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An Friedrich Karl Ludwig Sickler

[Concept.]

Ew. Wohlgeb. beschenken das kunstliebende Publicum abermals mit einer schönen, ja wohl einzigen Gabe und ich eile von meiner Seite dieselbe dankbar anzuerkennen.

Sie haben, indem Sie diese höchst schätzbaren Monumente mittheilen, alles gethan, um solche aus [359] anderen alterthümlichen Überlieferungen zu erläutern und aufklären.

Erlauben Sie mir dagegen hier mit wenigem anzudeuten, wie ich mir, durch Ihre Schrift belehrt, jene Denckmale, die mich eben im Begriff nach Carlsbad abzureisen.

Das entdeckte Grab ist wohl für das Grab einer vortrefflichen Tänzerinn zu halten, welche, zum Verdruß ihrer Freunde und Bewunderer, zu früh von dem Schauplatz geschieden. Die drey Bilder muß ich als cyclisch, als eine Trilogie ansehen; das kunstreiche Mädchen erscheint mir in allen dreyen; und zwar im ersten die Gäste eines Reichen Mannes, zum genußreichsten Leben, entzückend; das zweyte stellt sie vor, wie sie im Tartarus, in der Region der Verwesung und Halbvernichtung kümmerlich ihre Künste fortsetzt; das dritte zeigt sie uns, wie sie, dem Schein nach wiederhergestellt, zu jener ewigen Schattenseligkeit gelangt ist. Das erste und letzte Bild erlauben keine andere Auslegung. Die Auslegung des mittleren springt mir aus jenen beyden hervor.

Wäre es nöthig! diese schönen Kunstproducte noch besonders durchzugehen, da sie für sich an Sinn, Gemüth und Kunstgeschmack so deutlich sprechen, und durch Ew. Wohlgeb. Bemühungen schon so sehr herausgehoben sind. Aber man kann sich etwas liebenswürdigem [360] so leicht nicht los winden und ich spreche daher meine Gedanken und Empfindungen mit Vergnügen aus, wie sie sich bey der Betrachtung dieser schönen Kunstwerke immer wieder erneuern.

Die erste Tafel zeigt die Künstlerinn als den höchsten lebendigsten Schmuck eines Gastmahls, wo Gäste jedes Alters mit Erstaunen auf sie schauen. Unverwandte Aufmerksamkeit ist der größte Beyfall, den das Alter geben kann, das eben so empfänglich als die Jugend, nicht eben so leicht zu Äußerungen ist der größte Beyfall, den das Alter wird schon seine Bewunderung in leichter Handbewegung auszudrücken angeregt, so auch der Jüngling, doch dieser beugt sich über dies empfindungsvoll zusammen, und schon fährt der jüngste aller Zuschauer auf, und beklatscht diese Tugenden wirklich.

Vom Effecte, den die Künstlerinn hervorgebracht und der uns in seinen Abstufungen zuerst mehr angezogen, als sie selbst, wenden wir uns nun zu ihr, und finden sie in einer von jenen gewaltsamen Stellungen, durch welche wir von lebenden Tänzerinnen so höchlich entzückt werden. Die schöne Beweglichkeit der Übergänge, die wir an solchen Künstlerinnen bewundern, ist hier für einen Moment fixirt, so daß wir das Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige zugleich erblicken, und schon dadurch in einem überirdischen Zustand versetzt werden. Auch hier erscheint der Triumpf der Kunst, welche die gemeine Sinnlichkeit [361] in eine höhere verwandelt, so daß von jener kaum eine Spur mehr zu finden ist.

Daß die Künstlerinn sich als ein bacchisches Mädchen darstellt, und eine Reihe Stellungen und Handlungen dieses abzuwickeln im Begriff ist, daran läßt sich wohl nicht zweifeln. Auf dem Seitentische stehen Geräthschaften, die sie braucht, um die verschiedenen Momente ihrer Darstellung mannigfaltig und bedeutend zu machen, und die hinten über schwebende Büste scheint eine helfende Person anzudeuten, die der Hauptfigur die Requisiten zureicht und gelegentlich einen Statisten macht, denn mir scheint alles auf einen Solotanz angelegt zu seyn.

Ich gehe zum zweyten Blatt. Wenn auf dem ersten die Künstlerinn uns reich und lebensvoll, üppig, beweglich, grazios, wellenhaft und fließend erschien, so sehen wir hier in dem traurigen lemurischen Reiche von allem das Gegentheil. Sie hält sich zwar auf einem Fluß, allein sie drückt den anderen an den Schenkel des ersten, als wenn er einen Halt suchte. Die linke Hand stützt sich auf die Hüfte, als wenn sie für sich selbst nicht Kraft hätte. Man findet hier die unästhetische Kreuzesform, die Glieder gehen im Zickzack und zu dem wunderlichen Eindruck muß selbst der rechte aufgehobene Arm beytragen, der sich zu einer, sonst grazios gewesenen Stellung in Bewegung setzt. Der Standfuß, der aufgestützte Arm, das angeschlossene Knie, alles giebt den Ausdruck des[362] Stationären, des Beweglich-Unbeweglichen, ein wahres Bild der traurigen Lemuren, denen noch so viel Muskeln und Sehnen übrig bleiben, damit sie nicht ganz, als durchsichtige Gerippe erscheinen und zusammenstürzen.

