Wandrer und Pächterin

Er

Kannst du, schöne Pächtrin ohnegleichen,
Unter dieser breiten Schattenlinde,
[138]
Wo ich Wandrer kurze Ruhe finde,
Labung mir für Durst und Hunger reichen?
Sie

Willst du, Vielgereister, hier dich laben;
Sauren Rahm und Brot und reife Früchte,
Nur die ganz natürlichsten Gerichte,
Kannst du reichlich an der Quelle haben.
Er

Ist mir doch, ich müßte schon dich kennen,
Unvergeßne Zierde holder Stunden!
Ähnlichkeiten hab ich oft gefunden;
Diese muß ich doch ein Wunder nennen.
Sie

Ohne Wunder findet sich bei Wandrern
Oft ein sehr erklärliches Erstaunen.
Ja, die Blonde gleichet oft der Braunen;
Eine reizet eben wie die andern.
Er

Heute nicht, fürwahr, zum ersten Male
Hat mir's diese Bildung abgewonnen!
Damals war sie Sonne aller Sonnen
In dem festlich aufgeschmückten Saale.
Sie

Freut es dich, so kann es wohl geschehen,
Daß man deinen Märchenscherz vollende:
Purpurseide floß von ihrer Lende,
Da du sie zum erstenmal gesehen.
Er

Nein, fürwahr, das hast du nicht gedichtet!
Konnten Geister dir es offenbaren;
[139]
Von Juwelen hast du auch erfahren
Und von Perlen, die ihr Blick vernichtet.
Sie

Dieses eine ward mir wohl vertrauet:
Daß die Schöne, schamhaft, zu gestehen,
Und in Hoffnung, wieder dich zu sehen,
Manche Schlösser in die Luft erbauet.
Er

Trieben mich umher doch alle Winde!
Sucht ich Ehr und Geld auf jede Weise!
Doch gesegnet, wenn am Schluß der Reise
Ich das edle Bildnis wiederfinde.
Sie

Nicht ein Bildnis, wirklich siehst du jene
Hohe Tochter des verdrängten Blutes;
Nun im Pachte des verlaßnen Gutes
Mit dem Bruder freuet sich Helene.
Er

Aber diese herrlichen Gefilde,
Kann sie der Besitzer selbst vermeiden?
Reiche Felder, breite Wies' und Weiden,
Mächt'ge Quellen, süße Himmelsmilde.
Sie

Ist er doch in alle Welt entlaufen!
Wir Geschwister haben viel erworben;
Wenn der Gute, wie man sagt, gestorben,
Wollen wir das Hinterlaßne kaufen.
Er

Wohl zu kaufen ist es, meine Schöne!
Vom Besitzer hört ich die Bedinge;
[140]
Doch der Preis ist keineswegs geringe,
Denn das letzte Wort, es ist: Helene!
Sie

Konnt uns Glück und Höhe nicht vereinen!
Hat die Liebe diesen Weg genommen?
Doch ich seh den wackren Bruder kommen;
Wenn er's hören wird, was kann er meinen?

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Werke. Gedichte. Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827). Balladen. Wandrer und Pächterin. Wandrer und Pächterin. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-61A1-2