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An Carl Friedrich Zelter

Ihr lieber Brief vom 8. May findet mich in Carlsbad den 18. und so will ich gleich etwas erwiedern, [22] da ich denke daß Sie es in zehen Tagen lesen werden.

Was Sie mir freundliches über Reynhold sagen ist mir nicht allein sehr angenehm, sondern es soll auch, hoffe ich, fruchtbar werden, indem Sie mich zum Bewußtseyn erheben dessen, was ich aus Natur und Trieb besonders für Theatermusik gethan habe und thun möchte. Wenn Sie sagen: »alles ist frey und leicht angedeutet, die Worte sind nicht vorgreifend und der Musicus hat es wirklich mit der Sache selber zu thun«, so geben Sie mir das größte Lob, daß ich zu erlangen wünschte; denn ich halte davor, der Dichter soll seine Umrisse auf ein weitläufig gewobenes Zeug aufreißen, damit der Musicus vollkommenen Raum habe seine Stickerey mit großer Freyheit und mit starken oder seinen Fäden, wie es ihm vordünkt, auszuführen. Der Operntext soll ein Carton seyn, kein fertiges Bild. So denken wir freylich, aber in der Masse der lieben Deutschen steckt ein totaler Unbegriff dieser Dinge, und doch wollen Hunderte auch Hand anlegen. Wie sehr muß man dagegen manches Italienische Werk bewundern, wo Dichter, Componist, Sänger und Decorateur alle zusammen über eine gewisse auslengende Technik einig werden können. Eine neue Deutsche Oper nach der andern bricht zusammen, wegen Mangel schicklicher Texte, und die lieben Wiener, die gar nicht wissen wo die Zäume hängen, setzen einen Preis von hundert [23] Ducaten auf die beste Oper, die irgend jemand in Deutschland hervorbringen soll, da sie an der rechten Schmiede das Doppelte bieten könnten und immer noch dabey gewönnen.

Die Sache ist eigentlich bedenklicher als man glaubt; man müßte an Ort und Stelle mit allen, die zur Ausführung beytragen sollen, eine heitere Existenz haben und ein Jahr nach dem anderen etwas neues produciren. Eins würde das andere heranführen und selbst ein Mislungenes zu einem Vollkommenen Anlaß geben.

Zu dem Simson hätte ich im Augenblick kein Zutrauen; die alte Mythe ist eine der ungeheuersten. Eine ganz bestialische Leidenschaft eines überkräftigen, gottbegabten Helden zu dem verfluchtesten Luder, das die Erde trägt, diese rasende Begierde, die ihn immer wieder zu ihr führt, ob er gleich, bey wiederholtem Verrath, sich jedesmal in Gefahr weiß, diese Lüsternheit, die selbst aus der Gefahr entspringt, der mächtige Begriff, den man sich von der übermäßigen Prästanz dieses riesenhaften Weibes machen muß, das im Stande ist auf den Grad einen solchen Bullen zu fesseln. Sehen Sie das an, mein Freund, so wird Ihnen gleich offenbar seyn, daß das alles vernichtet werden muß, um nur die Namen, nach den Convenienzen unserer Zeit und unseres Theaters, zu produciren. Viel räthlicher wäre es gleich einen Stoff von geringerer specificer Schwere zu wählen, wo nicht gar einen [24] solchen, der auf dem Elemente des Tags von selber schwämme. Man sehe die Schweizerfamilie und solches Gelichter.

Noch eines andern Bedenkens muß ich erwähnen. Die alttestamentlichen Gegenstände thun bey uns einen ganz wunderlichen Effect; ich konnte bey Roberts Jephtha und bey Alfieri's Saul hierüber Betrachtungen anstellen. Es ist kein Widerwille, der erregt wird, aber es ist gar kein Wille, keine Abneigung, aber eine Unneigung. Jene Mythen, wahrhaft groß, stehen in einer ernsten Ferne respectabel da und unsere Jugendandacht bleibt daran geknüpft. Wie aber jene Heroen in die Gegenwart treten, so fällt uns ein daß es Juden sind und wir fühlen einen Contrast zwischen den Anheeren und den Enkeln, der uns irre macht und verstimmt. So lege ich mir's in der Geschwindigkeit aus, indem ich der Wirkung jener beyden Stücke genau aufgepaßt habe. Dieses letzte Bedenken würde beseitigt wenn man die Fabel zu anderen Völkern versetzen wollte. Da entstehen wieder neue Schwierigkeiten. Ich denke weiter darüber.

Und nun will ich zum Schlusse gebeten haben mir jene Compositionen nicht vorzuenthalten, zugleich auch unserer Correspondenz, bey alter Liebe, ein neues Leben zu verleihen.

Nur keine so lange Pause wieder!

Carlsbad den 19. May 1812.

G. [25]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1812. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7A79-8