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An Joseph Stanislaus Zauper

Es freut mich gar sehr, mein Werthester, daß in Ihre Wintertage eine so hoch erfreulich Erscheinung sich niederließ; das Bild vorzügliche Menschen, besonders wenn die Natur ihnen auch eine schöne Gestalt verleihen wollen, treu im Sinne zu hegen, ist eine schöne Gebe für's Leben, das sich nicht genug an's Würdige und Ehrwürdige anklammern kann.

Daß Sie mir von den Unbilden Ihrer literarischen Prüfungszeit Nachricht geben, ist sehr schön, denn ich hebe dadurch Gelegenheit, Ihnen einiges zu sagen und Sie auf gar manches dergleichen, das Sie in den nächsten Jahren erwartet, vorzubereiten.

Halten Sie fest an dem, was Sie Ihrer Natur gemäß fühlen, und da hier vom ästhetischen Sinn die Rede ist, prüfen Sie sich immerfort am diamantnen Schild der Griechen, in welchem Sie Ihre Tugenden und Mängel jederzeit am klarsten erblicken können.

Horchen Sie auf die Mitlebenden nur, um sie kennen zu lernen, um gewahr zu werden, was sich Ihnen nähert, was sich von Ihnen entfernt, was Sie fördert oder hindert.

Mich betreffend bleiben Sie ganz ruhig; ich weiß so wenig was für und gegen mich geschieht, als ich mitten in Deutschland von den Stürmen der Nord-[296] und Ostsee oder auch des Mittel- und adriatischen Meeres etwas gewahr werde; ich suche die vielen Vorarbeiten, die ich zu eigenem Gebrauch seit Jahren gehäuft, auch noch, in so fern es möglich ist, für andere nützlich und erfreulich zu machen und dabey solche Einrichtung zu treffen, daß so wenig als möglich verloren gehe, wenn ich früher oder später abgerufen werde.

Überhaupt kann ich wohl sagen, daß ich von allem dem, was seit fünfzig Jahren gegen mich gewirkt wird, großen Nutzen gezogen; denn ich lernte dadurch meine Nation kennen, und dieß ist auch jetzt der Fall, in so fern etwas von meinen neuen Widersachern in meine Zelle gelangt, die einsamer ist als die Ihrige; denn ich lerne ja daran die Zeitgesinnung am besten einsehen, die ich an dem, was ich auf die Zeit wirken wollte und gewirkt habe, am besten prüfen kann.

Und so fahren auch Sie fort, sich selbst gewissenhaft zu bilden und Bildung gewissenhaft mitzutheilen. Grüßen Sie den Herrn Präfecten zum schönsten, gedenken Sie mein unter den Ihrigen, indessen ich der Hoffnung lebe, bald wieder in Ihre Mitte zu treten.

aufrichtig theilnehmend

Weimar den 2. Februar 1823.

J. W. v. Goethe. [297]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1823. An Joseph Stanislaus Zauper. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-79CB-7