106) Das Fräulein von Wittenberge. 1

Die heutige Stadt Wittenberge an der Elbe hat nicht allezeit da gestanden, wo sie jetzt steht, sondern ursprünglich an einem andern Orte. Es liegt nämlich außerhalb derselben eine ebene beackerte Gegend, welche man die Alt-Stadt nennt und wovon man noch die Graben und Wälle herumsieht, ingleichen vorwärts einen hohen Hügel, so mit einem sonderlichen Graben umgeben ist, und worauf das Schloß soll gestanden haben, an welchem auch noch viele Mauersteine ausgegraben, mithin längs an denselben verschiedene Urnen oder auch Stücken davon gefunden werden. Man giebt auch vor, daß noch jetzt ein Keller daselbst vorhanden, aber verfallen wäre. Ingleichen daß sich zum Oeftern Gespenster daherum hören und sehen lassen, und ist eine beständige Erzählung allhier, daß obige Veränderung daher entstanden, daß dermaleins vor langen Jahren ein gewisses Fräulein dieses Orts, welcher Namen jedoch unbekannt, sich an einen Vornehmen von Adel ehelich versprochen, und dieser sich darauf in den Krieg begeben, um sich noch weiter zu versuchen, und hernach, sobald es die Zeit würde leiden wollen, die versprochene Ehe zu vollziehen. Nicht lange hernach aber hätte sie diesen Ritter aus den Gedanken gesetzt und einem andern vornehmen Herrn die Ehe zugesaget, sich auch mit ihm copuliren lassen, welches, als es der erste Bräutigam erfahren, so hätte er die Stadt und Burg mit Krieges Gewalt angegriffen und erobert und darauf beide zerstöret, und dergestalt die Untreu seiner gewesenen Braut gerochen. Die Einwohner aber wären dadurch veranlaßt worden, nachdem die Kriegsunruhen vorbei, einen andern in der Nähe gelegenen bequemen Sitz zu suchen und daselbst eine neue Stadt anzulegen, woraus denn endlich das jetzige Wittenberge entstanden.

Fußnoten

1 S. Beckmann Th. V.B. II. S. 328.

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TextGrid Repository (2012). Grässe, Johann Georg Theodor. Sagen. Sagenbuch des Preußischen Staats. Erster Band. Die Marken. 106. Das Fräulein von Wittenberge. 106. Das Fräulein von Wittenberge. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-5723-6