643) Der Halberstädtische Adam. 1

Ebenso wie andere Städte Deutschlands und Frankreichs im Mittelalter ihre geistlichen Schauspiele hatten, besaß auch Halberstadt ein solches. Dies war der sogenannte Adam, von dessen Wesenheit zwei noch jetzt vorhandene päpstliche Bullen von Bonifacius IX. (1401) und Leo X. (1515) Zeugniß geben. Diese Feierlichkeit war aber folgende.

Am Aschermittwoch fanden sich alle diejenigen Sünder, welche öffentliche Buße thun mußten, mit bloßen Füßen in einen Sack gehüllt, in dem sogenannten Paradiese, einem jetzt bis auf einige Säulenbündel weggerissenen Vorbaue am Hauptportale des Domes ein, legten ihre Beichte ab und erhielten nach dem Grade ihrer Schuld die nöthigen Vorschriften zur ferneren Buße. Nun öffneten sich die Thüren des Domes und der Zug der demüthigen Büßer näherte sich dem Altare. Der Bischof und die anwesenden Geistlichen sangen die sieben Bußpsalmen, besprengten die Büßenden mit Weihwasser und kündigten ihnen an, daß sie, wie einst Adam, der Stammvater des sündigen Menschengeschlechts jetzt aus der Kirche gestoßen würden. Dies geschah unter Absingung des Responsoriums: Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brod essen etc. Von dieser Zeit an durften die Ausgestoßenen die Kirche bis zum grünen Donnerstage nicht besuchen. Einer dieser Büßenden meldete sich nun zum Adam und bekam in der Halle der jetzigen Sakristei eine mit der Mauer verbundene Bank, die auch jetzt noch vorhanden ist und der Adamssitz genannt wird, als Sitz angewiesen.

Der Bischof oder wenn derselbe nicht gegenwärtig war, sein Stellvertreter trieb nun am Aschermittwoch den sündigen Adam mit einem Stocke mit eigener hoher Hand aus der Kirche und dieser mußte die ganze Fastenzeit hindurch in großer Dürftigkeit leben und strenge Bußübungen verrichten. Unstät wanderte er durch Halberstadts Straßen, fand sich täglich an allen Kirchthüren ein, durfte aber die heiligen Schwellen nicht überschreiten, auch kein Wort mit seinen Mitbrüdern in der Stadt und den frommen Wallern reden. Man floh aus seiner Nähe und scheu warfen ihm einige Seelen einige Nahrungsmittel zu, damit er nicht ganz verschmachte. Erst nach Mitternacht durfte er auf öffentlicher Straße so lange schlafen, bis das Geräusch des neuen Tages ihn zu neuer Plage erweckte. Der grüne Donnerstag war der Tag seiner Erlösung, denn an diesem Tage ward er wieder in den Schooß der Kirche aufgenommen und durfte sich mit allen Büßenden, welche gegenwärtig waren, dem Tisch des Herrn nahen. Während dieser Feier tönte [600] vom Kreuze des Doms herab das hellklingende Glöcklein, welches noch jetzt wie der Thurm, worin es hängt, das Adamchen heißt. Dieses Glöcklein rief eine große Menge Volks herbei und alle Anwesenden erhielten mit Adam zugleich Absolution.

Fußnoten

1 S. Sagen aus der Vorzeit des Harzes S. 193.

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TextGrid Repository (2012). Grässe, Johann Georg Theodor. Sagen. Sagenbuch des Preußischen Staats. Erster Band. Der Harz. 643. Der Halberstädtische Adam. 643. Der Halberstädtische Adam. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-4FAD-4