Innere Mission

Adele fühlte ihren wohltätigen Einfluß nur allmählich, unsichtbar wie frische gesunde Luft. Sie war so einfach gebildet, diese Luise, ihre Gedanken bewegten sich so im Kreis des Gewöhnlichen; sie schien die reine einfache Gutmütigkeit mit etwas gesundem Hausverstand, und doch lag oft in ihren einfachen Worten eine Tiefe und ein Ernst, die Adele hier etwas ahnen ließen, was sie mit all ihrer Bildung, ihren zarten und schönen Gefühlen bis jetzt noch nicht gefunden hatte: ein Herz, das Frieden geschlossen hatte mit sich und seinem Gott.

Luise schlief bei den Kindern; der kleine Otto, der äußerst schwächlich war, schlief noch sehr unruhig; die erste Hälfte der Nacht aber, wo die Kinder meist ruhig lagen, brachte sie bei der Kranken zu. »Ach, Luise, nicht wahr, ich bin recht wunderlich?« fragte seufzend Adele in einer Nacht, wo Luise sie bald hoch, bald nieder gebettet; ihr bald frisches Wasser, bald warmen Tee gebracht; bald die Lampe gelöscht, bald sie wieder angezündet hatte. »Du weißt ja, daß es mir Freude macht, dir etwas nütze zu sein,« sprach beruhigend Luise. – »Ach [139] nein, du mußt mich nicht auch verwöhnen, wie alle Welt getan. Du hast mir's nie gesagt, und doch ist mir's erst eingefallen, seit du da bist, wie unnötig ich euch plage, wie viel ich an mich selbst denke; gewiß, ich will noch anders werden.« – »Du bist krank, liebe Adele.« – »Oh, ich weiß, wenn du auch krank wärest, du würdest doch anders sein an meiner Stelle. Siehst du, ich war nie recht gesund, und so lang' sie lebte, sorgte meine arme gute Mutter fortwährend, mir jedes Steinchen aus dem Wege zu räumen, und sie brachte es so weit, daß mir ein Sandkorn weh tat; ich war das beste Geschöpf von der Welt und gönnte jedermann alles Gute, nur solange mir selbst nichts abging.

An Bällen konnte ich nicht teilnehmen; so oft die Mutter meinte: man müsse mir armem Tropf doch zu einem bißchen Vergnügen verhelfen, mußte ich es nachher mit wochenlangem Kranksein büßen; da suchte man denn alles Erdenkliche auf, was mir sonst Freude machen könnte: Bücher waren mir das liebste. Oh, wie lebte ich mich ein in diese Welt der Poesie, und mit wie reizenden Farben malte ich mir besonders das Landleben aus! Da lernte ich Lehner kennen ...«

»Hast du ihn lieb gehabt?«

»Nun, weißt du,« sagte Adele errötend, »ich lernte ihn auf dem Lande kennen, da war es eine so große Wohltat, daß er mir vorlas; aber ich hätte doch nicht daran gedacht, je seine Frau zu werden, er war ja sechzehn Jahre älter als ich! Aber als er nach Tannhausen kam, da erst wurde er mir wichtiger, das Pfarrhaus war so einzig! Wir Mädchen alle hatten uns schon in der Nähschule darum gestritten, wer einmal Pfarrerin in Tannhausen werden dürfe, und August kam mir so recht würdig und edel vor ...«

»Hast du ihn denn nicht so gefunden?«

»Ach, gewiß, er ist ganz brav und gut, nur zu gut gegen mich; aber ich hatte mir einen Geistlichen gar nie im Alltagskleid gedacht, und es störte nachher meine Illusion, ihn im gestreiften Schlafrock mit der Pfeife im Munde zu sehen. Nun also, ich fühlte recht, daß mein weichliches, schwankes Wesen einen [140] Halt und eine Stütze brauchte, und ich sagte von Herzen Ja, obgleich es so schnell kam, daß ich nicht recht wußte, wie mir geschah. Und ich ward seine Frau. Nun wollte ich zwar einen Mann, wie ihn sich ein Mädchen denkt: männlich und fest, eine Ulme für den schwanken Efeu; daneben aber hatte mir die Mutter oft und viel gesagt, wie ein unerhörtes Glück es sei für August, daß er mich bekomme, und wie er mich ehren und schonen und auf den Händen tragen werde. Und mein Leben lang hatte man mich gelehrt, zumeist und zunächst an das zu denken, was mir angenehm, was etwa meiner Gesundheit schädlich oder zuträglich sein könnte.

