus und Kreta, und von da vielleicht nach Cyrene unternehmen würde. Daß er die Einwilligung des alten Fürsten nicht abgewartet oder vielmehr gar nicht um sie angesucht, kann ihm nicht zum Vorwurf gereichen: denn der Ort, wo er während seiner Verweisung aus Sicilien leben wolle, war in sein Belieben gestellt; und so gut als er von Thurium, wo er sich anfangs einige Jahre aufhielt, eigenmächtig nach Adria ziehen konnte, stand es ihm frei, von Adria nach Rhodus, Cyrene oder Gades zu gehen, wenn er Lust dazu hatte. Er hat sich selbst dadurch um einige Tausend Stadien weiter von Syrakus verbannt, aber doch nicht weit genug, daß ihn Dionys nicht finden könnte, wenn er ihn wieder bei sich haben wollte; und ich sehe nicht, warum sein Besuch bei einem alten Bekannten (der überdieß noch von seiner Jugend her ein erklärter Verehrer der Regierungstalente dieses Fürsten ist) ihm den mindesten Verdacht zuziehen könnte. Möge Dionysius noch lange vor allen andern [238] Anschlägen so sicher seyn, als vor denen, die in Aristipps Hause gegen ihn geschmiedet werden!

Es sind nun über fünfundzwanzig Jahre, daß ich mit Philisten zu Syrakus (wohin ich, wie du weißt, den Sophisten Hippias begleitete) zufälligerweise bekannt wurde. Damals stand er bei dem sogenannten Tyrannen noch in Gunsten, und schien Geschmack an mir zu finden: aber weder meine Absichten noch die Kürze meines Aufenthalts gestatteten mir ein näheres Verhältniß mit ihm anzuknüpfen, und ich gestehe daß ich ihn in der Folge gänzlich aus meinem Gesichtskreis verlor. Demungeachtet erkannten wir einander wieder, als er vor einigen Monaten ohne alle Vorbereitung bei mir erschien, und sich mir, unter dem Titel eines alten Bekannten, als Philistus des Archomenides Sohn von Syrakus ankündigte. Da er überall im Ruf eines Mannes von Geist und Talenten steht, und unläugbar einer der vorzüglichsten und gebildetsten unsrer Zeitgenossen ist, so wirst du dich eben so wenig wundern, daß er hier allgemeinen Beifall findet, als daß sich nach und nach eine Art von Freundschaft zwischen ihm und mir entsponnen hat, so vertraut als sie zwischen dem planlosen Weltbürger Aristipp und einem ehrgeizigen Syrakusischen Eupatriden möglich ist, der (wie es scheint) nie vergessen wird, daß seine Geburt, sein Vermögen, die wesentlichen Dienste, die er dem Dionysius geleistet und seine Verbindung mit einer Bruderstochter desselben, ihn zu Erwartungen berechtigten, die mit seiner schon so lange dauernden Verbannung in einem sehr unangenehmen Mißverhältniß stehen. Bei allem dem hat er sich selbst so sehr in seiner Gewalt, daß diese unfreiwillige [239] Auswanderung das Werk seiner eigenen Wahl zu seyn scheint; und allenthalben, wo die Rede von dem Zustand seines Vaterlandes und der Regierung des Dionysius ist, spricht er darüber so unbefangen mit, daß niemand, der von seinen Verhältnissen nicht genau unterrichtet ist, weder in seinem Ton, noch in seiner Miene das geringste, was einen Mißvergnügten verriethe, gewahr werden kann. Daß er sich gegen mich, wenn wir ohne Zeugen von diesen Dingen sprechen, für jenen Zwang ein wenig entschädigt, ist natürlich; indessen kann ich dich versichern, er müßte entweder der verdeckteste und undurchdringlichste aller Menschen seyn (was von einem so feuervollen Sicilier kaum zu glauben steht), oder er ist fest entschlossen, da alle bisherigen Versuche, den nichts verzeihenden Herrn zu seiner Zurückberufung zu bewegen, fruchtlos abgelaufen sind, sich nun vollkommen leidend zu verhalten, und den Zeitpunkt ruhig abzuwarten, der seinem Schicksal vermuthlich eine andere Wendung geben wird.

Philist ist ein so angenehmer Gesellschafter, daß es nur von ihm abhinge, zu Cyrene ein so müßiges und üppiges Leben zu führen als eure ausgemachtesten Sardanapale zu Korinth und Syrakus. Er hat aber in seiner Jugend schneller gelebt als rathsam ist, und scheint nun mit seinem Rest etwas behutsamer haushalten zu wollen. Er theilt sich nur gerade so viel mit, als nöthig ist sich bei meinen gastfreundlichen Mitbürgern von der ersten Classe in Credit zu erhalten, und hat die Uebereinkunft mit ihnen getroffen, sich monatlich nicht mehr als sechsmal einladen zu lassen; so daß er, wenn jeder einmal an die Reihe kommt, gerade ein volles Jahr [240] braucht, um bei allen herumzuzechen. Seine meiste Zeit bringt er in meiner Akademie zu, wo ich ein eigenes Cabinet für ihn habe zubereiten lassen, um in der Nähe der Bibliothek ungestört an der Fortsetzung seiner Geschichte von Sicilien arbeiten zu können, die seit zwanzig Jahren seine Lieblingsbeschäftigung ist, wiewohl wir sie mehr seiner Verbannung aus dem schönsten Lande der Welt, als seiner Liebe zur historischen Muse zu danken haben mögen. Vermuthlich kennst du die neun Bücher dieses Werkes, welche bereits in den Händen der Bibliopolen sind, und wovon die beiden letzten die Geschichte der Regierung des Dionysius von der dreiundneunzigsten bis zur hundertsten Olympiade enthalten. Man findet, wie ich höre, zu Athen lächerlich, daß Philistus, ohne den Geist, den Scharfblick und die Stärke des Thucydides zu besitzen, sich vermesse, seinen Styl, seine scharfen Umrisse, seine Trockenheit und nervige Kürze, und, wo es ihm damit nicht recht gelingen wolle, wenigstens seine Dunkelheit nachzuäffen. In der Akademie aber soll ihm hauptsächlich zum Verbrechen gemacht werden, daß er, wenigstens in den Büchern die den Dionysius betreffen, die Heiligkeit der Geschichte durch eine vorsetzlich verfälschte Darstellung der Begebenheiten verletzt und allen parasitischen Kunstgriffen aufgeboten habe, den Lastern des Tyrannen die Farbe der Tugend anzustreichen, seinen schlechtesten und grausamsten Handlungen edle Beweggründe und Absichten unterzulegen, und, kurz, den hassenswürdigsten Unterdrücker seines Vaterlandes der Nachwelt (wenn anders sein Buch so lange leben könnte) für das Modell eines vortrefflichen Fürsten aufzuschwatzen. Meiner Meinung [241] nach geschieht Philisten durch die erstern Vorwürfe weniger Unrecht als durch die letztern. Wenn ich nicht irre, so hat er in den sieben ersten Büchern, worin er das Denkwürdigste der Geschichte Siciliens von der fabelhaften und heroischen Zeit an bis auf die Regierung Gelons und die Wiederherstellung der Oligarchie zusammenfaßt, mehr den Herodot, in der Erzählung der Begebenheiten und Thaten des Dionysius hingegen mehr den Thucydides zum Muster genommen: da er aber keinen von beiden zu erreichen vermochte, hätte er allerdings besser für seinen Ruhm gesorgt, wenn er alles, was ihm das auffallende Ansehen eines Nachahmers gibt, vermieden, und falls er nicht Kunst genug besaß, Herodots naive und angenehm unterhaltende Darstellungsgabe mit dem tiefblickenden Verstand und der scharfen Urtheilskraft des Thucydides auf eine ungezwungene, ihm eigenthümlich scheinende Art zu vermählen, sich lieber begnügt hätte, uns seine Geschichten mit Ordnung, Klarheit und möglichster Anspruchlosigkeit zu erzählen. Aber um dieß zu können, ja, um es nur zu wollen, hätte Philist – der auch als Geschichtschreiber glänzen und mit den ersten in diesem Fache wetteifern wollte – nicht Philist seyn müssen. Wir wollen ihm dieß nicht zumuthen: aber dafür mag er auch für alles büßen, was er als Philist sündiget. Leichter und (meiner Ueberzeugung nach) mit besserm Grunde wird er von dir und mir von dem, was in den Beschuldigungen der Platoniker das Verhaßteste ist, losgesprochen werden; denn, so viel ich weiß, sind wir beide über das, was an dem alten Dionysius zu loben und zu tadeln ist, ziemlich einverstanden. Der Tyrann (wie er sich nun einmal[242] schelten lassen muß, da seine Feinde die öffentliche Meinung auf ihre Seite zu bringen gewußt haben) hat vor vielen Jahren das ungeheure Verbrechen begangen, sich über den göttlichen Plato, der ihn auf eine etwas linkische Art zu seiner Philosophie bekehren wollte, in seiner mitunter ziemlich sarkastischen Manier lustig zu machen, und, da sein sauertöpfischer Verehrer Dion durch eine übelverstandene Zudringlichkeit aus Uebel Aerger machte, den Philosophen allerdings unsanfter als recht war nach Hause zu schicken. Das konnte freilich nie verziehen noch vergessen werden! Einer solchen Unthat war nur ein Abschaum der unmenschlichsten Laster fähig! Die Feinde des Tyrannen konnten ihm nun nachsagen was sie wollten, das Aergste schien immer das Glaublichste. Mit Einem Worte, Dionysius wurde in der Akademie zu Athen zum Ideal eines Tyrannen erhoben, und es ist kein Zweifel, daß Plato, indem er im neunten Buch seiner Republik den vollständigen Tyrannen mit den häßlichsten Zügen und Farben eines moralischen Ungeheuers darstellt, ein getreues Bild des Dionysius aufgestellt zu haben glaubt. Wir beide, und viele andre, die, wie wir, weder Böses noch Gutes von diesem Fürsten empfangen haben, wissen indessen sehr gut, wie übertrieben und unbillig der schlimme Ruf ist, den ihm seine Sicilischen Feinde und die allzuheißen Anhänger des göttlichen Plato unter den übrigen Griechen gemacht haben, und um so leichter machen konnten, da der große Haufe schon voraus geneigt ist, von jedem, der sich der Alleinherrschaft über einen oligarchischen oder demokratischen Staat zu bemächtigen weiß, das Schlimmste zu denken und zu glauben. Dionysius kämpfte lange gegen [243] dieses allgemeine, und (insofern ein Vorurtheil gerecht genannt werden kann) nicht ganz ungerechte Vorurtheil. Da aber weder die Befreiung Siciliens von dem Joch und den Verheerungen der Karchedonier, noch der Wohlstand, worin sich diese Insel unter seiner Oberherrschaft befindet, und sein Bestreben jede wesentliche Pflicht eines klugen und thätigen Regenten zu erfüllen, vermögend war, den Mangel eines unbestrittnen Rechtes an die eigenmächtig aufgesetzte Krone in den Augen der Menge zu rechtfertigen; da ihm alle seine Verdienste, alle seine Bemühungen, das Vertrauen und die Liebe der Syrakusier zu gewinnen, nichts halfen, und eine Strenge, die nicht in seinem natürlichen Charakter ist, endlich das einzige Mittel war, ihm vor den unermüdeten Anfechtungen seiner heimlichen und erklärten Feinde Ruhe zu verschaffen, kurz da man ihn wider seinen Willen nöthigte, seinen bösen Ruf gewissermaßen zu rechtfertigen, und er gern oder ungern den Tyrannen spielen mußte, weil man ihm nicht erlauben wollte ein guter Völkerhirt zu seyn: ist der Geschichtschreiber, der seinen Talenten und Verdiensten Gerechtigkeit widerfahren läßt, nicht vielmehr Lobes als Tadels werth? Und wenn er auch das volle Licht nur auf die schöne Seite seines Helden fallen läßt, wenn er dem Zweideutigen die vortheilhafteste Wendung gibt, und wie ein geschickter Bildnißmaler, alles was sein Bild nur verunzieren würde, entweder ganz verbirgt, oder wenigstens nach den Regeln seiner Kunst mit schwächern oder stärkern Schatten bedeckt: kann man dem Bildniß darum alle Aehnlichkeit absprechen? und hat der Geschichtschreiber darum allen Glauben verwirkt, weil [244] er uns von einem der merkwürdigsten Männer unsrer Zeit, von welchem seine Feinde lauter grausenhafte und mit der schwärzesten Galle übersudelte Zerrbilder in der Welt verbreitet haben, bloß die glänzende Seite zeigt? Eine vollkommen unparteiische, weder verschönerte noch absichtlich oder leidenschaftlich verfälschte Geschichte dieses Mannes dürfen wir von keinem Zeitgenossen erwarten: aber die Nachwelt wird das Wahre (wenn es ihr anders darum zu thun ist) desto gewisser zwischen dem, der zu viel Gutes, und denen, die zu viel Böses von ihm gesagt, in der Mitte finden können.

Da Philist mir von Zeit zu Zeit ein Stück der Fortsetzung, an welcher er arbeitet, vorliest, so fehlte es nicht an Gelegenheit, aus seinem eignen Munde zu hören, was er zu seiner Rechtfertigung gegen die ihm sehr wohl bekannten Vorwürfe, die man seiner Geschichte macht, vorzubringen hat.

»Glaubst du (sagte er mir einsmals) an eine ganz unparteiische und durchaus wahre Geschichte von Begebenheiten deren Augenzeugen wir gewesen sind und an denen wir selbst unmittelbaren Antheil genommen haben? Ich nicht. Gesetzt auch, was doch selten der Fall ist, der Erzähler habe von Verschweigung oder Verfälschung der Wahrheit weder Vortheil zu hoffen noch Schaden zu befürchten, und sey fest entschlossen alle Wahrheit und nichts als Wahrheit zu schreiben; gesetzt (was wenigstens eben so selten ist) er habe alles, was er erzählt, selbst gesehen oder selbst gethan und gelitten, oder doch von vollkommen glaubwürdigen Personen (dergleichen es vielleicht noch nie gegeben hat) selbst aufs genaueste erkundiget; gesetzt endlich er sey (was ich geradezu für unmöglich erkläre) [245] in dem, was er von sich selbst zu berichten hat, von allem Einfluß der Eigenliebe und Eitelkeit so frei und rein wie ein noch ungebornes Kind – alle diese unerläßlichen und doch kaum irgend einem Sterblichen zugeständlichen Voraussetzungen als richtig angenommen, stehen uns doch noch zwei schlechterdings nicht wegzuräumende Hindernisse im Wege, um derentwillen es ewig unmöglich bleiben wird, eine ganz wahre, ganz zuverlässige Geschichte einer Reihe von Begebenheiten und Handlungen, die wir selbst gesehen haben, zu schreiben. Das erste dieser Hindernisse ist, daß es kein Mittel gibt, unmittelbar in das Innerste der Menschen zu schauen, und die Entstehung ihrer Gesinnungen und Leidenschaften, Entwürfe und Absichten, und alles was sie sich selbst von den Beweggründen und Tendenzen ihrer Handlungen bewußt sind, ohne ein verfälschendes Medium in ihrer Seele zu lesen. Aus Mangel eines solchen Sinnes bleiben die wahren Ursachen der Begebenheiten in ihren reinen Verhältnissen mit den Wirkungen immer zweideutig und ungewiß; das äußerlich Geschehene liegt wie ein unaufgelöstes Räthsel vor uns, und der Geschichtschreiber, der den Verstand seiner Leser zu befriedigen wünscht, sieht sich genöthigt zu den Künsten des Wahrsagers, Dichters und Malers seine Zuflucht zu nehmen. Aber auch ohne dieses Hinderniß wird es ihm schon allein dadurch unmöglich ganz wahr zu seyn, daß er, unvermögend sich selbst aus dem festen Punkt seiner Individualität herauszurücken, Personen, Handlungen und Ereignisse niemals sehen kann wie sie sind, sondern nur wie sie ihm, aus dem Gesichtspunkt woraus er sie ansieht, erscheinen. Ueberzeugt von allem diesem, sagte [246] ich, als ich mich entschloß die Geschichte des Dionysius zu schreiben, zu mir selbst: da du keine Milesische Fabel, sondern Dinge, die unter deinen Augen geschahen und bei denen du selbst keine unbedeutende Rolle spieltest, erzählen willst, so ist es allerdings deine Pflicht, so wahrhaft zu seyn als dir nur immer möglich ist; aber zum Unmöglichen bist du nicht ver bunden. Du konntest nicht alles sehen, nicht allenthalben seyn; und wie ernstlich du auch unparteiisch seyn wolltest, du kannst es nicht seyn! Du bist weder ein Gott noch ein Platonischer Mensch, sondern Philistus, Archomenides Sohn, ein Verwandter, Freund und Gehülfe des Mannes, dessen Geschichte du erzählen willst, und es geziemt dir, die Personen und Begebenheiten so darzustellen, wie sie dir unter allen den Verhältnissen, worin du mit ihnen standest, erschienen und erscheinen mußten. Nur so kannst du wahr und mit dir selbst einig seyn, gesetzt auch daß du öfters getäuscht wurdest. Der unfehlbarste Weg, die Welt mit einer ungetreuen und verschrobenen Erzählung zu belügen, wäre, wenn du aus dir selbst herausgehen, und, unter dem Vorwand desto unparteiischer zu seyn, einen Gesichtspunkt, aus welchem du die Dinge nicht gesehen hättest, aber gesehen zu haben schienest, erdichten wolltest. Dieß, Aristipp, ist der Kanon, nach welchem ich die Geschichte, über die so viel Schiefes und Leidenschaftliches zu Syrakus und Athen gesprochen wird, gearbeitet habe, und nach welchem allein ich mit Billigkeit beurtheilt werden kann. Auch keiner meiner Richter ist unparteiisch; er ist, seiner eignen Sinnesart und Vorstellung zufolge, mehr oder weniger geneigt, den Dionysius und seinen Geschichtschreiber in [247] einem günstigen oder ungünstigen Lichte zu sehen; und diese uns selbst oft verborgene, von den Sachen ganz unabhängige Zu- oder Abneigung besticht unser Urtheil viel öfter als der große Haufe glaubt. Mein Wille war, gerecht gegen Dionysius zu seyn; aber da ich ihn liebte und seine Erhebung zum Theil mein Werk war, so wär' es Vermessenheit, wenn ich läugnen wollte, daß dieser zweifache Umstand gar keinen Einfluß auf die Zeichnung, Färbung und Haltung meines Gemäldes gehabt habe: denn wenn ich alles, was in seinem Charakter und in seinen Handlungen zweideutig ist, zu seinem Vortheil deutete, glaubte ich auch hierin bloß gerecht zu seyn. Uebrigens gestehe ich zwar, daß mir im Schreiben der Gedanke öfters kam: ›Dionysius, wenn er in meiner Geschichte auch nicht die leiseste Spur einer durch sein hartes Verfahren gegen mich gereizten Empfindlichkeit entdecken könnte, würde sich desto eher bewogen finden, mir seine Gunst und sein Vertrauen wieder zu schenken:‹ aber wenn ich das Gegentheil auch vorausgesehen hätte, würde ich doch, um meiner selbst willen, nicht das Geringste geändert oder weggelassen haben.«