Aber auch in diesem widerwärtigen Zustande muß die Künstlerinn auf ihr gegenwärtiges Publicum noch immer belebend, noch immer anziehend und kunstreich wircken. Das Verlangen der herbeyeilenden Menge, der Beyfall, den die ruhig Zuschauenden ihr widmen, sind hier in zwey Halbgespenstern sehr köstlich symbolisirt; sowohl jede Figur für sich, als alle drey zusammen, componiren fürtrefflich und wirken in Einem Sinne zu Einem Ausdruck.

Was ist aber dieser Sinn, was ist dieser Ausdruck?

Die göttliche Kunst, welche alles zu veredeln und zu erhöhen weiß, mag auch das Widerwärtige, das Abscheuliche nicht ablehnen. Eben hier will sie ihr Majestätsrecht gewaltig ausüben. Aber sie hat nur Einen Weg dieß zu leisten; sie wird nicht Herr vom Häßlichen, als wenn sie es komisch behandelt, wie denn ja Zeuxis sich über seine eigne ins Häßlichste gebildete Hekuba zu Tode gelacht haben soll.

Eine Künstlerinn, wie diese war, mußte sich bey ihrem Leben, in alle Formen zu schmiegen, alle Rollen ausführen wissen; und jedem ist aus der Erfahrung bekannt, daß uns die komischen und neckischen Exhibitionen solcher Talente oft mehr aus dem Stegreise[363] ergötzen, als die ernsten und würdigen, bey großen Anstalten und Anstrengungen. Bekleide man diese gegenwärtige lemurische Schicksal mit weiblicher jugendlicher Muskelfülle, man überziehe sie mit einem schicklichen Gewand aus, welches jeder geschmackvolle Künstler unsrer Tage ohne Anstrengung ausführen kann, so wird man eine von denen komischen Posituren sehen, mit denen uns Harlekin und Colombine unser Lebenslang zu ergötzen wußten. Verfahre man auf dieselbige Weise mit den beyden Nebenfiguren, so wird man finden daß hier der Pöbel gemeint sey, der am meisten von solcherley Vorstellungen angezogen wird.

Es sey mir verziehen, daß ich hier weitläuftiger, als vielleicht nöthig wäre, geworden, aber nicht jeder würde mir gleich auf den ersten Anblick diesen antiken humoristischen Geniestreich zugeben, durch dessen Zauberkraft zwischen ein menschliches Schauspiel und ein geistiges Trauerspiel eine lemurische Posse, zwischen das Schöne und Erhabene ein Fratzenhaftes hineingebildet wird. Jedoch gestehe ich gern, daß ich nicht leicht etwas bewundernswürdiges finde, als das äesthetische Zusammenstellen dieser drey Zustände, welche alles enthalten, was der Mensch, über seine Gegenwart und Zukunft, wissen, fühlen, wähnen und glauben kann.

Das letzte Bild, wie das erste, spricht sich von selbst aus. Charon hat die Künstlerinn in das Land[364] der Schatten hinübergeführt, und schon blickt er zurück, wer allenfalls wieder abzuholen drüben stehen möchte. Eine den Todten günstige und daher ihr Verdienst, auch in jenem Reiche des Vergessens, bewahrende Gottheit blickt mit Gefallen auf ein entfaltetes Pergamen, worauf wohl die Künstlerinn, ihr Leben über, bewundert worden, denn, wie man den Dichtern Denkmale setzte, wo zur Seite ihrer Gestalt die Namen der Tragödien verzeichnet waren, sollte der practische Künstler sich nicht auch eines gleichen Vorzugs erfreuen?

Besonders aber diese Künstlerinn, die, wie Orion seine Jagden, so ihre Darstellungen hier fortgesetzt und vollendet. Cerberus schweigt in ihrer Gegenwart, sie findet schon wieder neue Bewunderer, vielleicht schon ehemalige, die ihr zu diesen verborgenen Regionen vorausgegangen. Eben so wenig fehlt es ihr an einer Dienerinn; auch hier folgt ihr eine nach, welche die ehemaligen Functionen fortsetzend, den Shawl für die Herrin bereit hält. Wundersam schön und bedeutend sind diese Umgebungen gruppirt und disponirt, und doch machen sie, wie auf den vorigen Tafeln, bloß den Rahmen zu den eigentlichen Bilde, zu der Gestalt, die hier, wie überall, entscheidend hervortritt. Gewaltsam erscheint sie hier, in einer mänadischen Bewegung, welche wohl die letzte seyn mochte, womit eine solche bacchische Darstellung beschlossen wurde, weil drüber hinaus Verzerrung liegt. Die Künstlerinn [365] scheint mitten durch den Kunstenthusiasmus, welcher sie auch hier begeistert, den Unterschied zu fühlen des gegenwärtigen Zustandes gegen jenen, den sie so eben verlassen hat. Stellung und Ausdruck sind tragisch und sie könnte hier eben so gut eine Verzweifelnde, als eine von Gott mächtig Begeisterte vorstellen. Wie sie auf dem ersten Bilde die Zuschauer durch ein absichtliches Wegwenden zu necken schien, so ist sie hier wirklich abwesend, ihre Bewunderer stehen vor ihr, klatschen ihr entgegen, aber sie achtet ihrer nicht, aller Außenwelt entrückt, ganz in sich selbst hinein geworfen. Und so schließt sie ihre Darstellung mit den, zwar stummen, aber pantomimisch genugsam deutlichen, wahrhaft heidnisch tragischen Gesinnungen, welche sie mit dem Achill der Odyssee theilt, daß es besser sey unter den Lebendigen, als Magd, einer Künstlerinn den Shawl nachzutragen, als unter den Todten für die Vortrefflichste zu gelten.

