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An Carl Friedrich Zelter

Dein Brief, mein geliebter Freund, der mir das große Unheil meldet, welches deinem Hause widerfahren, hat mich sehr gedrückt, ja gebeugt, denn er traf mich in sehr ernsten Betrachtungen über das Leben, und ich habe mich nur an dir selbst wieder aufgerichtet. Du hast dich auf dem schwarzen Probirsteine des Todes als ein ächtes, geläutertes Gold aufgestrichen. Wie herrlich ist ein Charakter, wenn er so von Geist und Seele durchdrungen ist, und wie schön muß ein Talent seyn, das auf einem solchen Grunde ruht!

Über die That oder Unthat selbst weiß ich nichts zu sagen. Wenn das taedium vitae den Menschen ergreift, so ist er nur zu bedauern, nicht zu schelten. Daß alle Symptome dieser wunderlichen, so natürlichen als unnatürlichen Krankheit auch einmal mein[185] Innerstes durchrast haben, daran läßt Werther wohl niemand zweifeln. Ich weiß recht gut, was es mich für Entschlüsse und Anstrengungen kostete, damals den Wellen des Todes zu entkommen, sowie ich mich aus manchen spätern Schiffbruch auch mühsam rettete und mühselig erholte. Und so sind nun alle die Schiffer- und Fischergeschichten. Man gewinnt nach dem nächtlichen Sturm das Ufer wieder, der Durchnetzte trocknet sich, und den andern Morgen, wenn die herrliche Sonne auf den glänzenden Wogen abermals hervortritt, hat das Meer schon wieder Appetit zu Feigen.

Wenn man sieht, wie die Welt überhaupt und besonders die junge, nicht allein ihren Lüsten und Leidenschaften hingegeben ist, sondern wie zugleich das Höhere und Bessere an ihnen durch die ernsten Thorheiten der Zeit verschoben und verfratzt wird, so daß ihnen alles, was zur Seligkeit führen sollte, zur Verdammniß wird, unsäglichen äußern Drang nicht gerechnet, so wundert man sich nicht über Unthaten, durch welche der Mensch gegen sich selbst und andere wüthet. Ich getraute mir, einen neuen Werther zu schreiben, über den dem Volke die Haare noch mehr zu Berge stehn sollte als über den ersten. Laß mich noch eine Bemerkung hinzufügen. Die meisten jungen Leute, die ein Verdienst in sich fühlen, fordern mehr von sich als billig. Dazu werden sie aber durch die gigantische Umgebung gedrängt und genöthigt. Ich[186] kenne deren ein halb Dutzend, die gewiß auch zu Grunde gehn und denen nicht zu helfen wäre, selbst wenn man sie über ihren wahren Vortheil aufklären könnte. Niemand bedenkt leicht, daß uns Vernunft und ein tapferes Wollen gegeben sind, damit wir uns nicht allein vom Bösen, sondern auch vom Übermaaß des Guten zurückhalten.

Laß uns nun übergehn zu den andern Wohlthaten deiner Briefe, und ich danke dir zuvörderst für die Betrachtungen über meine biographischen Blätter. Ich hatte darüber schon manches Gute und Freundliche im Allgemeinen erfahren, du bist der erste und einzige, der in der Sache selbst eingeht. Ich freue mich, daß die Schilderung meines Vaters eine gute Wirkung auf dich hervorgebracht. Ich will nicht leugnen, daß ich die deutsche Hausväter, diese Lorenz Starke, und wie sie heißen mögen, herzlich müde bin, die in humoristischer Trübe ihrem Philisterwesen freyes Spiel lassen, und den Wünschen ihrer Gutmüthigkeit unsicher in den Weg treten, sie und das Glück um sich her zerstören. In den folgenden zwey Bänden bildet sich die Gestalt des Vaters noch völlig aus; und wäre sowohl von seiner Seite als von der Seite des Sohns ein Gran von Bewußtseyn in dies schätzbare Familienverhältniß getreten, so wäre beyden vieles erspart worden. Das sollte aber nur nicht seyn und scheint überhaupt nicht für diese Welt zu gehören. Der beste Reiseplan wird durch einen albernen Zufall [187] gestört und man geht nie weiter, als wenn man nicht weiß, wohin man geht.

Habe ja die Güte, deine Betrachtungen fortzusetzen: denn da ich, den Forderungen der Darstellung gemäß, langsam gehe und gar manches in Petto behalte, (worüber denn schon manche Leser ungeduldig werden, welchen es wohl ganz recht wäre, wenn man ihnen die Mahlzeit von Anfang bis zu Ende, wohl gesotten und gebraten, in einer Session vortrüge, damit sie solche auch geschwind auf den Nachtstuhl trügen und sich morgen in einer andern Restaurationsstube oder Garküche, besser oder schlechter, wie es das Glück träfe, bewirthen ließen) da ich also, wie es gesagt, hinter dem Berge halte, um mit meinen Landsknechten und Reutern zur rechten Zeit hervorzurücken, so ist es mir doch höchst interessant, zu vernehmen, was du als ein erfahrner Feldzeugmeister, dem Vortrabe schon abmerkst.

