Der Vikar
Herr Lehner, der Vikar, kam, ein junger Mann von kräftiger Gestalt, der Pfarrerin aber viel zu unkultiviert in Kleidung und Aussehen, und fatal durch die Pfeife, deren Rohr nebst Quästchen unter allen Lebensumständen aus seiner Rocktasche hervorsah, wenn sie nicht in seinem Munde dampfte. Aber er war ein guter Prediger, hatte schöne Sprachkenntnisse, eine gutmütige Weise, die Kinder an sich zu gewöhnen, und war recht frisch und unverdrossen zu den verschiedenen Leistungen, die ihm aufgetragen wurden.
Er war armer Leute Kind, hatte eine entbehrungsvolle, freudenarme Jugend verlebt, und seine ärmliche Heimat, in der leider auch die Armut zum Zankapfel geworden, stand in grellem Gegensatz zu den erwachenden Bedürfnissen äußeren Behagens und Wohlstands, die unzertrennlich von erweiterter Geistesbildung sind.
Da war es ihm denn unendlich wohl, aus der schmutzigen Schusterstube, aus den kasernenartigen Räumen des Seminars in ein hübsches, wohleingerichtetes Pfarrhaus zu kommen; und das bescheidene Vikariatsstübchen, das aus einer alten Rumpelkammer hergestellt und mit alten Inventarstücken verschiedener Zeitalter möbliert war, dünkte ihn der Inbegriff von Behaglichkeit.
Die stattliche, schöngeputzte Frau Pfarrerin imponierte ihm ungemein, und er war ein gläubiger und bewundernder Zuhörer, als sie ihn ihre Verdienste als Mutter im allgemeinen und als Stiefmutter insbesondere allmählich erraten ließ. Luise, deren schlichte Gestalt neben der ansehnlichen, wohlkonservierten Mama kaum bemerkt wurde, die zum Mittagessen immer zu spät mit hochgeröteten Wangen aus der Küche kam und meist keine Suppe mehr und nur noch erkaltetes Gemüse fand, die nach dem Abendessen sogleich wieder verschwand, um die kleineren Geschwister zu Bette zu bringen und den größeren Gesellschaft zu leisten, wenn sie sich fürchteten, – beachtete er anfangs kaum. Er kannte sie aus der Mutter [102] Schilderung, die sich freute, einen neuen Zeugen ihrer Vortrefflichkeit zu haben, und die sich mit der Pfeife versöhnte, die den Vikar zu einem so geduldigen Zuhörer machte, als ein »gutes einfaches Geschöpf von höchst bescheidenen Gaben, nur für den engsten Kreis der Häuslichkeit geschaffen«, und er dachte, sie scheine dazu wirklich recht gut und brauchbar.
Nun traf es sich aber, daß es die Frau Pfarrerin um ihrer jetzt erwachsenen Kinder willen immer mehr für Pflicht hielt, die geselligen Kreise der Nachbarschaft zu besuchen; es gab kleine, allwöchentliche Pfarrkränze in den Häusern, größere allmonatliche in einem Gasthofe der Umgegend; auf dem Jahrmarkt war es unumgänglich nötig, Einkäufe fürs Haus selbst zu machen, die wichtigeren freilich mußte man auf der Weihnachtsmesse der Residenz besorgen; – dann war die Frau Dekanin eine sehr artige Frau und höchst empfindlich, wenn man sie nicht oft besuchte; Doktors endlich, vor denen durfte sie sich nimmer sehen lassen, wenn sie nicht bald auf einen Tag zu ihnen kam, und mit Oberamtmanns konnte es die tödlichste Feindschaft geben, wenn man nicht Gabriele und Kornelia zu ihrer Alwina und Rosalie brachte! Die gute Frau Pfarrerin erlag fast unter der Last ihrer geselligen Verpflichtungen und seufzte schwer, solange ihr Luise Schal, Hut und Sonnenschirm herbeitrug; wie gern wäre sie heute daheim geblieben!
Luise genoß dieses Glück des Daheimbleibens reichlich. »Es [103] ist jetzt schade – wenn heute nicht die Wäsche wäre, so hättest du wohl mit können,« meinte die Mutter; oder hieß es: »Willst du nicht auch mit, Luise? Ich fürchte aber, Tuisko, der arme Schelm, läßt dich nicht fort; er ist so eigen, wenn ihm etwas fehlt, und so an dich gewöhnt.«
Luise fand das ganz natürlich und ließ sie beruhigt ziehen, sie hatte genug aufzuräumen nach den Abgehenden; es tat ihr wohl, wenn es stiller wurde und wenn sie ihre Geschäfte allein besorgen konnte, ohne die beständigen Anweisungen und Bemerkungen, mit denen die Pfarrerin ihre Hausfrauen- und Mutterwürde retten wollte. Auch war es ihr nur möglich, ruhig an einer Arbeit zu bleiben, wenn sie allein blieb. Da nun auch der Pfarrer meistens seine Frau begleitete und dem Vikar als Beweis seines Vertrauens Haus und Amt übergab, traf es sich gar manchmal, daß dieser und Luise mit einigen der Kinder allein zu Hause waren. Er fühlte sich in ihrer Gesellschaft viel behaglicher als in der der Frau Pfarrerin; dort wurde er es allmählich müde, beständig den Zuhörer zu machen, der nur hie und da ein Zeichen der Aufmerksamkeit oder ein Murmeln der Anerkennung von sich geben durfte.
