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An Sulpiz Boisserée

Weimar den 12. December 1823.

Ihr liebevolles Schreiben, mein Bester, gelangte zu mir gestern Abends, und ich beginne den heutigen Tag mit eiliger Erwiderung.

Um ein achtmonatliches Stillschweigen, wo nicht zu entschuldigen, doch einigermaßen begreiflich zu machen, thu ich am besten, wenn ich historisch verfahre. Aller Fleiß während unseres dießjährigen Frühjahrs reichte kaum hin, Ende Juni ein Heft Kunst und Alterthum und eins Morphologie zu vollenden; Juli, August und einen Theil des Septembers bracht ich in Böhmen zu, theils meinen alter Gebirgsforschungen ergeben, theils in heiterer Gesellschaft mich erquickend; sogar die Poesie ging nicht leer aus, mir selbst und theilnehmenden Freunden zum Vergnügen. In Eger blieb ich bis Hälfte Septembers, von dort schrieb ich mehrere Briefe an die zerstreuten Freunde. Sie auch standen auf der Liste; wie es aber bey'm Abschluß einer solchen auswärtigen Existenz zu gehen pflegt, man findet sich denn doch zuletzt überrascht, wenn der Reisewagen vor der Thüre hält.

[276] Kaum zu Hause angelangt, besuchte mich Staatsrath Schultz von Berlin; ein Mann, der vor vielen seiner Namensvettern Aufmerksamkeit, Anhänglichkeit, Zutrauen und Hochachtung verdient.

Zu gleicher Zeit langte Graf Reinhard mit Familie bey uns an, sein Geburtsfest ward fröhlich und anständig gefeyert; und wie es sonst zusammen gut und heiter gewesen, haben Sie selbst von ihm vernommen.

Eine unvergleichliche Pianospielerin, Madame Szymanowska, deren anmuthige Gegenwart und unschätzbares Talent mir schon in Marienbad höchst erfreulich gewesen, kam gleich nach ihnen, und mein Haus war 14 Tage der Sammelplatz aller Musikfreunde, angelockt durch hohe Kunst und liebenswürdige Natur. Hof und Stadt, durch sie aufgeregt, lebte so fortan in Tönen und Freuden.

Unmittelbar nach ihr besuchte mich Herr Staatsminister von Humboldt, einer der echten alten Freunde aus der Schillerschen Zeit; hier war das Vergangene leicht gefunden, angeknüpft und bis an die neusten Tage herangesponnen.

Seine Stelle war sodann unmittelbar wieder besetzt durch Professor Zelter, der vom Rheine kam; da denn wieder eine neue Art von vertraulicher Mittheilung begann und bis auf den heutigen Tag fortgesetzt wird.

Dieses alles klingt nun recht schön und gut, wenn[277] es nur auch so glatt abgegangen wäre; allein ich ward am 1. November durch äußeren Anlaß von einer solchen Erkältung angegriffen, daß die schlimmsten Folgen daraus entstanden, vorzüglich weil ich sie anfangs ohne ernste gegenwirkende Cur vernachlässigte; indem der mit meiner Natur wohlbekannte Hausarzt zu gleicher Zeit gefährlich krank ward. Indessen nahm ein Krampfhusten dergestalt überhand, daß ich vierzehn Nächte auf dem Sessel zubringen mußte, in einem Zustande, der den Unterschied zwischen Tagen und Nächten aufhebt und sich zu der, an meinen Seiten sich immerfort bewegenden Geselligkeit gar seltsam verhielt. Wohlthätig war es jedoch, daß dieses äußere so heftige Übel nicht in mein Inneres drang und mein eigentliches Ich wie ein ruhiger Kern in einer stachlichem Schale für sich lebendig wirksam blieb. Dadurch ward es möglich, daß ich den Freunden doch einigermaßen theilnehmend erscheinen konnte, auch ein Heft Kunst und Alterthum durch einige Einwirkung und Andeutung zu Stande kam, auch ein morphologisches gefördert wurde. Nun rück ich, durch fleißiges Baden von allem Krampfhaften nach und nach befreyt, einem thätigern Leben wieder zu, verfahre jedoch nur schrittweise, denn offenbar hatte mir eine zu lebhafte Anstrengung nach meiner Rückkehr aus dem Bade, wo ich mich hätte ruhiger verhalten sollen, geschadet und äußeren Zufälligkeiten die Hand gereicht.

[278] Lassen Sie mich nun von Ihren fortgesetzten glücklichen Thätigkeiten sprechen! Mit Freuden erwart ich die angekündigte Sendung, und ob ich mich gleich gegenwärtig zu einem Auszug aus Ihrem schönen Aufsatze keineswegs geeignet finde, so werd ich doch niemals aufhören im Einklang mit Ihren Bemühungen und Zwecken zu verfahren. Es kommt jetzt viel darauf an, das Publicum immerfort an Ihre Vorsätze, sowie an Ihre Leistungen zu erinnern. Wie ich dieß im vorigen Hefte Kunst, und Alterthum zu bewirken gesucht, ist Ihnen bekannt geworden; im gegenwärtigen laß ich jenen frühern enthusiastisch geschriebenen Bogen von 1772 wieder abdrucken, wo man denn die ersten Cotyledonen des seit so vielen Jahren immerfort wachsenden und sich gränzenlos ausbreitenden Baumes nicht ohne Verwunderung betrachten wird.

