Aus Byrons Manfred

Bannfluch


Wenn der Mond ist auf der Welle,
Wenn der Glühwurm ist im Gras
Und ein Scheinlicht auf dem Grabe,
Irres Licht auf dem Morast,
Wenn die Sterne fallend schießen,
Eule der Eul erwidernd heult
Und die Blätter schweigend ruhen
An des dunkeln Hügels Wand,
Meine Seel sei auf der deinen
Mit Gewalt und Zeichenwink!
Ist dein Schlummer noch so tief,
Kommt dein Geist doch nie zum Schlaf.
Da sind Schatten, die nicht schwinden,
Da Gedanken, die nicht bannest.
Die Gewalt, die du nicht kennest,
Läßt dich nimmermehr allein.
Bist ins Leichentuch gewindelt,
Eingehüllt in einer Wolke,
Und für immer, immer wohnst du
In dem Geiste dieses Spruchs.
Siehst mich nicht vorübergehen,
Fühlst mich doch in deinem Auge
Als ein Ding, das ungesehen
Nah dir sein muß, wie es war;
Und wenn du, geheim durchschaudert,
Deinen Kopf umwendend blickest,
Sollst dich wundern, daß nicht etwa
Wie ein Schatten bin zur Stelle;
Nein! die Kraft, die du empfunden,
Ist, was sich in dir verbirgt.
[616]
Und ein Zauberwort und Lied
Taufte dich mit einem Fluch,
Und schon hat ein Geist der Luft
Dich umgarnt mit einer Schlinge.
In dem Wind ist eine Stimme,
Die verbeut dir, dich zu freuen.
Und wenn dir die Nacht versagt
Ihres reinen Himmels Ruhe,
Bringt der Tag eine Sonn herauf,
Wär sie nieder! wünschest du.
Deinen falschen Tränen zog ich
Tödlichste Essenzen aus,
Deinem eignen Herzen sog ich
Blut, das schwärzeste, vom Quell,
Deinem Lächeln lockt ich Schlangen,
Dort geheim geringelt, ab,
Deinem Lippenpaar entsaugt ich
Allerschlimmstes aller Gifte.
Jedem Gift, das ich erprobet,
Schlimmer ist dein eignes doch.
Bei deiner kalten Brust, dem Schlangenlächeln,
Der Arglist unergründlichem Schlund,
Bei dem so tugendsam scheinenden Auge,
Bei der verschlossenen Seele Trug,
Bei der Vollendung deiner Künste,
Dem Wahn, du tragest ein menschliches Herz,
Bei deinem Gefallen an anderer Pein,
Bei deiner Kains-Bruderschaft
Beschwöre ich dich und nötige
Dich, selbst dir eigne Hölle zu sein!
Auf dein Haupt gieß ich die Schale,
Die dich solchem Urteil widmet:
[617]
Nicht zu schlafen, nicht zu sterben
Sei dein dauernd Mißgeschick;
Scheinbar soll der Tod sich nahen
Deinem Wunsch, doch nur als Grauen.
Schau! der Zauber wirkt umher dir,
Dich geklirrlos fesselt Kette;
Über Herz und Hirn zusammen
Ist der Spruch ergangen – schwinde!

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Werke. Gedichte. Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827). Aus fremden Sprachen. Aus Byrons Manfred. Aus Byrons Manfred. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6269-9