1322. An Johanna Keßler
1322. An Johanna Keßler
Mechtshausen 26. Nov. 1901.
Liebste Tante!
Es ist halt so. Je älter man wird, je schneller radelt die Zeit dahin, unvermerkt, auf Gummirädern. Tausend Jahre sind's her, seit ich von Frankfurt was Schriftliches kriegte – außer vorvorgestern eine Rechnung vom Schneider, die ich umgehend bezahlte, aus Furcht, ich könnt's vergeßen, denn das Gedächtniß wird auch immer schwächer.
Meine kleinen Ausflüge hab ich neulich mit einem Besuch auf vierzehn Tage in Hattorf für heuer beschloßen.
Unser Herbstwetter, wenn auch launenhaft, bald sonnig, bald regnerisch ungestüm, hat doch der Spätarbeit im Garten nicht weiter geschadet. Das Land ist umgegraben; Kopfkohl, Sellerie, Porree sind in bedeckter Erdgrube verwahrt; Spargel, Rhabarber, Erdbeeren werden mit Dünger belegt, die Himbeeren beschnitten und angebunden, die Obstbäume ausgesägt, abgekratzt und gekalkt, die Rasenflecke und Rosenbeete vor dem Hause zur Erneuerung "rajolt" und die Futtergestelle für die Vöglein im Winter zurecht gemacht. – Die Anzahl der Hähnchen, Enten, Gänse, Puter fängt an sich zu vermindern. Zwanzig bis dreißig Legehühner nebst Hahn und zwei ältere Puter, diese als künftige Brutmaschinen, sollen, so hofft man, den kommenden Frühling erleben, und dann werden sie ja wohl sehn, ob die Buren noch weiter kämpfen.
Aber was ich eigentlich sagen wollte: Wie gehts meinen guten Freundinnen und Freunden in der Wiesenau?
Alle, besonders Sie, liebste Tante, grüßt herzlich
Ihr alter getreuer
Onkel Wilhelm. [182]