Mich däucht, Learch, es ist in dieser Erklärung Philists etwas Offenherziges, das für eine Art Ersatz dessen, was seiner Rechtfertigung abgehen mag, gelten kann. Uebrigens ist, wie gesagt, sein ganzes Betragen so beschaffen, daß ich nichts zu wagen glaube, wenn ich mich, falls es gefordert würde, dafür verbürgte, daß er mit nichts umgeht, was zu dem mindesten Argwohn Ursache geben könnte. Wär' es anders, so hätte er zu Bearbeitung irgend eines dem Dionysius unangenehmen Anschlags keinen ungeschicktern Ort als Cyrene [248] wählen können. Er wird, ungeachtet des guten Zutrauens so man ihm zeigt, sehr genau beobachtet, und es ist den Cyrenern zu viel an ihren Handlungsverhältnissen mit Syrakus gelegen, als daß sie die Gunst eines Fürsten, den noch niemand ungestraft beleidigt hat, um des Philistus willen verscherzen sollten.

15. Learch an Aristipp
15.
Learch an Aristipp.

Ich will dir nicht verbergen, lieber Aristipp, daß es (wie du zu vermuthen scheinst) Dionysius selbst war, von dem ich durch einen Freund in Syrakus ersucht wurde, mich bei dir nach Philisten zu erkundigen. Wie wenig dieser auch bisher durch sein Betragen während seiner Verbannung aus Sicilien Anlaß gegeben, ihm heimliche Anschläge und Vorkehrungen zu einer eigenmächtigen Rückkehr zuzutrauen, so gewiß scheint es doch, daß der alte Tyrann (der mit dem zunehmenden Gefühl der Abnahme seiner Kräfte immer mißtrauischer und argwöhnischer wird) durch das schnelle Verschwinden Philist's aus Italien und durch seinen Aufenthalt in einem weit entfernten Freistaat (wo es um so leichter scheint, die Anstalten zu einer solchen Unternehmung zu verheimlichen) merklich beunruhigt worden ist; zumal da sein Bruder Leptines zeither neue sehr ernstliche Versuche gemacht hat, ihn zur Zurückberufung seines Schwiegersohnes zu vermögen. Mehr bedurfte es nicht, um [249] den Verdacht bei ihm zu erregen, daß man mit einem Entwurf schwanger gehe, dessen Ausführung seine Einwilligung allenfalls entbehrlich machen könnte. Wenn ich den Dionysius recht kenne, ist es indessen doch weniger die Furcht, daß Philist etwas gegen seine Person zu unternehmen fähig sey, als sein Widerwille, einem so schwer beleidigten ehmaligen Freund wieder ins Gesicht zu sehen, und wenigstens stillschweigende Vorwürfe eines kaum verzeihlichen Undanks in seinen Augen zu lesen, was den stolzen alten Selbstherrscher so unbeweglich gegen die Vorstellungen seines Bruders und die anhaltenden Bitten der Frauen des Palastes macht. Bei so bewandten Dingen habe ich für gut befunden, ihm deinen Brief an mich in der Urschrift mitzutheilen, um ihn desto eher zu überzeugen, daß er sich von dieser Seite völlig sicher halten könne. Er hat mir eine für dich und mich sehr schmeichelhafte Antwort geben lassen; aber daß ich meine Absicht nur sehr unvollkommen erreicht habe, davon werdet ihr in kurzem einen Beweis in der Erscheinung eines Abgesandten sehen, der bei eurer Republik um die Erlaubniß ansuchen soll, hundert Freiwillige, aber geborne und angesessene Angehörige von Cyrene, unter sehr annehmlichen Bedingungen zu Vermehrung der Leibwache des Tyrannen anzuwerben. Daß der Abgeordnete neben diesem öffentlichen noch einen geheimen Auftrag hat, wozu jener nur der Vorwand ist, nämlich Philisten aufs genaueste zu beobachten, brauche ich dir nicht erst zu sagen; denn auf alle Fälle ist die bisherige Leibgarde stark genug, um durch den Zuwachs von hundert Cyrenischen Bauerjungen nicht viel furchtbarer zu werden. Inzwischen ist auch Leptines[250] überall von Späheraugen umringt, und ihm sowohl als allen andern Syrakusiern ist alle Gemeinschaft mit Philisten von neuem aufs schärfste untersagt. Dieser wird also wohl thun, sich mehr als jemals ruhig zu verhalten. Vielleicht ist die Zeit seiner Erlösung näher als er glaubt. Denn die Gesundheit des Alten soll in so großen Verfall gerathen seyn, daß (wie die Rede geht) alle Kunst der Hippokratischen Schule sein Leben höchstens noch ein paar Jahre fristen kann, wenn anders seine Leibärzte nicht etwa aus Gefälligkeit gegen den Nachfolger in Versuchung gerathen, es vielmehr abzukürzen als zu verlängern. Uebrigens kann ich ihm nicht sehr verdenken, wenn er gegen alles, was sich ihm nähert, immer mißtrauischer wird, seitdem die Welt an dem berühmten Thessalier Jason ein neues Beispiel gesehen hat, wie unsicher das Leben solcher Fürsten ist, die sich, ohne einen andern Titel, als das stolze Gefühl ihrer persönlichen Ueberlegenheit, aus dem Privatstand auf den Thron geschwungen haben. Seit dem Peleiden Achilles brachte Thessalien keinen Mann hervor, der würdiger war ein König zu seyn als Jason; und wenn Dionys ihm auch an den Talenten, die dazu erfordert werden, gleich oder vielleicht noch überlegen war, so stand er hingegen an allem, was den Menschen Zutrauen und Liebe abgewinnen kann, desto weiter unter ihm. Gleichwohl mußte der großherzige Jason schon im vierten Jahre seiner Regierung unter Mörderhänden fallen, und der verhaßte Dionysius beherrscht die unlenksamen Sicilier schon im sechsunddreißigsten! Dieß sollte, scheint es, diesen sicher machen; aber das Bewußtseyn, wie viele Gewalt und List, welche nie ermüdende Wachsamkeit [251] und Anstrengung es ihm gekostet sich so lange zu erhalten, wirkt gerade das Gegentheil. Diese sich immer auf allen Seiten vorsehende, allenthalben hinlauschende, argwöhnische, überall Gefahr witternde Aufmerksamkeit ist ihm zur andern Natur geworden; sie besteht sogar mit der höhnischen faunenhaften Art von lustigmacherischer Laune, die ihm eigen ist. Daher glaube ich auch, daß er bei weitem nicht so unglücklich ist, als Plato seinen Tyrannen schildert; ungeachtet er das Mißtrauen so weit treibt, daß niemand (selbst seinen Bruder und seine Gemahlin nicht ausgenommen) sich ihm nähern darf, ohne vorher aufs genaueste durchsucht worden zu seyn, und daß er sich in seinen Wohnzimmern bloß von zehnjährigen Kindern in leichtem fliegendem Gewande, wie unsre Maler die Zephyrn und kleinen Liebesgötter zu kleiden pflegen, bedienen läßt. Diese vorsichtigen Maßnehmungen mögen nicht ganz überflüssig seyn; ob sie aber auch gegen die Tränkchen seiner Leibärzte helfen werden, muß die Zeit lehren.

Was Philists Sicilische Geschichte betrifft, so denke ich, wie du, daß ihm niemand wehren konnte, einen Mann, der von seinen Gegnern vor der ganzen Hellas verleumdet wird, in eine Beleuchtung zu stellen, worin die großen und guten Eigenschaften, die ihm seine bittersten Feinde selbst kaum streitig machen können, so stark hervorstechen, daß sie eine dem Ganzen vortheilhafte Wirkung thun. Was ich tadeln möchte, ist bloß, daß er diese seine Absicht nicht besser zu verbergen gewußt hat. Gern will ich ihm zugeben, daß derjenige, der eine gänzliche Unparteilichkeit für etwas Unmögliches hält, nicht verbunden ist, ganz unparteiisch zu seyn; [252] aber es zu scheinen, liegt allerdings jedem Geschichtschreiber ob, dem es Ernst ist, die Leser für seinen Helden zu gewinnen. Dieß weiß Philistus so gut als ich, und da er demungeachtet den Schein der Parteilichkeit nicht vermieden hat, so ist ziemlich klar, daß er bei Abfassung seiner Geschichte mehr an Dionysen als an die Leser dachte, und sich lieber bei diesen in den Verdacht der Schmeichelei setzen, als etwas, das jenem mißfallen könnte, schreiben wollte. Gegen diesen Vorwurf wird er sich schwerlich rechtfertigen können, und was daraus zum Nachtheil seiner Geschichte und seines Helden gefolgert wird, brauche ich dir nicht erst zu sagen.

16. Antipater an Diogenes
16.
Antipater an Diogenes.

Mehr als zehn Jahre sind schon verflossen, seit ich mit Aristipp bekannt wurde, und das Glück hatte, seines Umgangs während eines großen Theils dieser Zeit täglich zu genießen. Ich habe ihn in mancherlei Lagen und Verhältnissen gesehen und beobachtet; oder, richtiger zu reden, er zeigte sich mir immer so offen, unzurückhaltend und anspruchlos, daß ich, um ihn kennen zu lernen, nichts als das Paar gesunde Augen brauchte, womit mich die Natur ausgestattet hat. Es müßte also nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn ich von den Grundsätzen, die er in seinem Leben befolgt (und er hat keine andern) nicht besser unterrichtet seyn sollte, als [253] Leute die ihn bloß von Hörensagen kennen, oder aus einem zufälligen Umgang und im Flug aufgeschnappten einzelnen Worten über ihn abzusprechen sich vermessen.

Du wirst dich daher nicht wundern, Freund Diogenes, wenn ich dir sage, daß ich nicht ohne Unwillen hören kann, mit welcher Dreistigkeit er noch immer von einigen Sokratikern, besonders von den eifrigsten Anhängern der Akademie, öffentlich beschuldigt wird, daß er die Grundsätze des gemeinschaftlichen Meisters der Athenischen Schule nicht nur verfälsche, sondern sogar das förmliche Gegentheil derselben lehre und ausübe, indem er die Wollust, und zwar bloß die körperliche oder den groben thierischen Sinnenkitzel, für das höchste Gut des Menschen erkläre, ausdrücklich behauptend: es gebe kein anderes Vergnügen als die Sinnenlust, und alles übrige bestehe bloß in leeren Einbildungen, womit nur Leute sich zu täuschen suchten, denen es an den Mitteln fehle, sich den wirklichen Genuß aller Arten von sinnlichen Vergnügungen zu verschaffen.

Ich gestehe dir, Diogenes, meine Geduld reißt, wenn ich diese alten abgeschmackten Verleumdungen noch immer von Männern, denen der Name Sokratiker zur Beglaubigung dient, erneuern, und, auf deren Verantwortung, aus so manchen schnatternden Gänsehälsen und gähnenden Eselskinnladen widerhallen höre; und mehr als einmal bin ich schon im Begriff gewesen, nach der Aristophanischen Geißel zu langen und die Thoren öffentlich dafür zu züchtigen, wenn mich nicht die Achtung für Aristippen, der keiner Rechtfertigung bedarf, und die Verachtung seiner Verleumder, die der [254] Züchtigung nicht werth sind, jedesmal zurückgehalten hätte. Indessen kann ich mir doch die Befriedigung nicht versagen, wenigstens dir, mein alter Freund, wiewohl du es (denke ich) nicht schlechterdings vonnöthen hast, einen Aufschluß über diese Sache zu geben, der dir begreiflich machen wird, wie eine so alberne Sage unter den morosophirenden 43 Müßiggängern und Schwätzern zu Athen entstehen konnte.

Den ersten Anlaß mag wohl der starke Abstich gegeben haben, den die verhältnißmäßig etwas üppige Lebensweise Aristipps mit dem schlechten Aufzug und der sehr magern Diät der meisten Sokratiker und des Meisters selbst machte, und der jenen um so anstößiger seyn mochte, weil er im ersten Jahre seines Umgangs mit Sokrates sich ihnen in allem ziemlich gleich gestellt hatte. Indessen war Aristipp nicht der einzige, der sich auf diese Art auszeichnete; mehrere begüterte Freunde des Weisen lebten auf einem ihrem Vermögen angemessenen Fuß, und er selbst (sagt man) war weit entfernt mit seiner Armuth zu prunken, und diejenigen mit stolzer Verachtung anzusehen, die nicht, wie er, von einem Triobolon des Tages leben wollten, weil sie wollen mußten. Warum wurde denn Aristippen allein so übel genommen, was man an andern nicht ungehörig fand? Ohne Zweifel lag der wahre Grund darin, daß Aristipp überhaupt nicht recht zu den meisten Sokratikern paßte, und da er dieß bald genug gewahr wurde, von Zeit zu Zeit aus ihrem Kreise heraustrat und sich auch mit andern, die nicht zu ihnen gehörten, sogar mit einem Hippias und Aristophanes, in freundschaftliche Verhältnisse setzte. Hierzu kam noch, daß er, bei aller seiner [255] Verehrung für den Geist und Charakter des Sokrates, eben so wenig zum Nachtreter und Widerhall desselben geboren war als Plato, und sich eben so wenig verbunden hielt über alle Dinge einerlei Meinung mit ihm zu seyn, als sich ihm in seiner absichtlichen Beschränkung auf das Unentbehrliche gleich zu stellen. So reizten z.B. eine Menge wissenschaftlicher Gegenstände seine Neugier, welche Sokrates für unnütze Grübeleien erklärte; und so machte er auch kein Geheimniß daraus, daß der Attische Weise ihm die eigentliche Lebensphilosophie zu sehr in den engen Kreis des bürgerlichen Lebens und auf das Bedürfniß eines Attischen Bürgers einzuschränken scheine; da er selbst hingegen schon damals Trieb und Kraft in sich fühlte, einen freiern Schwung zu nehmen, und die Verhältnisse des Bürgers von Cyrene den höhern und edlern des Kosmopoliten, wo nicht aufzuopfern, doch nachzusetzen.

