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An Friedrich Wilhelm Riemer

Bey meiner letzten Sendung, werthester Freund, habe ich Ihnen abermals völlige Macht und Gewalt gegeben, die fremden Worte aus der Handschrift zu tilgen, insofern es möglich und räthlich sey, wie wir auch schon früher getan haben. Ich bin, wie Sie wissen, in diesem Puncte weder eigensinnig noch allzuleicht gesinnt, allein das muß ich Ihnen gegenwärtig vertrauen, daß ich, im Leben und Umgang, seit ich von Ihnen entfernt bin, mehr als einmal die Erfahrung gemacht habe, daß es eigentlich geistlose Menschen sind, welche auf die Sprachreinigung mit so großen Eifer dringen: denn da sie den Werth eines Ausdrucks nicht zu schätzen wissen, so finden sie gar leicht ein Surrogat, welches ihnen eben so bedeutend scheint, und in Absicht auf Urtheil haben sie doch etwas zu erwähnen, und an den vorzüglichsten Schriftstellern etwas auszusetzen, wie es Halbkenner vor gebildeten Kunstwerken zu thun pflegen, die irgend eine Verzeichnung, einen Fehler der Perspective mit Recht oder Unrecht rügen, ob sie gleich von den Verdiensten des Werkes nicht das geringste anzugeben wissen.

Überhaupt ist hier der Fall, der öfters vorkommt, daß man über das Gute, was man durch Verneinung und Abwendung hervorzubringen sucht, dasjenige[374] vergißt, was man bejahend fördern könnte und sollte. Ich notire nur einiges zur künftigen Unterhaltung.

Eine fremde Sprache ist hauptsächlich dann zu beneiden, wenn sie mit Einem Worte auszudrucken kann, was die andere umschreiben muß, und hierin steht jede Sprache im Vortheil und Nachtheil gegen die andere, wie man alsobald sehen kann, wenn man die gegenseitigen Wörterbücher durchläuft. Mir aber kömmt vor, man könne gar manches Wort auf diesem Wege gewinnen, wenn man nachsieht, woher es in jener Sprache stammt, und alsdann versucht, ob man aus denselben etümologischen Gründen durch ähnliche Ableitung zu demselben Worte gelangen könnte.

So haben zum Beyspiel, die Franzosen das Wort perche, Stange, davon das Verbum percher. Sie bezeugen dadurch, daß die Hühner, die Vögelsich auf eine Stange, einen Zweig setzen. Im Deutschen haben wir das Wort stängeln. Man sagt: ich stängle die Bohnen, das heißt, ich gebe den Bohnen Stangen, eben so gut kann man sagen: die Bohnen stängeln, sie winden sich an den Stangen hinauf, und warum sollten wir uns nicht des Ausdrucks bedienen: die Hühner stängeln, sie setzen sich auf den Stangen.

Es wird Ihnen leicht seyn, mehrere Beyspiele dieser Art auszuführen, zu finden oder zu erfinden, mir kommt sie viel vorzüglicher vor, als wenn man entweder [375] durch Vorsetzung der kleinen Partikeln, oder durch Zusammensetzung Worte bildet. Wo aber solche Ausdrücke besonders zu finden sind, will ich noch kürzlich bemerken, da wir schon öfters, jedoch in anderm Zusammenhang, darüber gesprochen haben.

Man trifft sie häufig an in den eigenthümlichen Sprachen der Gewerbe und Handwerke, weil die natürlichen Menschen, die auf einem gewissen Grade der Cultur stehen, bey lebhaften sinnlichen Anschauen, an einem Gegenstande viele Eigenschaften auf einmal entdecken, und da sie kaum in einem Begriff zusammenzufassen sind, welches überhaupt auch dieser Menschenklasse Art nicht ist, so gewinnen sie dem ganzen etwas bildliches ab, und das Wort wird meistentheils metaphorisch und also auch fruchtbar, so daß man, mit einigem Geschick, gar wohl andere Redetheile davon ableiten kann, die sich alsdann gar wohl, besonders durch humoristische Schriften, einführen ließen. Soviel für dießmal! In der Hoffnung eines baldigen Wiedersehens und umständlicher Gespräche über diesen Gegenstand und verwandte.

Töplitz den 30. juni 1813.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1813. An Friedrich Wilhelm Riemer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7BC2-B