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An Charlotte von Stein

Genf den 28. Oktbr. 1779.

Wir haben diese Tage her einen sehr glüklichen Seitenweeg auf die höchsten Gipfel des Jura gemacht, davon ich eine eilige Beschreibung zusammen diktiren will.

Die grosse Bergkette, die von Basel biss Genf, Schweiz und Frankreich scheidet, wird, wie Ihnen bekannt, der Jura genannt; die grössten Höhen davon ziehen sich über Lausanne biss ohngefehr über Rolle und Nion. Auf diesen höchsten Rüken ist ein merkwürdiges Thal von der Natur eingegraben (ich mögte sagen, eingeschwemmt, da auf allen diesen Kalchhöhen die Würkungen der uralten Gewässer sichtbar sind) das la vallée de Joux genannt wird, welcher Nahme, da Joux in der Landsprache einen Felsen oder Berg bedeutet, Teutsch das Bergthal hiesse. Eh ich zur [97] Beschreibung unsrer Reise fortgehe, will ich mit wenigem die Lage davon geographisch angeben. Seine Länge streicht, wie das Gebürg selbst, ziemlich von Mitag gegen Mitternacht und wird an iener Seite von den sept moncels und an dieser von der dent de vaulion, welche nach der Dole der höchste Gipfel des Jura ist, begränzt und hat, nach der Sage des Landes, neun kleine, nach unsrer ohngefehren Reiserechnung aber sechs starke Stunden. Der Berg, der es die Länge hin an der Morgenseite begränzt und auch von dem flachen Land herauf sichtbar ißt, heisst le noir mont. Gegen Abend streicht der Risou hin und verliert sich almählich gegen die franche comté. Frankreich und Bern theilen sich ziemlich gleich in dieses Thal, so dass ienes die obere schlechte Helfte und dieses die untere bessere besizt, welche leztere eigentlich la vallé du lac de Joux genannt wird. Ganz zu oben in dem Thal, gegen den Fus der sept moncels liegt der Lac des rousses, der keinen sichtlichen einzelnen Ursprung hat, sondern sich aus quelligtem Boden und den überall auslaufenden Brunnen sammlet, aus demselben fliesst die Orbe, durchstreicht das ganze französische und einen grossen Theil des Berner Gebiets, biss sie wieder unten gegen den Dens de vaulion sich zum Lac de Joux bildet, der seitwärts in einen kleinen See abfällt, woraus das Wasser endlich sich unter der Erde verliert. Die Breite des Thals ist verschieden, oben beym lac des rousses etwa eine halbe [98] Stunde, alsdann verengert sich's und läuft wieder unten auseinander, wo etwa die gröste Breite anderthalb Stunden wird. So viel zum bessern Verständniss des folgenden, wobei ich Sie einen Blik auf die Carte zu thun bitte.

Den 24. Okt. ritten wir, in Begleitung eines Hauptmanns und Oberforstmeisters dieser Gegenden erstlich Mont durch die Weinberge und Landhäufer hinan. Das Wetter war sehr hell, wir hatten, wenn wir uns umkehrten, die Aussicht auf den Genfersee, die Savoier und Wallisgebürge, konnten Lausanne erkennen und durch einen leichten Nebel auch die Gegend von Genf. Der mont blanc, der über alle Gebürge des faucigné ragt, kam immermehr hervor. Die Sonne ging klar unter, es war so ein grosser Anblik, dass ein menschlich Auge nicht dazu hinreicht. Der fast volle Mond kam herauf und wir immer höher. Durch Fichtenwälder stiegen wir weiter den Jura hinan, und sahen den See im Duft und den Wiederschein des Monds drinn. Es wurd immer heller. Der Weeg ist eine wohlgemachte Chaussée, nur angelegt um das Holz aus dem Gebürg bequemer in das Land herunter zu bringen. Wir waren wohl drei Stunden gestiegen, als es hinterwärts sachte wieder hinab zu gehen anfing. Wir glaubten unter uns einen grossen See zu erbliken, indem ein tiefer Nebel das ganze Thal, was wir übersehen konnten, ausfüllte. Wir kamen ihm endlich näher, sahen einen weisen Bogen [99] den der Mond drinn bildete und wurden bald ganz vom Nebel eingewikelt. Die Begleitung des Hauptmanns verschafte uns Quartier in einem Hause, wo man sonst nicht Fremde aufzunehmen pflegt. Es unterschied sich in der innern Bauart von gewöhnlichen Gebäuden in nichts, als dass der grosse Raum mitten inne zugleich Küche, Versammlungsplaz, Vorsaal ist und man von da in die Zimmer gleicher Erde und auch die Treppe hinauf geht. Auf der einen Seite war an dem Boden auf steinernen Platten das Feuer angezündet, davon ein weiter Schornstein, mit Brettern dauerhaft und sauber ausgeschlagen, den Rauch aufnahm. In der Eke waren die Thüren zu den Baköfen, der ganze Fussboden übrigens gedielet, biss auf ein kleines Ekgen am Fenster um den Spühlstein, gepflastert, übrigens rings herum, auch in der Höhe über den Balken, eine Menge Hausrath und Geräthschaften in schöner Ordnung angebracht, alles nicht unreinlich gehalten.