Indessen hinderte dieß alles nicht, daß Aristipp, so lange Sokrates lebte, für einen seiner Freunde und Homileten 44 vom engern Ausschuß, und selbst in Ansehung des Wesentlichsten seiner Philosophie für einen Sokratiker galt. Als aber nach dem Tode des Meisters Antisthenes und Plato sich an die Spitze dessen, was man jetzt die Sokratische Schule zu nennen anfing, stellten, und die Stifter zweier Secten wurden, welche, ihrer Verschiedenheit in andern Stücken ungeachtet, darin übereinkamen, daß sie gewisse Sokratische Grundbegriffe und Maximen weit über den Sinn des Meisters und bis auf die äußerste Spitze trieben: so mußte nun, wie Aristipp von seinen langen Wanderungen nach Athen zurückkam und ebenfalls[256] eine Art von Sokratischer Schule eröffnete, nothwendig eine öffentliche Trennung erfolgen, wobei die Pflichten der Gerechtigkeit und Anständigkeit, wenigstens auf Einer Seite, ziemlich ins Gedränge kamen. Beide, Plato und Antisthenes, sprachen von allen Vergnügungen, woran der Körper Antheil nimmt, mit der tiefsten Verachtung: dieser, weil er »nichts bedürfen« für ein Vorrecht der Gottheit hielt, und also, nach ihm, der nächste Weg zur höchsten Vollkommenheit ist, sich, außer dem schlechterdings Unentbehrlichen, alles zu versagen was zum animalischen Leben gerechnet werden kann; jener, weil er den Leib für den Kerker der Seele, und die Ertödtung aller sinnlichen Triebe für das kürzeste Mittel ansieht, das innere Leben des Geistes frei zu machen, und die Seele aus der Traumwelt wesenloser Erscheinungen zum unmittelbaren Anschauen des allein Wahren, der ewigen Ideen und des ursprünglichen Lichts, worin sie sichtbar werden, zu erheben. Aristipp, dem alles Uebertriebene, Angemaßte und über die Proportionen der menschlichen Natur Hinausschwellende lächerlich oder widrig ist, mochte sich, als er noch zu Athen lebte, bei Gelegenheit erlaubt haben, über diese philosophischen Solöcismen 45 seiner ehemaligen Lehrgenossen in einem Tone zu scherzen, den der sauertöpfische Antisthenes so wenig als der feierliche Plato leiden konnte. Beide rächten sich (jeder seinem Charakter gemäß, jener gallicht und plump, dieser fein und kaltblütig) durch die Verachtung, womit sie von dem Manne und seiner Lehre sprachen. Aristippen hieß die Sinnenlust eben sowohl ein Gut als irgend ein anderes; er sah keinen Grund, warum er es über diesen Punkt [257] nicht mit dem ganzen menschlichen Geschlecht halten sollte, welches stillschweigend übereingekommen ist, alles gut zu nennen, was dem Menschen wohl bekommt; ja er war so weit gegangen, zu behaupten: auch das geistigste Vergnügen sey im Grunde sinnlich, und theile den Organen des Gefühls eine Art angenehmer Bewegung mit, deren Aehnlichkeit und Verwandtschaft mit andern körperlichen Wollüsten von jedem sich selbst genau beobachtenden nicht verkannt werden könne. Diese Sätze wurden, ohne daß man sich auf ihre Beweise und genauere Erörterung einließ, in der Akademie und im Cynosarges für übeltönend und antisokratisch erklärt; und so erzeugte sich unvermerkt bei allen, denen Aristipp nicht besser als von bloßem Ansehen oder Hörensagen bekannt war, jene ungereimte Meinung, die ihm und seinen Freunden von den Anhängern der beiden Tyrannen, die sich damals in die Beherrschung der philosophischen Republik theilten, den Spitznamen Wollüstler (Hedoniker) zugezogen haben. Das Mißverständniß wäre leicht zu heben gewesen, oder würde vielmehr gar nicht stattgefunden haben, wenn jene Herren nicht so einseitig und steifsinnig wären, ihre persönliche Vorstellungsart zum allgemeinen Kanon der Wahrheit zu machen. Die meisten Fehden über solche Dinge hörten von selbst auf, wenn die verschieden Redenden vor allen Dingen gelassen untersuchen wollten, ob sie auch wirklich verschieden denken; und in zehn Fällen gegen einen würde sogleich Friede unter den Kämpfern werden, wenn sie anstatt um Worte zu fechten und in der Hitze der Rechthaberei sich selbst immer ärger zu verwickeln, die Begriffe kaltblütig auseinander setzen und, so [258] weit es angeht, in ihre einfachsten Elemente auflösen wollten. Daher kommt es ohne Zweifel, daß Aristipp in solchen Fällen immer das allgemeine Wahrheitsgefühl der Zuhörer auf einer Seite hat. Wie stark auch das gegen ihn gefaßte Vorurtheil bei einer sonst unbefangenen Person seyn mag, sobald er sich erklärt hat, wird man entweder seiner Meinung, oder sieht, daß man es bereits gewesen war und sich die Sache nur nicht deutlich genug gemacht hatte; oder man begreift wenigstens, wenn man gleich selbst nicht völlig überzeugt ist, wie es zugeht, daß andere verständige Leute seiner Meinung seyn können.

Mit Plato und Antisthenes hat es nun freilich eine andere Bewandtniß. Ihre Philosophie ist von Aristipps zu sehr verschieden, um eine Vereinigung zuzulassen. Die seinige begnügt sich menschliche Thiere zu Menschen zu bilden – was jenen zu wenig ist; die ihrige vermißt sich Menschen zu Göttern umzuschaffen, was ihm zu viel scheint. Sie gehen von Begriffen und Grundsätzen aus, die mit den seinigen in offenbarem Widerspruch stehen. Die Fehde zwischen ihnen kann also nur durch eine Unterwerfung aufhören, zu welcher wohl keine von den streitenden Mächten sich je verstehen wird. Ich verlange aber auch für meinen Lehrer und Freund sonst nichts von ihnen, als nur nicht unbilliger gegen ihn zu seyn, als er gegen sie ist. Mögen sie doch sein System mit stolzem Naserümpfen verhöhnen, oder mit gerunzelter Stirne verdammen! Nur verfälschen sollen sie es nicht.

Uebrigens ist bekannt genug, oder könnt' es wenigstens seyn, daß Aristipp nie eine eigene philosophische Secte zu stiften [259] begehrt, und so wenig als Xenophon oder Sokrates selbst, seine Lebensweisheit jemals schulmäßig gelehrt hat. Denn daß er vor vielen Jahren, während seines letzten Aufenthalts in Athen, die Philosophie des Sokrates einigen Liebhabern, die sich schlechterdings nicht abweisen lassen wollten, zu großem Aergerniß der übrigen Sokratiker, um baare Bezahlung, unverändert und ohne etwas von dem Seinigen hinzuzuthun, vorgetragen, gehört nicht hierher. Er that damit nichts anders, als was ein Maler thut, wenn er eine mit allem Fleiß gearbeitete Copei eines berühmten Gemäldes eines ältern Meisters, nicht für das Urbild selbst, sondern für das was es ist, für ein Nachbild verhandelt. Das, was man seine eigene Philosophie nennen kann, stellt er weniger in mündlichen und schriftlichen Unterweisungen als in seinem Leben dar; ob er gleich kein Bedenken trägt, seine Art über die menschlichen Dinge zu denken. und die Gründe, die sein Urtheil, es sey nun zum Entscheiden oder zum Zweifeln, bestimmen, bei Gelegenheit an den Tag zu geben, zumal in Gesellschaften, die zu einer freien und muntern Unterhaltung geeignet sind. Unter vertrautern und kampflustigen Freunden läßt er sich auch wohl in dialektische Gefechte ein, wo es oft zwischen Scherz und Ernst so hitzig zugeht, als ob um einen Olympischen Siegeskranz gerungen würde; aber auch diese Spiegelgefechte endigen sich doch immer, wie alle Kämpfe dieser Art billig endigen sollten: nämlich daß die Ermüdung der Kämpfer dem Spiel ein Ende macht, und jeder mit heiler Haut, d.i. mit seiner eigenen unverletzten Meinung davon geht, zufrieden sich wie ein Meister der Kunst gewehrt zu[260] haben, und die Zuhörer ungewiß zu lassen, welcher von beiden der Sieger oder der Besiegte sey. Ich will damit keinesweges sagen, daß Aristipp von seinem System, in wiefern es ihm selbst zum Kanon seiner Vorstellungsart und seines praktischen Lebens dient, nicht wenigstens eben so gut überzeugt sey als Plato von dem seinigen; nur glaubt er nicht, daß eine ihm selbst angemessene Denkweise und Lebensordnung sich darum auch für alle andern schicken, oder was ihm als wahr erscheint, auch von allen andern für wahr erkannt werden müsse.

Gestehe, Diogenes, daß man mit einem so anspruchlosen Geistescharakter eher alles andere als ein Sectenstifter seyn wird, und daß es sogar widersinnisch ist, denjenigen dazu machen zu wollen, der eben darum, weil er seine Art zu denken und zu leben unter seine persönlichen und eigenthümlichen Besitzthümer rechnet, andern nur so viel davon mittheilt, als sie selbst urtheilen, daß ihnen ihrer innern Verfassung und ihren äußerlichen Umständen nach zuträglich seyn könne.

Uebrigens sehe ich nicht, warum er nicht eben so gut als andere berechtigt wäre, seine Grundbegriffe für allgemein wahr und brauchbar zu geben. Was er unter jener, seinen Tadlern so unbillig verhaßten Hedone (welche, nach ihm, das Wesen der menschlichen Glückseligkeit ausmacht) versteht, ist nicht Genuß wollüstiger Augenblicke, sondern dauernder Zustand eines angenehmen Selbstgefühls, worin Zufriedenheit und Wohlgefallen am Gegenwärtigen mit angenehmer Erinnerung des Vergangenen und heiterer Aussicht in die Zukunft ein so harmonisches Ganzes ausmacht, als das gemeine Loos der [261] Sterblichen, das Schicksal, über welches wir gar nichts – und der Zufall, über den wir nur wenig vermögen, nur immer gestatten will. Ist etwa die Eudämonie der andern Sokratiker im Grunde etwas anders als ein solcher Zustand? Warum hält man sich, anstatt sich um Worte und Formeln zu entzweien, nicht lieber an das, worin alle übereinkommen? Wer wünscht nicht so glücklich zu seyn als nur immer möglich ist? Und, wie verschieden auch die Quellen sind, woraus die Menschen ihr Vergnügen schöpfen, ist das Vergnügen an sich selbst nicht bei allen eben dasselbe? Warum soll es Aristippen nicht eben so wohl als andern erlaubt seyn, Worte, die der gemeine Gebrauch unvermerkt abgewürdigt hat, wieder zu Ehren zu ziehen und z.B. die schuldlose Hedone, wiewohl sie gewöhnlich nur von den angenehmen Gefühlen der Sinne gebraucht wird, zu Bezeichnung eines Begriffs, der alle Arten zusammenfaßt, zu erheben? Daß durch einen weisen Genuß alle unsrer Natur gemäßen Vergnügungen, sinnliche und geistige, sich nicht nur im Begriff, sondern im Leben selbst sehr schön und harmonisch vereinigen lassen, hat Aristipp noch mehr an seinem Beispiel als durch seine Lehre dargethan. Seine Philosophie ist eine Kunst des Lebens unter allen Umständen froh zu werden, und bloß zu diesem Ende, sich von Schicksal und Zufall, und überhaupt von aller fremden Einwirkung so unabhängig zu machen als möglich. Nicht wer alles entbehren, sondern wer alles genießen könnte, wär' ein Gott; und nur, weil die Götter das letztere sich selbst vorbehalten, den armen Sterblichen hingegen über alle die Uebel, welche sie sich selbst zuziehen, noch so viel Noth und Elend von außen aufgeladen [262] haben als sie nur immer tragen können, nur aus diesem Grund ist es nothwendig, daß der Mensch entbehren lerne was er entweder gar nicht erreichen kann, oder nur durch Aufopferung eines größern Gutes sich verschaffen könnte.

Doch ich sehe, daß ich mich unvermerkt in Erörterungen einlasse, die zu meiner Absicht sehr entbehrlich sind. Denn es versteht sich, daß ich dich nicht zur Philosophie Aristipps bekehren, sondern nur geneigt machen möchte, dich des Charakters eines Mannes, den ich als einen der edelsten und liebenswürdigsten Sterblichen kenne, bei Gelegenheit mit so viel Wärme, als deiner wohlbekannten Kaltblütigkeit zuzumuthen ist, gegen seine unbilligen Verächter anzunehmen. Ich befriedige dadurch bloß mein eigenes Herz; Aristipp weiß nichts von diesem Briefe, und scheint sich überhaupt um alles, was seine ehemaligen Mitschüler von ihm sagen und schreiben, wenig zu bekümmern. Indessen nährt er doch für die Athener noch immer eine Art von Vorliebe, die ihn über ihre gute oder böse Meinung von ihm nicht so ganz gleichgültig seyn läßt als er das Ansehen haben will. Zuweilen wenn die Rede von den Albernheiten, Unarten und Verkehrtheiten ist, wodurch sie ehemals dem Witz ihres Aristophanes so reichen Stoff zu unerschöpflichen Spöttereien und Neckereien gegeben haben, sollte man zwar meinen, er denke nicht gut genug von ihnen, um sich viel aus ihrem Urtheil zu machen: aber im Grund entspringt sein bitterster Tadel bloß aus dem Unmuth eines Liebhabers, der sich wider seinen Willen gestehen muß, daß seine Geliebte mit Mängeln und Untugenden behaftet ist, die es ihm unmöglich machen sie hoch zu achten, und[263] worin sie sich selbst so wohl gefällt, daß keine Besserung zu hoffen ist.

Ich höre, daß du seit dem Tode des alten Antisthenes nach Athen zurückgekehrt seyest, um, wie man sagt, von seiner Schule im Cynosarges Besitz zu nehmen, da du itzt als das Haupt der von ihm gestifteten Secte betrachtet werdest. Ich kenne dich zu gut, Freund Diogenes, um nicht zu wissen, wie dieß zu verstehen ist. Du wirst so wenig als Sokrates und Aristipp in dem gewöhnlichen Sinn des Worts, an der Spitze einer Schule oder Secte stehen wollen, und deine Philosophie läßt sich so wenig als die ihrige durch Unterweisung lernen. Aber die Athener bedürfen deines scherzenden und spottenden Sittenrichteramts mehr als jemals; und wenn gleich wenig Hoffnung ist, daß du sie weiser und besser machen werdest, so kann es ihnen doch nicht schaden, einen freien Mann, dessen sämmtliche Bedürfnisse auf einen Stecken in der Hand und eine Tasche voll Wolfsbohnen am Gürtel eingeschränkt sind, unter sich herum gehen zu sehen, der sie alle Augenblicke in den Spiegel der Wahrheit zu sehen nöthigt, und ihnen wenigstens das täuschende Vergnügen des Wohlgefallens an ihrer eignen – Häßlichkeit möglichst zu verkümmern sucht. Wenn deine Gegenwart endlich ihnen, oder ihre unheilbare Narrheit dir, gar zu lästig fiele, so wirst du die Arme deiner Freunde in Korinth immer wieder offen finden; und sollte dich zuletzt die ganze Hellas nicht mehr ertragen können, so lass' dich irgend eine freundliche Nereide an die Küste Libyens zu deinem Antipater geleiten, der die Tage, die er in seiner Jugend mit dir verlebte, und die traulichen[264] Wallfahrten nach dem Eselsberg, und die Schwimmpartien nach dem Inselchen Psyttalia, immer unter seine angenehmsten Erinnerungen zählen wird.

17. Diogenes an Antipater
17.
Diogenes an Antipater.

Weder der hoffärtige Gedanke meinen alten Meister ersetzen zu wollen, noch ein Cynischer Trieb die Laster und Thorheiten der edeln Theseiden anzubellen, hat mich von Korinth nach Athen zurückgerufen, Freund Antipater. Die bloße Neigung zur Veränderung, die dem Menschen so natürlich ist – wär' es nur um sich selbst eine Probe seiner Freiheit zu geben – ist allein schon hinlänglich eine so unbedeutende Begebenheit zu erklären; wenn auch der Reiz, womit Pallas Athene ihren Lieblingssitz vor allen andern Städten der Welt so reichlich begabt hat, für einen Weltbürger meiner Art weniger Anziehendes hätte als für andre Menschen. Indessen kam doch noch ein anderer Bewegungsgrund hinzu, ohne welchen ich mich vielleicht dennoch nicht entschlossen hätte, meinem lieben Müßiggang zu Korinth – wo sich, Dank sey den Göttern! schon lange niemand mehr um mich bekümmert, und meinem kleinen sonnichten Winzerhüttchen (seines Umfangs wegen mein Faß genannt), aus bloßem Muthwillen zu entsagen.

[265] Wisse also, mein Lieber, daß ich vor einiger Zeit, zufälligerweise, mit einem jungen Thebaner in Bekanntschaft gerieth, der mit der vollständigsten Außenseite des Homerischen Thersites eine so schöne Seele und eine so frohsinnige Unbefangenheit verbindet, daß der tugendhafteste aller Päderasten, Sokrates selbst, seinem bekannten Vorurtheil für die körperliche Schönheit zu Trotz, sich in ihn verliebt hätte, wenn er dreißig bis vierzig Jahre früher zur Welt gekommen wäre. Schwerlich ist dir jemals eine so possierlich häßliche Mißgestalt vor die Augen gekommen, und es sollte sogar dem sauertöpfischen Heraklites kaum möglich gewesen seyn, über den komischen Ausdruck, womit alle Theile seines Gesichts einander anzustaunen scheinen, nicht zum erstenmal in seinem Leben zu lächeln. Glücklicherweise für den Inhaber dieser seltsamen Larve leuchtet dem, der ihm herzhaft ins Gesicht schaut, ich weiß nicht was für ein unnennbares Etwas entgegen, welches zugleich Ernst gebietet und Zuneigung einflößt, und einen jeden, dem es nicht gänzlich an Sinn für die energische Sprache, worin eine Seele die andere anspricht, fehlt, in wenig Augenblicken mit der Ungereimtheit seiner Gestalt und Gesichtsbildung aussöhnt.

