41/213.

An den Großherzog Carl August

Ew. Königlichen Hoheit

geistreiche Ansicht, daß man, verschiedene Völker in verschiedenen Epochen der Geschichte vergleichend, erst [245] zu einem sichern gemeinsamen Begriff gelange, stimme völlig bey. Steile Gebirgsgegenden, indem sie die Gefahren der Bewohner vermannichfaltigen, sondern Wehrhaftigkeit und Widerstand; sie befestigen ihre Wohnungen auf unzugänglichen Bergrücken und Gipfeln; das Gefühl von Unabhängigkeit entspringt, kleine und größere Händel, kürzere und längere Fehden sind unvermeidlich, und niemals werden sie sich vereinigen als gegen die im Flachlande angesiedelten Völker und Gewalten, über welche sie in jedem Sinne ein großes Übergewicht behaupten. So wogten zwischen England und Schottland die Baronen, und so wogten und wogen die Serbier noch zwischen ihren südlichen und nordöstlichen Nachbarn; deswegen erscheint auch in ihrer Poesie so gar anmuthig ihr Verhältniß zu Venedig und so kräftig, wenn auch zuletzt nicht glücklich, ihr Kämpfen gegen die Türken. Nach solchen Betrachtungen wird denn die Vergleichung, wie Höchst Dieselben sie anstellen, vom Grundsinn bis zur einzelsten Äußerung mehr angenehm und belehrend.

Der Autor des mitgetheilten Werkchens soll willkommen seyn; er hat Mineralogie und Geognosie recht hübsch inne, auch ist ein klarer praktischer Blick an ihm zu loben. Nur muß man es ganz besondern Umständen zuschreiben, daß er gleichsam einen Zauberkreis um eine bedeutende Gegend als genauer Beobachter herumzieht und die Mitte liegen läßt, die uns auf einmal das einzelne Bunte eines solchen [246] Reisezugs im Zusammenhang aufgeklärt hatte. Indessen ist das, was er liefert, immer sehr dankenswerth. Der bloße Anblick des Epidendrum elongatum setzt in Erstaunen, und man wird erinnert, daß die Luft mit ihrem Inhalt auch ein nahrhaft Element ist wie Wasser und Erde, daß noch immer Feuchtigkeiten darin enthalten sind, um so bedeutenden Wachsthum zu begünstigen. Selbst die rohrartige Gestalt der Pflanze reizt uns, das unsichtbare und kaum fühlbare Element, das uns umgibt, als eine Art von See zu betrachten, aus welchem wir Nahrung und Anregung unsres Daseyns empfangen.

Von meinen höchst beschränkten Pflanzenexemplaren ist in diesen Tagen die Cacalia articulata zur Blüthe gekommen, woran die Einleitung der Inflorescenz so wie der Blüthenstand selbst wunderbar genug die allgemeinen Gesetze auf die seltsamste Weise specifi cirt. Warum ist mir nicht gegönnt in dem reichsten belvedereschen Vorrath mehr ausgebreitete und bedeutendere Betrachtungen anzustellen?

Noch einige bey mir sich vorfindende Papiere füge dankbar hinzu.

Verehrend unterthänigst

Weimar den 5. December 1826.

J. W. v. Goethe. [247]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1826. An den Großherzog Carl August. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6AC5-C