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An Friederike Unzelmann

Sie haben mich, liebe kleine Freundin, durch Ihr köstliches Geschenk auf's Angenehmste überrascht, indem Sie mir zugleich einen Beweis Ihrer Neigung und eine musterhafte Arbeit überschicken. Man sieht nicht leicht an Form, Farbe, Verguldung, Behandlung etwas so Vollendetes.

Daß Sie bei Vorstellung der Iphigenia eine satte Farbe an der Kleidung mit gebraucht, erfreut mich sehr. Das schreckliche, leere, melancholische Weiß verfolgt uns vom Augenblick des Negligés bis zur höchsten Repräsentation. Man flieht die Farben, weil es so schwer ist, sich ihrer mit Geschmack und Anmuth zu bedienen.

Mit Ihrem Söhnlein werden Sie Geduld haben, wenn manchmal die Nachricht einer kleinen Unvorsichtigkeit zu Ihnen gelangt. Solche Kinder, in fremde Verhältnisse versetzt, kommen mir vor wie Vögel, die man in einem Zimmer fliegen läßt; sie fahren gegen[200] alle Scheiben, und es ist schon Glück genug, wenn sie sich nicht die Köpfe einstoßen, ehe sie begreifen lernen, daß nicht alles Durchsichtige durchdringlich ist.

Ich kenne das Pädagogische überhaupt und besonders die Theaterpädagogik gut genug, um zu wissen, daß eigentlich hauptsächlich Alles darauf ankommt, daß der Mensch einsehen lerne, was ihm fehlt, wodurch er es alsdann gewissermaßen schon erlangt, weil zu der Einsicht des Rechten und Nützlichen sich das Wollen sehr geschwind gesellt.

Wir haben in diesem Augenblicke bey unserm Theater ein halb Dutzend Individuen, die alle etwas zu werden versprechen. Stünde ich in einem größeren Verhältniß, so müßte ich ihrer funfzig haben; denn was an Einem geschieht, sei es wenig oder viel, geschieht am Andern, und eigentlich ist, wie oben gesagt, die Hauptsache, daß nach und nach die Aufmerksamkeit eines Jeden auf sich selbst erregt werde, eine Operation, die in der Masse viel leichter ist als im Einzelnen.

Solche Reflexionen, die, wie ich merke, beinahe ein pedantisch-rodomontisches Ansehen gewinnen wollen, verzeihen Sie mir gewiß, wenn Sie bedenken, daß ich dadurch nur der Mutter Geduld und Nachsicht empfehlen will, die ich selbst gern in hohem Grade ausüben mag. Wenn Ihr Karl erst einmal unsern ganzen Theaterkurs durchlaufen hat, mit in Lauchstädt und Rudolstadt gewesen ist, einsehen lernt, daß [201] man, um dauernden Beifall zu gewinnen, etwas über sich selbst vermögen muß, so wird vielleicht geschwind entstehen, was wir wünschen. Bis jetzt habe ich recht gute Hoffnung und sehe, wie billig, über Alles weg, was auf die Mittelzeiten der Bildung hindeutet. Die Hauptfrage ist, ob wir zu den Epochen unserer Zwecke gelangen können? Sie sollen darüber zur rechten Zeit meine aufrichtigen Gesinnungen vernehmen.

Leben Sie recht wohl und fahren fort, meiner mit Neigung zu gedenken.

Weimar, den 14. März 1803.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1803. An Friederike Unzelmann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6B64-F