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An Carl Friedrich Zelter

Die wenigen poetischen Blätter, die ich bey mir habe, sehe ich auf deine Anregung durch, und finde nur beykommendes vielleicht zu euren Zwecken brauchbar. Es ward aus dem Stegreif meinem ältesten[357] Freund Knebel an seinem 73. Geburtstag übergeben. Wohl der Gesellschaft, die es zu gewissen Epochen gleichfalls anstimmen mag!

Die musikalische Bewegung erinnert an das belobte: Lasset heut im edlen Kreise pp. Den Charakter wirst du jedoch ganz anders finden, und nach bestem Wissen und Gewissen die Ausführung leisten.

Bey dem Narrenlärm unserer Tagesblätter geht es mir wie einem der in der Mühle einschlafen lernt, ich höre und weiß nichts davon.

Mit meinem Besuch bey euch sieht es windig aus. Sie haben mir bedenkliche Geschäfte aufgeladen, wo man wenigstens das erste halbe Jahr mit Sinn und Geist gegenwärtig seyn muß, und dann ist mein Winter von der Art, daß ich dieses Frühjahr ein Bad nicht versäumen darf. Dem sey nun wie ihm wolle, wir müssen es gewähren lassen, ich habe die letzte Zeit immer etwas anders gethan als ich mir vorsetzte.

Meine Kinder schreiben mir, das Eingemachte sey glücklich angekommen, mir haben sie noch nichts davon geschickt. Sodann will ich dir sagen daß mich deine Reise recht sehr gefreut hat, besieh dir ja die weite Welt gelegentlich, so lange sie dir Spaß macht. Ich habe mir die ästhetische Ansicht derselben (die landschaftliche) durch die wissenschaftliche ganz verdorben, und dabey kommt endlich auch nicht viel heraus.

Und hiemit lebe zum schönsten wohl!

Jena den 31. December 1817.

G.


[358] Da unsere Correspondenz ohnehin nur ruckweise gehen kann, so will ich, weil die Schleuse einmal gezogen, noch eins und das andere nachsenden.

Also zuerst auf deine Anfrage wegen LeonardsAbendmahl. Von diesem unschätzbaren Werk, der ersten completten malerischen Fuge, die alle vorhergehenden übertrifft und vor keiner nachfolgenden zurücktreten darf, ist an Ort und Stelle nur noch der Schimmer geblieben, wie ohngefähr die Figuren gegen einander gestanden haben.

Daß wir aber noch zu einem gewissen Begriff davon gelangen können, dazu helfen uns mehrere Copien, wovon ich nur drey anführen und charakterisiren kann.


1500 – 1512.

Zu Castellazzo, in dem Speisesaale eines aufgehobenen Klosters von Marco d'Oggionno, etwas kleiner als Leben, höchst charakteristisch, nach Leonards Lehren und Beyspiel schmeckend.


1565.

Zu Ponte Capriasca, schwächer als die vorige, aber in demselben Sinn, höchst nützlich bey der Vergleichung.


1612 – 1616.

Auf der Ambrosianischen Bibliothek zu Mayland, die Figuren bis auf die Tafel, gemalt von Andrea[359] Bianchi genannt Vespino, Figuren in Lebensgröße wie das Original, brav und tüchtig, wirksam, aber keine Spur mehr von Leonard. Die Physiognomien gehen schon in's Allgemeine, in's Leere, wie man sie in Zeichenbüchern antrifft.

Nach diesen drey Copien ist die Zeichnung zu Morghens Kupferstich redigirt sowohl als Bossi's Carton und Gemälde in wirklicher Größe, wonach zu Mayland eine ungeheuere Mosaik, auf Befehl des Vicekönigs, gefertigt wurde.

Genaue Durchzeichnung mit Rothstein auf Transparent-Papier, scharfe Umrisse ausführlich schattirt, habe ich vor mir liegen, zum größten Gewinn und Vergnügen, da doch alles Urtheil auf Vergleichen ruht.

Soviel aber kann ich dir zum Troste sagen, daß bey Morghens Kupfer die alte ächte Copie von Castellazzo mit sorgfältiger Gewissenhaftigkeit durchgängig zu Rathe gezogen worden, so daß uns also noch mehr übrig geblieben ist, als wir denken.

Bis du nun meine Redensarten darüber umständlich erfährst, wie es wohl durch mein Heftlein Kunst undAlterthum zu Ostern geschehen kann, so suche eiligst auf die Heidelbeger Jahrbücher December 1816, wo Müller in Rom, sonst Mahler Müller genannt, einen sinnigen Auszug aus Bossi's Werk, mit einsichtigen Noten geliefert hat, daraus du dir schon viel abnehmen wirst. Die Lücken die er läßt fülle ich aus.

[360] Sobald dir das Kupfer wieder zu Gesicht kommt, so wende deine Contrapunctsgesetze darauf an, und du wirst viel Freude haben.


Lustrum ist ein fremdes Wort!
Aber wenn wir sagen:
Lustra haben wir am Ort
Acht bis neun ertragen,
Und genossen und gelebt
Und geliebt bisweilen;
Wird, wer nach dem Gleichen strebt,
Heute mit uns theilen
Wenn wir sagen: das ist viel!
Denn das Leben streuet
Blum und Dorne! – Ziel ist Ziel!
Das uns heute freuet.
dem 30. November 1817.

G.


Von dem Nachlasse des Capellmeister Müllers erfährst du nächstens.
Addressire deine Briefe nur immer nach Weimar.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1817. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6FB3-A