[257] *Die Leichenfresserin.

Der König von England hatte eine wunderschöne Tochter, die sprach zu ihm: ›Vater, wenn ich zwanzig Jahr alt bin, so sterbe ich, dann will ich hinausgetragen sein in das alte Kapellchen vor der Stadt; da sollt ihr mich in meinem Sarge hineinstellen und jede Nacht eine Schildwache dabei.‹ Wie sie gesagt, so geschah's: sie starb auf ihren zwanzigsten Geburtstag und der König ließ ihren Willen thun. Sie ward in ihrem Sarge hinausgetragen in das Kapellchen und vor den Altar gestellt, und als es Nacht wurde, mußte eine Schildwache dabei bleiben. Als aber des andern Morgens der Soldat abgelöst werden sollte, lag er da und war ihm das Genick gebrochen. Ebenso ging es mit der zweiten Schildwache und mit der dritten, und zum vierten Male wollte es Niemand probiren, ob der König gleich eine große Belohnung darauf setzte. Damals war aber gerade am Hofe von England ein fremder Schneidergeselle. Er war auf seiner Wanderschaft dahin gekommen, und weil er so gut arbeitete, ließ ihn der König nicht mehr fort, ob er gleich gar dringend darum bat, weil er das Heimweh hatte. Der machte nun einen Anschlag, wie er sich auf gute Art aus dem Staube machen möchte und als er glaubte, es würde so gelingen, trat er vor den König und sprach: ›Herr [258] König, wollt ihr mir diesen Abend einen Säbel, eine Patrontasche und ein Gewehr geben lassen, so will ich hinausgehen und bei der Prinzessin Schildwache stehn.‹ Darob lobte ihn der König sehr und ließ ihm das Verlangte geben. Der Schneider ging damit ganz keck über die Straße und zum Thor hinaus; als er aber draus war, dachte er mit keinem Gedanken mehr an die Prinzessin, sondern machte rechts um und lief fort, was er laufen konnte. Da hörte er sich auf einmal bei Namen rufen, er hielt an und sah sich um, da stand ein klein alt Männlein vor ihm und sprach, er solle doch kein Narr sein und fortlaufen, er gehe ja seinem eignen Glücke durch. Wie er das meine? fragte der Schneider. ›Ei,‹ sagte das Männchen, ›wenn du gescheut bist, so gehst du zurück und bleibst heute Nacht in dem Kapellchen, ich will dir sagen, wie du es anfangen mußt, daß du die Prinzessin erlösest und König wirst.‹ Der Schneider wollte Anfangs Nichts davon wissen, doch endlich ließ er sich einreden und fragte, wie er sich dazu anstellen müsse, daß ihm nicht auch das Genick gebrochen würde? Da sagte das Männchen, er solle nur in die Beichtkammer der Kapelle gehn, darin läge eine Reihe von Leichen und mitten darin sei noch ein Platz frei, da solle er sich hineinlegen und sich durch Nichts irre machen lassen, was auch geschehen möchte. Dem Schneider steckte nun das Königwerden so im Kopf, daß er richtig um kehrte in die Kapelle und sich mitten zwischen die Todten in der Leichenkammer hineinlegte. Um eilf Uhr sprang der Sarg auf, die Königstochter von England stieg heraus, kam in die Beichtkammer und fing an, die Leichen [259] zu zerreißen und zu fressen. Der Schneider war mehr todt als lebendig, indem er ihr so zusah, wie sie dem einen Todten ein Bein abfraß und dem andern einen Arm und die Stücke in der Kammer herumwarf. Als es aber zwölf Uhr schlug, stieg die Prinzessin wieder in ihren Sarg, der Deckel klappte über ihr zu und Alles war vorbei. Der Schneider stieg jetzt auf und stellte sich auf seinen Posten neben den Sarg. Des andern Morgens in aller Frühe kam der König mit dem ganzen Hofstaat herausgefahren, freute sich gar sehr, daß der Schneider noch lebte und nahm ihn in seiner eignen Kutsche mit nach Haus. In die Kapelle ließ er aber das allerbeste Essen aus der Schloßküche und ein ganzes Faß voll Wein bringen, damit der Schneider in der folgenden Nacht sich daran stärken könne. Dem wurde es aber doch ganz bang zu Muth, als es dunkel wurde und er wieder hinaus mußte. Wenn du dießmal hingehst, frißt sie dich gewiß! dachte er, als er vor dem Thor draus war und machte rechtsum und lief fort, dießmal aber einen ganz andern Weg, damit ihm das Männchen nicht begegnen sollte. Wer ihm aber doch begegnete, das war das Männchen. ›He! guter Freund!‹ rief es ihm auf einmal zu, ›wohinaus so eilig?‹ Da sprach der Schneider, dießmal gehe er nicht mehr hin, und wenn er hundertmal König werden und hundert Prinzessinnen heirathen sollte. Das Männchen sprach ihm aber gar freundlich zu, er habe jetzt die Hälfte schon vollbracht und brauche nur noch die eine Stunde auszuhalten, er wolle ihm ja sagen, wie er sich anstellen müsse, damit ihm an Leib und Leben Nichts geschehen könne. Der Schneider [260] dachte, es wäre doch immerhin schön, wenn er schon den andern Tag Hochzeit halten könnte und ließ sich zum zweiten Male bereden. Das Männchen sprach jetzt, er solle getrost wieder hingehen und sich zwischen die Todten legen, wenn aber die Prinzessin wieder da sei und so recht gierig an einer Leiche fresse, so solle er hinter ihr vorbeischleichen, bis vor den Altar und statt ihrer in den Sarg steigen.

