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An Sophie von La Roche
[Darmstadt, etwa 20. November 1772.]
Warum auch nur ein Wort darüber, dass Ihr Brief nicht gleich auf den meinigen folgte, kenn ich nicht Ihr Herz, und weis ich nicht, dass es in Neigung und Freundschafft unveränderlich bleibt.
Seit den ersten unschätzbaaren Augenblicken, die mich zu Ihnen brachten, seit ienen Scenen der innigsten Empfindung, wie offt ist meine ganze Seele bey Ihnen Gewesen. Und drauf in der Glorie von häuslicher mütterlicher Glückseeligkeit, umbetet von solchen Engeln Sie zu schauen, was mehr ist mit Ihnen zu leben! Meine Armuth an Worten, meine Unfähigkeit mich laut zu freuen, haben mir allein ausdrucken können was ich fühlte, und Sie – Sie wissen am besten was Ihr Herz für mich spricht.
Sie klagen über Einsamkeit! Ach dass das Schicksaal der edelsten Seelen ist, nach einem Spiegel ihres selbst vergebens zu seufzen. Sie werden es nicht immer, und schon ietzt, mit welchem ganzen Gefühl sehen Sie zween Töchter unter Ihren Augen werden, die, wenn Sie Ihnen nicht alles sind, doch alles sind was die liebe Gottheit Sterblichen von Glückseeligkeit zu schencken vermag. Dass aber auch das Menschen Schicksaal ist, dass der Reiche nicht lebendig fühlt [39] seinen Reichtum! Glauben Sie Ihren Freunden, wie überwohl der Austeiler des ganzen es mit Ihnen gemeint hat; wir nur wissen was Sie haben, denn wir empfinden nicht was Ihnen fehlt. Hundertmal freuen wir uns im Geiste nach über die Augenblicke die wir in Gegenwart der schönsten Natur in dem seeligsten Zirkel genossen. Mad. Merck empfand die volle Wärme Ihres Briefs, und grüßt Sie herzlich durch mich, erwartet auch sehnlich einen Brief von Mdlle. Max.
Merck sagt mir dass Sie von Jerusalems Todte, einige Umstände zu wissen verlangen. Die vier Monate in Wetzlar sind wir nebeneinander herumgestrichen, und ietzo acht Tage nach seinem Todte war ich dort. Baron Kielmansegg, einer der wenigen denen er sich genähert, sagte mir: »das was mir wenige glauben werden, was ich ihnen wohl sagen kann, das ängstlichste Bestreben nach Wahrheit und moralischer Güte, hat sein Herz so untergraben, dass misslungne Versuche des Lebens und Leidenschafft, ihn zu dem traurigen Entschlusse hindrängten.«
Ein edles Herz und ein durchdringender Kopf, wie leicht von auserordentlichen Empfindungen, gehen sie zu solchen Entschliessungen über, und das Leben – was brauch, was kann ich Ihnen davon sagen. Mir ist's Freude genug, dem abgeschiednen Unglücklichen, dessen Taht von der Welt so unfühlbaar zerrissen wird, ein Ehrenmaal in Ihrem Herzen errichtet zu haben.
[40] Ich hoffe Mlle. Max. wird erlauben dass ich manchmal schreibe, ich will ihre Güte nicht missbrauchen.
Leben Sie wohl, und wenn Sie fühlen könnten, wie sehr ich an allem Anteil nehme was von Ihnen kömmt, Sie würden manchen Augenblick Beruf zu einem Briefe an mich empfinden und Mlle. Max würde länger bey ihren köstlichen Nachschrifften verweilen.
Goethe.