[164] 4. Der Herrenbau

Der Herrenbau sah nicht so wundersam und märchenhaft aus wie der Freihof, doch war wenigstens ein Teil seines Innern noch viel geheimnisvoller und unergründeter.

So wie ich mir's denken kann, ist es ein altes stattliches Gebäude mit eingeschlossenem Hofraum; auf einer Seite von hohen Bäumen beschattet, so dicht, daß fast kein Sonnenstrahl hereindringen konnte. Der untere Teil war gleichgültig, prosaisch, der wurde vermietet an jedermann; oben aber, da hauste der düstere geheimnisvolle Freiherr mit seinem alten Diener, und dem war es eben recht, daß kein Licht eindrang.

Eine eigene, rätselhafte Region begann in dem oberen Stock, wo nie ein andrer Tritt als der des Freiherrn und seines Johann gehört wurde; jahraus jahrein waren Tag und Nacht Fenster, Läden und Vorhänge dicht verschlossen; jahraus jahrein brannte Licht in den Zimmern des alten Herrn.

Man wußte gar wenig von dem Freiherrn, nur ein Zug von ihm war bekannt: seine entschiedene Frauenfeindschaft. Kein weiblicher Dienstbote, keine Frauensperson unter irgend welchem Vorwand durfte je die Treppe betreten; rasch und scheu schritt der Freiherr vorüber, wenn ihm eine der Hausbewohnerinnen vom unteren Stock begegnete. Der Johann verrichtete mit ängstlicher Genauigkeit alle Dienste, die sonst von Frauenhänden geleistet werden, und mit schadenfrohem Hohnlachen sahen die Mägde der Nachbarschaft zu, wie die steife Gestalt in Livree und gepuderten Haaren mühselig, aber mit großem Anstand den Wassereimer die Treppen hinaufschleppte, den Vorplatz kehrte oder Gemüse für die Küche wusch.

Als getreuer Diener seines Herrn hielt sich der Johann für höchlich verpflichtet, dessen Frauenhaß zu teilen, obgleich er seine Gründe nicht kannte und keine eigenen dafür hatte. Die Wäsche des Herrn, zu deren Reinigung er sich doch nicht selbst verstehen konnte, stellte er der Wäscherin schweigend ins Haus und nahm sie mit möglichst gedrängter Kürze in[164] Empfang, wenn sie fertig war; hatte er Einkäufe auf dem Markt oder in Läden zu machen, so besprach er sie am liebsten mit dem männlichen Personal. Dafür mußte er aber von dem beleidigten Frauengeschlecht, den Mägden am Brunnen und den Marktweibern, manche spitzige Redensart hören: »Ein Wunder, Herr Johann, daß Er seinem Herrn nicht auch Ochsenmilch und Gockelseier verschafft!« – »Er hätte gar nicht nötig, so kostbar zu tun, solche wie Ihn gibt's noch genug, wenn der Markt verlaufen ist!« usw. – Johann nahm alle dergleichen Sticheleien mit ruhiger Verachtung hin; er wurde ganz vergnügt, daß er nun doch einen Grund für seinen Weiberhaß bekam, und es tat ihm nur leid, daß er sich gegen keine gleichfühlende Seele darüber aussprechen konnte. Denn der Freiherr war kein Freund von Worten, und als der Johann ein einzigmal unaufgefordert eine vertrauliche Bemerkung wagte, mit der er gewiß Glück zu machen hoffte, und im Ton militärischen Respekts gegen den Freiherrn äußerte: »Aber, gnädiger Herr, die Weibsleut' sind doch ganz grausig unverschämt!«, hatte ihn der mit so seltsamen Augen angeschaut, daß das die letzte blieb.

Aufs tiefste empört war der Johann, als sich Herr Meuret, der Emigré, in das Erdgeschoß des Baues eingenistet hatte und Madame Meuret ihre Strickschule mit kleinen Mädchen dort errichtete; dakonnte er nicht schweigen. »Wissen der gnädige Herr, daß die französische Madame ein ganzes Rudel kleiner Mädchen hereinbringt? Befehlen der gnädige Herr nicht, daß man sie fortjagt?« Der Freiherr schüttelte den Kopf und begnügte sich, dem Kinderschwarm auszuweichen allemal, wenn er anrückte; einmal aber geschah es, daß er eines der Mädchen, das sich verspätet, auf die Achsel klopfte und ihm ein uraltes Bonbon schenkte, eine Begebenheit, die Epoche machte in der Strickschule.

