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An Carl Friedrich Zelter

Höchst erfreut hat mich deine Sendung vom 21. Juny, sie kam gerade zur rechter Zeit, als ich mich, nach einem zerstückelten Zustand von vierzehn Tagen, endlich wieder zusammen gefunden hatte; eigentlich war es nur Verkältung, bey dem heißen Wetter und scharfen Nordostwinde kaum abzuwenden. Nun geht es wieder gut, und ich treibe mein Wesen wieder fort, weiß aber nicht was zunächst aus mir werden wird.

[218] Uns ist ein Prinz geboren, dessen Taufe wir nun abzuwarten haben. Dann wollen mich die Ärzte in's Carlsbad, wozu ich keine Lust empfinde: denn mein gegenwärtiger Zustand, in welchem ich nach manchen Seiten hin thätig seyn kann, ist mir sehr erwünscht und meine heitere Wohnung möcht ich nicht gern verlassen. Da wiege ich mich denn in Unentschlossenheit, erwartend wo ich denn zuletzt durch eine überwiegende Nöthigung hingetrieben werde.

Deine Motette hat mich erfreut und betrübt; erfreut, insofern ich sie mit den Augen aufnehmen und einigermaßen genießen konnte, betrübt, weil ich die Hoffnung aufgeben muß sie zu hören. Denn ich habe nicht einmal Knebeln den Spaß machen können das Geburtstagslied vortragen zu lassen. Es sind unter den jungen Leuten hier recht hübsche Stimmen und Chorweise machen sie ihre Sachen auch gut. Was aber nicht nach Lützows wilder Jagd klingt, dafür hat kein Mensch keinen Sinn. Auch ist es, wie die Sachen stehen, nicht einmal räthlich sich näher an sie zu schließen. Drüber in Weimar ist es eben so schlimm. Molke singt nichts als seine eignen Lieder, so daß die Gesellschaft, zu deren Vergnügen man ihn einlädt, zuletzt davon laufen möchte.

Mir bleibt also nichts übrig, als mich für einen Somnambüle zu geben, der durch verwechselte Sinne zu seinen Vorstellungen gelangt.

Wäre es dir nicht unangenehm, so sendete ich eine[219] Abschrift von dieser Partitur an Thibaut nach Heidelberg, er ist, obgleich Juriste, von Hause aus eine weiche musikalische Natur, und hat, wie ich höre, auf solide Weise um sich her einen Kreis versammelt wo sie ältere Compositionen mit Liebe, Leben und Sorgfalt aufführen. Es ist ein Abglanz von euch heraufgeregt; ich weiß zwar nicht wie rein er leuchtet, aber verständige Menschen waren damit sehr zufrieden.

Von meinem Divan sind zehen Bogen gedruckt, von Kunst und Alterthum neune, von Morphologie vier. Wo nicht alles doch ein Theil muß dir Michaelis zu Handen kommen. Keine Gesellschaft giebts mehr, wenigstens nicht für mich, und da unterhalte ich mich dictando in der Gegenwart, hoffend es werde künftig in die Ferne wirken.

Überhaupt kommt es einem so wunderbar vor wenn man das Treiben der Menschen (ich will zum Beyspiel nur von der bildenden Kunst reden die mir am nächsten liegt) mit Ernst und Wohlwollen betrachtet. Die schönsten Talente fragen bey mir dringend an was sie thun sollen? und wenn ich's ihnen redlich mittheile, und sie, überzeugt, die ersten Schritte thun; so lassen sie sich vom absurdesten Wochentage gleich wieder in die gemeinste Pfuscherey hineinschleppen, und sind so wohlgemuth dabey, als wenn es gar nicht anders seyn könnte. Ich indessen bleibe auf meinen alten Reden und sie thun als wenn ich gar nichts gesagt hätte. Wenn ich nicht irre so habt ihr Meister [220] der Tonkunst dadurch einen grüßeren Vortheil, daß ihr gleich anfangs eure Schüler nöthigen könnt das anerkannte Gesetzliche anzunehmen. Wie willkürlich damit in der Folge freylich ein Individuum nach dem andern verfährt, will ich auch nicht untersuchen. Und so lege ich denn dieser Sendung einige Vor-Fragmente bey, wobey du wenigstens den Vortheil hast daß du Herrn Sickler nicht zu berufen brauchst um sie aufzurollen. Dieses alles schreibe ich dir unter einem bedeutenden Gewitter, welches, von Abend herüber, gerade auf meine Fenster strebt. Erst durch Stauberregung, dann durch allgemeinen Regenguß, der den ganzen Himmel einnimmt, mehr als durch Blitz und Donner merkwürdig. Dieß zu beobachten ist meine Zinne herrlich gelegen, ich weiß nicht wie ich diesen Überblick aufgeben will. Noch vieles wäre zu sagen, aber das Papier kanns nicht ertragen.

und so fort und für ewig

Jena d. 28. Jun. 1818.

G.


Morgenblatt 240. 1818.

Ein strenger Mann, von Stirne kraus,
Herr Doctor Müllner heißt er,
Wirft alles gleich zum Fenster hinaus,
Sogar den Wilhelm Meister.
Er ganz allein versteht es recht,
Daran ist gar kein Zweifel:
Denn geht es seinen Helden schlecht,
Ergiebt er sie dem Teufel.
[221]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1818. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6BA5-C