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An Charlotte von Stein

Neunheiligen d. 11ten März. Ihr Bleystiftt Zettelgen von gestern Abend hat mir einen guten Morgen gesagt, wir dürfen uns nicht beschweeren, daß unsre Boten zu langsam gehen, wäre nur der Brief nicht im Schreibe Pult verschlossen gewesen, daß ich mehr von Ihnen gehabt hätte.

Heut ist Sonntag, Donnerstags früh geh ich hier[74] weg und bin Abends bey Ihnen weil ich in Ringleben noch etwas zu sehen habe. Der Herzog will einige Tage nach Cassel, ich gehe nicht mit, aus viel Ursachen davon ich ihm einige gesagt, einige verschwiegen habe, er läßt Wedeln kommen und sie mögen glücklich fahren. Er wirft mir vor daß ich ans Brod gewöhnt sey, und mich deswegen nicht weit verlaufen mögte. Es kan seyn daß auch das unter den neun und neunzig keine der geringsten Ursachen ist.

Gestern haben die Ratten zu maneuvriren angefangen; da ich nun auf alle solche inn- und ausländische Tiere sehr präparirt bin, hab ich mich sogleich einiger bemächtigt, sie secirt um ihren innern Bau kennen zu lernen, die andern hab ich wohl beobachtet, und ihre art die Schwänze zu tragen bemerckt, daß ich gute phisiologische Rechenschafft davon werde geben können. Ich hoffe in diesen wenigen Tagen noch einige Scenen, um die Erscheinung recht rund zu kriegen. Ich erstaune wie das plumpste so fein, und das feinste so plump zusammenhängt. So still bin ich lang nicht gewesen, und wenn das Auge Licht ist wird der ganz Körper licht seyn et vice versa. Die Gräfinn hat mir manche neue Begriffe gegeben, und alte zusammengerückt. Sie wissen daß ich nie etwas als durch Irradiation lerne, daß nur die Natur und die größten Meister mir etwas begreifflich machen können, und daß im halben oder einzelnen etwas zu [75] fassen mir ganz unmöglich ist! – Wie offt hab ich die Worte Welt, grose Welt, Welt haben u.s.w. hören müssen und habe mir nie was dabey dencken können, die meisten Menschen die sich diese Eigenschafften anmasten, verfinsterten mir den Begriff, sie schienen mir wie schlechte Musickanten auf ihren Fiedeln Symphonien abgeschiedner Meister zu kreuzigen, ich konnte eine Ahndung davon aus diesem und ienem einzelnen Liede haben, vergebens sucht ich mir das zu dencken was mir nicht mit vollem Orchester war produzirt worden.

Dieses kleine Wesen hat mich erleuchtet. Diese hat Welt oder vielmehr sie hat die Welt, sie weis die Welt zu behandlen (la manier) sie ist wie Quecksilber das sich in einem Augenblicke tausendfach theilt und wieder in eine Kugel zusammenläuft. Sicher ihres Werths, ihres Rangs handelt sie zugleich mit einer Delikatesse und Aifance die man sehn muß um sie zu dencken. Sie scheint iedem das seinige zu geben wenn sie auch nichts giebt, sie spendet nicht, wie ich andre gesehn habe, nach Standsgebühr und Würden iedem das eingesiegelte zugedachte Packetgen aus, sie lebt nur unter den Menschen hin, und daraus entsteht eben die schöne Melodie die sie spielt daß sie nicht ieden Ton sondern nur die auserwählten berührt. Sie tracktirts mit einer Leichtigkeit und einer anscheinenden Sorglosigkeit daß man sie für ein Kind halten sollte das nur auf dem Klaviere, ohne auf die Noten [76] zu sehen, herumruschelt, und doch weis sie immer was und wem sie spielt. Was in ieder Kunst das Genie ist, hat sie in der Kunst des Lebens. Tausend andre kommen mir vor wie Leute die das durch Fleis ersezzen wollen was ihnen die Natur versagt hat, noch andre wie Liebhaber die ihr Conzertgen auswendig gelernt haben und es ängstlich produziren, noch andre – nun es wird uns Stoff zur Unterredung genug geben. Sie kennt den größten Teil vom vornehmen, reichen, schönen, verständigen Europa, theils durch sich theils durch andre, das Leben, Treiben, Verhältniß so vieler Menschen ist ihr gegenwärtig im höchsten Sinne des Worts, es kleidet sie alles was sie sich von iedem zueignet und was sie iedem giebt thut ihm wohl. Sie sehen ich trete geschwind auf alle Seiten um mit todten Worten, mit einer Folge von Ausdrücken ein einziges Lebendiges Bild zu beschreiben. Das Beste bleibt immer zurück. Ich habe noch drey Tage und nichts zu thun als sie anzusehn, in der Zeit will ich noch manchen Zug erobern. Nur noch einen der wie eine Parabel den Anfang einer ungeheuren Bahn zeichnet. Der Pfarr hier ist ein schlechter Kerl, nicht so daß man ihn absezzen könnte, genug er ist schlecht. Wenn der Graf ihn zu Gaste lädt so ißt sie nicht mit hausen, und sagt es sey recht und nothwendig auch öffentlich zu zeichen wenn man iemanden um seiner Schlechtigkeit willen verachtet. Thun Sie dieses zu ienem oben gesagten hinzu so multiplizirt es die [77] Summe ungeheuer. Gerne macht ich Ihnen nun auch von ihm das Portrait so weit ichs habe und führte den Rattentext weiter aus, wenn mich bey diesem Gegestande nicht der natürliche Widerwille gegen das Schreiben behende ergriff. So viel kan ich sagen er macht mir meine dramatische und epische Vorrathskammer um ein gutes reicher. Ich kan nicht verderben, da ich auch aus Steinen und Erde Brod machen kan.

Adieu meine beste. Ich zähle die Stunden bis Donnerstags Abends, nicht mit Ungeduld (denn ich habe bis dahin mein Pensum noch vor mir) sondern mit der stille der gewissen Liebe und des festen Zutrauens daß ich nicht von Ihnen entfernt bin und daß mich zur gesezten Stunde die Gegenwart meines Glückes empfangen wird als wenn ichs nie verlassen hätte. Adieu grüsen Sie Steinen und was mir gut ist.

Adieu süse Unterhaltung meines innersten Herzens. Ich sehe und höre nichts guts das ich nicht im Augenblick mit Ihnen theile. Und alle meine Beobachtungen über Welt und mich, richten sich nicht, wie Marck Antonins, an mein eignes, sondern an mein zweites selbst. Durch diesen Dialog, da ich mir bey iedem dencke was Sie dazu sagen mögten, wird mir alles heller und werther. Wir haben heute Gäste von Langensalza. auf das Siegel drück ich einen Kuß und bin dein für ewig.

G. [78]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1781. An Charlotte von Stein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6AB6-E