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An Joseph Stanislaus Zauper

Auch nach persönlicher Bekanntschaft Ihre Neigung, mein Werthester, unverändert zu sehen, freut mich von Herzen; lassen Sie mich zu schneller Communication auf Ihre Aphorismen aphoristisch antworten.

Was Sie Liebes und Gutes zu meinem Gunsten sagen, erkenne dankbar und bemerke, daß Sie mir durch Ihre Entwicklungen den besonderen Vortheil verschaffen, meine eigenen vielfachen Arbeiten in einem abgespiegelten Zusammenhang zu sehen; denn ich habe sie noch niemals der Reihe nach betrachten können, daher sind sie mir in einer Folge nicht gegenwärtig.

Zuförderst aber sollen Sie gelobt seyn, daß Sie des Dichters sittliche Tendenz und Verfahrungsweise so gut in's Licht setzen. Das Publicum lernt niemals begreifen, daß der wahre Poet eigentlich doch nur, als verkappter Bußprediger, das Verderbliche der That, das Gefährliche der Gesinnung an den Folgen nachzuweisen trachtet. Doch dieses zu gewahren, wird eine höhere Cultur erfordert, als sie gewöhnlich zu erwarten steht. Wer nicht seinen eignen Beichtvater macht, kann diese Art Bußpredigt nicht vernehmen.

[73] Wahlverwandtschaften. Der sehr einfache Text dieses weitläufigen Büchleins sind die Worte Christi:Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren pp. Ich weiß nicht, ob irgend jemand sie in dieser Paraphrase wieder erkannt hat. Dem eigentlichen Sinne des Dichters gemäß war folgende Erfahrung. Eine sehr schöne, liebenswürdige, junge Frau gestand ihm: sie habe die Wahlverwandtschaften gelesen und nicht verstanden; sie habe sie nicht wieder gelesen, und verstehe sie jetzt. Mehr sagte sie nicht; aber wahrscheinlich hatte sie der innere Beichtvater, bey ähnlichen überraschenden Regungen, auf jene Erfahrungen und Folgen hingewiesen und heilsame Warnung angedeutet.

Daß Ihre Ungeduld bey'm Wiederlesen der Wanderjahre gezügelt haben, freut mich sehr. Zusammenhang, Ziel und Zweck liegen innerhalb des Büchleins selbst; ist es nicht aus Einem Stück, so ist es doch aus Einem Sinn, und dieß war eben die Aufgabe: mehrere fremdartige, äußere Ereignisse dem Gefühl als übereinstimmend entgegen zu bringen. Der zweyte Theil wird nicht mehr befriedigen als der erste, doch hoffe ich, demjenigen Leser, der diesen wohl gefaßt hat, genug zu thun.

Wegen Cellini und Rameau sage gleichfalls Dank; ich habe diese beiden seltsamen Figuren herübergeführt, [74] damit man das Fremdeste im vaterländischen Kreis gewahr werde. Lies't man dergleichen Darstellung im Original, so sehen sie ganz anders aus und nöthigen uns, um sie nur einigermaßen zu genießen und zu nützen, in ganz fremde Kreise; bey Übersetzungen aber sind wir gefördert, wie auf einer Handelsmesse, wo uns der Entfernteste seine Ware herbeybringt. In beiden Fällen haben dem Bedürfniß nachzuhelfen gesucht.

Daß Sie drey Mährchen zusammenstellen und vergleichen, ist erfreulich; sollte nicht auch das vierte zu erfinden und zu schreiben seyn?

Seite 78 habe ich einen Bleistiftstrich gezogen; die Aphorismen hinter demselben bitte nochmals durchzusehen, sie congruiren nicht ganz wie die vorhergehenden.

Und so wünschte auch nicht, das Sie von den neuesten Theatererscheinungen nur beyläufig sprächen; es lohnt gewiß der Mühe, wenn auch das Resultat nicht ganz erfreulich seyn sollte, die letzten IntentionenSchillers in den Fragmenten seines Demetrius zu er forschen; sodann aber zu untersuchen, was unmittelbar nach seinem Hintritt Werner, Müller, Grillparzer, Raupach, Houwald unternommen und geleistet. Ihnen würde ich vorzüglich dieses Studium empfehlen, und eine Ausarbeitung gerne sehen, da ich [75] diese Productionen wenig kenne, und insofern ich sie kenne, dagegen nicht gerecht seyn kann. Ihre ruhige reine Ansicht wäre mir daher sehr willkommen und die Arbeit für Sie ein bedeutender Gewinn, weil die Gleichzeitigen hier bereits in einer Filiation zu beobachten sind.

Ist Ihnen ein Heldengedicht in Stanzen: Olfried und Lisena vorgekommen? Versäumen Sie nicht, es zu lesen. Der Verfasser ist sehr jung, aber ein entschiedenes Talent; ich habe ihm gerathen, künftig nur einfache Gegenstände und Motive in kleineren Gedichten auszuführen, da denn, wenn er sich auch einmal vergreift, der Schade nicht so groß ist. Ein Gedicht, wozu ein so langer Athem gehört, zu unternehmen, halte für doppelt gefährlich; vom Gegenstand wird verlangt, daß er würdig sey, und von der Ausführung, daß sie vollkommen gleich bleibe.

Sie wollen, der Autor solle nicht persönlich rügen, wenn etwas gegen sein Werk geschieht. Bey ästhetischen Productionen gebe ich es zu, und habe es meist so gehalten. Man verlangt von ihnen keinen augenblicklichen Nutzen, und kann ruhig zusehen, wie sich selbst Weg machen und wirken, früh oder spät. Bey wissenschaftlichen Dingen ist es ein andres. Die Wissenschaft erhält ihren Werth, indem sie nützt, die Menschen lehrt, wie man lange verborgene, verkannte, [76] an's Licht gezogene, neuentdeckte Vortheile zu unübersehbarem Gebrauch anwenden könne. Das falsche Wissen dagegen hindert die Anwendung, ja verkehrt sie; dawider soll und muß man sich erklären.

Alles Gute, Schöne, Liebe mit Ihnen!

Eger den 7. September 1821.

Goethe. [77]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1821. An Joseph Stanislaus Zauper. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-78E2-A