Und so that er's. Um eilf Uhr kam die Königstochter wieder und machte sich über die Leichen her wie ein Wolf, riß eine nach der andern von einander, warf die Gebeine in der ganzen Kirche herum und schrie dabei in Einem fort: ›Ich krieg dich doch, du magst stecken, wo du willst.‹

Endlich aber blieb sie bei einer Leiche sitzen und fraß und fraß, als wenn es der beste Braten gewesen wäre. Da stand der Schneider leise auf, schlich an ihr vorbei, bis vor den Altar und legte sich in den Sarg. Mit dem Schlag Zwölf kam die Prinzessin und wollte hineinsteigen. Als sie aber den Schneider sah, fing sie an sehr zu klagen und zu bitten, es sei ja ihr Bett, er solle doch herausgehen und sie hineinlassen, daß sie schlafen könne. Als das nichts half, fing sie an aufs Fürchterlichste zu toben, als wenn sie ihn auf der Stelle umbringen wollte; er blieb aber ruhig liegen und sie konnte ihn nicht anrühren. Mit dem Schlage Eins stürzte die Prinzessin zusammen und blieb auf dem Boden liegen und schlief. Der Schneider stand auf und sprach: ›Du hast gut schlafen, denn du hast dich satt gefressen, ich habe aber seit gestern Mittag noch Nichts in den Leib bekommen!‹ und [261] somit machte er sich über das Essen und den Wein her und ruhte nicht eher, als bis er auch auf den Boden fiel und schlief wie ein Sack. Des andern Morgens kam der König mit dem Hofstaat herein, da lagen sie alle zwei auf der Erde, das Eine da und das Andere dort und schliefen als sollten sie nicht wieder aufstehn.

Als nun Hochzeit gehalten war, und der Schneider zum ersten Mal bei der Prinzessin lag, da fürchtete er sich so vor ihr, daß er aus dem Bett springen wollte, wenn sie nur einen Finger bewegte. ›Ei du Narr,‹ sprach sie, ›bleib nur, ich thu dir ja Nichts, ich hab auch die Leichen nicht gefressen, es mußte dir nur so vorkommen.‹ Da fürchtete sich der Schneider nicht länger und gab ihr einen herzhaften Kuß. Sie lebten lang und glücklich beisammen und bekamen viel schöne Kinder.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Wolf, Johann Wilhelm. Märchen. Deutsche Hausmärchen. *Die Leichenfresserin. *Die Leichenfresserin. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-AA94-9