Den 25. Morgens war helles kaltes Wetter, die Wiesen bereist. Hier und da zogen leichte Nebel, wir konnten den untern Theil des Thals ziemlich übersehen, unser Haus lag am Fus des östlichen noir monts. Gegen achte ritten wir ab, und um der Sonne gleich zu geniesen, an der Abendseite hin. Der Theil des Thals an dem wir hinritten, besteht in abgetheilten Wiesen, die gegen den See zu etwas sumpfiger werden. Die Orbe fliesst in der [100] Mitte durch. Die Einwohner haben sich theils in einzelnen Häusern an der Seite angebaut, theils sind sie in Dörfern näher zusammengerukt, die einfache Namen von ihrer Lage führen. Das erste, wodurch wir kamen, war le sentier. Wir sahen von weitem die dent du vaulion, über einem Nebel der auf dem See stand hervorsehen, das Thal wird breiter, wir kamen hinter einen Felsgrat, der uns den See dekte, durch ein ander Dorf le lieu genannt, die Nebel stiegen und fielen wechselsweise vor der Sonne. Hier nahe bei ist ein kleiner See, der keinen Zu- und Abfluss zu haben scheint. Das Wetter klärte sich völlig auf und wir kamen gegen den Fus der dent de vaulion und trafen hier an's nördliche Ende des grossen Sees, der, indem er sich westwärts wendet, in den kleinen, durch einen Damm, unter einer Brüke weg seinen Ausfluss hat. Das Dorf drüben heisst le pont. Die Lage des kleinen Sees ist wie in einem eigenen kleinen Thal, was man niedlich sagen kann. An dem westlichen Ende ist eine merkwürdige Mühle in einer Felskluft angebracht, die ehemals der kleine See ausfüllte, nunmehr ist er abgedämmt, und die Mühle in die Tiefe gebaut, das Wasser läuft durch Schleussen auf die Räder, es stürzt sich von da in Felsrizen, wo es eingeschlukt wird und erst eine Stunde von da in Valorbe hervorkommt, wo es wieder den Namen des Orbeflusses führet. Diese Abzüge, (entonnoirs) müssen rein gehalten werden, sonst würde der See [101] steigen, die Kluft wieder ausfüllen und über die Mühle weggehen, wie es schon mehr geschehen ist, sie waren stark in der Arbeit begriffen, den morschen Kalchfelsen, theils wegzuschaffen, theils zu befestigen. Wir ritten zurük über die Brüke nach Pont, nahmen einen Weegweiser auf la dent. Im Aufsteigen sahen wir nunmehr den grossen See völlig hinter uns. Ostwärts ist der noir mont seine Gränze, hinter dem der kahle Gipfel der Dole hervorkommt, westwärts hält ihn der Felsrüken, der gegen den See ganz nakt ist, zusammen. Die Sonne schien heiss, es war zwischen eilf und Mittag. Nach und nach übersahen wir das ganze Thal, konnten in der Ferne den Lac des Rousses erkennen, und weiter her biss zu unsern Füssen, die Gegend durch die wir gekommen waren und den Weeg der uns rükwärts noch überblieb. Im Aufsteigen wurde von der grossen Streke Landes und den Herrschaften die man oben unterscheiden könnte, gesprochen und in solchen Gedancken betraten wir den Gipfel, allein uns war ein ander Schauspiel zubereitet. Nur die hohen Gebürgketten waren unter einem klaren und heitern Himmel sichtbar, alle niederen Gegenden mit einem weisen wolkigten Nebelmeer überdekt, das sich von Genf bis nordwärts an den Horizont erstrekte und in der Sonne glänzte. Daraus stieg ostwärts die ganze reine Reihe aller Schnee- und Eissgebürge, ohne Unterschied von Namen der Völker und Fürsten, die sie zu besizen glauben, nur Einem [102] grossen Herrn und dem Blik der Sonne unterworffen, der sie schön röthete. Der mont blanc gegen uns über schien der höchste, die Eisgebürge des Wallis und des Oberlandes folgten, zulezt schlossen niedere Berge des Canton Berns. Gegen Abend war an einem Plaze das Nebelmeer unbegränzt, zur linken in der weitsten Ferne zeigten sich sodann die Gebirge von Solothurn, näher die von Neufchatel, gleich vor uns einige niedere Gipfel des Jura, unter uns lagen einige Häuser von Vaulion dahin der Zahn gehört, und daher er den Namen hat. Gegen Abend schließt die franche comté mit flachstreichenden waldigten Bergen den ganzen Horizont, wovon ein einziger ganz in der Ferne gegen nordwest sich unterschied. Grad ab war ein schöner Anblick. Hier ist die Spize die diesem Gipfel den Namen eines Zahns giebt, er geht steil und eher etwas einwärts hinunter, in der Tiefe schliesst ein kleines Fichtenthal an mit schönen Graspläzen, gleich drüber liegt das Thal valorbe genannt, wo man die Orbe aus dem Felsen kommen sieht und rükwärts zum kleinen See ihren unterirrdischen Lauf in Gedanken verfolgen kann.