Ich weiß nicht wie es zuging, daß er, ohne an den Fransen meines ziemlich abgelebten Mantels Anstoß zu nehmen, nicht weniger Geschmack an meiner Person zu finden schien als ich an der seinigen. Genug, wir fühlten uns gegenseitig von einander angezogen, und in wenigen Stunden war der Grund zu einer Freundschaft gelegt, welche vermuthlich länger dauern wird als unsre Mäntel. Krates (so nennt [266] sich mein junger Böotier) ist der einzige Sohn eines sehr reichen Mannes, der sein Leben unter rastlosen Anstrengungen, Sorgen und Entbehrungen mit der edeln Beschäftigung zugebracht hat, sein Vermögen alle zehn Jahre zu verdoppeln; und der nun, da ihm nächst seinem Geldkasten nichts so sehr am Herzen liegt als das Glück seines Sohnes, alles Mögliche thut, um diesen zu eben derselben Lebensweise, in welcher er das seinige gefunden, anzuhalten. Zu großem Schmerz des alten Harpagons zeigt der junge Mensch so wenig Lust und Anlage dazu, daß, im Gegentheil, unter allen möglichen Dingen, womit der menschliche Geist sich befassen kann, die Rechentafel ihm gerade das verhaßteste ist; und nur aus Gehorsam gegen einen beinahe achtzigjährigen Vater, – der zwar noch immer wachend und schlafend auf seinen Geldsäcken zählt und rechnet, aber nicht Kräfte genug übrig hat, seinen Geschäften außer dem Hause nachzugehen – unterzieht er sich den Aufträgen, womit ihn der Alte überhäuft, um ihm keine Zeit zu solchen Beschäftigungen zu lassen, die in seinen Augen nichts als zeitverderbender Müßiggang sind. Der Auftrag, eine alte Schuld zu Korinth einzufordern, gab indessen Gelegenheit zu unsrer Bekanntschaft, welche Krates als den einzigen wahren Gewinn betrachtete, den er von dieser Reise mit nach Hause bringe. Wirklich fühlte er sich stark versucht die Rückreise gar einzustellen, und ich mußte alle meine Macht über sein Gemüth aufbieten, um ihn zu bewegen, daß er die Ausführung seines neuen Lebensplans wenigstens nur so lange aufschieben möchte, als sie mit der Pflicht gegen seinen alten Vater unvereinbar war. Vor kurzem berichtete [267] mich mein junger Freund, daß der Tod des Alten ihm endlich die Freiheit gegeben habe, seiner Neigung zu folgen, und seinen Geist aller der schweren Gewichte zu entledigen, die ihm, so lange er sie an sich hangen hätte, den reinen Genuß seines Daseyns unmöglich machten. Er habe, um der verhaßten Last je eher je lieber los zu werden, bereits seine ganze Erbschaft, die sich auf nicht weniger als dreihundert Talente belaufe, mit Vorbehalt dessen, was er etwa selbst zu Bestreitung des Unentbehrlichsten nöthig haben könnte, unter seine Verwandten und Mitbürger ausgetheilt, und sey nun im Begriff, Athen – wofern ich mich entschließen würde, es mit dem üppigen und geräuschvollen Korinth zu vertauschen – oder, widrigenfalls, das letztere, wiewohl ungern, zu seinem künftigen Aufenthalt zu wählen.

Was dünkt dich von diesem jungen Menschen, Antipater? Hier ist mehr als Antisthenes und Diogenes, mehr als Plato und Aristipp, nicht wahr? – Ich gestehe dir unverhohlen, hätte mich die wackelköpfige Göttin Tyche nicht, sehr gegen meinen Willen, um mein väterliches Erbgut betrogen, ich würde so wenig als Aristipp daran gedacht haben, mir diese Last, die mir ehemals sehr erträglich vorkam, vom Halse zu schaffen. Wir wollen es indessen einem weisen Mann eben nicht übel nehmen, wenn er von den Gütern, die ihm das Glück freiwillig zuwirft, einen zugleich so edeln und so angenehmen Gebrauch macht, wie Aristipp. Eben so wenig soll es dem von Kindheit an zur Dürftigkeit gewohnten Antisthenes, oder dem Sinopenser, den der Zufall um sein Vermögen brachte, zu einem großen Verdienst angerechnet werden, daß [268] sie lieber von Wurzeln und Wolfsbohnen leben, als Karren schieben, rudern, oder das schmähliche Parasiten-Handwerk treiben wollten. Auch Plato hat sich wenig auf eine Genügsamkeit einzubilden, die ihm das Glück, unabhängig in seinem eigenen Ideenlande zu schweben, und die erste Stelle unter den Philosophen seiner Zeit in der öffentlichen Meinung verschafft hat. Aber, wie Krates, in dem Alter, wo alle Sinnen nach Genuß dürsten, die Mittel zu ihrer vollständigsten Befriedigung, die uns das Glück mit Verschwendung aufgedrungen hat, von sich werfen, und jedem Anspruch an alles, was dem großen Haufen der Menschen das Begehrenswürdigste scheint, von freien Stücken entsagen, um sich mit völliger Freiheit der Liebe der Weisheit zu ergeben: dieß, dünkt mich, ist etwas bis itzt noch nie Erhörtes, und setzt einen Grad von Heldenmuth und Stärke der Seele voraus, den ich um so bewundernswürdiger finde, da derjenige, der sich zu einem solchen Opfer entschließt, zum voraus gewiß seyn kann, von der ganzen Welt (den Diogenes vielleicht allein ausgenommen) für den König aller Narren erklärt zu werden. – Und das mit Recht, höre ich dich sagen; denn was sollte aus den Menschen werden, wenn der Geist, der diesen jungen Schwärmer so weit aus dem gewöhnlichen Gleise treibt, in alle Köpfe führe, und die Begriffe und Grundsätze, nach welchen er handelt, allgemein würden? – Auf alle Fälle etwas Besseres als sie itzt sind, antworte ich, und getraue mir's von Punkt zu Punkt mit wenigstens eben so stattlichen Gründen zu behaupten, als die, womit uns Plato beweiset, daß ein Staat nicht eher gedeihen könne, bis er von lauter Philosophen [269] regiert werde. Leider hat die Natur selbst dafür gesorgt, daß es mit den Menschen nie so weit kommen wird, und die Freunde des dermaligen Weltlaufs können sich, der Gefahr halben die von der ansteckenden Kraft des Beispiels meines jungen Freundes zu besorgen ist, ruhig auf die Ohren legen. Sie ist desto geringer, da du ihm wirklich großes Unrecht thust, wenn du ihn für einen Schwärmer hältst. Er ist vielmehr der ruhigste, besonnenste, heiterste Sterbliche, der mir je vor gekommen ist; und wie außerordentlich sein Verfahren auch immer seyn mag, so fällt wenigstens das Wunderbare weg, wenn ich dir sage, daß nebst einem sehr kalten Temperament, die von Kindheit her gewohnte beinahe dürftige Lebensart im väterlichen Hause, eine durch beides ihm zur andern Natur gewordene Gleichgültigkeit gegen alle Vergnügungen der Sinne, und eine noch tiefer liegende Verachtung der Urtheile des großen Haufens, der einen Menschen nicht nach seinem persönlichen Gehalt, sondern nach dem Gewichte der Attischen Talente, die er werth ist, zu schätzen pflegt, – daß, sage ich, das alles nicht wenig zu der Entschließung beigetragen habe, sich eines ihm wirklich mehr überlästigen als brauchbaren Erbgutes zu entschlagen. Denn was hätte er, der von drei oder vier Obolen zu leben gewohnt war, mit dreihundert Talenten anfangen sollen, da es seine Sache nicht war, nach dem Beispiel seines Vaters sechshundert daraus zu machen? Von allem, wozu der Reichthum seinen Besitzern gut ist, hatte er entweder keine Kenntniß, oder keinen Sinn dafür. Gänzliche Unabhängigkeit und sorgenfreie Muße war schon damals, da ich ihn zuerst kennen lernte, das höchste Gut in seinen [270] Augen: und so ging es, dünkt mich, ganz natürlich zu, daß der Umgang mit deinem Freund, Diogenes, in sehr kurzer Zeit tausend schlummernde Ideen in seiner Seele weckte; daß die Harmonie der Vorstellungsart desselben mit seiner eigenen das Verlangen sich nie wieder von ihm zu trennen erzeugte, und die durch unmittelbaren Augenschein bewirkte Ueberzeugung, daß es keinen glücklichern Menschen gebe als den Diogenes, und daß er zufriedener mit seinem Loose sey als zehntausend vermeinte Glückliche mit dem ihrigen, seinem Beispiel einen unwiderstehlichen Reiz zur Nachfolge gab. Ich denke du wirst dieß desto begreiflicher finden, Antipater, da du noch nicht vergessen haben kannst, wie wenig ehemals daran fehlte, daß du selbst den Cynischen Mantel und Schnappsack übergeworfen hättest, wenn nicht, glücklicher Weise für dich, der Genius Aristipps den Reizungen der zuthulichen Nymphe Penia, unsrer Schutzgöttin, das Gegengewicht gehalten hätte. Denn nicht alles, was dem einen gut ja sogar das Beste ist, ist es darum auch dem andern; und ich bin ziemlich gewiß, daß unsre Lebensweise, sobald der Ehrenpunkt, nicht in Widerspruch mit dir selbst zu gerathen, jede andere unmöglich gemacht hätte, dir nicht halb so wohl bekommen wäre als meinem Thebaner – wiewohl es ein launisches Ding um den Menschen ist, daß ich mich nicht dafür verbürgen möchte, daß Krates selbst, wie glücklich er sich gegenwärtig auch in seinem neuen Götterleben fühlt, auf immer vor allen Anwandlungen der Nachreue sicher sey.

Ich bin mit deinem Freund Aristipp, wie in vielem andern, auch darin einverstanden, daß jeder Mensch, sobald er [271] Verstand genug hat eine Philosophie, d.i. eine mit sich selbst übereinstimmende Lebensweisheit nach festen Grundsätzen, zu haben, in gewissem Sinn seine eigene hat. Das was den Unterschied macht, ist nicht die Richtung: wir gehen alle auf eben dasselbe Ziel los. Eudämonie ist der Preis, nach welchem wir ringen; und wie gern der stolze Plato (der, wenn's möglich wäre, gar nichts mit uns andern gemein haben möchte) sich auch die Miene gäbe, als ob das übersinnliche Anschauen der formlosen Urwesen und die geistige Vereinigung mit dem Auto-Agathon, ohne alle andere Rücksicht das einzige Ziel seiner Bestrebungen sey, so soll er mich doch nicht bereden, daß sie es auch dann noch seyn würden, wenn er sich in diesen – geistigen oder phantastischen? – Anschauungen nicht glücklicher fühlte als in jedem andern Genuß seiner selbst. Der Unterschied wird also in dem Wege und den Mitteln bestehen. Wir Cyniker z.B. wählen uns, mehr oder weniger freiwillig, den kürzesten Weg, unbekümmert daß er ziemlich rauh und steil ist und hier und da von Disteln und Dornhecken starrt. Aristipp wählte sich einen weitern, aber ungleich ebenern und anmuthigern Weg, nicht ohne Gefahr unversehens auf diesen oder jenen Abweg zu gerathen, der ihm das Wiedereinlenken in die rechte Bahn mehr oder minder schwer machen könnte. Andere haben sich zwischen diesen beiden, oft ziemlich weit aus einander laufenden Wegen, mehrere Mittelstraßen gebahnt. Plato nimmt den seinigen sogar, wie Ikarus, durch die Wolken; unläugbar der sanfteste und nächste, wenn es nicht der gefährlichste wäre. Noch verschiedener sind die Mittel, wodurch jeder auf seinem Wege sich [272] zu erhalten und zu fördern sucht. Tausend innere und äußere, zufällige und persönliche Umstände, Temperament, Erziehung, geheime Neigungen, Verhältnisse, kurz das Zusammenwirken einer Menge von mehr oder minder offen liegenden oder verborgenen Einflüssen auf Verstand und Willen, ist die Ursache der verschiedenen Gestalten und Farben (wenn ich so sagen kann) worin sich eben dieselbe Lebensweisheit (ich erkenne keine Philosophie die nicht Ausübung ist) im Leben einzelner Personen darstellt, und worin eben das Eigenthümliche derselben besteht. Denn, wie gesagt, im Hauptzweck, und selbst in solchen Mitteln, welche, als zu jenem unentbehrlich, selbst wieder zu Endzwecken werden, stimmen alle überein. Von dieser Art ist z.B. die Befreiung der Seele von Wahn und Leidenschaft, ohne welche schlechterdings keine Eudämonie denkbar ist. Alle Philosophen, von Thales und Pythagoras an, bekennen sich zu diesem Grundsatz: aber wie weit gehen sie wieder aus einander, sobald es zur Anwendung kommt! Wir können von den Wahnbegriffen, Phantomen und Vorurtheilen, die unsern Verstand benebeln und irre führen, nur durch die Wahrheit frei werden. Aber was ist Wahrheit? Der eine behauptet die Ungewißheit aller Erkenntniß; ein anderer erklärt alle sinnlichen Anschauungen und Gefühle für Täuschung und Betrug und sucht die Wahrheit in einer übersinnlichen Ideenwelt; ein dritter läßt im Gegentheil keine Erkenntniß für zuverlässig gelten, die uns nicht durch die Sinne zugeführt und durch die Erfahrung bestätiget wird, u.s.w. Eben so ist es mit der Befreiung von der Herrschaft der Triebe und Leidenschaften. Der eine will alle Begierden an [273] die Kette gelegt, und den Leidenschaften alle Nahrung entzogen wissen; ein anderer läßt nur die reinen Naturtriebe gelten, und verwirft alle durch Verfeinerung und Kunst erzeugten Neigungen; ein dritter will die natürlichen Triebe und Leidenschaften weder ausgerottet noch gefesselt, sondern bloß gemildert, verschönert, und durch die Musenkünste mit Hülfe der Philosophie in die möglichste Harmonie und Eintracht gesetzt sehen. Alle diese Verschiedenheiten sind in der Ordnung, so lange die Leute keine Secten stiften wollen. Jeder hat für seine eigene Person Recht; aber sobald sie mit einander hadern, und sich um den ausschließlichen Besitz der Wahrheit, wie Hunde um einen fetten Knochen, herum beißen, dann haben sie alle Unrecht; – und in diesem einzigen Punkt wenigstens ist Diogenes, der mit niemand um Meinungen hadert, vollkommen gewiß daß er Recht hat.

Indessen ist am Ende die Anzahl der Philosophen, denen dieser Name in der eigentlichsten Bedeutung zukommt, so klein, daß wahrscheinlich unter der ganzen übrigen Menschenmasse manche seyn müssen, die an Sinnesart, Gemüthsbeschaffenheit und äußerlichen Umständen mit irgend einem von jenen mehr oder weniger übereinstimmen. Ich betrachte daher jeden unsrer Philosophen gleichsam als den Repräsentanten einer ganzen Gattung 46, und indem ich annehme, daß seine Philosophie einer Anzahl ihm ähnlicher Menschen als Ideal oder Kanon ihrer Denkart und ihres Verhaltens brauchbar seyn könne, berechne und schätze ich hiernach ungefähr den verhältnißmäßigen Nutzen, den sie der Menschheit etwa schaffen könnte. So kann z.B. meiner demüthigen Meinung nach, [274] die Platonische Philosophie nur solchen Menschen verständlich seyn und wohl bekommen, denen zu einem schwarz gallichten Temperament ein hoher Grad von Einbildungskraft und Scharfsinn und eine nicht gemeine Cultur mit völliger Freiheit von Geschäften zu Theil wurde, d.i. sehr wenigen. Die Aristippische scheint auf den ersten Anblick weit mehrern angemessen zu seyn: aber sie macht aus dem Wohl leben (aus dem, was sie Hedone nennt und worüber ich deinen Freund nie anfechten werde) eine so schöne und zugleich so schwere Kunst, daß, meines Bedünkens, nur ein besonders begünstigter Liebling der Natur, der Musen und des Glücks (schier hätte ich auch noch die schöne Lais hinzugesetzt) es darin zu einiger Vollkommenheit zu bringen hoffen darf. Wie die Platonische die Philosophie oder Religion der edelsten Art von Schwärmern ist, so sollte Aristipp das Muster und seine Hedonik die Lebensweisheit aller Eupatriden und Begüterten seyn; auf diese Weise würde die Schwärmerei unschädlich, Geburtsadel und Reichthum sogar liebenswürdig werden. Aristipps Philosophie, zum Nießbrauch solcher Leute, die das Glück vergessen oder übel behandelt hat, herabgestimmt, würde sich der Cynischen nähern, nach deren Vorschriften jeder glücklich leben kann, der in einem Staat, wo er als Bürger keinen Anspruch an die höhern und eigentlichen Vortheile des politischen Vereins machen will oder zu machen hat, wenigstens den Genuß seiner Menschheitsrechte in Sicherheit bringen möchte. Um ein Cyniker zu seyn, braucht man nichts als ein bloßer Mensch zu seyn; mit so wenig Zuthaten und Anhängseln als möglich, aber freilich ein edler und guter Mensch; [275] und eben darum wird unser Orden, dem ersten Anschein zu Trotz, immer nur zwei oder drei Mitglieder auf einmal zählen. Sollte er (was die Götter verhüten mögen!) jemals zahlreich werden, so könnt' es nur dadurch möglich seyn, daß seine Glieder den Geist desselben gänzlich verlören, und bloß das Costum, die Sprache und die übrigen Formen des Cynism zur Hülle und Larve der verächtlichsten Art von Schmarotzerei und Müßiggang herabwürdigten. Ein ächter Cyniker kann, vermöge der Natur der Sache, nicht anders, als eine Seltenheit seyn; und von einem Cyniker wie Krates wird schwerlich jemals ein zweites Exemplar erscheinen.