Der Ton der Klingel, der des Sommers und Winters früh um sechs Uhr aus des Freiherrn Zimmer ertönte, war der einzige, der die tiefe Morgenstille unterbrach. Mit der feierlich ausgesprochenen Frage: »Wie haben der gnädige Herr geschlafen?« [165] trat der Johann mit zwei Kerzen ein und löschte das Nachtlicht des Freiherrn. »Erträglich, Johann,« war die stehende Antwort, nach der Johann begann, die Toilette seines Herrn zu machen, mit einer Zierlichkeit und Sorgfalt, als ob es auf die Eroberung von einer ganzen Damenschar abgesehen gewesen wäre. Mit dem Schlag sieben begab sich dann der Freiherr ins Nebenzimmer, wo Johann hinter seinem Stuhl stehend das Frühstück servierte. Die Zeit von acht bis elf Uhr brachte der Freiherr in seiner Bibliothek zu, schwerlich immer mit Lektüre beschäftigt. Diese ganze Bibliothek bestand aus den Werken französischer Romandichter und Philosophen; den Romanen aber hatte er, zugleich mit den Frauen, Lebewohl gesagt; wenn ihm nun nichts blieb als die Philosophen, so läßt sich leicht denken, wie sein inneres Leben, gleich seinem äußeren, immer dürrer und verödeter wurde.

Nachmittags machte der Freiherr feierlichen Schrittes seine Promenade auf dem durch eine Kastanienallee eingefaßten Stadtgraben, gefolgt von seinem Johann, bis er nach einer Stunde wieder in seiner dunkeln Behausung verschwand.

Vor mehreren Jahren hatte er noch viel stiller und zurückgezogener in seinen verdunkelten Mauern gelebt; damals war er von auswärtigen Hofdiensten zurückgekehrt in die kleine Stadt Kirchheim, zu dem alten Haus, an dessen Bewohnung er ein Familienrecht hatte. Seit seinem Einzug überschritt er aber viele Jahre lang die Schwelle nicht mehr; nur das Aus- [166] und Eingehen des Johann gab den unten Wohnenden Kunde, daß der stille Bewohner oben noch am Leben sei.

Eine tödliche Krankheit, die Folge dieser licht- und luftlosen Lebensweise, hatte endlich einen Arzt ins Haus gerufen, der durch einen Machtspruch deren Änderung gebot. Der Freiherr aber wollte davon nichts wissen und schüttelte schweigend den Kopf.

Da vernahm die Frau Herzogin von der Krankheit und dem Eigensinn des Freiherrn und fand sich bewogen, bei ihm vorzufahren und in eigener Person nach seinem Befinden zu fragen. Der angestammte und angewöhnte Respekt vor Standespersonen überwand beim Herrn und Diener die Frauenscheu; die Frau Herzogin wurde eingeführt, und die sanfte, gewinnende Persönlichkeit der alten Dame bewirkte mehr als der Ausspruch des Doktors.

Der Freiherr genas und machte von nun an seine tägliche Promenade, auch alljährlich zwei Aufwartungen im Schloß, am Neujahr und am Geburtstage der Herzogin. Wie die Mägde und Marktweiber bei Johann, so hätten die paar Hofdamen gern diese einzige Gelegenheit benützt, seinen Frauenhaß durch süße Blicke zu brechen oder durch spitze Worte zu rächen; aber alle Versuche glitten ab an der äußersten Gleichgültigkeit, mit der er die schönste wie die häßlichste Gestalt gleich entschieden als Luft behandelte und seine feierliche Höflichkeit allein der gebietenden Frau zuwandte.

Auch die Kirche fing er seit jener Zeit an zu besuchen und erregte das Erstaunen und Ergötzen der Schuljugend durch den großen Muff, mit dem er sich zur Winterszeit gegen die Kälte schützte. Niemand in der Stadt Kirchheim hatte ihn jung gesehen; er hatte schon das Ansehen eines bejahrten Mannes, als er seine Einsiedelei zum erstenmal verlassen.

Nur ein Band gab es, das den scheuen Freiherrn noch mit den Menschen verband, nur eine Freude, der er nicht entsagt hatte, – die des Wohltuns. Wo er eine bekannte oder verborgene Not erfuhr, da war seine Hand stets offen, natürlich so still und heimlich wie möglich. Viel Freude konnte nun [167] freilich auch nicht dabei sein, da er fast nie den Dank aus eines Armen Munde selbst empfing; aber doch ist manch stilles Gebet für ihn emporgestiegen und hat einen Friedenshauch in sein verdüstertes Dasein gebracht, ohne daß er wußte, woher er ihm gekommen.

Außer den Armen war ihm wohl niemand so gewogen wie die Lichterzieher, die gern der halben Bevölkerung zugunsten ihres Gewerbes eine so menschenfeindliche Laune gewünscht hätten; wie es denn überhaupt eine tröstliche und daneben eine höchst leidige Eigenschaft des Menschenlebens ist, daß jedes Unglück des einen für den andern eine Lichtseite hat. Wir sind ein Raubvogelgeschlecht, wo sich jeder, vom Generalfeldmarschall bis zum Totengräber, von einem Stückchen menschlicher Vergänglichkeit oder menschlichen Jammers nährt. Ich hörte eine Frau Apothekerin einst ganz ärgerlich sagen: »Jetzt kommt d' Cholera erst nicht!« Hagelwetter und Katzenmusiken sind die Blütezeit der Glaser; bei der »herannahenden Saison der Rheumatismen« preisen die »wollenen Warenhändler« vergnügt ihre Waren an; die zerrissenen Stiefel, die den Jungen Schläge und Schelte eintragen, helfen den Kindern des armen Schusters zu ihrem täglichen Brot; und so war das verstörte Gemüt des Freiherrn, das ihm das Tageslicht verhaßt machte, ein rechtes Labsal für seinen Nachbar Seifensieder, der sonst die gutmütigste Seele von der Welt war.

