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An Friedrich Heinrich Jacobi

Deine kostbare Gabe, theuerster alter Freund, hat mich in Jena ereilt, in dem Augenblick, da ich im Begriff war nach Carlsbad zu reisen, woher dir denn auch dieses zukommt. Leider hat mich Herr von Burgsdorf verfehlt, und ich ermangele also näherer Nachrichten von dir und deinem Befinden. Die übersandten Blätter sind mir von unendlichen Werth; denn da mir die sinnliche Anschauung durchaus unentbehrlich ist so werden mir vorzügliche Menschen durch ihre Handschrift auf eine magische weise vergegenwärtigt. Solche Documente ihres Daseyns sind mir, wo nicht eben so lieb, als ein Portrait, doch gewiß als ein wünschenswerthes Supplement oder Surrogat desselben. Sende mir daher was du kannst, und rege mehrere Freunde dazu an; wie leicht giebt jeder den Beytrag eines solchen Blattes, das sonst verloren ginge und dessen Werth derjenige vorzüglich zu schätzen weiß, dessen Denkart im Alter eine historische Wendung nimmt.

Dein Büchlein war mir willkommen, weil ich nach deiner Ankündigung daraus deine Überzeugung, die sich in früheren und späteren Tagen gleich geblieben, und zu eben der Zeit den eigentlichen statum controversiae so mancher philosophischen Streitigkeiten erfahren sollte, deren wunderlichen decurs ich, mit [6] mehr oder weniger Aufmerksamkeit, selbst erlebt hatte. Diesen Gewinn habe ich nun auch davon und soll dir dagegen der gebührende dank abgestattet seyn. ich würde jedoch die alte Reinheit und Aufrichtigkeit verletzten, wenn ich dir verschweige, daß mich das Büchlein ziemlich indisponirt hat. ich bin nun einmal einer der Ephesischen Goldschmiede, der sein ganzes Leben in Anschauen und Anstaunen und Verehrung des wunderwürdigen Tempels der Göttin und in Nachbildung ihrer geheimnisvollen Gestalten zugebracht hat, und dem es unmöglich eine angenehme Empfindung erregen kann, wenn irgend ein Apostel seinen Mitbürgern einen und noch dazu formlosen Gott aufdringen will. Hätte ich daher irgend eine ähnliche Schrift zum Preis der großen Artemis herauszugeben, (welches jedoch meine Sache nicht ist, weil ich zu denen gehöre, die selbst gern ruhig seyn mögen und auch das Volk nicht aufregen wollen,) so hätte auf der Rückseite des Titelblatts stehen müssen: »Man lernt nichts kennen, als was man liebt, und je tiefer und vollständiger die Kenntniß werden soll, desto stärker, kräftiger und lebendiger muß Liebe, ja Leidenschaft seyn.«

Du erlässest mir, wie billig, eine weitere Ausführung dieses Textes, denn da du deine Seite so gut kennst, so weißt du auch alles, was die anderen zu sagen haben.

Erlaube mir im dritten Theile meines biographischen [7] Versuchs deiner in allem Guten zu gedenken. Die Divergenz zwischen uns beyden war schon früh genug bemerklich, und wir können uns Glück wünschen, wenn die Hoffnung, sie, selbst bey zunehmender Auseinenderstreben, durch Neigung und Liebe immer wieder ausgeglichen zu sehen, nicht unerfüllt geblieben ist.

Lebe wohl, laß mich wieder etwas von dir vernehmen und fahre fort meine handschriftlichen Schätze zu vernehmen, die, seit jenem ausgesendeten gedruckten Verzeichniß, ansehnlich zugenommen haben.

Empfiehl mich den lieben Deinen und Herrn Generalsecretaire Schlichtegroll. Möge dir deine Reise geistig und leiblich zu Nutzen kommen.

Carlsbad den 10. May 1812.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1812. An Friedrich Heinrich Jacobi. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6B90-9