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An Christoph Ludwig Friedrich Schultz

Das werthe Schreiben aus Ems, verehrter Freund, hat mir eine ganz besondere Freude gemacht; denn ich erhalte zwar von Berlin wöchentlich, ich möchte[100] manchmal sagen täglich, die angenehmsten Mittheilungen, doch in den Fächern, in den wir uns begegneten, ist durch Ihre Abreise eine Lücke entstanden, die sich schwerlich ausfüllen wird. Auch hat jedermann soviel mit den Obliegenheiten zu thun, die der Tag von ihm fordert, daß er weder rechts noch links hinsehen kann, sondern sich auf fein eigentlichstes Geschäft beschränken muß. Auch mich nöthigt die Herausgabe meiner Werke zu großer Sparsamkeit der Stunden; die dadurch entstehenden Forderungen zu leisten waren wohl nur jüngere Tage hinreichend. InPhysicis und Chromaticis ist mir manches aufgegangen, doch darf ich mich von den Ansichten nicht hinreißen lassen und die Aussichten nicht verfolgen.

Lassen Sie mich an Ihren gegenwärtigen Betrachtungen und Studien Theil nehmen. Aphoristisch sage Folgendes: Der viereckte Thurm auf der Eger Citadelle ist vielleicht das Festeste an Gestein und Bauart; dagegen ist mir der runde in Kinsberg als das Eleganteste vorgekommen, was ich in dieser Art gesehen habe. Eine Stelle aus meinem gedruckten Tagebuche stehe hier zu bequemerer Übersicht:

»Wir begaben uns auf das Schloß Kinsberg am Fuß der Höhe von Laurette; es ist aus stark durchquarztem Thonschiefer gegründet. Der ganz erhaltene, aus dem Fels unmittelbar aufruhende runde Thurm ist eines der schönsten architektonischen Monumente dieser Art, die ich kenne, und gewiß aus den besten[101] römischen Zeiten. Er mag hundert Fuß hoch seyn und steht als prächtige toscanische Colossal-Säule, unmerklich kegelförmig abnehmend.

Er ist aus Thonschiefer gebaut, von welchem sich verschiedene Reihen gleichförmiger Steine horizontal herumschlingen, der Folge nach, wie sie der Bruch liefern mochte; kleine röthliche, die man fast für Ziegel halten könnte, behaupten ringförmig die mittlere Region; graue plattenartige größere bilden gleichfalls ihre Cirkel oberwärts, und so geht es ununterbrochen bis an den Gipfel, wo die ungeschickt ausgesetzten Mauerzacken neuere Arbeit andeuten.

Den Diameter wage ich nicht zu schätzen, doch sage ich soviel, daß aus dem Oberboden des anstoßenden Wohnhauses durch eine ursprüngliche Öffnung m sich in den Thurm nothdürftig hineinschauen läßt, da man denn innerlich eine eben so schöne Steinsetzung wie außen gewahr wird und die Mauer schätzen kann, welche zehn Fuß Leipziger Maaß halten mag. Wenn man nun also den Mauern zwanzig Fuß zugesteht und den innern Raum zu vierzig annimmt, so hätte der Thurm in der Mittelhöhe etwa sechzig Fuß im Durchmesser; doch hierüber wird uns ein reisender Architekt nächstens aufklären: denn ich sage nicht zu viel, stünde dieser Thurm in Trier, so würde man ihn unter die vorzüglichsten dortigen Alterthümer rechnen; stünde er in der Nähe von Rom, so würde man auch zu ihm wallfahrten.«

[102] Kinsberg finden Sie auf jeder Charte und Sie werden bemerken wie dieser Thurm gerade auf der Gränze von Böhmen und Bayern stand. Vielleicht ist Ihnen schon bekannt, was rechts und links, nach Franken und Bayern zu von dergleichen Befestigungswerken gebaut war. Ich habe versäumt, mich hiernach zu erkundigen, doch wünschte ich Ihre Andeutung, und werde mich wegen des letztern bey meinen böhmischen Freunden erkundigen.

Wie beurtheilen Sie die Arbeiten Dorows, besonders sein Werk über das Neuwieder Castrum? dieses scheint sehr früh angelegt und sich lange erhalten zu haben. In welche Zeit würden Sie die Gründung desselben setzen?

Nun aber bitte um einige Andeutung: wie der Verdacht aus Pomponius Mela gefallen, daß das nach demselben genannte Werk ein untergeschobenes sey? Wie verschwinden so wunderbar die Autoritäten nach und nach oder werden wenigstens zweifelhaft! Das Studium der Kunstwerke scheint am Ende noch die größte Sicherheit zu gewähren, doch muß man es still für sich treiben, wie so manches Andere. Wie denn die neuere Zeit, statt Theilnahme zu erzeugen, Widerspruch ausheckt.

Vorstehendes blieb länger liegen als billig, da ich Sie noch immer aus der Reise glaubte und solches, nebst dem das vorige Mal zurückgebliebenen Stein, Fräulein Froriep mitgeben wollte. Nun aber möge [103] dieses Sie zu Hause begrüßen, mir eine baldige Nachricht von Ihrem Befinden bringen, zugleich auch, ob Sie nach einer so langen Reise noch Lust empfinden, uns im Laufe des Herbstes zu besuchen? Kein Zimmer kann ich Ihnen anbieten, aber in meiner Nachbarschaft steht eine ganz artige Wohnung bereit. Wahrscheinlich kommen Sie gerade zu Erneuung meiner Großvater-Würde.

Alles Gute und Erwünschte!

treu verbunden

Weimar den 8. October 1827.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1827. An Christoph Ludwig Friedrich Schultz. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7281-0