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An Carl Cäsar von Leonhard

[Concept.]

[Jena, etwa 31, October 1821.]

Ew. Hochwohlgeboren

augenblickliche Gegenwart hat, wie Sie als Reisender selbst nicht fühlen können, bey mir die größte Sehnsucht zurückgelassen; Ihre Erscheinung überraschte mich in ganz fremden Gedanken und Beschäftigungen. Ich hatte mich kaum hergestellt, als ein luminoser Vortrag einer gewissen Terminologie meine ganze Aufmerksamkeit forderte und mir nichts wünschenswerther erschien als Erweiterung und Erläuterung dieses wichtigen Punctes. Ich hatte meine Hoffnung darauf gesetzt, Sie nach Tische in dem Museum zu finden; ich war getäuscht und eile, das, was ich mündlich schon gesagt, zu wiederholen.

Man nahm nach Hauy eine Grundgestalt des [163] Crystalls an, setzte sie real in den Mittelpunct und baute an ihr, auf wunderliche Weise, die abzuleitende Veränderungen hinaus. Damit konnte ich mich nicht befreunden, weil ich, auch mit dem besten Willen, nicht ein atomistisches Atom an mir dulden könnte.

Nun gefällt mir auf den ersten Anblick Ihre Darstellung sehr wohl, denn Sie operiren mit einemSchnitt. Der Grundform steht Ihnen fest, ob Erscheinung oder Idee ist gleichgültig, genug, es wird an ihr allerley versucht, sie umzuwandeln; man fragt nicht, ob der Schnitt mit dem Scheermesser, oder mit der Axt geschieht, genug, der ungeläugnete vielfache Durchgang der Blätter läßt der Einbildungskraft die Herrschaft, die, aus einer gewissen Form, zu einer gewissen Form sich determinirenden Masse, die allerverschiedensten, aber doch durchaus die aller congruirendsten Gestalten herauszuschneiden.

Verzeihen Sie mir diesen stegreifischen, kaum nach Ihrer Abreise niedergeschriebenen Vortrag! Jenes Addiren hat mir niemals gefallen wollen, dieses Ihr Subtrahiren thut mir sehr wohl. Ich weiß zwar recht gut, daß dies alles nur Annäherungen an die Unerforschlichkeiten der Natur sind, aber dieser Weg lockt mich mehr als ein anderer.

Wenn ich nun hiedurch ein Zeugniß gebe, wie mich Ihre liebenswerthe Gegenwart ergriffen hat, so ersehen Sie zugleich daraus, wie ich mich anschicke, Ihr neues Werk nach Möglichkeit näher zu betrachten und [164] zu nutzen, denn freylich sind in meinen Jahren die Kräfte den Wünschen nicht immer angemessen.

Ist, was ich gesagt habe, zu billigen, so lassen Sie mich es wissen, bestimmend, ergänzend, berichtigend; legen Sie den versprochenen Modellen nähere Erläuterung bey; ich bin schon mit gutem Willen, und was mehr ist, mit Vorutheil auf Ihrer Seite.

Die Terminologie genirt mich gar nicht, Worte muß man ohnehin zugeben, und da Sie von Schneiden ausgehen, kann ich Ihr ent gar wohl vertragen. Alle die daraus entspringenden Zusammensetzungen erscheinen mir nicht halb so wunderlich als die Hieroglyphen von Kircher bis auf Belzoni.

Mögen Sie glücklich, mit den lieben Ihrigen, die nicht gegrüßt zu haben mir sehr wehe thut, angelangt seyn und meiner im Guten gedenken.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1821. An Carl Cäsar von Leonhard. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7863-A