Die rein Sokratische Philosophie, welche, allen Ständen, Lagen und Verhältnissen gleich angemessen, dem Staat edle Menschen und gute Bürger bildet, wird also, die Wahrheit zu sagen, immer die gemeinnützigste unter allen, die aus ihr hervor gegangen, bleiben; und wehe der, die sich's nicht zur Ehre schätzt ihre Tochter zu heißen, und einer solchen Mutter würdig zu seyn! So viel, Freund Antipater, auf deine eigene Veranlassung davon, wie ich über Aristipp und seine Philosophie und die andern Masken denke, in welchen sich die menschenfreundlichste aller Himmlischen unter den Griechen sehen läßt. Lebe wohl, und sorge ja dafür, daß keine Abschriften von diesem langen Briefe genommen werden. Die Leute könnten sonst denken, ich habe ein Buch schreiben wollen, und das möchte sich Diogenes nicht gerne nachsagen lassen.

18. Aristipp an Learchus
[276] 18.
Aristipp an Learchus.

Wiewohl ein Mann wie Philistus keiner Empfehlung an dich bedarf, so halte ich mich doch versichert, daß der Titel meines Freundes, den er von Cyrene mit sich nimmt, ihm in den Augen meines Learchs ein Recht zu einer desto gefälligern Aufnahme geben werde, da er auf seiner Rückreise nach Syrakus etliche Tage zu Korinth auszurasten gesonnen ist.

Was du, dem seine Verhältnisse bekannt sind, vorausgesehen hast, ist durch das endlich erfolgte Ableben des alten Dionysius eingetroffen. Es war eine der ersten Handlungen seines Nachfolgers, den so lange aus seinem Vaterlande verbannten Gemahl der Nichte seines Vaters zurück zu berufen, und ihn um so dringender zu Beschleunigung seiner Reise einzuladen, je unentbehrlicher ihm, wie er in seinem Schreiben sagt, die Gegenwart und Unterstützung eines so verdienstvollen und so nahe mit ihm verbundenen Mannes in seiner neuen Lage sey. Es wäre kein schlimmes Zeichen daß es dem jungen Dionysius, seiner sehr vernachlässigten Erziehung ungeachtet, nicht ganz an Anlage zu einem guten Fürsten fehle, wenn er die Nothwendigkeit, sich der Leitung eines weisen Rathgebers zu übergeben, wirklich so lebhaft fühlte, als er in seinem sehr wohl gesetzten Schreiben ausdrückt; es ist aber ziemlich klar, daß ihm ein anderer bei dieser Gelegenheit seinen Kopf und seine Hand geliehen hat. So viel sich aus einzelnen, wiewohl nicht immer zuverlässigen Nachrichten [277] von diesem Sohn und Erben des sogenannten Tyrannen muthmaßen läßt, scheint keine große Hoffnung zu seyn, daß er die unruhigen und schwer zu zügelnden Syrakusaner mit der unbeschränkten Regierung eines Einzigen gründlich aussöhnen werde. Nur allzu wahrscheinlich kann man sich zu ihm aller Ausschweifungen versehen, zu welchen ein feuriges Temperament einen im Frauengemach und unter Sklaven aufgewachsenen Jüngling hinzureißen pflegt, der sich aus dem stärksten Druck plötzlich auf den Königsstuhl erhoben, im Besitz eines von seinem Vorfahrer vierzig Jahre lang zusammengehäuften Schatzes, und von Schmeichlern und Parasiten umschwärmt sieht, deren Interesse ist, unter der Larve einer gränzenlosen Anhänglichkeit an seine Person, seine unaufhörlich von ihnen gereizten und befriedigten Leidenschaften zu Werkzeugen der ihrigen zu machen. Unter einem schwachen Fürsten regieren gewöhnlich die schlechtesten Menschen; und daß Dionysius, trotz seiner körperlichen Stärke ein sehr schwacher König seyn werde, davon sind bereits Vorbedeutungen genug vorhanden. Der einzige, den er scheut und der ihn, eine Zeitlang wenigstens, zurückhalten wird, ist sein Oheim und Schwager Dion, bekanntlich ein schwärmerischer Verehrer Platons, der keine große Mühe gebraucht haben mag, ihn zu überzeugen, daß Syrakus nicht eher wohl regiert seyn werde, bis es einen Philosophen zum Regenten habe. Zum Unglück fehlt es diesem Dion, bei allem Schein von Weisheit und Tugend den er von sich wirft, gar sehr an allen Eigenschaften, wodurch man sich andern, zumal einem jungen König der das Vergnügen und die Freude liebt, angenehm [278] und liebenswürdig machen kann; und, was noch schlimmer ist, ich fürchte sehr, daß er selbst etwas mehr Tyrannenblut in den Adern hat, als seine Lobredner in der Akademie sich gern gestehen mögen. Wie dem auch sey, der junge Fürst befindet sich dermalen zwischen dem strengen, Ehrfurcht gebietenden und scharf über den Grundsätzen der Platonischen Republik haltenden Dion, und dem schlauen, gewandten, allgefälligen Gesindel seines Hofes in einer zwang- und peinvollen Klemme. Diese sehen, daß er nicht Muth genug hat, das Joch, das ihm jener über die jungen Hörner geworfen, abzuschütteln; und das dringende Bedürfniß, dem majestätischen Dion einen Mann von Gewicht entgegen zu stellen, ist es ganz allein, was sie genöthiget hat, mit vereinten Kräften auf die schleunigste Zurückberufung des Philistus anzutragen.

Daß dieß die wahre Lage der Sachen am Syrakusischen Hofe sey, habe ich aus den unvollständigen Nachrichten, die mir Philist von Zeit zu Zeit mittheilte, nach und nach herausgebracht. Denn er selbst treibt, wie es scheint, die Freundschaft gegen keinen Sterblichen so weit, daß er sich ihm ganz offen und ohne alle Zurückhaltung entdecken sollte. Da er ein Mann von großer Weltkenntniß und Erfahrenheit ist, die Syrakusischen und Sicilischen Staatsverhältnisse vollkommen inne hat, dabei (worauf hier alles ankommt) eine sehr einnehmende Außenseite besitzt, und an Feinheit, Geschmeidigkeit und Besonnenheit es mit dem ausgelerntesten Hofmann aufnehmen kann: so ist nicht schwer vorauszusehen was der Erfolg seyn müsse, und daß Dion bald genug den Rath erhalten [279] werde, eine kleine Gesundheitsreise zu seinem ehrwürdigen Freund Plato vorzunehmen.

Uebrigens scheint Philist darauf zu rechnen, daß Korinth, als die Mutterstadt von Syrakus, es seinem Staats- und Handelsinteresse gemäß finden werde, mit dem Thronfolger des alten Dionys in gutem Vernehmen zu bleiben. Auch zweifle ich nicht, daß er sich in dieser Rücksicht unter der Hand mit Nachdruck für den edeln Timophanes 47 verwenden wird, welcher (wie ich höre) große Anstalten macht, sich mit guter Art der Alleinherrschaft über euch zu bemächtigen.

Auch an unserm Himmel, der während der letzten dreißig Jahre so heiter war, steigen, seit dem Tode meines guten Bruders Aristagoras, bereits einige trübe Wolken auf, die uns mit Sturm und Ungewitter zu bedrohen scheinen. Sein ganzes thätiges Leben war der Wohlfahrt von Cyrene gewidmet; sein Tod wird uns, wie ich große Ursache habe zu befürchten, eben so nachtheilig seyn als sein Leben wohlthätig war. Er war, wiewohl seine Bescheidenheit und Klugheit es immer zu verbergen suchte, der wahre Urheber und die stärkste Stütze unsrer dermaligen Verfassung. Unglücklicherweise ist noch keine Staatsverfassung erfunden worden, die durch sich selbst bestünde; und da sogar Platons Republik (seiner eigenen Versicherung nach) nur unter einer unmöglichen Bedingung von Dauer seyn könnte, von welchem andern Menschenwerk dürften wir uns mehr versprechen? Seit der Mann nicht mehr ist, der allein Ansehen und Weisheit genug besaß, dem Ehrgeiz des mächtigen Demokles und seiner Söhne das Gegengewicht zu halten, sehe ich einer Abspannung [280] der Springfedern unsrer Staatsmaschine entgegen, wodurch sie nur zu bald ins Stocken gerathen wird. Wir werden in unsre alten Mißbräuche, Parteien und Erschütterungen zurückfallen, und was sollte mir dann ein längerer Aufenthalt in Cyrene? Doch dieß, bester Learch, ist weder das Einzige, noch das Aergste, was mir bevorsteht und das häusliche Glück, dessen ich seit meiner Verbindung mit der liebenswürdigen Schwester unsers Kleonidas genoß, auf immer zu zerstören droht. Möge mein guter Genius den Unfall noch lange von uns entfernt halten, dessen langsame Annäherung ich mir selbst vergebens zu verbergen suche! – Trifft er mich, so ist Athen und Korinth – doch weg mit dem unglückweissagenden Gedanken! Noch ist Hoffnung. Die Aerzte haben zu einer Luftveränderung, wovon sie uns die beste Wirkung versprechen, eine Reise nach Rhodus vorgeschlagen, welche ich mit Kleonen und unsrer Tochter Arete, von Kleonidas, Musarion und dem jungen Kallias, ihrem Sohne, begleitet, zu unternehmen im Begriff bin. Rufe Hygieien mit mir an, mein Freund, daß der Erfolg unsre Wünsche begünstige!

Anmerkungen zum dritten Band
[281] [352]Anmerkungen zum dritten Band.
1. Brief.

1 In der Macedonischen Landschaft, wo der Berg Athos liegt, zwischen zwei Meerbusen, hatten Griechen aus Chalkis in Euböa, wovon die ganze Landschaft den Namen erhielt, die Stadt Olynthus erbaut, welche zu einer so ansehnlichen Größe empor wuchs, daß die zehntausend Krieger, worunter tausend Reiter, ins Feld stellen konnte. Der Krieg, den das, nach dem Frieden des Antalcidas mehr als je stolze, Sparta mit Olympus führte, wurde die Veranlassung zu einer ganz neuen Umgestaltung der Dinge in Griechenland, wobei Theben, eben durch jenen Frieden zu einer Stadt zweiten Ranges herabgedrückt, sich siegreich und glänzend erhob.


2 Tyrann von Pherä in Thessalien, erhob gegen 380 v. Chr. seinen kleinen Staat zu einer solchen Macht, daß er ein Heer von 20,000 Fußvolk und 3000 Reitern, ohne die leichten Truppen, unterhielt. Er hatte den Plan, den späterhin Alexander ausführte, wurde aber, auf Anstiften seiner Brüder, gemeuchelmordet.


3 Anspielung auf die Stelle der Ilias 2, 204.

4 Göttin der Nothwendigkeit.
2. Brief.

5 Auch Eurybates, wie man sieht, gehört zu denen, welche den Platon mißverstehen. [352] Sein Urtheil über dessen Philosophie im Allgemeinen ist das Urtheil eines – Geschäftsmannes, und man darf sich nicht verwundern, wenn es über Gegenstände dieser Art ein wenig seicht und voreilig ist: weit mehr dürfte man sich verwundern, daß er nicht einmal für den Menon den richtigen Gesichtspunkt ausgefunden hat, auf welchen doch Anfang und Ende des Dialogs hinweisen. Indeß muß ihm auch dieß wohl zu Gute gehalten werden, da es vielen gelehrten Leuten nicht besser damit ergangen ist. Auch hier muß Schleiermachers Einleitung nachgesehen werden.


6 Parzen, Göttinnen des Schicksals.

7 Residenz der Könige von Macedonien.

3. Brief.


8 Da ihrer hier zum letztenmale gedacht wird, so ist eine Mittheilung von ihrem letzten Schicksal, nebst einigen Bemerkungen, wohl auch hier an ihrer rechten Stelle. In einer Lobrede auf die Liebe sagt Plutarch (nach der Uebersetzung von Jacobs a.a.O.): »Mit der Liebe ist so viel Enthaltsamkeit, Zucht und Redlichkeit verbunden, daß sie auch ein zügelloses Gemüth durch ihre Berührung von andern Liebschaften abziehen kann. Denn sie rottet die Frechheit in demselben aus, drückt den Uebermuth nieder, impft ihm Schamhaftigkeit, Stillschweigen und Ruhe ein, umhüllt es mit dem Gewande der Ehrbarkeit, und macht es Einem Liebhaber unterthan. Ihr habt ohne Zweifel von der Lais, jener berühmten und vielgeliebten Hetäre gehört, wie sie ganz Hellas mit Verlangen entzündete, ja, wie zwei Meere um sie gestritten haben. Als aber die Liebe zum Hippolochus, dem Thessalier, ihr Gemüth ergriff, verließ sie das


von den grünlichen Wellen bespülte Akrokorinthos,


entfloh heimlich der Schaar ihrer übrigen Liebhaber, und lebte ehrbar mit ihm. Aber dort in Thessalien lockten sie die Weiber, aus Neid und Eifersucht über ihre Schönheit, in den Tempel der Venus, steinigten und verstümmelten sie. Daher wird, wie es scheint, dieser Tempel auch noch jetzt der Tempel der mörderischen Aphrodite genennt.« Nach der Ermordung, am Feste der Aphrodite, wobei keine Männer gegenwärtig waren, heißt es anderwärts, brach eine Pest in Thessalien aus, die nur endete, als man jenen Tempel erbaut hatte. Der Lais wurde [353] an den Ufern des Peneus ein Grabmal errichtet, worauf folgende Inschrift stand:


Das mit Ruhm gekrönte, im Kampfe nimmer besiegte
Hellas beugte der Macht göttlicher Schönheit sein Haupt,
Lais Schönheit! die Tochter des Amor näherte Korinthos,
In Thessaliens Flur ruht der Entschlummerten Staub.

Die Lais nun, welche dieses Schicksal traf, hält Jacobs für die jüngere Lais, eine Tochter der Timandra; die ältere Lais, Aristipps Geliebte, scheint zu Korinth gestorben zu seyn, wo die Korinthier ihr ein Denkmal im Kraneion errichteten, – obgleich sie, wenn man den Epigrammendichtern, unter denen hier auch Platon mit seinem Epigramm auf den Spiegel der Lais genannt wird, trauen darf, ihre Reize überlebt hatte, womit sich freilich die ihr nachgesagte Art des Todes, den sie auch Heinse in seiner Laidion sterben läßt, nämlich – im Arm der Liebe, schwer will vereinigen lassen. Glaubte nun Wieland, auf alle diese Anekdoten nicht mehr Gewicht legen zu dürfen als auf die Ausfälle des Epikrates? Es scheint so, und man kann ihm darin wohl nicht ganz Unrecht geben. Mit mehr Grund als Heinse aus Pausanias und Hippolochus zwei Geliebten der Lais gemacht hatte, verschweigt Wieland den Unterschied zwischen der älteren und jüngeren Lais, den er sehr wohl kannte und behält nur eine einzige bei. Indem er aber aus dem Leben der älteren so viel wegschneidet, daß sie nicht zu dem Gemeinen, oder wie Aristipp sagt, zur Schmach einer gewöhnlichen Hetäre, herabsinkt, und lieber, mit Uebergehung der ganzen chronique scandaleuse aus dem Leben dieser älteren Lais, zu dem Zeitpunkte, wo nur eben die Vergänglichkeit des Jugendreizes sich vom weiten muthmaßen läßt, in die Lebensgeschichte der jüngeren einbiegt, raubt er dieser doch wieder, was sie nach Plutarchs Berichte vielleicht sehr vielen Lesern erst würde empfohlen haben. Was mag er also mit seiner Lais gewollt haben, da er, anstatt sie nun zuletzt mit Pausanias ein ehrbares Leben führen zu lassen, diesem Pausanias vielmehr, ohne irgend eine historische Verbürgung, einen solchen Charakter gegeben hat, der es unmöglich machte, daß Lais solch ein Leben mit ihm hätte führen können? Wie es scheint, hatte Wieland sich die doppelte Aufgabe gemacht, erst die vielen widersprechenden Nachrichten von Lais durch Auffindung ihres wahrscheinlichen Charakters und glaublicher Umstände in einen solchen Zusammenhang zu bringen, daß die Widersprüche gelöst würden, wobei [354] denn das ganz Unstatthafte stillschweigend verworfen werden mußte, und dann zu zeigen, von welcher Art eine Liebe habe seyn müssen, deren ein weibliches Wesen von diesem Charakter empfänglich war. Vor allen Dingen hat nun wohl Wieland darin Recht, daß er einer, nach allgemeinem Zeugniß, so schwer zugänglichen, geistreichen Frau wenig Temperament, und um ein gutes Theil mehr Kopf als Herz gab, so daß sie dessen, was man Liebe nennt, nicht sonderlich empfänglich seyn mußte. Gleichwohl wurde nun von ihr berichtet, daß sie einmal in ihrem Leben sogar eine leidenschaftliche Liebe gefühlt habe, denn auch von der ältern Lais erzählt man dieses. Es kam darauf an zu bestimmen, in welche Periode ihres Lebens diese Liebe mit Wahrscheinlichkeit zu setzen sey. Historisch wahrscheinlich fiele dieß bei der einen und der andern Lais freilich in ihre Blüthenzeit, allein daran glaubte Wieland sich nicht binden zu müssen, zumal da nur Anekdoten Bürgschaft leisteten, und größeren Unwahrscheinlichkeiten aus dem Wege zu gehen war, theils nämlich denen, welche das Alter der einen Lais zu Korinth, theils jenen, welche die Sage von der zweiten Lais in Thessalien betreffen. Er zog es daher vor, die Liebe seiner Lais so nahe an das Ende ihrer Blüthenzeit zu rücken, daß es einerseits eben so glaublich wird, verschmähte Liebhaber, beleidigter Stolz und Neid hätten wohlge wisse beißende Epigramme auf sie in Umlauf bringen können, als von der andern, daß eben jetzt in einer solchen Frau eine solche Liebe und – gerade zu einem solchen Manne entstehen konnte. Wer die Weiber kennt und nicht ohne Welterfahrungen ist, wird gestehen müssen, daß hier alles dem natürlichen Laufe der Dinge gemäß ist, und Wieland, dem Lais für seine Darstellung so viele Dienste geleistet hatte als nur irgend möglich war, that wohl, lieber dem natürlichen Laufe der Dinge als widersprechenden Sagen voller Unwahrscheinlichkeit zu folgen. Habe er nun weder in der einen noch der andern Lais die griechische dargestellt, so ist seine Lais doch ein in sich vollendetes Wesen, und die Zeichnung ihres Charakters, die Motivirung der Begebenheiten, und die Schilderung der Art von Liebe, zu welcher diese Lais allein kommen konnte, und die vielleicht nirgend so entwickelt ist als hier, sind ein dieses Meisters so würdiges Werk, daß man selbst dann über den Mangel an Aehnlichkeit mit dem Original hinwegsehen könnte, wenn er auch noch größer wäre als er es in der That doch nicht ist.