Das Städtgen Valorbe liegt auch in diesem Thal. Ungern schieden wir ab. Einige Stunden länger, indem der Nebel um diese Zeit sich zu zerstreuen pflegt, hätten mir das tiefere Land mit dem See entdeken lassen, so aber musste, damit der Genuss vollkommen werde, noch etwas zu wünschen übrig bleiben. Abwärts hatten wir unser [103] ganzes Thal in aller Klarheit vor uns, stiegen bei Pont zu Pferde, ritten an der Ostseite den See hinauf, kamen durch l'Abbaye de Joux, welches iezo ein Dorf ist, ehemals aber ein Siz der Geistlichen war, denen das ganze Thal zugehörte. Gegen viere langten wir in unserm Wirthshaus an, und fanden ein Essen, wovon uns die Wirthin versicherte, dass es um Mittag gut gewesen sei, aber auch übergar treflich schmekte.

Dass ich noch einiges, wie man mir es erzählt, hinzufüge. Wie ich eben erwähnte, soll ehedem das Thal an Mönche gehört haben, die es denn wieder vereinzelt, und zu Zeiten der Reformation mit den übrigen ausgetrieben worden, iezo gehört es zum Canton Bern und sind die Gebürge umher die Holzkammer von dem païs de vaud. Die meisten Hölzer sind Privatbesizungen, werden unter Aufsicht geschlagen und so ins Land gefahren. Auch werden hier die Dauben zu fichtenen Fässern geschnitten, Eimer, Bottge und allerlei hölzerne Gefäse verfertiget. Die Leute sind gut gebildet und gesittet, neben dem Holzverkauf treiben sie die Viehzucht, sie haben kleines Vieh und machen gute Käse, sie sind geschäftig und ein Erdschollen ist ihnen viel werth, wir fanden einen, der die wenige aus einem Gräbgen aufgeworfene Erde mit Pferd und Karren in einige Vertiefungen eben der Wiese führte, die Steine legen sie sorgfältig zusammen und bringen sie auf kleine Haufen. Es sind [104] viele Steinschleifer hier, die für Genfer und andere Kaufleute arbeiten, womit auch die Frauen und Kinder sich beschäftigen. Die Häuser sind dauerhaft und sauber gebaut, die Form und Einrichtung nach dem Bedürfniss der Gegend und der Bewohner, vor jedem Hause läuft ein Brunnen und durchaus spürt man Fleiss, Rührigkeit und Wohlstand. Über alles aber muss man die schöne Weege preissen für die, in diesen entfernten Gegenden, der Stand Bern, wie durch den ganzen übrigen Canton sorgt. Es geht eine Chaussée um das ganze Thal herum, nicht übermässig breit, aber wohl unterhalten, so dass die Einwohner mit der grössten Bequemlichkeit ihr Gewerbe treiben, mit kleinen Pferden und leichten Wagen fortkommen können. Die Luft ist sehr rein und gesund.