Zugleich bring ich die Schicksale des Schlosses Marienburg zur Sprache um von der Gegenseite das Pfaffthum im Ritterthum abzuspiegeln; beides gehört zusammen und parallelesirt sich auch gar wundersam in Gebäuden. Und so werd ich fortfahren, Ihr Interesse zum stehenden Artikel meiner Hefte zu machen. Durch die ausführlichen günstigen Recensionen der Franzosen gewinnt die Angelegenheit einen Raum nach dem andern, und ich wiederhole: es ist wirklich jetzo mehr zu thun, das Publicum immer zu erinnern und anzuregen, als zu belehren, wovon es, eh' man sich versieht, müde zu werden pflegt.

[279] Daß Sie das schwer zu hebende Irrsal, welches, aus Einmischung des Indischen, durch's Maurische in unser nordliches Beginnen so ungelegen entspringt, zu beseitigen suchen, thun Sie sehr wohl; vielleicht können Sie durch eine gelungene Trennung und Sonderung die begriffslustigen Franzosen eher als andere Nationen bekehren.

Daß meine früheren Arbeiten nun endlich auch in das Strudelgetriebe der französischen Literatur aufgenommen worden, macht mir wenig Freude, es bleibt allen diesen Dingen kaum etwas mehr als mein Name. Sie sagen mir manches Neue und sprechen sich so gut darüber aus, daß ich weiter nichts zu äußern wüßte; das Beste, was bey allem diesem Getreibe herausgekommen, ist der Abdruck des echten Diderotischen Dialogs, le Neveu de Rameau, bey Brière. Lesen Sie es ja gleich, wenn es noch nicht geschehen wäre; was man mich als Vorredner sagen läßt, darf ich allenfalls anerkennen, es ist wenigstens ganz in meinem Sinne geschrieben.

Den Herren v. Humboldt und Raoul v. Rochette empfehlen Sie mich zum schönsten; letzterem danken Sie höflichst für seine Sendung und erbitten Verzeihung, wenn mir einstweilen jede Erwiderung unmöglich wird. Die letzteren unseligen sechs Wochen haben mich so zurückgebracht, daß ich nicht weiß, wie ich dem Allernothwendigsten nur die Spitze bieten soll.

[280] Nun bedenken Sie noch zum Schluß das Hauptgeschäft, das mir in hohen Jahren obliegt, meinen literarischen Nachlaß zu sichern und eine vollständige Ausgabe meiner Werke wenigstens einzuleiten! Es würde mir dieß ganz unmöglich seyn, wenn sich nicht hübsche junge Leute zu mir gesellten, die sich an mir heraufgebildet haben, mich völlig verstehen, meine Absichten durchdringen und sich anschicken, an meiner Statt auf Stoff und Gehalt, der noch so reichlich daliegt, verständig-geistreich zu wirken. Auch hierin ward bey meinen letzten Übeln ununterbrochen fortgefahren.

Übergehen darf ich hiebey nicht, daß gerade die heftigen Gegenwirkungen mißwollender Menschen, durch Parteigeist aufgeregt und begünstigt, die mir angehörigen Geister erweckt und zum Widerstreben ermuntert haben, indessen ich keine Zeit verliere, theils neuen Erwerb zu gewinnen, theils das Erworbene zu gestalten. Dabey freu ich mich täglich, daß ich früher nichts versäumte, mich fest zu gründen und immer den Tag aufgab, um Jahre zu gewinnen.

Unter denen, die sich thätig an meiner Seite erhalten, ist Hofrath Meyer vorzüglich zu nennen. Seine griechische Kunstgeschichte, von den ältesten Zeiten bis auf Alexander, ist ein unschätzbares Werk für jeden, der mit sich selbst und dem Gegenstand einig werden will. Unsere lieben deutschen Blättler werden es bald um- und umgeschrieben und, was schlimmer[281] ist, in Phrasen verzettelt haben; indessen bleibt es denn doch auf den Repositorien stehen, und jeder Frische kann in der Folgezeit wieder frisch darnach greifen.

Riemer ist zwar sehr beschäftigt, aber er läßt nicht nach, mir bedeutend folgereich beyzustehn; indem er bey'm Druck der Hefte die Revision des Manuskripts und des Preßbogens übernimmt, Rechtschreibung, Interpunction und, was mehr ist, Klarheit und Übereinstimmung des Ausdrucks wird hiedurch gesichert.

Hiebey darf ich nun wohl kaum sagen, daß sowohl überhaupt als besonders im gegenwärtigen reconvalescirenden Augenblick dieß alles fast zu schwer werden will, und daß ich mich geistig recht strack halten muß, um nicht zu weichen und zu wanken. Damit nun die gute Natur vollkommen aufgerichtet und gekräftigt werde, so stehen auch Sie mir bey mit freundlichem Willen und Wollen, mit gutem Sinn und treuer Neigung, damit, was dem Menschen einzeln zu erreichen unmöglich ist, wir, wie bisher, in redlich thätigem Bezug, wenn auch nur aus der Ferne, wechselwirkend leisten und vollenden mögen.

treu anhänglich

Weimar den 13. December 1823.

Goethe. [282]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1823. An Sulpiz Boisserée. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-71A6-6