[355] 4. Brief.


9 Der Hafen Piräeus bei Athen.


10 Diana bei den Thraciern, deren Fest, Bendideia, seit der 88sten Olympiade auch in Athen gefeiert wurde, wo ihr Tempel im Hafen, nicht weit von dem der Artemis Munychia stand.


11 Sind hier wohl bloß in dem Sinne von Regelwidrigkeiten genommen; gewöhnlich: Widerspruch eines Gesetzes mit dem andern.


12 Ein solcher, dessen Charakter Ironie ist.


13 Gyges, wurde, nach Platon, zufolge des Gebrauches eines magischen, unsichtbar machenden Ringes, zum König von Lydien (vergl. Cic. de offic. 3, 9.), nach Herodot aber (1, 8. fgg.) dadurch, daß der König Kandaules ihn genöthigt hatte, seine Gemahlin im Versteck entkleidet zu sehen, worüber diese, die den Gyges entdeckt hatte, entrüstet, ihm nur die Wahl zwischen dem eignen oder des Königs Tode ließ. Gyges brachte den König um, und erhielt mit dessen Gemahlin auch sein Reich.


5. Brief.


14 Buch 3, Cap. 6.


15 (Nodum in scirpo quaerere) sprüchwörtliche Redensart für: auch da Schwierigkeiten finden, wo keine sind; denn die Binsen haben keine Knoten.


16 Dogge. Die Landschaft Molossis in Epirus war wegen ihrer starken und muthigen Hunde, die auch zur Jagd trefflich zu gebrauchen waren, berühmt.


17 Muskenkünste, mit Inbegriff aller der Wissenschaften, die zu einer wahrhaft menschlichen Bildung wesentlich gehören.


18 Der Timotheus, von welchem hier die Rede ist, war einer der berühmtesten Tonkünstler und musikalischen Dichter der Zeit, in welcher die sämmtlichen in diesen Briefen vorkommenden Personen gelebt haben. Er wurde, zum Dank daß er den Gesang und die Saitenmusik [356] seiner Zeit (nach unsrer gewöhnlichen Vorstellung) zu einer weit höhern Vollkommenheit gebracht als worin er beide gefunden, von den strengern Anhängern der alten, äußerst einfachen, an wenige Formen gebundenen, feierlich ernsten Musik für einen ihrer größten Verderber erklärt, und unter andern von dem komischen Dichter Pherecydes, seinem Zeitgenossen, in einem von Plutarch aufbehaltenen beträchtlichen Bruchstück seines Chirons, sehr übel mitgenommen. Indessen war nicht er, wie spätere Compilatoren sagen, sondern (laut des besagten Fragments) ein gewisser Melanippides derjenige, der die Saitenzahl der Lyra, welche schon sein Meister Phrynis, zum größten Aergerniß der Eiferer für die gute alte Sitte (S. die Anklagsrede des dikaios Logos in den Wolken des Aristophanes) bis auf sieben gebracht hatte, noch mit fünf neuen vermehrte. Wie dem aber seyn mochte, genug Timotheus war, wie es scheint, der erste, der mit einer eilf- oder zwölfsaitigen Magadis (einer Art von Cither, auf deren Saiten ohne Plektron mit den bloßen Fingern geklimpert wurde) zu Sparta erschien, und sich unter andern mit einem dithyrambischen Gesang über die bekannte Fabel von Jupiter und Semele hören ließ. Aber die Spartanische Regierung nahm diese sittenverderbliche Neuerung (wiewohl damals wenig mehr an ihren Sitten zu verderben war) so übel, daß sie ein Decret (welches uns Boëthius in seinem Buche de Musica aufbehalten hat) abfaßte, des Inhalts: »Demnach ein gewisser Timotheus (oder Timotheor, wie man in Sparta zu sprechen pflegte) von Milet in ihrer Stadt angekommen, und durch sein Spiel öffentlich bewiesen habe, daß er die alte Musik und die alte Lyra verachte, indem er die Zahl der Töne und der Saiten über alle Gebühr vermehrt, der alten einfachen Art zu singen eine viel zusammengesetztere chromatische untergeschoben, auch in seinem Gedicht über die Niederkunft der Semele die geziemende Anständigkeit A1 gröblich verletzt habe: als hätten die Könige und Ephoren, in Erwägung daß solche Neuerungen nicht anders als den guten Sitten sehr nachtheilig seyn könnten, und zu Verhütung der davon zu besorgenden Folgen, besagtem Timotheor einen öffentlichen Verweis gegeben, und befohlen, daß seine Lyra auf sieben Saiten zurückgesetzt und die übrigen ausgerissen werden sollten.« – Daß Athenäus (im 10. Kap. des XIV. B.) diese Anekdote nach [357] andern Autoren anders erzählt, beweiset eben so wenig gegen sie, als das Ansehen des edeln und für sein Zeitalter gelehrten Boëthius die Aechtheit des Decrets, nach Verfluß von 1000 Jahren, verbürgen kann. Ich kenne nicht eine einzige Griechische Anekdote dieser Art, die nicht von andern anders erzählt würde. Gewiß ist indessen, daß das Decret ganz im Geiste der Spartanischen Aristokratie, die in allem streng über die alten Formen hielt, und ihrem Geschmack in der Musik gemäß, abgefaßt ist. W.


19 Tempern ist ein wenig mehr üblicher Kunstausdruck der Maler, und bedeutet so viel als dämpfen, mildern.


20 Daß Plato durch dieses Vorgehen seinem Mährchen eine Art von Beglaubigung geben wolle, ist klar genug: aber worauf er die Phönicische Abkunft desselben gründet, und wer die Dichter sind, welche versichern, es habe sich an vielen Orten zugetragen, weiß ich nicht. Denn daß er auf die bewaffneten Männer anspiele, die aus der Erde hervorgesprungen seyn sollen, als der Phönicier Kadmus die Zähne des von ihm erlegten Castalischen Drachen in die Erde säete, oder auf die goldnen, silbernen, ehernen, heroischen und eisernen Menschen des Hesiodus, die nicht zugleich, sondern in aufeinander folgenden Generationen, nicht aus dem Schooß der Erde hervorsprangen, sondern von den Göttern gebildet und zum Theil gezeugt wurden, – ist mir nicht wahrscheinlich. Doch vielleicht will er mit dieser anscheinenden Beglaubigung seines in der That gar zu abgeschmackten Mährchens nicht mehr sagen, als mit dem etwas plattscherzhaften Zweifel seines Sokrates: »ob es sich künftig jemals wieder zutragen dürfte.« W.


21 Nach der alten Vorstellung der Griechen von der Erdscheibe war Delphi der Mittelpunkt derselben, und wurde darum der Nabel der Erde genannt. Apollon sollte gerade deßhalb sein Orakel daselbst gestiftet haben.

6. Brief.

22 Praxilla, eine zu ihrer Zeit berühmte Skoliendichterin aus Sicyon, hatte ein Lied verfertiget, worin Adonis, den sie so eben im Reich der Schatten anlangen läßt, auf die Frage: was von allem, so er auf der Oberwelt habe zurücklassen müssen, das Schönste sey? zur Antwort gibt: »Sonne, Mond, Gurken und[358] Aepfel.« Man fand diese Antwort so albern naiv, daß die Redensart, einfältiger als Praxillens Adonis, zum Sprüchwort wurde. W.


23 Daß Platon hiemit hinstrebte nach der Unterscheidung des Erkenntniß-, Begehrungs- und Gefühls-Vermögens, unterliegt so wenig einem Zweifel als das große Verdienst, welches er sich um Psychologie erworben hat. Am zweckmäßigsten wird man mit dieser Stelle vergleichen Carus Geschichte der Psychologie S. 301–306.

7. Brief.

24 Sind ein Paar Zauberworte von denen, die bei den Griechen Ephesia grammata hießen, womit von Betrügern und abergläubischen Leuten allerlei Alfanzerei getrieben wurde, und über deren Abstammung und Bedeutung viel Vergebliches philologisirt worden ist. W.


25 Platon sagt im fünften Buche seiner Republik: welche manches schön finden, das Schöne selbst aber nicht sehen, noch zu dessen Anschauung sich zu erheben vermögend sind; welche im Einzelnen manches gerecht finden, das Gerechte selbst aber nicht begreifen: werden wir von solchen nicht sagen, daß sie nur meinen, nicht aber wahrhaft erkennen? Und wie, werden wir von solchen, die jegliches an sich anschauen, wie es ewig auf dieselbe Weise ist, nicht sagen, daß sie erkennen, nicht aber meinen? Und werden wir solchen nicht Liebe für das zuschreiben, was der Erkenntniß, den andern aber nur Liebe für das, was der Meinung angehört? Nicht mit Unrecht werden wir daher diese als Philodoxen, jene hergegen als Philosophen bezeichnen. Die nur, welche jedes in seinem Wesen, in seinem wahren Seyn umfassen, verdienen den Namen Philosophen.


26 Noësis und Dianoia, sind bei Platon eben so unterschieden wie bei uns Vernunft- und Verstandeserkenntniß.

8. Brief.

27 Des Tantalus Schicksal bereiten, dem ewig ein brennendes Verlangen erregt und nie befriedigt wurde.


28 Ist bei Platon in der hier beurtheilten [359] Stelle die philosphische überhaupt, und von der dialektischen Methode wird diesem gemäß behauptet, daß sie zur Erkenntniß des Wesens führe. Platon selbst nimmt anderwärts Dialektik nicht in dieser Bedeutung.


29 Aesthetisch steht hier, so wie späterhin, in seiner ursprünglichen Bedeutung für wahrnehmbar durch die Sinne.


30 Die sogenannte Platonische Zahl, wovon Aristipp hier mit einer Art von Unwillen spricht, der ihm zu gut zu halten ist, hat von alten Zeiten her vielen bene und male feriatis unter Philologen, Mathematikern und Philosophen, manche saure Stunde gemacht. Alle haben bisher bekennen müssen, daß ihnen die Auflösung dieses Räthsels, oder vielmehr die Bemühung Sinn in diesen anscheinenden Unsinn zu bringen, nicht habe gelingen wollen. Ich gestehe gern, daß ich den Versuch, eine auch nur den schwächsten Schein einer sichtbaren Dunkelheit von sich gebende Uebersetzung dieser berüchtigten Stelle, eben so wohl, wie der sehr geschickte und beinahe enthusiastisch für den göttlichen Plato eingenommene Französische Dolmetscher über meine Kräfte gefunden habe. Herr Kleuker – dem wir eine schwer zu lesende Uebersetzung der Werke Platons zu danken haben, die nicht ohne Verdienst ist und einem künftigen lesbaren Uebersetzer die herculische Arbeit nicht wenig erleichtern wird, – ist herzhafter gewesen als wir beide: und da seine Dolmetschung wohl den wenigsten Lesern dieser Briefe zur Hand seyn dürfte, so sehe ich mich zu Aristipps und meiner eigenen Rechtfertigung beinahe genöthiget, von seiner mühsamen Arbeit dankbaren Gebrauch zu machen, und seine wörtlich getreue Uebersetzung dieser Stelle, so wie sie die Platonische Zahl betrifft, hier abdrucken zu lassen. Sie lautet folgendermaßen:

»– Alles Lebende auf Erden hat seine Zeit der Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit, der Seele und dem Körper nach. Diese Zeit ist zu Ende, wenn die umkreisende Linie eines jeden Cirkels wieder auf den ersten Punkt seines Anfangs kommt. Die kleinen Umkreise haben ein kurzdaurendes, die entgegengesetzten ein entgegengesetztes Leben. Nun aber werden diejenigen, die ihr zu Regenten des Staats gebildet habt, wie weise sie auch seyn mögen, dennoch den Zeitpunkt der glücklichen Erzeugung und der Unfruchtbarkeit eines Geschlechts durch alles Nachdenken mit Hülfe der sinnlichen Erfahrung nicht treffen. Dieser Zeitpunkt [360] wird ihnen entwischen, und sie werden einmal Kinder zeugen, wenn sie nicht sollten. Der Umkreis der göttlichen Zeugungen hält eine vollkommene Zahl in sich: aber mit der Periode der menschlichen Zeugungen verhält es sich so:


daß die Vermehrungen der Grundzahl, nämlich drei potenziirende und potenziirte Fortrückungen zur Vollendung, welche vier unterschiedene Bestimmungen des Aehnlichen und des Unähnlichen, des Wachsenden und des Abnehmenden annehmen, alles in gegenseitigen Beziehungen und ausgedruckten Verhältnissen darstellen. Die Grundzahl dieser Verhältnisse, nämlich die Einsdrei mit der Fünfe verbunden, gibt nach dreifacher Vermehrung eine zwiefache Harmonie; eine gleiche ins Gevierte, als Hundert in der Länge und Hundert in der Breite; eine andere, die zwar von gleicher Länge ist, aber mit Verlängerung der einen Seite, so daß zwar auch Hundert an der Zahl, nach dem diametrischen Ausdruck der Fünfen darin liegen, wovon aber jede dieser Fünfen noch eine bedarf und zwei Seiten unausgedruckt sind: Hundert aber folgen aus den Kuben der Dreiheit. Diese ganze Zahl ist nun geometrisch, und regiert über die vollkommnern oder unvollkommnern menschlichen Zeugungen. u.s.f.«


Herr Kleuker hat uns in einer Anmerkung zu dieser Platonischen Offenbarung, welche ihm vielleicht doch erklärbar scheint, einen künftig nähern Aufschluß darüber hoffen lassen; ob und wo er diese Hoffnung erfüllt habe, ist mir unbekannt. W.


31 Von diesem wird erzählt, er habe seine Pferde mit Menschenfleisch gefüttert, und zu diesem Behuf die Fremden, die in seine Gewalt geriethen, ermordet.

Zu Brief 4–8.

Wollte der Herausgeber dem, wozu der verewigte Wieland ihn mehrmals aufforderte, Genüge leisten, diese seine Beurtheilung der sogenannten Platonischen Republik wieder zu beurtheilen, so müßte er besorgen, in den Fall Aristipps zu kommen, über das beurtheilte Buch ein wenigstens eben so dickes Buch zu schreiben. Gesetzt nun auch, daß es [361] Leser gäbe, die ihm dieß danken würden, so wäre doch hier schwerlich der Ort dazu. Um jedoch der Aufforderung einigermaßen zu genügen, will der Herausgeber wenigstens einige Bemerkungen mittheilen, die vielleicht zu einer weiteren Vergleichung mit der Aristippischen Beurtheilung einladen. Im Betreff des Hauptzwecks dieses Dialogen und des Zusammenhanges der Episoden mit demselben würde es Unrecht seyn, eine Schrift nicht zu berücksichtigen, welche Wieland, ungeachtet sie vier Jahre vor dem Aristipp nicht erschienen war, doch nicht gekannt zu haben scheint, Morgensterns de Platonis Republica Commentatio prima: de proposito atque argumento operis. Halle l794. Hiemit sind zu vergleichen die Bemerkungen Garve's sowohl in seiner Darstellung der verschiedenen Moralsysteme (S. 32 fgg.) als in den Anhängen zu seiner Uebersetzung der Politik des Aristoteles (Bd. 2. S. 184 fgg.). Auf Tiedemann, Tennemann und Buhle erst noch besonders zu verweisen, würde wohl unnöthig seyn.

