29/8024.

An Johann Heinrich Meyer

Eigentlich, mein theurer Freund, haben wir uns, vor und nach dem Abscheiden, ein wenig unbehülflich benommen, daß wir uns nicht wegen einer fleißigeren Communication verabredeten. Ich hatte so manches zu schicken, das ich bis an die Grenze frankiren konnte; weil man uns aber die Schweiz in allem so theuer vorspiegelte, so fürchtete ich immer Ihnen disproportionirte Kosten zu verursachen. Daraus mag denn das Gute entspringen daß wenn wir uns wiedersehn manches ganz frisch mitzutheilen seyn wird.

[104] Zunächst aber schreiben Sie mir doch: wenn Sie die Rückreise anzutreten gedenken. Meine Absicht ist sehr frühe nach Carlsbad zu gehen, ehe der Menschenstrudel sich um dem Wasserstrudel wirbelt. Auch um bald wieder hier zu seyn, da es gar manches zu thun und anzuleiten giebt, schwerlich sind Sie um diese Zeit schon wieder hier! Woher kommt es daß Sie gar keine Neigung zeigen Ihr schweizerisches Baaden zu besuchen? ich würde mich glücklich schätzen ihm so nahe zu seyn.

Was Ihre Rückreise betrifft wage ich keinen Rath zu geben; thun Sie was Ihnen zuletzt am erfreulichsten scheint; doch würde mich zunächst Ulm und München anreizen. In Ulm sollen nach Hirts Versicherung sich wundersame altdeutsche Dinge befinden, unter andern nennt er einen Meister Hans Baldung Grien 1 mit großer Hochachtung, von dem er selbst ein sehr schätzenswerthes Bild acquirirt hat.

In München sind Abgüsse der Phigalischen Basreliefs angelangt. Louise Seidler hat mir eins, blau Papier, schwarze Kreide, weiß gehöht, in Größe des Originals zugeschickt, unter Langers Einfluß sorgfältig gearbeitet. Es ist ein Abgrund von Herrlichkeit, und wohl unerläßlich solche zu betrachten: denn, genau besehen, wird an den Aeginetischen wenig Freude [105] zu haben seyn. Es sind zusammengestoppelte Tempelbilder, von ganz verschiedenem Kunst-Werth (die liegenden vielleicht zugearbeitet) die immer problematisch bleiben müssen. Glauben wir doch nicht daß die Alten alle ihre Röcke aus ganzem Tuch geschnitten haben.

Den Phigalischen aber muß man nachsagen daß sie kapital und echt sind. Bereiten Sie sich vor von den Münchner Wissenden Folgendes zu hören: »Das Lebendige, die Großheit des Styls, Anordnung, Behandlung, das Relief alles ist herrlich. Hingegen kann man bey so viel Schönem die außerordentliche Gedrungenheit der Figuren, die oft kaum sechs Kopflängen haben, überhaupt die vernachlässigten Proportionen der einzelnen Theile, wo oft Fuß oder Hand die Länge des ganzen Beins oder Arms haben u.s.w. kaum begreifen. Und was soll man sagen daß man an den Coloß beynahe in allen Vorstellungen erinnert wird.«

Mir löst sich dies Räthsel folgendermaßen auf: diese Basreliefs sind nicht selbständige Werke, sie sind architektonischen Zwecken, einem allgemeinen Effect untergeordnet.

1) Die Figuren sind gestutzt in Bezug auf dorische Ordnung.

2) Der Haupteffect sollte erreicht werden durch Zusammen- und Gegenstellung der Figuren und zwar nur in Absicht auf die bedeutenden Körpertheile. Hier ist nichts versäumt! Wie sich bedeutende [106] Gelenke und Schlußglieder, Hand, Knie, Faust, Kopf pp. zusammen verhalten, es fordert Anbetung.

Nun aber dieses zu bewirken und um zu allererst die massenhaften Partien zu reguliren, Pferdehals und Männerbrust einander entgegen zu stellen, und dazwischen doch noch einen Amazonenbusen geltend zu machen, da bleibt einmal ein Fuß gestaucht, verlängert sich ein Arm über die Gebühr. Wollte man das in's Gleiche bringen so entstünde ein nettes, aber würkungsloses Getreibe.

Sieht man nun in diesem Sinne die übrigen amazonischen und centaurischen Gebilde, nur wie sie uns das Industrie Comtoir gegeben, so findet man überschwengliche Kunst und Talent, höchste Weisheit und Thatkraft, unbedingt frey, einigermaßen frech.

So dürfte man auch wohl annehmen, daß bey dergleichen weitläufigen, verdrungenen Arbeiten man keineswegs erst Modelle gemacht und mit Fäden, Zirkeln oder sonst, höchst gewissenhaft verfahren. Wenn der Hauptbegriff gegeben war, so arbeitete der Künstler wohl auch aus dem Stegreife, wie denn auch jetzt nicht immer Cartone gemacht werden, dagegen auf grundirter Leinwand, wo nicht inventirt und skizzirt, doch wenigstens aus freyer Hand gezeichnet und dann frisch drauf los gemahlt wird.