Wo denn einmal August mit der Festigkeit auftreten wollte, die ich mir als Mädchen so reizend gedacht, da tat es mir entsetzlich weh; ich zerfloß in Tränen, wenn er eine verbrannte Suppe tadelte, und bekam ein so bitteres Mitleid mit mir selbst, daß ich mir die ärmste Frau schien und unendlich edelmütig, wenn ich wieder vergab. Dazu kam die Mutter, die in ihrer Güte mich so übermäßig hätschelte und pflegte und schonte, daß mein guter Mann wie ein wahres Monstrum von Gleichgültigkeit und Härte daneben stand.

Es kamen die Kinder. Ich war wirklich der Last nicht gewachsen, und je nötiger dem Haushalt eine tätige, rüstige Frau gewesen wäre, desto schwächer wurde ich. Die Versuche, die ich zu Anfang gemacht, tätig im Haushalt zu wirken, mußt' ich bald unterlassen, und der arme August verzehrte sich in Sorge, daß er mir nicht alle Hilfe und Erleichterung schaffen könne, die mein Zustand fordere. Die gute Mutter war unerschöpflich in Vorschlägen von Bädern, Reisen und Kurorten, die mir gut tun sollten; ich ließ mir alles gefallen, ich hatte nie klare Einsicht in Geldverhältnisse gehabt, und wenn ich auch wußte, daß unser Einkommen nicht reichte, so tröstete ich mich damit, daß ich ja der Mutter einziges Kind sei, die würde uns schon zu rechter Zeit helfen.

Nach der Mutter Tode gingen mir darüber freilich die Augen auf, und ich sah, daß wir lange Jahre ein Leben geführt, das unsre Mittel aufgezehrt; aber ich war körperlich zu [141] schwach und hatte meine geistige Kraft zu wenig geübt, als daß ich jetzt an eine durchgreifende Änderung hätte denken können; ich hoffte, auf dem neuen besseren Dienst würde alles gut werden.

Jetzt erst, Luise, seit du hier bist, sehe ich, daß ich trotz meiner Schwäche hätte mehr tun können, zumal für meine Kinder. Es ist zu spät. Liebe Luise, gewöhne du meine Kinder, das Leben frisch anzufassen und hinzunehmen! Lehre du sie sich selbst vergessen auch im Leiden, daß Gott sie bewahre vor dem Stachel, der unbewußt an meiner Seele genagt hat durch all diese Jahre, an der Seite eines guten Mannes und lieblicher Kinder: behüte sie vor dem Gefühl unerfüllter Pflicht!«

Es war zu spät für die arme Frau, ein neues Leben des Wirkens zu beginnen; aber nicht zu spät, in der Schule des Leidens zu lernen, was noch zu lernen war. Die Kinder, die sonst ängstlich ferngehalten wurden, durften sich nun um ihr Bett sammeln; sie lernte sich freuen an ihnen und teilnehmen an ihren kleinen Leiden und Freuden. Sie war so sanft und geduldig, so besorgt, andre nicht zu bemühen, daß sie ohne die aufmerksame Liebe Luisens und ihres Gatten manches Nötige entbehrt hätte. Und, was vielleicht das Größte, das Ergebnis des schwersten, stillen Kampfes war – sie sah neidlos mit sanftem Lächeln, mit welcher Liebe und Achtung die Kinder an Luise hingen, an sie sich wandten, wie sie von ihr Belehrung und Trost und Hilfe suchten; wie der Pfarrer mit rückhaltlosem Vertrauen alle Angelegenheiten des Hauses und der Kinder in ihre Hand legte und das Gesinde ihren leisesten Wünschen Folge leistete.

Adele fühlte in dieser Verleugnung einen Frieden, wie sie ihn nie empfunden, nicht in den schönsten Tagen ihres kurzen Frühlings; einen Frieden, der ihr Krankenbett den Ihrigen zu einer lieben Heimat, der nach langen, langen Leidenswochen ihr Sterbebett zu einer heiligen Stätte seliger Hoffnung machte.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. Erzählungen. Aus dem Frauenleben. Die Verschmähte. Innere Mission. Innere Mission. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A735-A