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An Carl Friedrich Zelter

Wenn man problematische Bilder wie das fragliche von Tizian verstehen und auslegen will, so hat man Folgendes zu bedenken: seit dem dreyzehnten Jahrhundert, wo man anfing den zwar noch immer respectablen, aber zuletzt doch ganz mumienhaft vertrockneten byzantinischen Stil zu verlassen und sich an die Natur zu wenden, war dem Maler nichts zu hoch und nichts [300] zu tief, was er nicht unmittelbar an der Wirklichkeit nachzubilden getrachtet hätte; ja die Forderung ging nach und nach so weit, daß die Gemälde, als eine Art von Mustercharte, alles dem Auge Erreichbare enthalten mußten. Eine solche Tafel sollte bis an den Rand bedeutend und ausführlich gefüllt seyn; hiebey blieb nun unvermeidlich, daß fremde, zum Hauptgegenstand nicht gehörige Figuren und sonstige Gegenstände als Beweis allgemeiner Kunstfertigkeit mit ausgeführt wurden. Zu Tizians Zeiten unterwarf sich der Maler noch gern solchen Forderungen.

Wenden wir uns nunmehr zum Bilde selbst! In einer offenen, mannichfaltigen Landschaft sehen wir zu unserer linken Hand, fast am Rande, nächst Felsen und Baum, das schönste nackte Mädchen liegen, bequem gelassen, impassible, wie auf dem einsamsten Polster. Schnitte man sie heraus, so hätte man schon ein vollkommenes Bild und verlangte nichts weiter; bey gegenwärtigem Meisterbilde aber sollte vorerst die Herrlichkeit des menschlichen Körpers in seiner äußerlichen Erscheinung dargethan werden. Ferner steht hinter ihr ein hohes enghalsiges Gefäß, wahrscheinlich des Metallglanzes willen; ein sanfter Rauch zieht aus ihm hervor. Sollte das vielleicht auch die Frömmigkeit dieser schönen Frau, auf ein stilles Gebet, oder worauf sonst deuten?

Denn daß hier eine höchst merkwürdige Person vorgestellt sey, werden wir bald gewahr. Rechts [301] gegenüber liegt ein Todtenkopf, und aus der Kluft daneben zeigt sich der Arm eines Menschen, noch von Fleisch und Muskeln nicht entblößt.

Wie das zusammenhänge, sehen wir bald; denn zwischen gedachten Exuvien und jenem Götterbilde krümmt sich ein kleiner beweglicher Drache, begierlich nach der anlockenden Beute schauend. Sollten wir nun aber, da sie selbst so ruhig liegt, und, wie durch einen Zauber, den Lindwurm abzuhalten scheint, für sie einigermaßen besorgt seyn; so stürmt aus der düstersten Gewitterwolke ein geharnischter Ritter auf einem abenteuerlichen feuerspeienden Löwen hervor, welche beide wohl bald dem Drachen den Garaus machen werden. Und so sehen wir also, obgleich auf eine etwas wunderbare Weise, St. Georg, der den Lindwurm bedroht, und die zu erlösende Dame vorgestellt.

Fragen wir nunmehr nach der Landschaft, so hat diese mit der Begebenheit gar nichts gemein; sie ist nur, nach oben ausgesprochenem Grundsatz, für sich so merkwürdig als möglich, und doch finden die beschriebenen Figuren in ihr glücklichen Raum.

Zwischen zwey felsigen Ufern, einem steileren stark bebuschten, einem flächeren, der Vegetation weniger unterworfenen, strömt ein Fluß erst rauschend, dann fast zu uns heran; das rechte steile Ufer ist von einer mächtigen Ruine gekrönt, gewaltige unförmliche Massen von überbliebenem Mauerwerk deuten auf[302] Macht und Kraft, die sich bey'm Erbauen erwiesen. Einzelne Säulen, ja eine Statue noch in einer Nische, deuten auf die Anmuth eines solchen königlichen Aufenthalts; die Gewalt der Zeit hat aber alle Menschen-Bemühungen unnütz und unbrauchbar gemacht.

Auf dem gegenüberliegenden Ufer werden wir auf neuere Zeiten gewiesen; da stehen mächtige Thürme, frisch errichtete oder völlig wiederhergestellte Vertheidigungsanstalten, neu wohlausgemauerte Schießscharten und Zacken; ganz hinten aber im Grunde verbindet die beiden Ufer eine Brücke, die uns an die Engelsbrücke, so wie der dahinterstehende Thurm an die Engelsburg erinnert. Bey der Wahrheits- und Wirklichkeitsliebe ward eine solche Ort- und Zeitverwechselung dem Künstler nicht angerechnet. Denke man aber ja nicht das Ganze ohne die genauste Congruenz, man könnte keine Linie verändern, ohne der Composition zu schaden.

Höchst merkwürdig preisen wir die vollkommen poetische Gewitterwolke, die den Retter heranbringt; doch läßt sich ohne Gegenwart des Blattes davon nicht ausführlich sprechen. An der einen Seite scheint sie sich von jener Ruine, gleich einem Drachenschwanz loszulösen, im Ganzen kann man aber mit allem Zoomorphismus keine eigentliche Gestalt herausdeuten; an der andern Seite entsteht zwischen Brücke und Festungswerken ein Brand, dessen Rauch still wallend bis zu dem feuerspeienden Rachen des Löwen hinaufsteigt [303] und mit ihm in Zusammenhang tritt. Genug, ab wir gleich diese Composition erst als collectiv ansprachen, so müssen wir sie zuletzt als völlig zur Einheit verschlungen betrachten und preisen.

eilig wie treulich

Weimar den 31. März 1822.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1822. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6E79-7