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An Johann Christian Kestner

[Frankfurt, 15. September 1773.]

Heut Abend des 15. September erhalt ich euern Brief, und habe mir eine Feder geschnitten um recht viel zu schreiben. Dass meine Geister biss zu Lotten reichen hoff ich. Wenn sie auch die Taschengelder ihrer Empfindung, daran der Mann keine Prätension hat, nicht an mich wenden wollte, der ich sie so liebe. Neulich hatte ich viel Angst in einem Traum über sie. Die Gefahr war so dringend, meine Anschläge all keine Aussicht. Wir waren bewacht, und ich hoffte alles, wenn ich den Fürsten sprechen könnte. Ich stand am Fenster, und überlegte hinunter zu springen, es war zwey Stock hoch, ein Bein brichst du, dacht ich, da kannst du dich wieder gefangen geben. Ja dacht ich, wenn nur ein guter Freund vorbey ging, so spräng ich hinunter und bräch ich ein Bein, so müsst mich der auf den Schultern zum Fürsten tragen. Siehst du alles erinnr ich mich noch, biss auf den bunten Teppich des Tisches an dem sie sas und Filet machte, und ihr strohern Kistgen bey sich stehen hatte. Ihre Hand habe ich tausendmal geküsst. Ihre Hand wars selbst! die Hand! So lebhafft ist mirs noch, und sieh wie ich mich noch immer mit Träumen schleppe.

Meine Schwester ist mit Schlossern vor wie nach. Er sitzt noch in Carlsruh wo man ihn herumzieht,[103] Gott weis wie. Ich verstehs nicht. Meine Schwester ist ietzt in Darmstadt bey ihren Freunden. Ich verliere viel an ihr, sie versteht und trägt meine Grillen.

Ich lieber Mann, lasse meinen Vater iezt ganz gewähren, der mich täglich mehr in Stadt Civil Verhältnisse einzuspinnen sucht, und ich lasse es geschehn. So lang meine Kraft noch in mir ist! Ein Riss! und all die Siebenfache Bastseile sind entzwey. Ich binn auch viel gelassner und sehe dass man überall den Menschen, überall groses und kleines schönes und hässliches finden kann. Auch arbeit ich sonst brav fort. und dencke den Winter allerley zu fördern. Dem alten Amtmann hab ich einen Götz geschickt der viel Freude dran gehabt hat, es ist auch gleich (wahrscheinlich durch Brandts) weiter kommen, und der Kammer Richter und v. Folz habens begehrt; das schreibt mir Hans mit dem ich viel Correspondenz pflege. Aber alles das lieber Kestner vergess ich dir zu sagen, dass drunten im Visitenzimmer, diesen Augenblick sitzt – die liebe Fr. Grostante Lange von Wetzlar mit der so teuren ältsten Jfr. Nichte. Die haben nun schon in ihrem Leben mehr, um Lottens Willen, gesessen wo ich sie nicht hohlte, mögen sie auch diesmal sich behelfen. Hanngen ist nicht mit da. Sie haben viel Liebs und Guts von meiner Lotte geredet! Dancks ihnen der Teufel. – Meiner Lotte! Das schrieb ich so recht in Gedancken. Und doch ist sie gewissermassen mein. Hierinn Geht mirs wie andern ehrlichen [104] Leuten, ich bin gescheut – biss auf diesen Punct. Also nichts mehr davon.

Und zum Merkur um uns abzukühlen. Ich weiß nicht ob Wiel.[ands] Grossprecherey dem Zeug mehr Schaden tuht, oder das Zeug der Großsprecherey. Das ist ein Wind und Gewäsch dass eine Schand ist. Man ist durchgängig unzufrieden gewesen, der zweyte Teil ist was besser.

Der Hans und die Hänsgen. Wieland und die Jackerls haben sich eben prostituirt! Glück zu! Für mich haben sie ohnedem nicht geschrieben. Fahr hin. Des Cammerrath Jakobis Frau war hier, eine recht liebe brave Frau, ich habe recht wohl mit ihr leben können, binn allen Erklärungen ausgewichen, und habe getahn als hätte sie weder Mann noch Schwager. Sie würde gesucht haben uns zu vergleichen, und ich mag ihre Freundschafft nicht. Sie sollen mich zwingen sie zu achten wie ich sie iezt verachte, und dann will und muss ich sie lieben.

Heut früh hab ich von Falcken einen Brief kriegt, mit den ersten Bogen des Musen Almanach. Du wirst auf der 15. S. den Wandrer antreffen den ich Lotten ans Herz binde. Er ist in meinen Garten, an einem der besten Tage gemacht. Lotte ganz im Herzen und in einer ruhigen Genüglichkeit all eure künftige Glückseeligkeit vor meiner Seele. De wirst, wenn dus recht ansiehst mehr Individualität in dem Dinge finden als es scheinen sollte, du wirst unter [105] der Allegorie Lotten und mich, und was ich so hunderttausendmal bey ihr gefühlt erkennen. Aber verraths keinem Menschen. Darob solls euch aber heilig seyn, und ich hab euch immer bey mir wenn ich was schreibe. Jezt arbeit ich einen Roman, es geht aber langsam. Und ein Drama fürs Aufführen damit die Kerls sehn dass nur an mir liegt Regeln zu beobachten und Sittlichkeit Empfindsamkeit darzustellen. Adieu. Noch ein Wort im Vertrauen als Schriftsteller, meine Ideale wachsen täglich aus an Schönheit und Grösse, und wenn mich meine Lebhafftigkeit nicht verlässt und meine Liebe, so solls noch viel geben für meine Lieben, und das Publikum nimmt auch sein Teil.

Und so gute Nacht liebe Lotte. Im Couvert sind Verse die wollt ich zu einem Portrait von mir an Lotten legen, da es aber nicht gerathen ist so hat sie inzwischen das. Biss auf weiteres.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1773. An Johann Christian Kestner. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6FD7-9