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An Christian Gottlob Voigt

Weimar, am 19. Dec. 1798.

Die Kantische Anthropologie folgt hier mit vielem Dank zurück der doppelt ist, da sich Ihre Frau Gemahlin dieses Genusses um meinetwillen bisher beraubt hat. Es ist ein Werk das besonders dem Pädagogen höchst willkommen seyn muß, wir mögen nun die Rolle gegen uns selbst oder gegen andere spielen; übrigens sollte man meo voto dasselbe nur im Frühjahr lesen, wenn die Bäume blühen, um von außen ein Gleichgewicht gegen das Untröstliche zu haben, das durch den größten Theil des Buches herrscht, ich habe es gelesen, indem Kinder um mich spielten, und da mag es auch noch hingehen, denn von der Vernunftshöhe herunter sieht das ganze Leben wie eine böse Krankheit und die Welt einem Tollhaus gleich.

Bey allem dem vortrefflichen, scharfsinnigen, köstlichen, worin unser alter Lehrer sich immer gleich bleibt, scheint es mir an vielen Stellen bornirt und an noch mehrern illiberal. Ein weißer Mann sollte das Wort Narr nicht so oft brauchen, besonders da ihm selbst der Hochmuth so lästig ist. Genie und [347] Talent sind ihm überall im Wege, die Poeten sind ihm zuwider, und von den übrigen Künsten versteht er Gott sei Dank nichts. In einzelnen Fällen ist er pedantisch wie z.B. daß er eine Vermischung des sanguinischen und cholerischen Temperaments nicht leiden will; freylich ist der Ausdruck Vermischung auch in meinem Sinne falsch, aber daß es eine Steigerung des sanguinischen Temperaments bis ins cholerische durch alle Stufen gebe, lehrt die Erfahrung. Ist denn doch die ganze Trennung in vier Temperamente nur künstlich und zur Bequemlichkeit des Beobachters.

Die Behauptung, daß junge Weiber deswegen allgemein zu gefallen suchen, um sich nach dem Tode ihres Mannes einen zweyten vorzubereiten, die er noch dazu einigemal wiederholt, ist eigentlich so ein Einfall, wie die schlechten Spaßvögel manchmal in Gesellschaft vorbringen, und geziemt sich nur für so einen alten Hagestolz. Die Schilderung der Nationen scheint mir für einen Mann, der so lange in der Welt gelebt, sehr seicht, und wie schon oben erinnert, das Ganze für eine Anthropologie nicht liberal und artig genug. Sobald ich den Menschen darstellen will, wie er ist, besonders wenn ich allen Augenblick gestehen muß, daß es ja nicht einmal von ihm abhängt anders zu seyn, daß der wünschenswerthe Vernunftszustand nur wenigen und denen nur im hohen Alter zu Theil wird, so dächte ich, müßte man die Sache freundlicher, einladender und erquickender geben.

[348] Ich kann von einmaligem und zwar sehr flüchtigem Lesen nicht aburtheilen, aber es scheint mir auf einige lobenswürdige Seiten der menschlichen Natur nicht genug Gewicht gelegt, wovon künftig mehr die Rede seyn kann.

Genug das, womit ich angefangen habe, glaube ich wiederholen zu können. Der Pädagog kann es nutzen, um sich über verschiedene menschliche Zustände Klarheit zu verschaffen, und indem er durch Liebe diese Kenntnisse belebt und wirksam macht, sehr großen Nutzen stiften.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1798. An Christian Gottlob Voigt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6BB1-0