Alle Lichter brennen aus, so auch das Lebenslicht des alten Freiherrn. An einem kühlen, klaren Herbstmorgen öffneten sich zum erstenmal die Fenster und Läden im Herrenbau, zum erstenmal fiel das Sonnenlicht auf das Lager des alten Herrn, als die Leichenschau es umstand, um sich von seinem Tode durch Schlagfluß zu überzeugen. Ein entfernter Vetter wurde herbeigerufen, um des Freiherrn Erbe in Besitz zu nehmen, das man nach seinen Spenden an die Armut für viel größer gehalten, als sich nun zeigte.

Der junge Baron hatte seinen Vetter im Leben nicht gekannt, aber im Tod interessierte er sich sehr für ihn; er hatte Sinn fürs Romantische und hätte gar zu gern gewußt, was [168] denn den alten Herrn zu solch einem verfehlten Dasein voll Nacht und Trübsal gebracht. Der Freiherr aber hat sein Geheimnis mit in das Grab genommen; den Johann hatte er erst kurz vor seiner Ankunft in Kirchheim gedingt, und so war niemand, der Aufschluß geben konnte.

Nur das Bild einer wunderschönen Dame, das sich im verborgensten Fach eines Schreibtisches gefunden, soll Kunde gegeben haben, daß der Freiherr wohl nicht sein Leben lang so tiefen Abscheu vor Frauen gehegt hatte. Ein unverbürgtes Gerücht sagt, daß der junge Erbe an dem Hofe, wo der Freiherr seine Jugend verlebt, einiges erfahren, was das Rätsel lösen konnte: eine alte leidige Geschichte, wie sie bei dem früheren Leben an Höfen wohl nicht die erste war und nicht die letzte blieb: die Geschichte von einem lebensfrischen jungen Pagen, der jahrelang mit der reinen Glut einer jungen Seele, mit stiller, hoffnungsloser Treue zu einer stolzen Schönheit aufgeschaut, und der endlich durch ein fürstliches Fürwort mit einem Schlag an das Ziel seiner Wünsche gekommen war.

[169] Was es aber gewesen, das die schöne Braut, deren Stolz sich in demütige Liebe verwandelt, am Hochzeitsmorgen dem überseligen Bräutigam anvertraut, das ist nicht mehr über seine Lippen gekommen. Ein dunkles Geheimnis muß es gewesen sein, daß es ihn an demselben Tag fortgetrieben von Braut und Hochzeitsfreude, fortgetrieben für all sein Leben lang von dem klaren Sonnenlicht und dem holdseligen Frauenantlitz, von aller Liebe und häuslichen Freude.

Des Freiherrn altes Wappenschild ist glänzend und fleckenlos auf seiner Bahre gelegen; von dem Geschick jener schönen Braut aber, von ihrer Schuld und ihrem Leid hat man nichts mehr vernommen.


Bald fünfzig Jahre sind verflossen, seit man die Leiche des Freiherrn aus dem Herrenbau getragen. Mancherlei Bewohner sind indes in dem alten Gebäude aus- und eingezogen, bis es nun frisch gelüftet und gereinigt zu neuem Zwecke hergestellt wurde. Und zu welchem! Hat sich der Geist des alten Freiherrn nicht zürnend aus seiner Gruft erhoben? Schreitet das Gespenst Johanns nicht mit würdevoller Entrüstung durch die entweihten Gemächer? Wagen an Wagen hält vor dem Bau, und eine Frauengestalt um die andre tritt in die alten Räume: ernste, stille Frauen und Jungfrauen, heitere, gesprächige darunter, und


Sie sinnen und träumen,
Sie ordnen und räumen
Mit fleißigen Händen
An Ecken und Enden.

Sind es Nonnen? Nein, dazu ist ihre Tracht zu mannigfach, zu modisch. Witwen sind es und Jungfrauen, die eine stille Zuflucht hier suchen vor Stürmen und Unbilden des Lebens; einen Trost für Herzenseinsamkeit in freundlichem, friedlichem Beisammenleben, einen Wirkungskreis für eine noch rüstige Kraft. Der alte Herrenbau ist zum Frauenstift geworden.

Nun gute Nacht, Dunkel und Schweigen! Ist's kein rosiges [170] Morgenlicht, so sei es doch eine freundliche Abendsonne, die über dem alten Herrenbau leuchtet!

Und wenn der Geist des alten Freiherrn sich's doch einfallen ließe, Umschau zu halten in seiner ehemaligen Heimat, so möge er lernen, daß auch Herzen, denen das Leben nicht viel Rosen getragen, etwas Besseres tun können als sich in Finsternis begraben und den Frauen davonlaufen!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. Erzählungen. Bilder und Geschichten aus Schwaben. Die alten Häuser von Kirchheim. 4. Der Herrenbau. 4. Der Herrenbau. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A7E6-9