Den 26ten ward beim Frühstük überlegt, welchen Weeg man zurük nehmen wolle? Da wir hörten dass die Dole, der höchste Gipfel des Jura nicht weit von dem obern Ende des Thals läge, da das Wetter sich auf das herrlichste anlies und wir hoffen konnten, was uns gestern noch gefehlt, heute vom Glük alles zu erlangen, so wurde dahin zu gehen beschlossen. Wir pakten einem Boten Käs, Butter Brod und Wein auf, und ritten gegen achte ab. Unser Weeg ging nun durch den obern Theil des Thals, in dem Schatten des noir monts hin. Es war sehr kalt, hatte gereift und gefrohren, wir hatten noch eine Stunde im Bernischen zu reiten, wo man eben die Chaussée zu Ende [105] zu bringen beschäftiget ist. Durch einen kleinen Fichtenwald rükten wir ins französische Gebiet ein. Hier veränderte sich der Schauplaz sehr. Was wir zuerst bemerkten waren die schlechte Weege, der Boden ist sehr steinigt, überall liegen sehr grosse Hauffen zusammen gelesen, wieder ist er eines Theils sehr morastig und quelligt, die Waldungen umher sind sehr ruiniret, den Häusern und Einwohnern sieht man, ich will nicht sagen Mangel, aber doch bald ein sehr enges Bedürfniss an, sie gehören fast als Leibeigne an die Canonicos von St. Claude, sie sind an die Erde gebunden, viele Abgaben liegen auf ihnen, sujets á la main morte et au droit de la suite, wovon mündlich ein mehreres, wie auch von dem neusten Edikt des Königs, wodurch das droit de la suite aufgehoben wird, die Eigenthümer und Besizer aber eingeladen werden, gegen ein gewisses Geld sich von der main morte zu entsagen. Doch ist auch dieser Theil des Thals sehr angebaut, sie nähren sich mühsam und lieben doch ihr Vaterland sehr, stehlen gelegentlich den Bernern Holz und verkaufen's wieder in's Land. Der erste Sprengel heisst le bois d'amont, durch den wir in das Kirchspiel les Rousses kamen, wo wir den kleinen Lac des Rousses und les sept moncels, sieben kleine, verschieden gestallte und verbundene Hügel, die mittägige Gränze des Thals, vor uns sahen. Wir kamen bald auf die neue Strasse die aus dem païs de vaud nach Paris führt, wir [106] folgten ihr eine Weile abwärts, und waren nunmehro von unserm Thale geschieden, der kahle Gipfel der Dole lag vor uns, wir stiegen ab und Wedel ging mit den Pferden auf der Strase voraus nach Sergues, und wir stiegen die Dole hinan. Es war gegen Mitag, die Sonne schien heiss, aber es wechselte ein kühler Mitagswind. Wenn wir, auszuruhen, uns umsahen, hatten wir les sept moncels hinter uns, wir sahen noch einen Theil des Lac des Rousses und um ihn die zerstreuten Häuser des Kirchspiels, der noir mont dekte uns das übrige ganze Thal, höher sahen wir wieder ungefehr die gestrige Aussicht in die franche comté und näher bei uns, gegen Mitag, die lezten Berge und Thäler des Jura. Sorgfältig hüteten wir uns, nicht durch einen Bug der Hügel uns nach der Gegend umzusehen, um derent willen wir eigentlich herauf stiegen. Ich war in einiger Sorge wegen des Nebels, doch zog ich aus der Gestalt des obern Himmels einige gute Vorbedeutungen. Wir betraten endlich den obern Gipfel und sahen mit grösstem Vergnügen uns heute gegönnt, was uns gestern versagt war. Das ganze Païs de vaud und de Gex lag wie eine Fluhrkarte unter uns, alle Besizungen mit grünen Zäunen abgeschnitten, wie die Beete eines Parterrs. Wir waren so hoch dass die Höhen und Vertiefungen des vordern Landes gar nicht erschienen. Dörfer, Städtgen, Landhäuser, Weinberge und höher herauf, wo Wald und Alpen angehen, Sennhütten, meist [107] weis und hell angestrichen, leuchteten gegen die Sonne; vom See hatte sich der Nebel schon zurüke gezogen, wir sahen den nächsten Theil an unsrer Küste deutlich, den sogenannten kleinen See, wo sich der grosse verenget und gegen Genf zu geht, dem wir gegen über waren, ganz, und gegen über klärte sich das Land auf, das ihn einschliesst. Über alles aber behauptete der Anblik über die Eis- und Schneeberge seine Rechte. Wir sezten uns vor der kühlen Luft in Schuz hinter Felsen, liessen uns von der Sonne bescheinen, das Essen und Trinken schmekte treflich. Wir sahen dem Nebel zu, der sich nach und nach verzog, ieder entdekte etwas, oder glaubte was zu entdeken, wir sahen nach und nach Lausanne mit allen Gartenhäusern umher, Vevay und das Schloss von Chillon ganz deutlich, das Gebirg, das uns den Eingang vom Wallis verdekte, biss in den See, von da an der Savoier Küste Evian, Ripaille, Tonon, Dörfgen und Häusgen zwischen inne, Genf kam endlich rechts auch aus dem Nebel, aber weiter gegen Mitag, gegen den mont Crédo und mont vauche, wo das fort l'ecluse inne liegt, zog er sich gar nicht weg. Wendeten wir uns wieder links so lag das ganze Land von Lausanne biss Solothurn in leichtem Duft, die nähere Berge und Höhen auch alles, was weise Häuser hatte, konnten wir erkennen, man zeigte uns das Schloss Chanvan blinken, das vom Neuburgersee links liegt, woraus wir seine Lage muthmassen, ihn aber in dem blauen Duft nicht erkennen konnten.

