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An Carl Friedrich von Reinhard

Sie sind recht lieb und gut, verehrter Freund, daß Sie mich mein Stillschweigen nicht entgelten lassen und mir die traurige Nachricht selbst überschreiben: denn was kann uns bey einem solchen Verluste besser trösten, als die Empfindung wie viel uns noch übrig bleibt.

Der Gewinn Ihrer Neigung und Freundschaft, der mir so spät geworden ist, bleibt mir um so unschätzbarer als eigentlich lange leben nichts heißt als andre überleben. Je länger das Leben dauert, desto mehr gehen die frühern Verhältnisse ins Enge und die neuern sind um desto höher zu achten, weil sie sich seltner fügen.

Unser abgeschiedner Freund war einer von den seltsamsten Individualitäten, die ich gekannt habe. Es würde schwer seyn, ihn als Mensch, als Talent, als Schriftsteller, Geschäfts- und Lebens Mann in einem Bilde darzustellen. Wer ihn nicht näher gekannt hat, wird sich nicht leicht einen Begriff von ihm machen können.

Es war ein Glück für ihn, daß er Ihnen noch zuletzt begegnete: denn er muß sich doch an seinem Platze sehr isolirt und peinlich befunden haben. Nehmen Sie auch Dank von mir, daß Sie ihm bis an sein Ende beygestanden.

Ich habe die Zeit Besuche aus Göttingen gehabt[357] und mich dabey nur allzu lebhaft erinnert, wie ich mir vor Ostern Hoffnung machte, Sie mit dem nunmehr abgeschriebenen Freund an den bedeutenden Orte zu sehen.

Kommen Sie je dahin, so lassen Sie sich doch den Hofrath Sartorius empfohlen seyn. Es ist ein sehr unterrichteter und schätzenswerther Mann, mit dem ich schon lange in den besten Verhältnissen stehe.

Wie wird es denn nun mit der Oberaufsicht über diese und andre academische Anstalten im Königreich Westphalen werden?

Seit einiger Zeit befinde ich mich in Jena, gleichsam auf dem Rande des Teiches Bethesa: denn meine Übel, die sich von Zeit zu Zeit melden, machen mir sehr wünschenswerth auch dieß Jahr auf einem friedlichen Zug nach Böhmen zu gelangen. Eine Dame von den unsern ist schon seit vier Wochen in Carlsbad, freylich ganz allein. Ich erwarte, nebst einigen Andern, Nachrichten von dorther, um einen endlichen Entschluß zu fassen.

Da ich nicht allein gegen Sie, sondern gegen mehrere Freunde seit geraumer Zeit ein briefliches Stillschweigen beobachte, das ich mir selbst nicht verzeihen würde, wenn man jetzt nicht oft abgehalten wäre sich mündlich zu äußern, und man schriftlich gar nicht weiß was von einem Posttag zum andern sagen soll: so habe ich mir ein andres Organ in die Ferne ausgedacht, nämlich einen Roman zu schreiben, der sich zwar nun um einen besondern Gegenstand herumdreht, [358] doch aber auf manches allgemeine menschliche Interesse hinzielt. Ich hoffe ihn noch dieses Jahr in Ihren Händen zu sehen und mich wenigstens auf diese Weise an Ihre Seite zu setzen, an Ihren Familienkreis anzuschließen.

Nehmen Sie beyliegendes Gedicht freundlich auf. Ich bin von dem Unter Rhein her dazu aufgefordert worden, und mochte mir gerade in meiner Einsamkeit die Naivetät dieser unschuldig guten Handlung gerne vergegenwärtigen.

Leben Sie recht wohl und gedenken mein! Gehe ich wirklich nach Carlsbad ab, so schreibe ich vorher noch ein Wort.

Jena den 9. Juni 1809.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1809. An Carl Friedrich von Reinhard. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6D73-C