Recensionen dieses Werkleins habe ich noch nicht gelesen, das will ich auf einmal thun, wenn die zwey nächsten Bände gedruckt sind. Seit so vielen Jahren kann ich schon bemerken, daß diejenigen, die öffentlich über mich reden sollen und wollen, sie mögen nun guten oder bösen Willen haben, sich in einer peinlichen Lage zu befinden scheinen, und mir ist wenigstens kaum ein Recensent zu Gesicht gekommen, der nicht an irgend einer Stelle die famose Miene Vespasians angenommen und eine faciem duram gewiesen hätte.

[188] Könnten Sie mich einmal unversehens durch den Rinaldo erfreuen, so wäre es eine große Sache. Ich habe mit der Musik keinen Zusammenhang als durch Sie, deswegen Ihnen auch für den Invocavit und die drey Könige herzlicher Dank gesagt sey, ob ich gleich nur noch mit den Augen genossen habe.

Wir leben hier, mit einem ganz disproportionirten Aufwande auf Musik, doch eigentlich ganz sang- und klanglos. Die Oper, mit ihren alten Inventarien-Stücken und denen für ein kleines Theater zugestutzen und langsam genug producirten Neuigkeiten, kann Niemanden entschädigen. Indessen freut mich's, daß Hof und Stadt sich weiß machen, es sey eine Art von Genuß vorhanden. Der Bewohner einer großen Stadt ist von dieser Seite glücklich zu preisen: denn dorthin zieht sich doch so manches bedeutende Fremde. Madame Milder hätte ich wohl hören mögen.

Auf Alfieri haben Sie einen Kernschuß gethan. Er ist merkwürdiger als genießbar. Seine Stücke erklären sich durch sein Leben. Er peinigt Leser und Hörer, wie er sich als Autor peinigte. Seine Natur war vollkommen gräflich, d.h. stockaristokratisch. Er haßte die Tyrannen, weil er sich selbst eine Tyrannen-Ader fühlte, und das Schicksal hatte ihm eine recht gebührende Tribulation zugedacht, als es ihn durch die Hände der Sansculotten noch leidlich genug bestrafte. Eben diese seine innere Adels- und Hofnatur tritt zum Schlusse recht lustig hervor, da er sich selbst [189] für seine Verdienste nicht besser zu belohnen weiß, als daß er sich einen Orden verfertigen läßt. Konnte er deutlicher zeigen, wie eingefleischt ihm jene Formen waren?

Eben so muß ich einstimmen in das, was Sie von Rousseau's Pygmalion sagen. Diese Production gehört allerdings zu den monstrosen und ist höchst merkwürdig als Symptom der Hauptkrankheit jener Zeit, wo Staat und Sitte, Kunst und Talent mit einem namenlosen Wesen, das man aber Natur nannte, in einem Brey gerührt werden sollte, ja gerührt und gequirlt ward. Diese Operation soll, hoff ich, mein Nächster Band zum Anschauen bringen: denn ward ich nicht auch von dieser Epidemie ergriffen, und war sie nicht wohlthätig schuld an der Entwickelung meines Wesens, die mir jetzt auf keine andre Weise denkbar ist?

Nun muß ich noch Ihre Anfrage wegen der ersten Walpurgisnacht erwidern. Es verhält sich nämlich folgendermaßen. Unter den Geschichtforschern giebt es welche, und es sind Männer, denen man seine Achtung nicht versagen kann, die zur jeder Fabel, jeder Tradition, sie sey so phantastisch, so absurd als sie wolle, einen realen Grund suchen, und unter der Mährchenhülle jederzeit einen factischen Kern zu finden glauben.

Wir sind dieser Behandlungsart sehr viel Gutes schuldig: denn um darauf einzugehn gehört große Kenntniß, ja Geist, Witz, Einbildungskraft ist nöthig,[190] um auf diese Art die Poesie zur Prosa zu machen. So hat nun auch einer der deutschen Alterthumsforscher die Hexen- und Teufelsfahrt des Brockengebirgs, mit der man sich in Deutschland seit undenklichen Zeiten trägt, durch einen historischen Ursprung retten und begründen wollen. Daß nämlich die deutschen HeydenPriester und Altväter, nachdem man sie aus ihren heiligen Hainen vertrieben und das Christenthum dem Volke aufgedrungen, sich mit ihren treuen Anhängern auf die wüsten unzugänglichen Gebirge des Harzes, im Frühlings Anfang begeben, um dort, nach alter Weise, Gebet und Flamme zu dem gestaltlosen Gott des Himmels und der Erde zu richten. Um nun gegen die ausspürenden bewaffneter Bekehrer sicher zu seyn, hätten sie für gut befunden, eine Anzahl der Ihrigen zu vermummen, und hiedurch ihre abergläubischen Widersacher entfernt zu halten, und, beschützt von Teufelsfratzen, den reinsten Gottesdienst zu vollenden.

Ich habe diese Erklärung vor vielen Jahren einmal irgendwo gefunden, ich wüßte aber den Autor nicht anzugeben. Der Einfall gefiel mir, und ich habe diese fabelhafte Geschichte wieder zur poetischen Fabel gemacht.

Und nun das herzlichste Lebe wohl! Wie sehr wünschte ich mich statt dieses Blatts in deine Nähe!

Weimar d. 3. December 1812.

G. [191]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1812. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-71FE-4