[108] Es sind keine Worte für die Grösse und Schöne dieses Anbliks, man ist sich im Augenblik selbst kaum bewusst, dass man sieht, man ruft sich nur gern die Namen und alten Gestalten, der bekannten Städte und Orte zurük und freut sich in einer taumelnden Erkenntniss dass das eben die weisen Punkte sind, die man vor sich hat.

Und immer wieder zog die Reihe der glänzenden Eisgebürge das Aug' und die Seele an sich. Die Sonne wendete sich mehr gegen Abend und erleuchtete ihre grössere Flächen gegen uns zu. Schon was vom See auf für schwarze Felsrüken, Zähne, Thürme und Mauern in vielfachen Reihen vor ihnen aufsteigen! wilde ungeheure, undurchdringliche Vorhöfe bilden! wann sie dann erst selbst in der Reinheit und Klarheit in der freien Luft mannichfaltig da liegen; man giebt da gern iede Prätension an's Unendliche auf, da man nicht einmal mit dem Endlichen im Anschauen und Gedanken fertig werden kann.

Vor uns sahen wir ein fruchtbar bewohntes Land, der Boden, worauf wir stunden, ein hohes, kahles Gebürge, trägt noch Gras, Futter für Thiere, von denen der Mensch Nuzen zieht, das kann sich der einbildische Herr der Welt noch zueignen; Aber iene sind wie eine heilige Reihe von Jungfrauen, die der Geist des Himmels in unzugänglichen Gegenden, vor unsern Augen, für sich allein, in ewiger Reinheit aufbewahrt. Wir blieben und reizten einander wechselsweise Städte, [109] Berge und Gegenden bald mit blossem Auge bald mit dem Teleskop, zu entdeken und gingen nicht eher abwärts, als biss die Sonne im Weichen, den Nebel seinen Abendhauch über den See breiten lies. Wir kamen mit Sonnen Untergang auf die Ruinen des fort de St. Sergues. Auch näher am Thal waren unsre Augen nur auf die Eisgebürge gegen über gerichtet. Die lezten, links im Oberland, schienen in einem leichten Feuerdampf aufzuschmelzen, die nächsten standen noch mit wohl bestimmten rothen Seiten gegen uns, nach und nach wurden iene weis-grün-graulich. Es sah fast ängstlich aus. Wie ein gewaltiger Körper von aussen gegen das Herz zu abstirbt, so erblassten alle langsam gegen den mont blanc zu, dessen weiter Busen noch immer roth herüber glänzte und auch zulezt uns noch einen röthlichen Schein zu behalten schien, wie man den Tod des Geliebten nicht gleich bekennen, und den Augenblik, wo der Puls zu schlagen aufhört, nicht abschneiden will. Auch nun gingen wir ungern weg, die Pferde fanden wir in St. Sergues, und dass nichts fehle, stieg der Mond auf und leuchtete uns nach Nion, wo unter Weegs unsere gespannten Sinnen sich wieder lieblich falten konnten, wieder freundlich wurden und mit frischer Luft aus den Fenstern des Wirthshausses den breitschwimmenden Wiederglanz des Monds im ganz reinen See geniesen konnten.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1779. An Charlotte von Stein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-79B5-8