4. Der Ziegenhirt.

Peter Klaus, ein Ziegenhirt aus Sittendorf, der seine Heerde am Kiffhäuser weidete, pflegte sie am Abend auf einem mit altem Gemäuer umschlossenen Platze ausruhen zu lassen, wo er die Musterung über sie hielt. Seit einigen Tagen hatte er bemerkt, daß eine seiner schönsten Ziegen bald nachher, wenn er auf diesen Platz gekommen war, verschwand und erst später der Heerde nachkam. Er beobachtete sie genauer und sah, daß sie durch eine Spalte des Gemäuers durchschlüpfte. Er wand sich ihr nach und traf sie [437] in einer Höhlung, wo sie fröhlich die Haferkörner auflas, die einzeln von der Decke herabfielen. Er blickte in die Höhe, schüttelte den Kopf über den Haferregen, konnte aber durch alles Hinstarren nichts weiter entdecken. Endlich hörte er über sich das Wiehern und Stampfen einiger muthigen Hengste, deren Krippen der Hafer entfallen mußte.

So stand der Ziegenhirt da staunend über die Pferde in einem ganz unbewohnten Berge. Da kam ein Knappe und winkte schweigend, ihm zu folgen. Peter stieg einige Stufen in die Höhe und kam über einen ummauerten Hof in eine Vertiefung, die ringsum von hohen Felsenwänden umschlossen war, in welche durch überhängende dickbelaubte Zweige einiges Dämmerlicht herabfiel. Hier fand er auf einem gutgeebneten kühlen Rasenplatz zwölf ernste Rittersmänner, deren keiner ein Wort sprach, beim Kegelspiel. Peter wurde schweigend angestellt, um die Kegel aufzurichten. Anfangs that er dies mit schlotternden Knieen, wenn er mit halbverstohlenem Blick die langen Bärte und die aufgeschlitzten Wämser der edlen Ritter betrachtete, allmählig aber machte die Gewöhnung ihn dreister; er übersah Alles um sich her mit immer festerem Blick, und wagte es endlich aus einer Kanne zu trinken, die neben ihm hingesetzt war und aus welcher der Wein ihm lieblich entgegenduftete. Er fühlte sich wie neubelebt, und so oft er Ermüdung spürte, holte er sich aus der nie versiegenden Kanne neue Kräfte. Doch endlich übermannte ihn der Schlaf. Beim Erwachen fand er sich auf dem umschlossenen grünen Platz wieder, wo er seine Ziegen ausruhen zu lassen pflegte. Er rieb sich die Augen, konnte aber weder Hund noch Ziegen entdecken, staunte über das hochaufgeschossene Gras und über Sträucher und Bäume, die er vorher hier noch nie bemerkt hatte. Kopfschüttelnd ging er weiter, alle die Wege und Steige hindurch, die er täglich mit seiner Heerde zu durchirren pflegte, aber nirgends fand sich eine Spur von seinen Ziegen. Unter sich sah er Sittendorf und endlich stieg er mit beschleunigtem Schritt hinab, um hier nach seiner Heerde zu fragen.

Die Leute, die ihm vor dem Dorfe begegneten, waren ihm alle unbekannt, waren anders gekleidet und sprachen nicht so als seine Bekannten; auch starrten ihn Alle an, wenn er nach seinen Ziegen fragte und faßten sich an's Kinn. Endlich that er fast unwillkürlich eben das und fand zu seinem Erstaunen seinen Bart um einen Fuß verlängert. Er fing an, sich und die ganze Welt um sich her für verzaubert zu halten, und doch kannte er den Berg, den er herabgestiegen war, wohl als den Kiffhäuser, auch waren ihm die Häuser mit ihren Gärten und Vorplätzen alle bekannt. Auch nannten mehrere Knaben auf die Fragen eines Vorbeireisenden den Namen: Sittendorf.

Kopfschüttelnd ging er in das Dorf hinein und nach seiner Hütte. Er fand sie sehr verfallen und vor ihr lag ein fremder Hirtenknabe in zerrissenem Kittel, neben einem abgezehrten Hunde, der ihn zähnefletschend angrinzte, als er ihn rief. Er ging durch die Oeffnung, die sonst eine Thüre verschloß, hinein, fand aber Alles so wüste und leer, daß er, einem Betrunkenen gleich, aus der Hinterpforte wieder hinauswankte und Frau und Kinder bei ihren Namen rief, aber keine Stimme antwortete ihm.

Bald umdrängten den suchenden Mann mit dem langen eisgrauen Barte Weiber und Kinder und fragten ihn um die Wette, was er suche? Andere vor seinem eigenen Hause nach seiner Frau oder seinen Kindern zu fragen, [438] oder gar nach sich selbst, schien ihm so sonderbar, daß er, um die Fragenden loszuwerden, die nächsten Namen nannte, die ihm einfielen: »Kurt Steffen!« Die Meisten schwiegen und sahen sich an, endlich sagte eine bejahrte Frau: »Seit zwölf Jahren wohnt der unter der Sachsenburg, dorthin werdet Ihr heute nicht kommen!« »Velten Meier!« »Gott habe ihn selig!« antwortete ein altes Mütterchen an der Krücke, »der liegt schon seit fünfzehn Jahren in dem Hause, das er nimmer verläßt.«

Er erkannte zusammenschaudernd seine plötzlich alt gewordenen Nachbarinnen, aber ihm war die Lust vergangen weiter zu fragen. Da drängte sich durch die neugierigen Gaffer ein junges rasches Weib, mit einem einjährigen Knaben auf dem Arm und einem vierjährigen Mädchen an der Hand, die alle drei seiner Frau wie aus den Augen geschnitten waren. »Wie heißt Ihr?« fragte er staunend. »Marie!« »Und Euer Vater?« »Gott habe ihn selig! Peter Klaus; es sind nun zwanzig Jahre, daß wir ihn Tag und Nacht suchten auf dem Kiffhäuser, da die Heerde ohne ihn zurückkam; ich war damals sieben Jahre alt.«

Länger konnte sich der Ziegenhirt nicht halten. »Ich bin Peter Klaus«, rief er, »und kein Anderer!« und nahm seiner Tochter den Knaben vom Arme. Alle standen wie versteinert, bis endlich eine Stimme und noch eine Stimme rief: »Ja, das ist Peter Klaus! Willkommen, Nachbar, nach zwanzig Jahren willkommen!« 1

Fußnoten

1 Eine ähnliche Geschichte erzählt bekanntlich Washington Irving in seinem Skizzenbuch von dem alten Rip van Winkle (Sketch Book. Leipzig 1843. Th. I. p. 26 sq.); diese spielt aber in Nordamerika auf den Kaatskill-Bergen am Hudson. Eine andere s. unter 8.

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TextGrid Repository (2012). Grässe, Johann Georg Theodor. Sagen. Sagenbuch des Preußischen Staats. Erster Band. Provinz Sachsen und Thüringen. 489. Die Sagen vom Kiffhäuser. 4. Der Ziegenhirt. 4. Der Ziegenhirt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-412B-9