Man bemerkt, wie die Freundin meldet, verschiedene Behandlungsarten: oft das genauste Studium der Natur [107] in den männlichen Körpern, dagegen wieder manches roh und flüchtig. Alles dieses scheint mir auf eine rasche, hohe, verwegene Thätigkeit hinzudeuten.

Der Bemerkung wegen Wiederholung des Colossen würde ich entgegen setzen: man möge doch bedenken wie man uns bald seit 2000 Jahren mit Muttergottes-Bildern ennuyirt habe.

Dies alles wünscht ich freylich von Ihnen beurtheilt: denn nach leichten Umrissen des Ganzen und einer einzelnen, treu-fleißigen Nachbildung kann man doch nur im Allgemeinen urtheilend herumtappen.

Und so will ich denn schließen, und meinen Discurs über das Abendmahl beylegen. Indem er Ihnen zu denken giebt wird er manches zu wünschen übrig lassen. Mir scheint bey allen diesen Dingen, die doch mehr oder weniger rhetorisch sind, der Hauptzweck daß man Werth und Würde der Kunst immer wieder einmal zur Sprache bringe.

Vale iterum atque iterum.

fröhliches Wiedersehn!

Jena den 26. März 1818.

G.


Die Leipziger Kunstlotterie (denn so darf man wohl jede Kupferstichauction nennen) ist höchlich zu unsern Gunsten ausgeschlagen. Etwa ein halb Dutzend nur sind zu dem Preis gelangt wo ich mir selbst Grenzen gesetzt hätte; sehr viele höchst billig und der größte Theil noch unter unsern gewöhnlichen Preisen.

[108] Auf die Franzosen, die nun wie billig im Verschiß sind, bietet niemand. Den Olymp von Primaticcio, etliche dreyßig Figuren, gut erhalten für 2 Groschen und so weiter von ihm und Rosso. Die Landschaften nach Caspar Poussin von Glauber, Glaubers eigene Erfindungen und Arbeiten, allerliebste Sachen wie geschenkt, von Sebastian Bourdon eine Menge selbst radirt, worunter Haupt- und Nebenblätter sein Verdienst zu erkennen, um gleichfalls schimpfliche Preise. Eigenhändige Radirungen von Champaigne nach eigenen großen Bildern, auf die er sich was zu Gute that, kostbare Abdrücke immer in selbigem Maaßstab bezahlt. Leichte frevelhafte Radirungen von Watteau; das lustigste aber Watteau's Portrait von ihm selbst gemahlt, von Boucher radirt, das höchste Document gallischer Kunst-Nichtigkeit in jenen Jahren! würde ich um keinen Preis hergeben, kostet 2 Groschen. Le Sueur viel und vorzüglich.

Noch viel toller aber ist es mit den Niederländischen Weltgeschichts- und Zeitungsbildern, vom Schluß des 17. Jahrhunderts. Da ich dergleichen unbedingt verlangte, so ist ein Hagelwetter von Romeyn de Hooghe, Joh. und Georg Lütkens über mich hergefallen, worunter ganz kostbare Sachen sind, welche, mit dem was wir schon besitzen, den Begriff der Zeit völlig abschließen. Die größten Platten verschollener Schlachten, mit ihren Helden ad vivum vorgestellt, wurden, nur daß es was hieße, für einen Groschen hingegeben; [109] anderen Sammlungen, wie Lütkens Kirchengeschichte, ging es viel schlechter.

Eine Handzeichnung von Romeyn (Einen Thaler) spricht das Verdienst ihres Meisters in Absicht auf Conception und Effect vollkommen aus.

Der Einzug von Ludwig dem 14ten in Dünkirchen, von van der Meulen selbst radirt, übertrifft alle Erwartung. Ein später gleichfalls mitgekommner, nachgearbeiteter Abdruck läßt erst das Verdienst des älteren recht erkennen.

Sollte ich nun schließen ohne zu sagen daß Paul Brill, durch Egidius Sattler und Nieuland, Jodocus Momper, durch Theodor Galle, besonders aber durch Ekbert von Panderen, Mucian aber durch Cornelius Cort, in vortrefflichen, mehr oder weniger erhaltenen, wiederhergestellten, oder geringeren Abdrücken zu uns gekommen sind, so habe ich viel gesagt. Und dennoch muß ich noch hinzusetzen daß von den Rubenischen Landschaften eben so viel zu rühmen ist. – Damit ich ende sage ich nur daß Einhundert Blätter der Italienischen Schule gleichfalls gefunden sind.

in fidem

Jena den 26. März 1818.

G.


Note:

[110] [105]1 Doch ich irre! das Hauptbild dieses Meisters ist nicht in Ulm, sondern zu Freiburg im Brisgau.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1818. An Johann Heinrich Meyer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-77FC-9