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An Auguste Gräfin zu Stolberg

Von der frühsten, im Herzen wohlgekannten, mit Augen nie gesehenen, theuren Freundin endlich wieder einmal Schriftzüge des traulichsten Andenkens zu erhalten war mir höchst erfreulich-rührend; und doch zaudere ich unentschlossen was zu erwidern seyn möchte. Lassen Sie mich im Allgemeinen bleiben, da von besondern Zuständen uns wechselseitig nichts bekannt ist.

[18] Lange leben heißt gar vieles überleben, geliebte, gehaßte, gleichgültige Menschen, Königreiche, Hauptstädte, ja Wälder und Bäume, die wir jugendlich gesäet und gepflanzt. Wir überleben uns selbst und erkennen durchaus noch dankbar, wenn uns auch nur einige Gaben des Leibes und Geistes übrig bleiben. Alles dieses Vorübergehende lassen wir uns gefallen; bleibt uns nur das Ewige jeden Augenblick gegenwärtig, so leiden wir nicht an der vergänglichen Zeit.

Redlich habe ich es mein Lebelang mit mir und andern gemeint und bey allem irdischer Treiben immer auf's Höchste hingeblickt; Sie und die Ihrigen haben es auch gethan. Wirken wir also immerfort, so lang es Tag für uns ist, für andere wird auch eine Sonne scheinen, sie werden sich an ihr hervorthun und uns indessen ein helleres Licht erleuchten.

Und so bleiben wir wegen der Zukunft unbekümmert! In unseres Vaters Reiche sind viel Provinzen, und da er uns hier zu Lande ein fröhliches Ansiedeln bereitete, so wird drüben gewiß auch für beide gesorgt seyn; vielleicht gelingt alsdann, was uns bis jetzo abging, uns angesichtlich kennen zu lernen und uns desto gründlicher zu lieben. Gedenken Sie mein in beruhigter Treue.

Vorstehendes war bald nach der Ankunft Ihres lieben Briefes geschrieben, allein ich wagte nicht es wegzuschicken, denn mit einer ähnlichen Äußerung[19] hatte ich schon früher Ihren edlen wackern Bruder wider Wissen und Willen verletzt. Nun aber, da ich von einer tödlichen Krankheit in's Leben wieder zurückkehre, soll das Blatt dennoch zu Ihnen, unmittelbar zu melden: daß der Allwaltende mir noch gönnt, das schöne Licht seiner Sonne zu schauen; möge der Tag Ihnen gleichfalls freundlich erscheinen und Sie meiner im Guten und Lieben gedenken, wie ich nicht aufhöre mich jener Zeiten zu erinnern, wo das noch vereint wirkte, was nachher sich trennte.

Möge sich in den Armen des allliebenden Vaters alles wieder zusammen finden.

wahrhaft anhänglich

Weimar den 17. April 1823.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1823. An Auguste Gräfin zu Stolberg. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-78C5-C