1022. An Nanda Keßler
1022. An Nanda Keßler
Wiedensahl 20. April 95.
Meine liebe Nanda!
Sei bedankt für deinen liebenswürdigen Brief. – Wie gut, daß ihr drüben hinter den Bergen gesund und fett und braun geworden seid, Du und der Hudi. Freilich, zur Heimkehr ins Vaterland darf ich kaum gratuliren, da dich, wie ich bemerke, nach der Nichtheimath ein trübselig schwärmerisches Heimweh belästigt. – Ach ja! – Wenn doch der Leib mal irgendwo seßhaft würde und die arme Seel mal endlich zur Ruhe käm. Liegt's nur an dem Ort, wohin die Sehnsucht dich rückwärts zieht, so sei getrost: Du kommst gewiß wieder hin, länger als dies Mal sogar, ja dauernd vielleicht, sobald Du nur willst, sobald Du nur fest deinen Kopf darauf setzest. Ob's heilsam wäre in jeder Beziehung, mag füglich bezweifelt werden. Aber Jedweder sitzt in seiner eigenen Haut auf seine eigene Gefahr. Und ganz so verächtlich, wie redliche Leute zu meinen belieben, wird die Gesellschaft der internationalen Bummler am Ende wohl auch nicht sein – wollen wir hoffen. Also Muth! Und nicht zu sentimental, Mama! – Hudi der Weise hat wieder mal recht gehabt.
Ich selbst fand den deutschen Winter, den heuer so lange getreuen, ausdermaßen bekömmlich. Nun kommt unser Frühling herbei. Die Staare bauen, plappern und flöten. Aus Bast und Kruste drängeln die Blätter. Schon ist's bunt im Anger. Und da steht und spatziert denn der alte Junge, das Zigarrettchen im Maul, und sieht sich's an voll gelaßener Heiterkeit.
Er grüßt dich herzlich, liebe Nanda, Dich und die Kinder und deßgleichen die lieben Bewohner von Nro 1 nebenan.
Beständig dein getreuer
Onkel Wilhelm