Luise hörte ihm zu, wenn er je zuweilen den Nachmittagskaffee mit ihr trank oder sich mit seiner Pfeife in die Nähe des runden Nähtischchens setzte, das sie für sich in einer bescheidenen Ecke wieder aufgestellt hatte, und es war wunderbar, wie er ihralles erzählen konnte: seine verkümmerte Kindheit, das Elend und den Unfrieden seines Vaterhauses, die sparsamen Genüsse seiner Studienjahre, – und wenn dann ihre blauen Augen so mit dem Ausdruck tiefer Teilnahme, innigen Verstehens auf ihm ruhten, so fand er, daß sie wirklich recht schön seien, auch ihr Gesicht angenehm, nur etwas zu blühend. Luise, die in Anwesenheit der Mutter fast stumm war und der sich erst in der Einsamkeit die Zunge löste, wußte nichts zu klagen; sie fand nur Grund zum Dank in ihrer Vergangenheit, aber sie konnte hier zum erstenmal den dämmernden Erinnerungen an ihre selige Mutter Worte geben. Auch Lehner hatte seine Mutter früh verloren, nur ihr sanftes, blasses Gesicht [104] schwebte ihm in dunkler Erinnerung noch vor. Freilich, wenn er dann seiner zänkischen, neidischen Stiefmutter gedachte, wie vielen Grund fand dagegen Luise, ihr Geschick zu preisen: sie hatte nie Härte von der zweiten Mutter erfahren! Lehner hatte so seine eigenen Gedanken darüber, als ihm allmählich die Augen aufgingen über die Art, wie die Mama die Individualität der Stieftochter benützte; aber er hütete sich, ihren glücklichen Glauben zu trüben.
Sehr ungestört blieben freilich solche Mitteilungen nicht, wenn nicht hie und da zufällig das ganze Heer auswärts war. Da zupfte einmal Gabriele am Rock: »Luise, schneid auch das Puppenkleid!« Dann kam Bruno: »Luise, stich mir ein Heft ein!« Artur verlangte eine Schnur zu seinem Drachen, und Adelgunde hatte ihr Taschentuch verloren; die Magd wußte nicht, welches Beet sie umschoren sollte, und ein paar Dorfmädchen [105] baten um Blumen zu einer Hochzeitsfeier. »Luise!« – »Jungfer Luise!« tönte es allenthalben und überall.
Und allenthalben und überall gab sie Antwort und Auskunft und Beistand mit unermüdeter Geduld, mit unzerstörbar guter Laune. Wenn der Vikar, wütend über die endlosen Störungen, eben im Begriff war, wenigstens unter die unmüßige Kinderschar mit einem kleinen Donnerwetter zu fahren, so sah Luise ihn gutmütig lachend an und meinte: »Nun, wollen wir sehen, was es das nächste Mal gibt.« – »Aber wie können Sie nur geduldig bleiben bei dieser ewigen Plage?« – »Ei,« lächelte sie, »es steht nirgends geschrieben, daß es gerade mein Beruf sei, zu nähen und stillzusitzen; ich muß ja froh sein, daß so viele Leute etwas von mir wollen.«
Und Luisens unübertreffliches Talent, die Liebhabereien und Bedürfnisse von jedermann zu erraten! Nur einmal hatte sie bemerkt, daß er den Schnittlauch auf der Suppe mit dem Löffel etwas beiseite geschoben, und von diesem Tage an wurde er nimmer auf die Suppe gestreut, sondern besonders auf einem Tellerchen gegeben. Wie sie seinen Geburtstag erraten, blieb ihm ein Rätsel; aber es konnte nicht Zufall sein, daß gerade an diesem Tage lauter Leibgerichte gekocht waren und die Kinder ihm frische Blumen aufs Zimmer brachten. Er hätte dies nun freilich auf Rechnung eines besonderen Interesses für sich schreiben können; aber er hörte zufällig an einem Sonntagmorgen die Hausmagd verwundert fragen: »Aber Jungfer Luise, warum ziehen Sie sich nicht in die Kirche an? Ich kann ja heute nachmittag darein gehen.« Luise erwiderte freundlich: »Nein, Christine, heute ist dein Geburtstag, da gehst du in Ruhe zur Kirche; nachmittags erlaubt die Mutter, daß du deine Eltern besuchst.« – »Ach, du lieber Gott!« rief die gerührte Magd, »hab' ja selbst kaum gewußt, daß mein Geburtstag ist, und hat sein Lebtag noch niemand daran gedacht; woher wissen denn Sie's?« Da hörte denn der geschmeichelte Vikar, daß Luise solche zarte Aufmerksamkeit nicht nur für ihn allein hatte.
