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An Franz Ludwig Carl Friedrich Passow

Ew. Wohlgeboren

hätte schon früher für den übersendeten Longos auf das Verbindlichste danken sollen. Ich habe von je her für dieses Gedicht eine ganz besondere Vorliebe gefühlt und dem reichen Gehalt, dem vortrefflichen Plan, der glücklichen Bearbeitung desselben gar manche Betrachtung zugewendet. Diesmal aber ist es mir noch werther geworden, theils weil ich es in der anmuthigen Übersetzung mit größerer Bequemlichkeit genießen konnte, theils weil ich zum erstenmal das bisher fehlende bedeutende Stück kennen lernte. Es überraschte mich dasselbe, als ich im Laufe des Lesens unvermuthet darauf stieß, und ich mit Verwunderung anerkennen mußte, daß erst durch dieses bisher unbekannte Glied das höchst schätzbare Werck zu einem wahren Kunstganzen hergestellt worden. Nehmen Sie also meinen besten Dank für dieses mir verschaffte Vergnügen, das ich sonst vielleicht noch lange entbehrt oder wenigstens nicht so lebhaft genossen hätte!

[181] Über den neuen, mir mitgetheilten Plan wünschte ich mich mit Ihnen und Ihrem werthen Herrn Collegen, dem ich mich bestens empfehle, mündlich unterhalten zu können, weil es schwer ist, schriftlich, kurz und klar über solche Gegenstände sich auszudrücken, um so mehr als meine Gesinnung mit der Denkweise der Zeit gerade in Opposition steht. Ich habe es immer in der zweyten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mehr und mehr überhand nahm, daß man zwischen Exoterischem und Esoterischem keinen Unterschied mehr machte, daß man die Grundsätze und Maximen, nach welchem man lehrt und handelt, früher als die Lehre und das Handeln selbst öffentlich werden läßt, da doch sowohl das Beyspiel der ältern Weisen als die Erfahrungen an dem neuern Thun und Treiben uns hätten aufmerksam machen sollen daß man seinen Zweck vernichtet, indem man ihn voraussagt, daß eine Handlung, wenn sie glückt, nicht contestirt wird, wohl aber nichts mehr Widerspruch erleidet als eine vor, ja sogar nach der That ausgesprochene Maxime. Möchte ich doch mit Pallas (Allgemeine Zeitung Nro. 285) ausrufen: »Die Wahrheit hätte nur unter uns Akademikern bleiben sollen!«

Ferner hat mich die Erfahrung gelehrt, daß man, besonders in Deutschland, vergebens Mehrere zu Einer Absicht zusammenruft. So viel Köpfe, so viel Sinne, ist eigentlich die Devise unserer Nation. Betrachte [182] ich noch dabey die gegenwärtige Zeit und den abgelegenen obgleich in mancher Rücksicht günstigen Wohnort, betrachte ich die babylonische Verwirrung, welche durch den Pestalozzischen Erziehungsgang Deutschland ergriffen, ob ich gleich von seinem vorgehabten Thurmbau das Beste denken will: so glaube ich Ihrem Unternehmen wenig Glück weissagen zu können. Weil jedoch Niemand die Möglichkeiten übersieht, so will ich wünschen und hoffen, daß Alles zum Vortheilhaftesten gedeihen möge, welches um so eher denkbar ist, als Sie in Ihrem Kreise ungestört nach Ihrer Überzeugung das Gute wirken können, wenn es auch von außen weder gefördert noch anerkannt werden sollte. Gehen tüchtig gebildete junge Leute von Ihnen aus, woran ich nach genauer Betrachtung Ihres ersten Programms nicht zweifle, so ist das Beste gethan und der schönste Zweck erreicht. Lassen Sie mich von Zeit zu Zeit hören, wie Ihr Unternehmen vorwärts schreitet, und es wird mir angenehm seyn, wenn meine vielleicht hypochondrische Ansicht der Sache durch einen glücklichen Erfolg aufgeheitert werden sollte.

Der ich recht wohl zu leben wünsche,

Weimar, den 20. October 1811.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1811. An Franz Ludwig Carl Friedrich Passow. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-79B9-F