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An Carl Friedrich Zelter

Deine Potsdamer Expedition gibt uns andern Nach-und Hinterdrein- Denkern die schöne Gelegenheit dem egoistisch- anarchischen Wesen nachzuspüren, wo nach sich jeder dahin drängt und stellt, wohin er nicht gehört, an einen hübschen Platz, den er nicht ausfüllen kann. Dabey bleibt denn aber doch immer das Löbliche an der Anarchie, daß, wenn sie einmal einen entschiedenen Zweck im Auge hat, so sieht sie sich nach einem Dictator um und merkt nun, daß es geht. Dieses habt Ihr Musiker aber vor allen Künsten voraus, daß ein allgemeiner, allgemein angenommener Grund vorhanden ist, sowohl im Ganzen als im Einzelnen, und daß also jeder eine Partitur schreiben kann, in vollkommener Gewißheit, vorgetragen zu werden, sie sey auch, wie sie sey. Ihr habt euer Feld, eure Gesetze, eure symbolische Sprache, die jeder verstehn muß. Jeder Einzelne, und wenn er das Werk seines Todfeindes aufführte, muß an dieser Stelle das Geforderte thun. Es gibt keine Kunst, kaum ein Handwerk, das vergleichen von sich rühmen kann. [257] Ihr dürft ohne Pedanterie auf Älteste halten, Ihr könnt ohne Ketzerey Hinderniß euch an dem Neusten ergetzen; und wenn auch das Individuum in eurem Kreise etwas Wunderliches Seltsames hervorbringt, so muß es doch zuletzt mit dem AU des Orchesters wieder zusammentreffen.

Nun ein Wort von dem guten Felix; der Herr Papa hatte sehr Unrecht, ihn nicht nach Sicilien zu schicken; der junge Mann behält eine Sehnsucht ohne Noth. Es muß in meinen letzten sicilianischen oder darauf folgenden neapolitanischen Briefen eine Spur sich finden, welchen unangenehmen Eindruck mir diese vergötterte Insel zurückgelassen hat; ich mag durch Wiederholung auf diesen Punct nicht lasten.

Das Zweyte, welches du aber nicht verrathen mußt, ist: daß jenes Gedicht, der Wanderer, im Jahre 1771 geschrieben ist also viele Jahre vor meiner italiänischen Reise. Das ist aber der Vortheil des Dichters, daß er voraus ahnet und werth hält, was der die Wirklichkeit Suchende, wenn er es im Daseyn findet und erkennt, doppelt lieben und höchlich daran sich erfreuen muß.

Bey manchen innern stillen Arbeiten, wobey ich dein immerfort gedenke, bin ich doch auch in das neuere Französische mitunter hineingezogen worden und habe bey solcher Veranlassung über die Réligion Simonienne nachzudenken gehabt. An der Spitze dieser Secte stehen sehr gescheite Leute, sie kennen die Mängel unserer [258] Zeit genau und verstehen auch das Wünschenswerthe vorzutragen; wie sie aber anmaßen wollen, das Unwesen zu beseitigen und das Wünschenswerthe zu befördern, so hinkt sie überall. Die Narren bilden sich ein, die Vorsehung verständig spielen zu wollen, und versichern, jeder solle nach seinem Verdienst belohnt werden, wenn er sich mit Leib und Seele, Haut und Haar an anschließt und sich mit ihnen vereinigt.

Welcher Mensch, welche Gesellschaft dürfte vergleichen aussprechen, da man ja von Jugend auf nicht leicht jemand kennen und die Steigerung seiner Thätigkeit beurtheilen wird. Wodurch bethätigt sich denn zuletzt der Charakter, als daß er sich in der Tagesbewegung, im Hin- und Widerwirken bildet. Wer unterstünde sich den Werth der Zufälligkeiten, der Anstöße, der Nachklänge zu bestimmen, wer getraute sich die Wahlverwandtschaften zu würdigen. Genug, wer sich untersteht zu schätzen, was der Mensch ist, der müßte in Anschlag bringen, was er war und wie er's geworden ist. Solche allgemeine Unverschämtheiten haben wir gar oft schon erlebt, sie kehren immer zurück und müssen gedultet werden.

Dieß hab ich bey Gelegenheit jener Unternehmungen gedacht, und ich zweifle nicht, daß haben noch gar manches Andere zu denken seyn möchte. Von der neusten französichen Rommanlectüre und ihrem nächsten Kreise will ich nur so viel sagen: es [259] ist eine Literatur der Verzweiflung, woraus nach und alles Wahre, Ästhetische sich von selbst verbannt. Notre Dame de Paris von Victor Hugo besticht durch das Verdienst fleißiger wohlgenutzter Studien der alten Localitäten, Sitten und Ereignissen; aber in den handelnden Figuren ist durchaus keine Spur von Naturlebendigkeit. Es sind Lebens untheilhafte Gliedermänner und – Weiber, nach ganz geschickten Proportionen aufgebaut, aber außer dem hölzernen und stählernen Knochengerüste durchaus nur ausgestopfte Puppen, mit welchen der Verfasser auf das unbarmherzigste umgeht, sie in die seltsamsten Posituren renkt und verrenkt, sie foltert und durchpeitscht, geistig und leiblich zerfleischt, freylich ein Nichtfleisch ohne Barmherzigkeit zerfetzt und in Lappen zerreißt; doch das alles geschieht mit dem entschiedenen historisch- rhetorischen Talent, dem man eine lebhafte Einbildungskraft nicht absprechen kann, ohne die er solche Abominationen gar nicht hervorbringen könnte.

Deine Schreiben, auch das, die musikalische Blumenfeyerlichkeit meldend, sind zu meinem besonderen Vergnügen angekommen. Soviel für heute.

und so fort an!

Weimar den 28. Juni 1831.

G. [260]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1831. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7BF6-8