[68] Im Angesicht des Berges
»Wehe euch... ihr Heuchler, die ihr gleich seid den übertünchten Gräbern, welche auswendig hübsch erscheinen, inwendig aber voller Totenbein und Unflat sind!«
(Jesus.)
Ich blicke schweigend auf das weiße Tuch
Und tippe sinnend mit dem Tafelmesser;
Weingläser klirren, eine Dame lacht,
Die beiden Diplomaten reden wichtig,
Und Seidenroben duften nach Parfüm.
Doch über die Terrasse weht ein Hauch
Aus waldiger Bergesschlucht so kühl und rein;
Tief atmend schlage ich die Augen auf.
Da übergipfelt sich der krause Wald
Den Berg hinan, da lagern grüne Matten
An Felsgehängen, und mit schroffem Stolz
Erhebt der Riese himmelan sein Haupt.
»Entzückend!« lispelt meine Tafeldame,
Die Gouvernante.
[69]«Ceterum censeo,
Ich muß es stets betonen, Herr Minister,
Erhöhen wir den Schutzzoll! Unser Staat,
Verlassen Sie Sich drauf, wird ausgesogen.
Das einzige Rettungsmittel ist mein Antrag.«
Wie offen blickt das Deputirtenauge –
Nur blitzt es heimlich drin: »Wenn es gelingt,
O köstlicher Profit!«
Ein Vogel kreischt und schlägt mit starkem Fittig
Und wiegt sich spähend über Wald und Schlucht;
Dumpf tost der Gießbach zwischen Felsgeblöck,
Und eine Wolke schattet.
Geil grinsend drückt die alte Excellenz
Die Patschhand seiner Dame an den Weißbart.
Die Gnädige lächelt wie ein Kind – und denkt:
»Hat erst mein Mann die Stelle in der Tasche,
Dann, Herr Protektor ... warte, alter Ekel!«
»Entzückend!« lispelt meine Tafeldame
Durch ihre falschen Zähne; »o Natur!«
Und blickt hinan zum Angesicht des Berges, –
Das sich verfinstert und in Wolken hüllt.
Nur auf der Matte ruht noch goldnes Licht;
Das lächelt mich wehmütig an. Ich schlage
Die Augen nieder auf das weiße Tuch
Und tippe sinnend mit dem Tafelmesser.