813. Der wandernde Zwerg.

(S. Kehrein bei Firmenich, Völkerstimmen Bd. II. S. 49 etc. u. Volksspr. in Nassau. Bd. III. S. 3 etc.)


Es war tiefer Winter, der Schnee lag hoch auf Häusern und Feldern und die Vögel kamen bis vor die Thüren der Häuser um Nahrung zu suchen. In den Stuben aber saßen die Leute schon am Ofen, denn es ward nachgerade dunkel und die Sterne blinkten schon vom Firmament herab. Da kam ein kleiner Zwerg herein in ein Nassauisches Dorf, nahe bei Heidesheim, welches letztere in Rheinhessen liegt. Er war ganz erfroren, seine Kleider waren durch und durch naß von Schnee und seine Hände ganz steif vor Kälte. Er ging an ein Fenster und klopfte, aber vergebens, dann wieder an eins, aber Niemand ließ ihn ein, sondern überall jagte man ihn fort. Nun stand aber am Ende des Dorfes ein kleines Haus, da wohnten zwei alte Leute drin. Das Mütterchen war eben vom Beten aufgestanden und setzte sich ans Spinnrad um noch ein Stück Leinwand, wie sie sagte, für zwei Todtenhemden zu spinnen, wenn sie fertig wären, wolle sie gern mit ihrem Alten sterben, denn sie wären jetzt funfzig Jahre verheirathet. Der alte Vater aber saß am Tisch, sein Pelzkäppchen auf und sein Pfeifchen im Munde und las in einem frommen Buche. Auf einmal klopfte es ans Fenster und rief herein in die Stube: »Macht auf, Gott wird's Euch lohnen!« Der Alte eilt hinaus und läßt den kleinen Zwerg herein und das Mütterchen stellt ihr Spinnrad bei Seite um für ihren kleinen Gast etwas zu essen zu holen. Sie bringt ihm einige Kartoffeln, ein Butterbrod und einen Teller voll süßer Milch, und als das Essen aufgetragen ist, da sagt der Zwerg, der sich [719] inzwischen am Ofen gewärmt hat: »Ich esse zwar sonst keine grobe Kost, allein jetzt will ich die Milch trinken und dann meinen Weg fortsetzen, ich danke Euch von Herzen für Euere freundliche Aufnahme.« – »Da sei Gott vor, daß wir Euch in der Nacht und noch dazu in so stürmischer Nacht fortlassen, Ihr müßt bei uns bleiben, morgen könnt Ihr weiter reisen.« Der Zwerg aber wollte durchaus nicht bleiben und sagte: »Ich habe auf dem Berg noch allerhand zu besorgen, gehabt Euch wohl, Ihr werdet bald von mir hören!«

Kaum war die Nacht vorüber, da bricht ein gewaltiges Gewitter los, es donnerte und blitzte in einem fort, der Wind riß Bäume um, warf die Ziegel von den Dächern, die Fenster klirrten und man dachte, der jüngste Tag sei gekommen. Vom Himmel aber stürzte das Wasser wie mit Kannen und die Leute kreischten vor Angst und Furcht und riefen alle Heiligen um Hilfe an. Mitten in der Fluth aber, die schon die ganze Gasse anfüllte, kam auf einmal ein großer Stein geschwommen, darauf stand der Zwerg und lenkte ihn mit einer Stange und trieb ihn vor das Haus, wo er so gut aufgenommen worden war. Dadurch wendete sich aber die Strömung und das Häuschen der guten Leute blieb verschont, der Zwerg aber ward immer größer und größer, reichte endlich bis hinauf an die Wolken und verschwand. Die guten alten Leute fielen aber auf die Kniee und dankten Gott, denn der Zwerg war ein Bote Gottes gewesen, gesandt, die Menschen zu prüfen.

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TextGrid Repository (2012). Grässe, Johann Georg Theodor. Sagen. Sagenbuch des Preußischen Staats. Zweiter Band. Nassau. 813. Der wandernde Zwerg. 813. Der wandernde Zwerg. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-4A82-6