Morgenstern unterscheidet in diesem Dialog den Hauptzweck und mehrere Nebenzwecke. Daß der Hauptzweck nicht die Aufstellung einer idealen Staatsverfassung sey, ungeachtet der Dialog den Namen davon trägt, und ein sehr großer Theil desselben sich damit beschäftigt, sondern Untersuchung über Dikäosyne, darin stimmen alle unbefangenen Leser mit einander überein, und Wieland läßt seinen Aristipp austrücklich sagen »ihm scheine die vornehmste Absicht dahin zu gehen, der in mancherlei Rücksicht äußerst nachtheiligen Dunkelheit, Verworrenheit und Unhaltbarkeit der vulgaren Begriffe und herrschenden Vorurtheile über den Grund und die Natur dessen, was Recht und Unrecht ist, durch eine scharfe Untersuchung auf immer abzuhelfen.« Hiebei kommt nun aber bald ein Anstoß an dein Worte Dikäosyne, welches man gewöhnlich durch Gerechtigkeit übersetzt. Platon gebraucht allerdings dieses Wort auch in dem gewöhnlichen, in den bei weitem meisten Stellen dieses Dialogs aber in einem von dem Sprachgebrauche ganz abweichenden Sinne, nach Morgensterns Ausdruck »beinahe für Tugend überhaupt.« Wielands Aristipp hat dieß auch nicht unbemerkt gelassen, denn er sagt: »da ein Wort doch weiter nichts als ein Zeichen einer Sache, oder vielmehr der Vorstellung, die wir von ihr haben, ist, so kann es dem Wort Gerechtigkeit allerdings gleichviel seyn, was Plato damit zu bezeichnen beliebt; aber der Sprache ist dieß nicht gleichgültig, und ich sehe nicht, mit welchem Recht ein einzelner Mann, Philosoph oder Schuster, sich anmaßen könne, Worte, denen der Sprachgebrauch eine gewisse Bedeutung gegeben [362] hat, etwas anders heißen zu lassen als sie bisher immer geheißen haben. Was Plato unter verschiedenen Formeln Gerechtigkeit nennt, ist bald die innere Wahrheit und Güte eines Dinges, die ihm eben dadurch, daß es recht ist, oder daß es ist was es seyn soll, zukommt; bald die Ordnung, die daraus entsteht, wenn viele verschiedene mit einander zu einem gewissen Zweck in Verbindung stehende Dinge das, was sie vermöge dieser Verbindung seyn sollen, immer sind; bald die Harmonie, die eine natürliche Wirkung dieser Ordnung ist.« An einer andern Stelle sagt er: »Hätte sich Plato auf das reichlich Genugsame einschränken wollen, so stand es nur bei ihm, die Aufgabe, so wie er sie gestellt hatte, geradezu zu fassen; und da es ihm, kraft seiner philosophischen Machtgewalt, beliebt hatte, den gemeinen und zum Gebrauch im Leben völlig zureichenden Begriff der Gerechtigkeit zu verlassen, und die Idee der höchsten Richtigkeit und Vollkommenheit der menschlichen Natur an seine Stelle zu setzen, so bedurfte es, meines Bedünkens, keiner so weitläufigen und künstlichen Vorrichtung, um ausfindig zu machen, worin diese Vollkommenheit bestehe.«

Unbezweifelt liegt hierin der Grundirrthum von Aristipps Beurtheilung des Ganzen, und man muß sagen, daß er zwar bis zu dem Punkte vorgedrungen, wo er den richtigen Gesichtspunkt hätte fassen können, ihn aber nicht gefaßt hat, und daß deßhalb gegen Platon nicht gerecht und billig verfahren wird. Nach Morgenstern und Garve ist der Hauptzweck dieses Dialogs die Entwickelung des Platonischen Moralsystems, welches, dem Erstgenannten zufolge, auf diesen Grundsätzen beruht: 1) daß der menschlichen Natur eine eigenthümliche Tugend und Würde zukomme, die sich dadurch beweise, daß jedes menschliche Vermögen das thue, was ihm zukomme, daß die Vernunft befehle, die übrigen aber gehorchen, 2) daß diese Tugend ein Gut an sich sey, Götter und Menschen mögen darum wissen oder nicht, 3) daß sie aber gleichwohl die Quelle der reinsten, wahrhaftesten und dauerhaftesten Glückseligkeit sey, und 4) daß man deßhalb aus zwiefachem Grunde nach ihr als dem höchstem Gute streben, das Laster hergegen als das höchste Uebel fliehen müsse. Man sieht leicht, daß Platon die Selbstgesetzgebung der Vernunft im Auge hat, aus welcher er die Tugend ableiten will, und daß er nach etwas Höherem strebt als dem, was man bürgerliche Tugend nennen kann, nach einer rein menschlichen Tugend, die auch aus der Befolgung anderer als der bürgerlichen Gesetze entspringt. Nur hier konnte er Grund und Natur dessen, was Recht und Unrecht,[363] und zwar nicht bloß heute und morgen oder hier und da, sondern dessen, was allgemein und ewig Recht und Unrecht ist, finden; nur wenn er die Untersuchung bis auf diesen Punkt zurückführte, konnte er den vulgaren Begriffen darüber auf immer abhelfen. Auf jeden Fall aber war es zweckmäßig, daß er, um auch andern seine Ueberzeugung mitzutheilen, von den vulgaren Begriffen ausging. Dieß that er, und dadurch wurde einerseits der ganze Gang seiner Untersuchung, er aber anderseits selbst bestimmt, den gemeinen und zum Gebrauch im Leben völlig zureichenden Begriff der Gerechtigkeit zu verlassen, und die Idee der höchsten Richtigkeit und Vollkommenheit der menschlichen Natur an seine Stelle zu setzen, welches mit andern Worten nichts anders heißt als: die Gerechtigkeit zur Tugend an sich zu erheben, wozu er mehr Grund und Recht hatte, als Wielands Aristipp ihm zugestehen will. Um aber bis auf diesen Punkt zu kommen, bedurfte es in der That aller der weitläufigen und künstlichen Vorrichtung, die Platon gemacht hat, und Aristipp hat hierin Unrecht.

Man muß wohl bedenken, daß Platon ja noch keineswegs die volle Wahrheit schon in den Händen hatte, sondern sie erst suchte, daß ihm zwar das Ziel hell und klar vor Augen war, daß er aber den Weg dahin noch nicht kennen konnte, und daß es einen gewissen Punkt gab, von dem er ausgehen mußte, der Punkt nämlich, auf den ihn selbst seine zwei größten Vorgänger gestellt hatten. Alles müßte mich trügen, oder Platon hatte zunächst den Sokrates vor Augen, der in Ansehung dessen, was Recht sey, noch ziemlich befangen war, denn er blieb meist bei dem stehen, was die Staatsgesetze gebieten, wobei aber dem Platon nothwendig die Bedenklichkeit aufstoßen mußte, ob denn alles, was die Staatsgesetze gebieten, auch Recht sey. Da mußte er nach einer andern Ableitung dessen, was Recht sey, sich umsehen, und zu erforschen suchen, was Recht an sich sey. Da stieß er auf die Pythagoräer, die ihn zur rechten Quelle leiteten, zu dem Grunde in der menschlichen Natur selbst. Hier fand er die vier Cardinal- oder Haupt-Tugenden, die Weisheit als die Tugend des Verstandes, Mäßigung und männlichen Muth (Tapferkeit) als Tugenden des Begehrungsvermögens, und endlich die Gerechtigkeit, die alle Tugenden zu Einer Tugend macht, die ganze Seele zu Harmonie stimmt, aber die keinem besondern Vermögen zugehörte. Platon bestimmte diesem gemäß den Begriff der Gerechtigkeit und konnte ihn ohne große Schwierigkeit auf seine Weise bestimmen, ohne der Sprache große Gewalt anzuthun, wie wir es in unserer Sprache mit [364] dem Worte Gerechtigkeit leicht auch können würden. Sie erschien ihm als die Beschaffenheit der menschlichen Natur, wie diese ihrem moralischen Vermögen zufolge seyn soll, als moralische Vollkommenheit.

Wenn nun Wielands Aristipp äußert, diese sey viel leichter ausfindig zu machen gewesen als auf Platons Wege, so übersieht er den Vortheil, den in den ersten Büchern Platon sich dadurch schaffte, daß er gleich alles zusammenfaßte, was beseitigt werden mußte, wenn seine Ideen Eingang finden sollten, – und dieß war nichts Geringeres als die Erfahrung des wirklichen Lebens, die Art der Erziehung und die Gegenstände des Unterrichts, der Einfluß der Sophisten und Redner, der Dichter und der Priester, – und daß er in dem Nachfolgenden auf Schwierigkeiten stoßen mußte, die, wenn sie uns leichter zu heben sind, es doch nicht für Platon seyn konnten. Er hatte seine Angabe zu erweisen aus der menschlichen Natur selbst, allein dazu fehlten ihm die Vorarbeiten der Psychologie und Anthropologie, zweier Wissenschaften, die er selbst erst, man kann wohl sagen neu zu schaffen hatte, und um die er sich, bei allem Einzelnen worin er irrte und irren mußte, im Ganzen so große Verdienste erwarb, daß ich noch jetzt für die dereinstige Vollendung dieser Wissenschaften keinen andern Weg weiß als den er einschlug. Was als Ahnung der Wahrheit in der Tiefe seiner Seele lag, war wohl kaum auf geradem Wege mitzutheilen möglich, und er schlägt daher einen Weg ein, der, wie Garpe sagt, dem Dichter mehr als dem Philosophen ansteht, den Weg der Vergleichung. Wielands Aristipp urtheilt hierüber sehr richtig, wenn er sagt: »Die Gerechtigkeit besteht, nach ihm, in dem reinsten Zusammenklang aller Kräfte zur möglichsten Vollkommenheit des Ganzen unter der Oberherrschaft der Vernunft. Um dieß seinen Hörern anschaulich zu machen, war es allerdings der leichtere Weg, zuerst zu untersuchen wie ein vollkommen wohl geordneter Staat beschaffen seyn müsse, und erst dann, durch die entdeckte Ähnlichkeit zwischen der innern Oekonomie unsrer Seele mit der wesentlichen Verfassung und Verwaltung eines wohlgeordneten Gemeinwesens, die wahre Auflösung des Problems ausfindig zu machen. Auf diese Weise wurden sie in der That vom Bekanntern und gleichsam in größern Charaktern in die Augen Fallenden auf das Unbekanntere geführt; denn was der Mensch gewöhnlich am wenigsten kennt, ist das Innere dessen was er seine Seele nennt.«

Was Platon von der Staatsverfassung sagt, soll also bloß Mittel zu dem Zwecke seyn, die ideale Menschennatur kennen zu lehren. Wenn [365] dieß geschehen sollte, so mußte Platon auch das Ideal einer Staatsverfassung schaffen, wobei mir nicht unwahrscheinlich ist, daß er eigentlich nur die ägyptische Verfassung mit ihrem Kastenwesen idealisirt habe. Wie dem aber sey, genug er schafft ein solches Ideal, und zwar ganz sichtlich zum Behuf der Vergleichung. Die Vergleichungspunkte, die er durchführt, sind der einzelne Mensch und der Staat, die drei Seelenformen des Menschen und die Stände des Staates, die Tugenden und eben diese Stände. So erhält er folgende Parallele:


Stand der
Regierenden =Seelenform
der Vernunft =Weisheit
und Klugheit;
Stand der
Beschützenden =Seelenform
des Affects =Tapferkeit;
Stand der
Gewerbetreibenden =Seelenform
des Begehrens =Mäßigung;

wobei man leicht bemerken kann, daß von den Cardinaltugendcn nur drei angeführt werden, die vierte aber, um deren Wesen es der Untersuchung gerade zu thun ist, noch nicht zur Erscheinung kommt. Hierin liegt nun aber auch die Hauptschwierigkeit, wie einst für Platon selbst, so für jeden, der ihn verstehen will, und zwar entspringt diese Hauptschwierigkeit aus der dem Platon eigenen Bestimmung des Begriffs der Gerechtigkeit. Hätte er diesen im gewöhnlichen Sinne gefaßt, so hätte er die Gerechtigkeit bloß darstellen können als eine Pflicht, als Gesetzmäßigkeit der Handlungsweise. Er hatte sie aber aufgefaßt als Vollkommenheit, und dieß veränderte den ganzen Gesichtspunkt, den man jedoch schwerlich finden wird, wenn man sich von dem deutschen Worte Vollkommenheit läßt irre leiten. Diese ist in Platons Sinne nicht etwa ein zu Stande gebrachtes, ruhendes, unthätiges Product, nicht eine Wirkung oder ein Werk jener drei Seelenformen oder Tugenden, sondern vielmehr eine Kraft, und zwar die Kraft der Gesinnung, des sittlichen Willens, wodurch alle Tugeuden erst zu Tugend werden, und in dieser Hinsicht die Tugend selbst. Aus dem Wirken dieser Kraft geht erst ein Product hervor, die Gesundheit, Wohlgestalt, Schönheit der Seele, welche zuletzt als Gottähnlichkeit dargestellt wird.

[366] Wohl könnte man wünschen, daß Platon zur Bezeichnung jener Kraft sich eines andern Wortes als des der Gerechtigkeit bedient haben möchte: wie nun aber, wenn er, ohne sich gerade dieses Wortes zu bedienen, weder selbst auf diese Höhe des Standpunktes gekommen wäre, noch uns darauf hätte führen können? Mir scheint, daß Platon in seiner Untersuchung gerade darum, weil er von dem Begriff der Gerechtigkeit ausging, mit dessen gewöhnlicher Bestimmung er nicht zufrieden war, auf eine höhere Ableitung desselben kam, und daß eben dieses ihn auf die wichtigsten Entdeckungen im Gebiete der Ethik sowohl als der Politik führte. Indem sich bei ihm, wie Schleiermacher in seiner Kritik der Sittenlehre sich ausdrückt (S. 325), »diejenige Tugend, welche sich am meisten auf die Verhältnisse gegen Andre zu beziehen scheint, als diejenige zeigt, welche der Mensch am meisten in und gegen sich selbst zu üben hat, und welche allein ihn in sich selbst zu erhalten vermag« oder wie es an einer Stelle heißt (S. 250), indem er die Gerechtigkeit nicht bloß als gesellige Tugend, sondern als »die gleiche auf den Handelnden selbst sich beziehende Gesinnung aufsuchte,« entdeckte er den reinen Tugendbegriff selbst, und stellte diesem gemäß die Tugend als etwas lediglich Innerliches dar, als diejenige Gesinnung, denjenigen Willen, wodurch erfüllt werden ohne Hinsicht auf Lohn oder Strafe die Gesetze der Vernunft, die zugleich die Gesetze der Gottheit sind. Nur aber wenn dieß gefunden war, konnte die bürgerliche Gesetzgebung als etwas Untergeordnetes erscheinen, und Platon auf den Gedanken kommen, daß auch die Politik auf der sittlichen Idee ruhen solle. Daß sie nicht darauf ruhe, so wenig als das gewöhnliche Leben der Menschen, sah er vollkommen klar und bewies es, indem er die Wirklichkeit im Contraste mit seinem Ideal in einer neuen Parallele aufstellte, gegen die Eine Staatsverfassung nämlich, wie sie seyn soll – Monarchie oder Aristokratie, Regierung der Vernunft und des Guten – wie sie sind, eben so viele als Leidenschaften das menschliche Leben von der Vernunft und Sittlichkeit zur Abweichung bringen. Er stellt darum gegenüber


der Timokratiedie Ehrsucht
dcr Oligarchiedie Habsucht
der Demokratiedie Genußsucht
der Tyranniedie Herrschsucht;

bei welcher Schilderung ihm unverkennbar wirkliche Staaten und Personen vorschwebten. Indem er ihren verdorbenen Zustand und ihr zweckwidriges Treiben schilderte, durfte er hoffen, die Ueberzeugung zu [367] bewirken, daß von ihnen die zuverlässige Regel dessen, was Recht sey, nicht entnommen werden könne, und daß die positive Gesetzgebung von einer höheren das Gesetz erhalten müsse. Selbst hievon überzeugt, stellte er die Idee der Menschheit und des Staates in das reinste Licht, und verknüpfte beide durch ein gemeinschaftliches Band, durch die Idee der Sittlichkeit. Das Verhältniß der Menschheit und des Staates zu der Idee der Sittlichkeit stellt er als völlig gleich dar, und man muß annehmen, daß, dieses zu zeigen, sein Hauptzweck war. Deßhalb kann ich Morgenstern nicht beistimmen, wenn er die Aufstellung der Staatsverfassung für den vorzüglichsten Nebenzweck in diesem Dialog ausgibt. Platon sieht den Staat aus dem Gesichtspunkte der Menschheit an, und die Menschheit aus dem Gesichtspunkte des Staats – wie er denn am Ende seiner Parallele selbst sagt, daß der Mensch in sich einen Staat darstelle – und so konnte er beide nicht von einander trennen; die gleichmäßige Betrachtung beider war ihm nothwendig, und man wird nun, zumal wenn man bedenkt, um wie viel wichtiger der Staat einem Griechen erschien als uns, errathen können, warum er seinem Dialog die Ueberschrift gab: von der Staatsverfassung (Politeia), und – warum er damit mißverstanden wurde.

»Die Platonische Republik, sagt Kant (Krit. d.r. Vft. S. 372), ist, als ein vermeintlich auffallendes Beispiel von erträumter Vollkommenheit, die nur im Gehirn des müßigen Denkers ihren Sitz haben kann, zum Sprüchwort geworden, und Brucker findet es lächerlich, daß der Philosoph behauptete, niemals würde ein Fürst wohl regieren, wenn er nicht der Ideen theilhaftig wäre. Allein man würde besser thun, diesem Gedanken mehr nachzugehen, und ihn (wo der vortreffliche Mann uns ohne Hülfe läßt) durch neue Bemühungen ins Licht zu stellen, als ihn, unter dem sehr elenden und schädlichen Vorwande der Untbunlichkeit, bei Seite zu setzen«. So billig wie Kant ließen nicht Philosophen und Staatsmännern der Absicht Platons Gerechtigkeit widerfahren, und am allerwenigsten die, welche sich eingebildet hatten, Platon habe hier eine ausführliche Theorie der Staatsverfassung liefern wollen; ein Gedanke, den sie nicht gefaßt haben würden, wenn sie, was ihnen zuzumuthen war, diese Schrift mit Platons übrigen politischen Schriften verglichen hätten, bei dem es ihnen aber ganz leicht wurde, den Philosophen einer eben so großen Mangelhaftigkeit als Oberflächlichkeit zu beschuldigen.

