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An Friedrich Wilhelm Riemer

Hiebey, mein Bester, erhalten Sie ein kleines Paquet das Sie neulich hier ließen; ich vermuthete daß eine Mittheilung darin enthalten sey, wie ich auch finde und Sie vorläufig ersuche, etwa für 50 Thaler das Nothwendigste und Wünschenswertheste auszuzeichnen, damit wir solches auf Michael bestellen könnten.

Hierbey ein Botanikon welches Sie gewiß interessiren wird, und noch mehr, wenn bey Mittheilung des eigentlichen Anlasses der Zusammenhang zur Sprache kommt. Dante's Hölle begleitet dießmal nur als Schutz und Schirm die unschuldige Rebe.

Vorbehältlich mancherlei

treulichst

Dornburg den 30. August 1828.

Goethe.

[297] [Beilage.]
Erkundigung nach dem deutschen Worte
Aberzahn.

Zu vollkommenem Verständniß dessen, was unter diesem Worte gemeynt sey, füge ich einen eingelegten Knoten einer Weinranke bey und bemerke Folgendes: An jedem Knoten irgend eines Pflanzenzweiges wird man ein Blatt gewahr welches ich das Vorblatt nenne, weil es zur Vorbereitung dem dahinter liegenden Auge dient; es ist dasselbe hier mit a bezeichnet. Die etwas darüber hinterwärts liegende Knospe ist zwar an und für sich kennbar, doch oberwärts mit b bezeichnet. Beides, Vorblatt und Auge, hat nun der Knoten einer Rebe mit allen andern Pflenzenknoten gemein. Dagegen aber tritt ein besonderer Umstand hervor. Es sproßt nämlich zwischen Auge und Vorblatt ein Zweiglein heraus, welches bis jetzt nur zu Irrthümern und Streit Gelegenheit gegeben, denn man hat nicht gewußt für was man es halten und was es für einen Naturzweck haben sollte. Der Buchstabe c macht es kenntlich.

Da der Mensch gewöhnlich das was ihm nicht unmittelbar Nutzen bringt überhaupt für unnütz und daher wohl gar für schädlich erklärt, so hat man gedachten Schößling bisher weggebrochen, weil man glaubte, dessen Wachsthum thue dem dahinter liegenden Auge Schaden, entziehe ihm die Nahrungssäfte und [298] hindere vielleicht eine günstige Fülle der Traube. Daher nannte der Weinbauer dieses Zweiglein Geiz, als wenn es parasitisch die dem Auge bestimmten Zuflüsse an sich reißen und unrechtmäßig ergeizen wolle.

Daß diese Vorstellungsart in Deutschland alt sey, scheint mir aus der Benennung: Aberzahn hervorzugehn; das Aber steht hier als verneinend wie beyAberglauben, Aberwitz; Zahn hat man es zu nennen beliebt als etwas Vorstehendes, sich Vordrängendes, und dadurch, wie das Wort Geiz gleichfalls anzeigt, sich berechtigt geglaubt, dieses Organ zu entfernen, anstatt daß man es nunmehr als ein Vorbereitendes wie das Vorblatt ansieht und es also einen Vorzweig nennen möchte; man mag nun annehmen, daß es dem Auge ersprießliche Säfte zuführe oder das Unnütze, Überflüssige ableite oder auch der eigenen Natur dieser übermäßig luxuruurenden Pflanze gemäß ein doppeltes, voreilig entwickeltes, im Nothfalle functionirendes Auge darstelle. Wie ja ein solcher Vorzweig, wenn man ihn bestehen und fortwachsen läßt, eben so wie er Gabeln hervorbringt, auch Früchte zu tragen fähig ist. Genug soviel ist gewiß daß beide nachbarliche Pflanzentheile in organischer Verbindung stehen und daß daher eine Wechselwirkung, von welcher Art sie auch sey, statt finde.

Der Zweck des gegenwärtigen Blattes ist jedoch für dießmal nur, Herrn Professor Riemer höflichst zu [299] ersuchen, sich nach diesem Worte in älteren Schriften und Wörterbüchern umzusehen. Ich fand es in einem Büchlein: J. L. Christ, Vom Weinbau, Frankfurt a. M. 1800, Seite 37, wo es keine Mißdeutung leidet, sondern auf alle Fälle dasjenige ausdrucken soll was wir oben entwickelt haben. Die Gabel d ist hiebey von keiner Bedeutung.

Zu freundlicher Theilnahme
Dornburg den 28. August 1828.
G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1828. An Friedrich Wilhelm Riemer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7C5B-B