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An Christoph Ludwig Friedrich Schultz

Das zweyte Mal nach Ihrer Abreise will ich nicht in Jena seyn, ohne von hieraus zu sagen, wie gerne ich mich Ihrer Gegenwart erinnere.

Die entoptischen Erscheinungen sind irrlichtartig, und man kann sich wohl verzeihen, hin und her von[308] ihnen geführt zu werden. Diese neckischen Gespenster haben mich mehr geäfft als billig.

Ich finde hier ein Blatt mit Bleistift geschrieben, bey Veranlassung Ihrer lieben Briefe; lassen Sie mich den Inhalt dictiren, die Verbindungspartikeln finden Sie selbst am besten.

Die Lehre vom directen und obliquen Licht ist so fruchtbar, daß ich selbst noch oft darüber erschrecke. Mehrere Fälle, die seltsamsten, lösten sich mir auf durch das Einfachste was jeder längst schon weiß.

In der Stille arbeite ich immer fort und habe wieder recht gute Sachen erhascht, stets auf dem alten Wege, die einfachsten Maximen in allen ihren proteischen Erscheinung nicht los zu lassen.

Was ist einfacher als eine Whistkarte, die Gesetze des Spiels! und wer spielt denn vollkommen Whist.

Die Natur ist ganz praktisch, deswegen müssen ihre Maximen ganz einfach seyn. Brauchte sie so viele Umstände als Newton zu seiner Optik, so wäre nie ein Weltchen zu Stande gekommen, ja kein Steinchen wäre vom Himmel gefallen.

Seltsam ist es daß man die Wissenschaft als etwas für sich Bestehendes behandelt, und doch ist sie [309] nur Handhabe, Hebel womit man die Welt anfassen und bewegen soll. Soviel für dießmal, damit nur wieder etwas zu Ihnen gelangt.

Ich habe Biots Capitel, wo er Licht und Farben behandelt, wieder angesehen; man fühlt sich, wie in egyptischen Gräbern. Die Phänomene sind ausgeweidet und mit Zahlen und Zeichen einbalsamirt, der wissenschaftliche Sarg mit bunten Gestalten bemahlt, welche die Experimente vorstellen, wodurch man das Unermeßliche, Ewige im einzeln zu Grabe brachte. Jeder Freund der Naturlehre hat stündlich zu rufen und zu seufzen: wer errettet mich aus dem Leibe dieses Todes.

Mein hiesiger Aufenthalt nöthigt mich in die bibliothekarische Gelahrtheit. Das ist ein schrecklicher Zustand, ich muß aber doch sehen wie ich mich darein finde. Wäre nur nicht die Aussicht nach Ihnen zu getrübt.

Meine Kinder versehen mich mit gutem Frühstück, und melden, daß ich Ihnen diese Gabe verdanke. Das ist denn auch gar schön und löblich, und ich will mich dessen hier, besonders in meiner Abgeschiedenheit von Küche und Keller, freuen.

Um den Platz auszufüllen, setze hinzu:

Ich bin seit vier Wochen mit Universitätsgelehrten in Geschäftsberührung, wofür ich mich, ob ich gleich über 40 Jahr in Jena lebe, immer gehütet habe. [310] Ihr Zustand aber läßt sich billiger Weise also aussprechen, wenn ich die Forderungen neuerer Zeit in's Auge nehme: Ein solcher Mann soll in dem Fache, worin er Meister ist, lehren, sich auf das täglich und stündlich zu Lehrende vorbereiten, um sich, wenn er es auch in- und auswendig kennt, für den Moment fertig zu machen, er soll nicht allein das Hergebrachte überliefern, er soll auch vom Neuen und Neusten Rechenschaft geben, irgend eine akademische Schrift ausarbeiten, oder in sonstigen Druckschriften sich gewandt und tüchtig zeigen, nebenher Journale bedienen, eigene und fremde Schriften redigiren und corrigiren, auch wohl einmal –

Das Weitere entbehren Sie wohl womit ich schließen wollte. Wo sollten wir für unsere Art zu seyn, zu sehen, zu denken und zu handeln irgend eine Förderniß hoffen? Wenn man sich nur von Zeit zu Zeit ein Viertelstündchen sehen könnte, so brauchte es aller dieser weit ausgeholten Betrachtungen nicht.

Jena den 24. November 1817.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1817. An Christoph Ludwig Friedrich Schultz. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7405-9