586) Die Jungfrau vom Ilsenstein. 1
Der Ilsenstein ist einer der größten und merkwürdigsten Felsen des Harzgebirges; er liegt in der Grafschaft Wernigerode, unweit Ilsenburg, am Fuße des Brockens und wird von der Ilse bespült. Ihm gegenüber liegt ein ähnlicher Fels, dessen Schichten zu diesem passen und bei einer Erdrevolution davon getrennt zu sein scheinen. Jeden Morgen schließt sich der Fels dort vor einer schönen Jungfrau, die man auf ihm sitzen sieht, sobald der erste Sonnenstrahl ihn trifft, auf, dann steigt sie hinunter zur Ilse und badet sich in dem spiegelhellen Wasser derselben. Nach einer andern Sage geschieht dies jedoch nur alle 7 oder nur alle 100 Jahre, zu anderer Zeit zeigt sie sich als Schlange, und wer sie so küßt, erlöst sie und bekommt den ganzen Ilsenstein. Darin sind aber viele Schätze, namentlich ein großer Kessel voll Gold und ein Hund, der ihn bewacht, mit einer goldenen Kette. Freilich allen Menschen ist es nicht vergönnt sie zu sehen, aber wer sie sah, preist sie wegen ihrer Schönheit und Güte. Oft schon theilte sie Andern von den Schätzen mit, die der Ilsenstein in sich schließt, und manche Frau verdankt der schönen Jungfrau ihr Glück.
[533] Einst fand sie am frühen Morgen ein Köhler, der in den Forst gehen wollte, an der Ilse sitzen. Er grüßte sie freundlich und sie winkte ihm mitzugehen. Er folgte und bald standen sie vor dem großen Fels. Sie klopfte dreimal an und der Ilsenstein that sich auseinander. Sie ging hinein und brachte ihm seinen Ranzen gefüllt zurück, befahl ihm aber dabei ernstlich, ihn nicht zu öffnen, bis er in seiner Hütte wäre. Er nahm ihn und dankte. Als er fortging, fiel ihm die Schwere des Sackes auf und er hätte gern gesehen, was darin sei. Endlich als er auf die Ilsenbrücke kam, konnte er der Neugier länger nicht widerstehen. Er öffnete den Ranzen und sah Eicheln und Tannenäpfel. Unwillig schüttelte er dieselben von der Brücke herab in den angeschwollenen Strom, doch bald hörte er ein lautes Klingeln, wenn die Eicheln und Tannenäpfel die Steine der Ilse berührten und bald sah er zu seinem Schrecken, daß er Gold verschüttet hatte. Weislich wickelte er den kleinen Ueberrest, den er noch in den Ecken des Sackes fühlte, zusammen und trug ihn nach Hause; er fand des Goldes noch so viel, daß er sich ein kleines Gütchen kaufen konnte.
Die Sage erzählt nun aber Folgendes über die Jungfrau selbst. Als einst das Wasser der Nordsee die Thäler und Ebenen von Niedersachsen überschwemmte, flohen ein Jüngling und eine Jungfrau, die sich schon lange liebten, aus dem Nordlande dem Harzgebirge zu, um hier ihr Leben zu retten. Mit dem Steigen des Wassers stiegen auch sie immer höher und näherten sich immer mehr dem Brocken, der ihnen von der Ferne her eine sichere Zuflucht darzubieten schien. Endlich standen sie auf einem ungeheuren Felsen, der weit über dem wogenden Meere hervorragte. Von hier sahen sie das ganze umliegende Land von der Fluth überdeckt, und Hütten und Thiere und Menschen waren verschwunden. So standen sie hier einsam und starrten in die Wogen hinein, die an dem Fuße des Felsens sich brachen. Doch noch höher stieg das Wasser und schon dachten sie darauf, über einen noch unbedeckten Felsenrücken weiter zu fliehen und den Brocken hinauf zu klimmen, der wie eine große Insel über die wogende See hervorragte. Da erbebte unter ihren Füßen der Fels, auf dem sie standen, spaltete sich und drohete in einem Augenblick die Liebenden zu trennen. Auf der linken Seite, dem Brocken zugewendet, stand die Jungfrau, auf der rechten der Jüngling. Fest waren ihre Hände in einander geschlungen. Die Felsenwände bogen rechts und links aus und die Jungfrau und der Jüngling stürzten mit einander in die Fluthen. Ilse hieß die Jungfrau; sie gab dem reizenden Ilsethal, der Ilse, die es durchströmt, und dem Ilsenstein, worin sie noch hauset, den Namen. 2