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An Carl Friedrich Zelter

Von dem unschätzbaren Niebuhr erhielt ich, vor ungefähr drey Wochen, einen schönen Brief zu Begleitung seines zweyten Theils der römischen Geschichte; er war geschrieben in dem vollen Vertrauen, daß ich ihn kenne, daß ich sein Verdienst anerkenne. Das wichtige Buch traf mich gerade zu guter Stunde, wo ich auf alle Zeitungen Verzicht gethan hatte. Ich begab mich daher sehr gern wieder in jene alten Zeiten und las mich in das Werk anhaltend hinein, welches denn freylich nöthig ist, um von einer solchen Existenz wirklich umfangen zu werden.

Eigentlich ist es nicht mein Bestreben, in den düstern Regionen der Geschichte bis auf einen gewissen Grad deutlicher und klarer zu sehen; aber um des Mannes willen, nachdem ich sein Verfahren, seine[86] Absichten, seine Studien erkannte, wurden seine Interessen auch die meinigen. Niebuhr war es eigentlich und nicht die römische Geschichte, was mich beschäftigte. So eines Mannes tiefer Sinn und emsige Weise ist eigentlich das, was uns auferbaut. Die sämmtlichen Ackergesetze gehen mich eigentlich gar nichts an, aber die Art, wie er sie aufklärt, wie er mir die complicirten Verhältnisse deutlich macht, das ist's, was mich fördert, was mir die Pflicht auferlegt, in denen Geschäften, die ich übernehme, auf gleiche gewissenhafte Weise zu handeln.

Er erscheint von jeher als ein Skeptiker eigener Art, nicht von der Sorte, die aus Widersprechungsgeist verfahren, sondern als ein Mann, der einen ganz besondern Sinn hat, das Falsche zu entdecken, da ihm das Wahre selbst noch nicht bekannt ist.

Auf diese Weise leb ich nun beynahe einen Monat mit ihm als einem Lebenden. Ich habe das wirklich furchtbar anzuschauende Werk durchgelesen und mich durch das Labyrinth von Seyn und Nicht-Seyn, von Legenden und Überlieferungen, von Mährchen und Zeugnissen, von Gesetzen und Revolutionen, von Staatsämter und deren Metamorphosen und von tausend andern Gegensätzen und Widersprüchen durchgeschlungen, und hatte mich wirklich bereitet, ihm eine freundliche Erwiderung zu senden, die er von keinem nahen oder fernen Collegen, von keinem Einsichtigen irgend einer Classe zu erwarten hatte.

[87] Denn so wie ich um seinetwillen sein Buch las und studirte, so konnt ich auch am besten sagen und ausdrucken, was er mir geleistet wollte; denn mir genügte, was er bejahte, da die Herren vom Fach, nach ihrer Art, nothwendig wieder da anfangen zu zweifeln, wo er abgeschlossen zu haben dachte.

Dieses unerwartete Fehlgeschick ist mir bey dem Übrigen, was mich betrifft und bedrängt, höchst widerwärtig; ich wüßte nun keine liebe leidige Seele, mit der ich darüber conferiren möchte. Alle gemachte Leute haben ihr eigenes Wesen und sehen dieselbigen Dinge wenigstens als anders verbunden und verknüpft an; die liebe Jugend tastet und tappt umher und möchte wohl auch auf ihre eigene Weise finden, was recht ist; der Wille ist gut, aber das Vermögen reicht nicht aus; zu meinen eigenen Überzeugungen find ich keine Gesellen, wie sollte ich zu fremden Gedanken Einstimmung hoffen können. Indiesem Zustande muß es mich trösten, mich, den Volkskern und Sabinern, dem Senat, Volk und Plebes jemals ausgesehen, doch dabey ein höchst bedeutendes, allgemein Menschliches zu sicherer Auferbauung gewonnen zu haben, worin das Andenken des würdigsten Mannes auf's innigste verschlungen ist.

Am wenigsten würde dich der wichtigste Theil des Werks, von den Ackermessungen handelnd, interessiren [88] können, da du mit sämmtlichen Musikern Gott zu danken hast, durch eine gleichwebende, dort nie zu erreichende Temperatur auf deinem Acker zu ruhiger wirthschaftlicher Benutzung gekommen zu seyn.

uns so fort an!

Weimar den 17. Januar 1831.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1831. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-702D-2