So ferne von Absichtlichkeit und Koketterie auch Luisens [106] einfaches Wesen war, ein aufmerksamer Beobachter hätte doch zugeben müssen, daß sie nun alles, was sie immer getan, noch viel williger, heiterer, frischer tat als zuvor: ein Geist stiller Freudigkeit beseelte all ihr Tun und Wirken, der dem Werte ihrer treuen Pflichterfüllung den Reiz der Liebenswürdigkeit beifügte. Das war nicht Gefallsucht, es war wohl kaum schon ein aufkeimendes wärmeres Gefühl für den Vikar; es war zunächst nur die unbewußte Empfindung, daß zum erstenmal ein teilnehmendes Auge auf ihr ruhte, daß ihre kleinen Opfer, ihre emsige Sorge um andre verstanden und anerkannt wurden, – es war die Sonnenwärme der Sympathie, die all den Blüten ihrer stillen Seele mit einemmal Duft und Farbe gab.
Und diese selbstlose Luise, die noch nicht wußte und ahnte, woher ihr diese ungewohnte Freudigkeit kam, ertappte sich doch hie und da auf selbstsüchtigen, vermessenen Gedanken, wie sie sie nie zuvor gehegt: Gedanken an eine eigene Heimat, etwas stiller, einfacher vielleicht als ihr Vaterhaus, eine Heimat, in der sie die Herrin war und die sie nach ihrem Sinn gestalten durfte; an ein Herz sogar, das ihr eigen gehörte, das sich bekümmerte, wenn sie litt, sich freute, wenn sie froh war; aber sie scheute sich, diesen Träumen Gestalt zu geben, und konnte bisweilen, wenn sie einen Augenblick still gesessen, auffahren und mit einer ihr fremden Hast eine Arbeit vornehmen. Auch schlief sie nie ein, wenn abends der Vikar vorlas, und der Vater hatte sie zu seinem unaussprechlichen Erstaunen schon in seinem Zimmer ertappt, wie sie eifrig im Konversationslexikon nachschlug, um einigen Lücken ihres Wissens nachzuhelfen.
Der Vikar, eine sachliche Natur, hing nicht so lange unbewußten Eindrücken nach. Gar bald, nachdem sich ihm der Gedanke aufgedrängt: »Das gäbe eine gute Frau,« fragte er sich weiter: »Warum nichtmeine Frau?«, und die Sache schien ihm mit jedem Tag mehr einleuchtend. Freilich, er hatte noch nicht lange die Universität verlassen, und die Aussichten auf Anstellung lagen in weiter Ferne; aber Luise war ja erst neunzehn, und konnten sie nicht einen Patronatsdienst erhalten? Er [107] war von Hause aus arm und Luise nicht reich; aber er hatte ja oft gehört, daß eine häusliche Frau ein Kapital sei, und wer konnte häuslicher sein als Luise? Auch schien ihm ein Einkommen von dreihundert oder gar fünfhundert Gulden eine gar schöne Sache, und er wußte noch nicht recht, wie man es nur angreifen sollte, das aufzubrauchen. Luise allein konnte er ohne Erröten in sein armes Vaterhaus führen; – kurz, er fand immer mehr, daß Luise die einzig mögliche Frau für ihn auf der Erde sei, und er beschloß, einmal die wichtige Frage bei ihr zu wagen.
Aber das war nicht so leicht getan; und was konnte er ihr bieten, um ein Jawort zu hoffen? Ein solches Kleinod von einem Mädchen, die brauchte nicht zehn Jahre lang auf einen armen Vikar zu warten; der reiche Pfarrer von Lengsfeld, ein Witwer mit nur zwei Kindern, hatte sich gegen ihn selbst schon sehr beifällig über »dieses höchst brauchbare, tätige Frauenzimmer« ausgesprochen; sogar der Oberamtsrichter, der zur Entrüstung der ganzen Umgegend noch ledig war, hatte nach einem längeren Besuch im Pfarrhause geäußert: er glaube, mit einer so anspruchslosen, aufmerksamen Person wäre man am Ende für alte und kranke Tage besser beraten als mit einer glänzenden Partie. Wie viele lockendere Aussichten für Luise!
Wenn er nur gewiß gewußt hätte, ob sie ihn ein wenig lieb habe! Gut und freundlich und aufmerksam war sie gegen jedermann; er mußte noch ein besonderes Zeichen abwarten.