[90] 19/5248a.

An Heinrich Steffens

[Concept.]

[Weimar, September oder Anfang October 1806.]

Eines der ersten Hefte, die mir bey meiner Rückreise aus Carlsbad durch den Buchhandel entgegenkamen, waren Ihre Grundzüge. Mit Hoffnung und zutrauen nahm ich es auf; aber ich muß gestehen daß mich das Lesen in einen bösen Humor versetze. Ob dieser Phänomen gegen Ihr Buch, oder gegen mein Befinden zeugt, will ich mir gern von der Zeit beantworten lassen. Ich würde ein so wunderliches Geständniß Ihnen nicht geradezu überschreiben, wenn nicht Ihre freundliche Sendung und Ihr zutraulicher Brief mir Offenheit zur Pflicht machte.

Bekenn' ich es aufrichtig! Anfangs wars mir ein peinlich Gefühl die ganze tausendfach bewegliche Erdennatur, von deren zwar partiellem, doch freyem Anschaun ich soeben zurückkehrte, an dem Kreuz der vier Weltgegenden zappeln zu sehen. Doch ist indessen die Empfindung viel gelinder geworden. Ich habe das [90] Werk in meiner Vorstellung von seinem dogmatischen Ernst einigermaßen entkleidet, und es als einen Halbscherz eines höchst geist- und wißreichen Mannes betrachtet, in welcher Ansicht es dann unschätzbar wird.

Nun scheint es sich bey mir auf diesem Wege immer mehr einzuschmeicheln und mich durch die Würde seiner Form, durch den Wehrt seines Gehaltes zu ernsthafteren Gesinnungen zu wollen, und wir wollen abwarten, inwiefern, indem ich mich mit Ihren individuellen Ansichten beschäftige, mein eignes Individuum sich nach und nach den Ihrigen sich anzubilden. . .

Dieser Conflict kann mir nicht anders als vortheilhaft seyn, und ich werde gern gestehen, wann und wie Ihr Genius den Sieg davon trägt.

Übrigens bleiben Sie überzeugt, daß ich an allem, was Sie lieben und leisten, wahren und lebhaften Antheil nehme und lassen mich Ihrem Andenken empfohlen seyn.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1806. An Heinrich Steffens. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6D7A-D