[96] Die kommende Sonne

Es brennt in meinem Hirn
Ein Traum mit gärender Glut,
Wie hinter Vesuvius' Felsenstirn
Der Erde fieberndes Feuerblut.
Ich träume die kommende Sonne.
Und wie des Meeres Flut empor
Zum lockenden Monde schwillt,
Wallt meine Seele schmachtend
Dem angebeteten Traumgebild
Entgegen, der kommenden Sonne.
In stummer Nacht, dem weichen Arm
Der trägen Ruh entwunden,
Wälz ich mich mit heißem Sehnen,
Fülle mit Grübeln zögernde Stunden;
Ich harre der kommenden Sonne.
Vom Lager fahr ich wild empor,
Wissende Bücher aufzuschlagen.
Ihr starren Züge, laßt mich lesen:
Wann wird umnachteten Völkern tagen
Die selig machende Sonne?
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Es treibt mich auf die Gassen hinaus;
Da atmen die Gassen Moderluft;
Ein steinerner Sarg jedwedes Haus,
Die Stadt eine riesige Gruft.
Erbarme dich, kommende Sonne!
Und schaudernd durch das Tor der Gruft
Flücht ich hinaus auf offenes Feld
Und spähe, ob die finstre Luft
Nicht endlich Morgengrau erhellt.
Ich ahne die kommende Sonne.
Und sieh, des Lichtes Halme schießen
Empor vom fernen, dunkeln Lande,
Wie hinter schwarzem Schildesrande
Blutige Speere sprießen.
Das sind die Speere der Sonne!
Da weicht der Drache der Verwesung
Von seinem Nest, der Völkergruft;
Er faltet die zackigen Flügel
Und kriecht entsetzt in seine Schluft.
Preis dir, siegende Sonne!
Nun taucht aus rosenbesätem Gewölk
Empor der rollende Feuerball.
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Da zittert die Erde, da bersten
Die Riesensärge mit Donnerschall.
Preis dir, erlösende Sonne!
Die toten Völker stehen auf
Und baden im goldig strömenden Licht;
Die Leiber blühen schön und stark,
Und geistig strahlt das Angesicht.
Preis dir, erweckende Sonne!
Die Erde schimmert wie eine Braut
Im Schmuck der Blumen und Seen;
Hinter üppig grünenden Hainen
Marmorhäuser erstehen.
Preis dir, verklärende Sonne!
Und aus den Toren der Marmorstadt
Wallt des Volkes festliche Schar,
Bringt Fahnen, selige Lieder,
Trunkene Blicke zum Opfer dar
Der entzückenden Göttin Sonne.
So brennt in meinem Hirn
Der Traum mit gärender Glut,
Wie hinter Vesuvius' Felsenstirn
Der Erde fieberndes Feuerblut.
Ich träume die kommende Sonne.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Wille, Bruno. Gedichte. Der heilige Hain. Der Menge Qual. Die kommende Sonne. Die kommende Sonne. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A896-6