Sollte man mir den Vorwurf machen, daß ich zu viel aus diesen Bildern herauslese, so will ich die Clausulam salutarem hier anhängen, daß wenn man meinen Aufsatz nicht als eine Erklärung zu jenen Bildern wollte gelten lassen, man denselben als ein Gedicht ansehen möge, durch deren Wechselbetrachtung wohl ein neuer Genuß entspringen könnte.

Übrigens will ich nicht in Abrede seyn, daß hinter dem sinnlich ästethischen Vorhange dieser Bilder noch [366] etwas anderes verborgen seyn dürfte, das, den Augen des Künstlers und Liebhabers entrückt, von Alterthumskennern entdeckt, zu tiefer Belehrung dankbar von uns aufzunehmen ist.

So vollkommen ich jedoch diese Werke, dem Gedanken und der Ausführung nach, in allen Theilen erkläre, so glaube ich doch Ursache zu haben an dem hohen Alterthum derselben zu zweifeln. Sollten sie von alten griechischen Cumanern verfertigt seyn, so müßten sie vor die Zeiten Alexanders gesetzt werden, wo die Kunst noch nicht zu dieser Leichtigkeit und Geschmeidigkeit in allen Theilen ausgebildet war. Betrachtet man die Eleganz der Herculanischen Tänzerinn, so möchte man wohl jenen Künstlern auch diese neu gefundenen Arbeiten zutrauen; um so mehr, als unter jenen Bildern solche gefunden werden, die in Absicht der Erfindung und Zusammenbildung den gegenwärtigen wohl an die Seite gestellt werden können. Die in dem Grabe gestellt werden können. Die in dem Grabe gefundenen griechischen Sprache den Römern so geläufig, in jenen Gegenden von Alters her einheimisch und wohl auch auf neueren Monumenten in Brauch war.

Ja ich gestehe es, jener lemurische Scherz will mir nicht ächt griechisch vorkommen, vielmehr möchte ich ihn in die Zeiten setzen, aus welchen die Philostrate ihre Halb- und Ganzfabeln, dichterische und[367] rednerische Beschreibungen hergenommen. Mehr wage ich zu Bestärkung dieses Meinens nicht zu sagen. Es stehe übrigens oder falle, so bleibt die Fürtrefflichkeit der Bilder unverrückt, und es ist keine Frage, daß der Dank für den Finder und Herausgeber sich bey wiederholter Beschaunung und Betrachtung immer wieder anfrischen und zunehmen muß.

Empfangen Ew. Wohlgeb. diese Bemerkungen freundlich. Meine Absicht war, mich kürzer zu fassen, aber in einem solchen Falle concis und gedrungen seyn zu wollen, setzt in Gefahr lemurisch zu werden.

Ich kann nicht schließen, ohne Sie zu versichern, daß wir Ihrer recht lebhaft dankbar gedacht, als wir durch Ihre Vermittlung den, sowohl dem Stoff als der Form nach, einzigen Centaur bewundern konnten. Die kleine Gemme, womit ich Gegenwärtiges siegele, bin ich auch jenen Tagen schuldig geworden, die Herr Rossi bey uns zubrachte. Auch in diesen engen Raume, an einem minder bedeutend scheinenden Gegenstande, bewundert man den Sinn und den Geschmack der Alten.

Bey Lesung des ersten Theiles der Römischen Geschichte von Niebuhr war Ihre treffliche Tafel Latiums mir immer vor Augen. Wie schön arbeiten die ernsten und gründlichen Männer immer einander in die Hände.

Leben Sie recht wohl und nehmen diese Blätter als Vorläufer des Dankes an, der Ihnen von allen [368] Seiten zukommen wird. Ich freue mich Sie in unserer Nähe zu wissen, indem ich hoffen kann, Sie von Zeit zu Zeit zu sehen und zu sprechen. Ich gehe morgen nach Carlsbad. Briefe finden mich dort bey den drey Mohren.

Und nun will ich wirklich Ernst machen und schließen, Sie nochmals meiner aufrichtigen Hochachtung versichernd, und die besten Wünsche für Ihr Wohl und Gedeihen hinzufügend.

Jena

den 28. April

1812.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1812. An Friedrich Karl Ludwig Sickler. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7467-B