Den größten Anstoß bei diesem Dialog hat man indeß von jeher [368] an einzelnen jener Vorschläge und Ausführungen genommen, welche, nach Morgensterns Ansicht, als Nebenzwecke mit dem Hauptzwecke in Zusammenhang gebracht worden sind: 1) psychologischer Grundriß von dem Seelenvermögcn des Menschen, 2) Grundriß einer Encyklopädie der Wissenschaften; 3) Ideen über Erziehung und Unterricht; 4) die mit der Gotteslehre zusammenhängende Ideenlehre; 5) die Schilderung eines ächten Philosophen; 6) Grundriß einer Theorie und Kritik der schönen Künste, die zum großen Theil, wegen ihres schädlichen Einflusses auf die Sittlichkeit, aus dem Staate verbannt werden sollen; 7) Gemeinschaft der Weiber, Kinder und Güter bei der Kriegerkaste. Daß jeder die ser Punkte von der Art sey, um uns geradeswegs auf den Tummelplatz streitiger Meinungen zu führen, sieht man auf den ersten Blick; es ist daher unmöglich, daß wir uns auf jeden einzeln hier einlassen könnten. Bleiben wir also bei der Frage stehen, ob sie als bloße Episoden zu betrachten sind, und ob sie wesentlich in diese Untersuchung gehörten oder nicht.

Hat man die Absicht der ersten Bücher richtig gefaßt, so entdeckt man bald, daß hier ein neuer Parallelismus statt findet. Platon sucht hier jedem, was er dort als aus der Wirklichkeit zu beseitigend zusammengefaßt hatte, das Bessere, oder vielmehr das, was seyn soll, entgegen zu stellen, der Erfahrung des wirklichen Lebens die wahre Beschaffenheit der Menschennatur, der Art der Erziehung und des Unterrichts nicht nur eine bessere Methode, sondern auch den Geist der Wissenschaftlichkeit und ächten Philosophie, den Sophisten seinen Weisen, den Dichtern und Rednern seine Kritik der schönen Künste, die er nicht ohne deren Theorie vortragen konnte, und den Priestern – am behutsamsten – seine Ideen- und Gotteslehre, die mit seiner Tugendlehre aufs innigste zusammenhängt. Nur für den siebenten der angeführten Punkte findet sich keine solche Beziehung auf ein Vorhergehendes, und man kann das so ausführliche Detail über ihn allerdings als eine müßige Episode betrachten, dahingegen, wenn man auch die Ausführung der übrigen Punkte aus dem Gesichtspunkte der Episoden betrachten will, man sie keineswegs als müßige ansehen kann, indem sie wesentlich in das Ganze eingreifen. Was ihre Anlage betrifft, so ist vielleicht mehr Kunst darin, als man bisher vermuthct hat; die allzuverborgene Kunst aber scheint gerade hier dem Künstler geschadet zu haben, da doch alte ohne Ausnahme geurtheilt haben, Platon habe sich – wie Fülleborn am billigsten sich ausdrückt – seines Hauptzwecks uneingedenk, es sey durch Zeitumstände, es sey [369] durch die Neuheit seiner Ideen verleitet, sich in zu detaillirte Vorschläge ausgelassen.

Will man nun nach diesen Andeutungen Aristipps Beurtheilung beurtheilen, so dürfte sich finden, er habe den Hauptzweck nicht völlig genau aufgefaßt, der Absicht Platons keine volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, auf die Mangelhaftigkeit der Mittel zu Erreichung des Zweckes keine billige Rücksicht genommen, dagegen in Einzelnem richtiger gesehen, treffender geurtheilt als die meisten, und über die Form, wenn ihm gleich, wie allen, ein Hauptpunkt verborgen geblieben war, doch das Vorzüglichste gesagt, was über dieses merkwürdige philosophisch-poetische Kunstwerk bisher gesagt worden ist. Man vergesse nun aber bei dem allem nicht, daß Aristipp es ist, welcher hier urtheilt, und daß Wieland, gesetzt auch er selbst wäre so Platonisch als Platon selbst gewesen, diesen doch nicht in einen Platonikcr hätte verwandeln dürfen.

9. Brief.

32 Platon, dessen Akademie hiedurch ironisch den Mysterien, wie er selbst dem Oberpriester derselben, dem, der das heilige Wort ausspricht, gleichgestellt wird.

10. Brief.

33 Zu dem, was früher hierüber gesagt worden, will ich hier nur die eben so kurze als treffende Schilderung derselben von Schleiermacher beifügen. Dem Platon, sagt er, erscheint das unendliche Wesen nicht nur als seyend und hervorbringend, sondern auch als dichtend, und die Welt als ein werdendes, aus Kunstwerken ins Unendliche zusammengesetztes, Kunstwerk der Gottheit. Daher auch, weil alles Einzelne und Wirkliche nur werdend ist, das unendliche Bildende aber allein seyend, sind ihm auch die allgemeinen Begriffe die lebendigen Gedanken der Gottheit, welche in den Dingen sollen dargestellt werden, die ewigen Ideale, in welchen und zu welchen Alles ist. Da er nun allen endlichen Dingen einen Anfang setzt ihres Werdens, und ein Fortschreiten derselben in der Zeit, so entsteht auch nothwendig in allen, denen eine Verwandtschaft mit dem höchsten Wesen gegeben ist, die Forderung, dem Ideale desselben anzunähern, für welche es keinen andern [370] erschöpfenden Ausdruck geben kann als den, der Gottheit ähnlich zu werden.


34 Das Selbstgute, das Gute an sich, das vollkommene Gute, ist der Name, welchen Platon der Gottheit gibt, gewiß nicht allein, um sich von dem priesterlichen System zu unterscheiden, sondern weil das Gefühl eines moralischen und religiösen Bedürfnisses ihn bei seinem Philosophiren leitete. – Diejenigen, welche gemeint haben, daß davon Wieland nichts gewußt, müssen – nebst vielem andern von ihm – auch diesen Brief Speusipps nicht gelesen haben; und wer wollte läugnen, daß ihnen allerdings ihre Beurtheilung oder Verurtheilung dadurch sehr erleichtert worden ist! – Möge nur nicht der folgende Brief, der leider von Aristipp ist, die gute Meinung wieder vertilgen!


11. Brief.


35 Agave, die Tochter des Kadmos, des Stifters von Theben in Böotien, war vermählt mit Echion, dem sie den Pentheus gebar. Dieser widersetzte sich der Einführung der neuen Religion des Bakchos, welcher dafür eine grausame Rache nahm, denn er verwirrte den Sinn des Pentheus und seiner Mutter, die in Bakchischer Wuth das Haupt ihres Sohnes abriß, wähnend einen Löwen getödtet zu haben. So in den Bakchischen Frauen des Euripides.


36 Im Apollonstempel zu Delphi fand man die dreimal in Gold, Erz und Holz ausgeführte Aufschrift Ει, welches eben so wohl ist als wenn oder ob bedeuten kann. Plutarch hat über dieß Räthsel eine eigne Abhandlung geschrieben.


37 Homer in der Ilias 18, 373 berichtet, Hephästos habe Dreifüße verfertigt und

Goldene Räder befestigt' er jeglichem unter den Boden,
Daß sie aus eigenem Trieb in die Schaar eingingen der Götter,
Dann zu ihrem Gemach heimkehrten, Wunder dem Anblick.

Ideen s. die Anm. zu den Briefen von Verstorbenen, 4. Br. Bd. 26. – Man muß hier bei Beurtheilung Platons in Anschlag bringen, daß [371] ihm die Wahrheit vorschwebte, daß er sie aber darum nicht zu fassen vermochte, weil ihm das Mittel dazu fehlte – die Theorie der Einbildungskraft.

12. Brief.

38 Der Athenische Astronom Meton, ein Zeitgenosse des Sokrates, machte sich einen unsterblichen Ruhm durch die Einführung der unter seinem Namen bekannten Periode (die güldene Zahl). Sie enthält 6940 Tage, welches bis auf wenige Stunden 19 Sonnenjahre und 235 Monate ausmacht, nach deren Verlauf die Neu- und Vollmonde wieder auf dieselben Tage des Jahres fallen.

13. Brief.
39 Odysseus, s. Odyssee 9, 94 fgg.
40 Die griechische Name von Karthago.
41 Von gestorbenen Kindern gebrauchte der Grieche den Ausdruck, Aurora habe sie entführt.

14. Brief.


42 Dieser Zeitgenosse des ältern Dionysius, nach Einigen aus Naukratis, nach Andern aus Syrakus gebürtig, war eine Zeitlang mit jenem Tyrannen aufs engste verbunden und ihm durch seinen Reichthum sehr nützlich, erregte aber dann durch die, ohne des Tyrannen Wissen, mit der Tochter von dessen Bruder Lepines geschlossene Ehe Verdacht gegen sich, ward verwiesen, und begab sich nach Adria, wo er seine Muse dazu benutzte, die Geschichte Siciliens zu schreiben, die aus 13 Büchern in 2 Abtheilungen bestand, deren zweite mit Dionysius anhub. Unter mehreren Andern rühmt ihn auch Cicero, der über ihn an seinen Bruder (Epp. ad Quint. Fratr. 2, 13 Ausg. von Schütz Bd. 2, Br. 134) also schreibt (Wielands Uebers. Bd. 2, S. 369): »der Sicilianer (Philistus) geht immer auf den Grund der Sache, ist gedankenreich, scharfsinnig, gedrängt, beinahe ein kleiner Thucydides. Ich weiß aber nicht, welches von seinen Werken du hast, [372] denn ihrer sind zwei, oder ob beide? Ich finde vorzügliches Vergnügen an seinem Dionysius, der ein durchtriebener alter Schlaukopf und dem Philistus durch und durch bekannt war.« Den meisten Nachrichten zufolge ward er erst unter Dionysius dem Jüngeren zurückberufen, und zwar nicht ohne Betrieb der Höflinge, die durch ihn gegen den Einfluß Platons und Dions ein Gegengewicht zu erlangen hofften, und in dieser Hoffnung sich nicht betrogen, denn er wirkte dem Platon auf alle Weise entgegen und bewirkte hauptsächlich Dions nachmalige Vertreibung. In dem von diesem hierauf begonnen Kriege kam Philistus mit einer Flotte dem Dionysius zu Hülfe, wurde geschlagen, und soll nach Einigen sich selbst entleibt haben, nach Andern von Dions Truppen umgebracht worden seyn. Er wird geschildert nicht bloß als Freund der Tyrannen, sondern auch der Tyrannei, und von Plutarch erfahren wir (im Leben Dions), daß er eben so bittre Tadler als übertriebene Lobredner fand. Dieß nun scheint Wieland veranlaßt zu haben, auch hier die Wahrheit in der Mitte zu suchen. Die Schilderung, die er von diesem so geistreichen und gewandten als zweideutigen Mann entwirft, vergleiche man mit dem, was Sevins über ihn im 19. Bande der Mémoires de l'Académie des inscriptions gesagt hat.

16. Brief.

43 Wenn man mit Rochow Philosophiren durch das, sonst für Raisonniren einigermaßen gebräuchlich gewordene, Vernunften übersetzen will, so dürfte dieß schwer übersetzliche Wort vielleicht durch Narrheit-vernunftend ausgedrückt werden, da es von den Morosophen, den närrisch-Weisen, doch unterschieden werden muß.


44 Gesellschafter, Schüler.


45 Solöcismen, nennen die Sprachlehrer alle Eigenthümlichkeiten der schlechten Art, wie man vermuthet nach der Stadt Soli in Cilicien, der eine schlechte Mundart eigen gewesen seyn muß.

17. Brief.

46 Wäre Aristipp mit der Theorie der Temperamente und einigen nachfolgenden Philosophen bekannt gewesen, so würde er ohne Zweifel versucht haben, die verschiedenen [373] Gattungen der Philosophen auf diese zurückzuführen, und dürfte dann gesagt haben, daß die Natur den Sanguiniker zum Aristipp-Epikur und allenfalls zum Cyniker, den Choleriker zum Stoiker, den Melancholiker zum Platoniker, und den Phlegmatiker zum Aristoteliker geschaffen habe. Hätte er ferner zu seiner Zeit schon wissen können, daß überhaupt nur vier verschiedene Systeme der Metaphysik möglich sind, so würde er auch diese eben so auf jene Temperamente zurückgeführt haben, wie Kant die verschiedenen Religionsansichten. Um den Aerger der Leute, die da meinen, daß Ein Schuh an jeden Fuß passen müsse, würde er sich vermuthlich wenig gekümmert haben.

18. Brief.

47 War der Bruder des berühmten Feldherrn und Befreiers Siciliens, Timoleon, durch dessen Hand (wenigstens nach Diodor, von welchem Plutarch abweicht) jener fiel, weil er nach der Alleinherrschaft strebte, und durch gütliche Vorstellungen von seinem Vorhaben sich nicht abbringen ließ.


Mit diesem Briefe hat Wieland diese Sammlung geschlossen, allein, wie es scheint, nicht beendigt, weder in Hinsicht auf Aristipp, noch auf die Ereignisse jener Zeit. Wie diese Sammlung jetzt ist, reicht sie bis auf den Tod des alteren Dionysius, also bis in das Jahr 368 vor unserer Zeitrechnung. Angenommen, daß nach der großten Wahrscheinlichkeit Aristipp bei dem Tode des Sokrates 25 Jahre zählte (Anm. zu Bd. 22 Einl.), so stand er jetzt in einem Alter von 56 Jahren. Gerade jetzt aber kommt erst noch die wichtigste Periode seines Lebens, nämlich die Regierungszeit des jüngern Dionysius, erst bis zur Vertreibung desselben durch Dion i.J. 355, und dann bis zu dessen Verweisung nach Korinth i.J. 343. Kurz zuvor erst hatte sich Aristipp, ein etwa achtzigjähriger Greis, vom Hofe dieses Tyrannen nach Athen begeben. Diese Zeit nun aber, welche Aristipp am Hofe zu Syrakus zubrachte, mag wohl die wichtigste zu seiner Beurtheilung genannt werden, indem die Anekdotensammler des Alterthums eben aus ihr das Meiste berichten, was ihm bei der Nachwelt so bösen Leumund gemacht hat, daß Viele sich für berechtigt [374] hielten, ihn für etwas weit Verächtlicheres als einen bloßen Hofnarren zu erklären. Daß Wieland, nach der gemachten Anlage, einen ganz andern Gesichtspunkt für die Beurtheilung gefaßt haben würde, ist keinem Zweifel unterworfen, und gewiß würde seine Darstellung sehr anziehend gewesen seyn. Wie sehr indeß auch dieser Verlust zu beklagen seyn mag, so ist es doch ein anderer weit mehr. Die wichtigsten Ereignisse aus der philosophischen und politischen Welt fallen in diesen Zeitraum, und sie zu schildern und auf seine Weise zu beurtheilen, hatte Aristipp die dringendste Veranlassung. Wer sollte nicht erwarten, daß die zweimalige Reise Platons zu dem jüngeren Dionysius und der Aufenthalt an dessen Hofe die Veranlassung gegeben haben würde, den Punkt über die Platonische Republik vollends ins Reine zu bringen, und zur Beurtheilung der ganzen Platonischen Philosophie wenigstens einen Blick auf Aristoteles geworfen zu sehen, auf diesen wichtigsten Schüler und Gegner Platons, dessen Blüthe in diese Periode fällt! Wer sollte nicht erwarten, daß Aristipps Tochter Arete, durch welche die Kyrenaische Schule fortgesetzt wurde, gerade von jetzt an noch weit mehr würde hervorgehoben worden seyn! Und wie viel Wichtiges bot die politische Welt dar! Abgesehen von der Schilderung des Dionysischen Hofes, und so interessanten Personen, als in Philistus, Dion und Timoleon dabei vorkommen; abgesehen von der Umgestaltung der Dinge, die sich in Kyrene vorbereitete: fällt nicht in eben diese Zeit die wichtigste Umgestaltung von ganz Griechenland durch die Macedonischen Könige? Fällt nicht der Anfang einer neuen Periode der Poesie und Kunst in diese Zeit? – Man müßte die vorliegende Briefsammlung wenig aufmerksam gelesen haben, wenn man nicht wahrgenommen hätte, daß Wieland die Anlage dazu gemacht hat, alle diese Gegenstände in den Kreis seiner Darstellung zu ziehen, sehr auffallend sogar noch in dem letzten Briefe. Bei dieser Anlage ist es aber auch geblieben, und so hat Wieland es seinen Lesern überlassen, in seinem Agathon, Diogenes und Krates einen Thcil dessen zu suchen, was er sie hier vermissen läßt, in Ansehung des Uebrigen aber ihre eigne Divinationsgabe zu versuchen, welcher der Herausgeber auf die Spur zu helfen gewiß nicht einmal nöthig gehabt hätte.

Fußnoten

A1 Nämlich durch das fürchterliche Geschrei, welches er die in des Donnerers allzufeuriger Umarmung sich verzehrende und vor Angst und Schmerz zu früh von dem jungen Bacchus entbundene Semele erheben ließ; wie aus einer Stelle im Athenäus, Bd. VIII. Kap. 5. erhellet; denn eine andere Art von Unziemlichkeit ist hier nicht zu vermuthen.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Wieland, Christoph Martin. Romane. Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A687-9