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An Sulpiz Boisserée

Mit der fahrenden Post ist heute früh ein Kästchen, wohl emballirt, an Sie abgegangen, welches, am Christfest bereitet, zu Epiphanias glücklich eröffnet werden möge. Macht Ihnen der Inhalt einiges Vergnügen, so gedenken Sie dabey, daß wir uns Ihrer, diese Wochen her, mit Liebe und Dankbarkeit erinnert. Raabe leistet mir hierbey die beste Gesellschaft; wann er hier wegkommen will, seh ich nicht ein, denn, wie Scheherazade, fängt er immer ein neues Bildniß an, ehe das alte vollendet ist, und da sich jedermann um leidlichen Preis auf Velin-Papier, oder im goldenen Rahmen sehen möchte, so hat er die lebhafteste Kundschaft, wie ein Zuckerbäcker auf dem Christmarkte. Bey seinem schönen Talent ist er so brav und gut, daß seine Gegenwart auf uns im Hause und den Weimarischen Cirkel höchst wohlthätig wirkt.

Für Ihren lieben, belehrenden Brief danke zum allerschönsten; ich werde den Inhalt auf's treulichste bewahren, und nach meine Weise zu erweitern und zu nutzen suchen. Fahren Sie indessen fort, und es wird sich gewiß etwas Erfreuliches aufbauen lassen.

Eine nähere und freyere Communication von Ge danken und Erfahrungen steht uns bevor, wenn Hofrath Meyer den Abriß der ganzen Kunstgeschichte,[129] welcher gegenwärtig in's Reine geschrieben und schließlich bearbeitet wird, nächstens herausgiebt. Es hängt nur noch davon ab, daß die Herausgabe der Winckelmannischen Werke vollendet sey, welches bevorsteht. Liegt alsdann ein solches Buch da, über das man disseriren, discutiren, sich vereinigen und entzweyen kann, so kommen die bedeutenden und problematischen Puncte entschiedener zur Sprache. Die Hauptdreyecke in der Gegend sind gezogen und orientiert, was drinnen liegt läßt sich sicherer detailliren.

Indessen muß ich manchmal lächeln, wenn, in meiner heidnisch-mahometanischen Umgebung, vera icon auch als Panier weht. Täglich wird eine Perikope aus dem Homer und dem Hafis gelesen, wie denn die persischen Dichter gegenwärtig an der Tagesordnung sind. Erscheint denn dazwischen der Moscowitische Bilder-Calender, so nimmt sich's freylich bunt genug aus, und es bleibt nichts übrig als zu rufen:

Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Occident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.

Und so will ich denn mit dieser frommen Betrachtung und mit dem herzlichen Wunsche schließen, daß wir uns dieses Jahr gesund und froh wiederfinden mögen.

unwandelbar

theilnehmend

Weimar den 2. Jänner 1815.

Goethe. [130]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1815. An Sulpiz Boisserée. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6ADE-5