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An Siegmund August Wolfgang Herder

Ihre werthe, mir desto willkommenere Sendung, mein theuerster Herr und Freund, da sie mich in einem Augenblicke trifft, wo ich ihr nicht allein alle meine Aufmerksamkeit zuwenden kann, sondern wo ich sogar mit den Gaben Ihrer frühern Geneigtheit beschäftigt bin.

Herr Administrator Richter wird Sei von dem wunderbaren Irrthum unterrichtet haben, in welchem ich mich wegen der Sendung des Novembers bisher befand; ich glaubte, die Kiste enthalte jene frühere Bestellung, ließ auch die dafür bestimmte Summe alsbald auszuzahlen, und zuletzt begriff ich nicht, warum mir noch zwey Kistchen zu Gute kommen sollten. Nun, seitdem ich unterrichtet bin, daß ich jene erste Kiste Ihrer Geneigtheit schuldig geworden bin, ist sie ausgepackt, in Schränkchen gelegt und dient mir zugleich mit dem Catalog, der Schneeberger Charte und der Betrachtung über jenes Revier zu belehrender Unterhaltung. Die Jahreszeit begünstigt auch durch heitere und erwärmte Localitäten ein Studium, dem ich viele Jahre auswärts die besten Monate zu widmen gewohnt war; wär ich nicht auf so vieles resignirt, so würde es mir vollkommen peinlich seyn, Sie nicht besuchen zu können.

[217] Die beiden neuesten Kästchen stehen auch noch unausgepackt; ich mache Anstalt, die Gangarten, auf die mich der Catalog höchst verlangen macht, vor mir aufzulegen und darüber auf meine eigene Weise zu denken. Je länger ich diese wichtigen Gegenstände mit ruhiger treuer Forschung verfolge, je mehr fürcht ich, daß sie für uns unerschöpflich bleiben werden.

Vorstehendes war geschrieben, als Ihre freundliche briefliche Sendung bey mir anlangt; die Hoffnung, Sie diesen Sommer bey uns zu sehen, ist mir von der größten Bedeutung; mich mündlich mit Ihnen, mein Theuerster, zu unterhalten, wird mich glücklich machen. Schriftlich über die in dem Schreiben vom vorigen Jahr mir vorgelegten Fragen mich zu äußern, ist mir ganz unmöglich. Mündlich lassen sich diese zartesten allergeheimsten Dinge wenigstens mit einiger moralischen Sicherheit und geistigen Heiterkeit behandeln.

Sie, mein Bester, wissen vor vielen, mit welcher redlichen folgerechten Sorgfalt ich mich der Naturforschung gewidmet. Im Organischen ist mir's geglückt, Theilnehmende und Fortschreitende zu gewinnen. Was meine Farbenlehre im Praktischen seyn wird, bleibt der Folge anheimgegeben. Die Mineralogie hat uns mit den mannichfaltigsten Körpern und ihrer Gestaltung nach und nach auf die anmuthigste Weise bekannt gemacht; in der Geognosie mäßig fortzufahren,[218] bleibt dem stillen Betrachter unbenommen, der sich denn aber freylich, was geologische Betrachtungen betrifft, aus dem immer wachsenden, tumultuarischen, keineswegs naturgemäßen Getümmel zu retten hat. Von meinen Prämissen, von meinen Urtheilen kann ich wohl mündlich einem Freunde, der mir ruhig zuhören möchte, Rechenschaft geben; auch hier habe ich, wie in allem, das Nächste gesucht und in dem Unläugbaren Fuß zu fassen getrachtet; auch hier ist mir, wenigstens zu meiner eigenen Beruhigung, manches gelungen.

Könnte ich mit einem Manne, dem so unendliche Einzelheiten bekannt sind, und welcher auch über die Erscheinungen überhaupt zudenken alle Ursache hatte, mich zu meiner Belehrung, Berichtigung, Bestätigung, wie ich nun hoffen darf, folgerecht unterhalten, so hoffte ich den Beyfall desselben wenigstens für meine Bescheidenheit zu gewinnen, welche sich an den Problemen, wie es den Menschen geziemt, eigentlich nur übt, um sich selbst kennen zu lernen und zugleich seine Beschränktheit mit der großen Breite, die ihm zu umschauen gegeben ist, kennen zu lernen und sich am Ende selbst ehrenhaft zu bescheiden.

Dank für die mannichfaltigen Beylagen; fahren Sie ja fort, mir dergleichen dichterische und rednerische Äußerungen mitzutheilen; man blickt dadurch in bedeutende Zustände klarer hinein; in solchen Fällen thut sich die Brust auf, Geist und Neigung offenbaren sich auf's kräftigste.

[219] Mit den schönsten Grüßen und besten Wünschen mich unterzeichnend.

unwandelbar

Weimar den 7. Juni 1831.

J. W. v. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1831. An Siegmund August Wolfgang Herder. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-74E8-B